Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-24965-5
ISBN E-Book 978-3-688-11681-2
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-11681-2
Allen Frauen gewidmet,
die in Haydée eine bloße
Midlife-Crisis erkannten.
Nicht lange nach Abschluss der Dokumentensammlung, aus der mein Roman Phantom der Lust wurde und die wahre Geschichte des Phantoms der Oper hervorging, hatte ich das Glück, einige persönliche Aufzeichnungen zu erwerben, die eine weitere weithin bekannte Erzählung in ein neues Licht tauchen: jene des Grafen von Monte Christo.
Alexandre Dumas’ Roman um Verrat und Rache erzählt die Geschichte von Edmond Dantès, dem furchtbares Unrecht widerfuhr, und seiner Vergeltung an den Schuften – seinen Freunden, die ihn für vierzehn Jahre ins Gefängnis brachten. Seit ihrer Erstveröffentlichung Mitte der vierziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts als Fortsetzungsroman ist die Erzählung für Film und Fernsehen bearbeitet, übersetzt und nachgedruckt, gekürzt und auf vielfältige Weise zergliedert worden.
Durch meinen Erwerb der Tagebücher und Briefe einer der wichtigsten Schlüsselfiguren des Romans habe ich jedoch entdeckt, dass die von Dumas erzählte Geschichte – gemeinsam mit ihren Abwandlungen – unvollständig und irreführend ist.
Ich hatte das Vergnügen, die Tagebücher der Mercédès Herrera, erste und wahre Liebe von Edmond Dantès, zu erforschen und zu einer ausführlichen, chronologischen Erzählung zu ordnen. Zu meiner Verblüffung habe ich im Zuge dieser Nachforschungen festgestellt, dass sie ebenso sehr wie Dantès selbst ein Opfer der von Dumas geschilderten Vorgänge war. Vielleicht sogar in größerem Maße.
Gemeinsam mit den an sie gerichteten Briefen von Valentine Villefort und einem Tagebuch, das Haydée gehörte, der Dienerin Monte Christos, bringen diese Tagebücher eine ganz andere und weitaus genauere Aufzeichnung dessen ans Licht, was sich in Mercédès’ Leben während der Jahre von Dantès’ Gefangenschaft zutrug. Insbesondere aus den Briefen und dem Tagebuch Haydées gehen zumal gewisse Ereignisse aus jener Zeit hervor, da er als reicher, gelehrter und mächtiger Graf von Monte Christo nach Paris zurückkehrte.
Somit enthält dieser Band meinen Versuch, die wahre Geschichte des Edmond Dantès und der Mercédès Herrera – in allen unmittelbar ihren persönlichen Aufzeichnungen entnommenen, unverhüllten Einzelheiten – an die Öffentlichkeit zu tragen, eines von Gier, Eifersucht, tragischen Verwicklungen und Rachedurst entzweiten Liebespaars.
Es ist die Geschichte des Grafen von Monte Christo, wie sie nie zuvor erzählt worden ist.
Colette Gale
Mai 2008
Vor der Küste von Marseille, Frankreich
Er kannte jeden einzelnen grauen Stein in seiner Kerkerzelle, jede mit Mörtel gefüllte Ritze dazwischen, jede Veränderung in der Landschaft des Lehmbodens unter seinen dreckigen, kalten und nackten Füßen.
Als eintausend davon verstrichen waren, hatte er die Tage seiner Gefangenschaft zu zählen aufgehört, da ihm nichts mehr daran lag zu überblicken, was zu einer Ewigkeit aus madengespicktem Schwarzbrot, brackigem Wasser und entsetzlicher, dunkler Einsamkeit geworden war.
Endlos lange hatte er schon mit niemandem mehr gesprochen, nicht mehr seit dem Tag, da er seinen Wärter angefallen und zu erfahren verlangt hatte, warum es ihn hierher verschlagen hatte, eingekerkert – was er getan, welches Verbrechen er begangen, wer ihn hierher geschickt hatte, welcher furchtbare Irrtum geschehen sei. Doch als einzige Antwort war er in diese Zelle geworfen worden, eine noch kleinere und dunklere als seine vorherige.
Beinahe hatte er schon aufgehört, sich den eigenen Namen ins Gedächtnis zu rufen.
Edmond Dantès.
Seine Lippen bewegten sich lautlos, denn es war niemand da, der hätte zuhören können.
Doch der Name, der ihm dann als leises, sanftes Murmeln über die Lippen kam, war ein Talisman, war wie die Rettungsleine für einen ertrinkenden Seemann, an die er sich über all diese Tage, diese Jahre hinweg geklammert hatte.
«Mercédès.»
Er sagte ihn erneut, nicht mehr als ein Atemhauch in seiner schweigenden Welt. «Mercédès.»
Wie viele Male mochte er ihren Namen ausgesprochen haben?
Anfangs unter Qualen … er war von ihr, der Frau, die er heiraten wollte, ohne Gelegenheit zu einem Lebewohl fortgeholt worden.
Dann in Verzweiflung. Würde er sie je wiedersehen? Sie berühren?
Unter Schmerzen. Würde sie auf ihn warten? Hatte sie versucht, ihn zu finden?
Eine Zeitlang waren die einzigen Geräusche, die er von sich gab, die Silben ihres Namens, wenn er ihn verzweifelt in die fadenscheinige, von Staub durchwobene Decke schluchzte, die Lippen trocken, aufgesprungen und auf ihnen der Geschmack von Schmutz. Würde sie sich seiner erinnern?
Zuletzt … voll Ehrfurcht. Als seien ihr Name, ihr Andenken ein Licht in der Schwärze seines Lebens. Etwas, um sich daran zu heften, danach zu verzehren, dafür zu leben. Ein Talisman. Um geistig gesund zu bleiben.
«Mercédès.»
Wenn sein Verstand an den Rand des Wahnsinns geriet, er sich danach sehnte, sein Leben zu beenden, und nur nicht die Waffe dafür hatte … wenn er alle Hoffung aufgab, entsann er sich ihrer lebhaften, von Klugheit und Witz erfüllten dunklen Augen. Der glatten, lieblichen Rundung ihrer goldbraunen Arme, der ovalen Form ihres wunderschönen Gesichts, das ihn an das Gemälde der heiligen Jungfrau Maria aus der Eglise des Accoules erinnerte, der Kirche, in der sie hatten heiraten wollen.
Ihre Lippen … Gott hatte sie voll und rot gemacht, und zweifelsfrei waren sie dazu geschaffen, auf Dantès eigenen Mund zu passen. Er sah sie weit offen vor Glück an dem Tag, als er von der See zurückgekehrt war und ihr mitteilte, er sei zum Kapitän seines eigenen Schiffes ernannt worden … dann weich und anschmiegsam unter seinem eigenen Mund später am selben Nachmittag.
Wie hätte er wissen können, dass er nur zwei Tage später von ihr genommen werden würde?
Wer hatte ihm dies angetan? Wer hatte ihn verraten?
Er dachte daran zurück, wie seine auf See von den Tauen rau gewordenen Hände ihre warmen Arme emporgeglitten waren, sie auf dem versteckten Hang an seinen Leib gezogen und so ausgerichtet hatten, dass er sich an ihrem Mund laben und diesen sinnlichen, vielversprechenden Lippen Lustschreie entlocken konnte. Sie zärtlich necken konnte, um das Licht der Liebe in ihren braunen Augen zu sehen, ehe der Schwung ihrer kräftigen Wimpern herabhuschte, sittsam wie die vorgezogenen Fensterläden an ihrem verwitterten Häuschen.
Selbst jetzt, Gott weiß wie viele Jahre später, klammerte sich Dantès daran, sich des schlüpfrigen Gleitens ihres Kusses zu entsinnen, des Rhythmus seiner sich mit der ihren vereinigenden Zunge in jener warmen, feuchten Höhle, ein Echo zugleich der engen, nach Moschus duftenden zwischen ihren Beinen.
Er war wieder dort, als seine Hände die schlichte Bauernbluse fortzogen, das ungefärbte Leinen sahnig gegen ihre sonnengebräunte Haut, und ein einfaches Goldkreuz und zwei herrliche Brüste freilegten zusammen mit dem schwachen Geruch nach Küchenherd vermengt mit Zitrone. Ihre Brüste, groß wie Apfelsinen, deren pralles Fleisch sich unter seinen Handflächen straffte, dunkle Nippel, die zur Sonne aufragten, während er sie dort in dichtem warmem Gras und zerdrückten Kamillen liebte.
Sie reckte sich ihm entgegen, als seine Hände ihren schmalen Rücken hinunterglitten, und ihr Kinn richtete sich auf, während das Bündel walnussbraunen Haars an ihrem Hinterkopf sich löste. Als er sich vorbeugte, um die Lippen um einen dargebotenen Nippel zu schließen, wallte Dantès’ eigene Sehnsucht auf, da er ihren leisen Lustschrei in einen tiefer klingenden des Begehrens umschlagen hörte. Ihre Beine regten und spreizten sich neben ihm ein wenig, und ihr bloßer Schenkel streifte seine salzverkrustete Seemannshose. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich umzuziehen, bevor er sie zu ihrer Wiedervereinigung auf diesem abgelegenen Hügel holen kam.
Er lutschte und leckte, umkreiste mit seiner kräftigen Zunge langsam die Spitze ihres Nippels, nahm sich alle Zeit, die er brauchte und wollte, spürte die angenehme Schwere seines Glieds, als es sich füllte und schwoll. Eine ihrer Hände hatte den Riemen gelöst, der sein dunkles Haar zurückhielt, und nun fiel es ihm wie ein Vorhang ins Gesicht, als er sich zu ihr hinunterbeugte.
Mercédès löste die Ösen an seinem Hemd, und ihr Atem wurde schneller, als sich seine Hand über ihre andere Brust schlich. Er spreizte die Finger darüber und streifte dann sanft mit den Rückseiten seiner Nägel über einen Nippel, während er den anderen zugleich kräftig in die Länge zog. Sie bewegte sich unruhig, erschauerte über sein Spiel an ihr, während die Sonne ihm heiß auf den Hinterkopf und den auf einmal bloßen Rücken brannte.
«Edmond», murmelte sie, zog ihn an sich, fort von ihren Brüsten, damit sie ihm in die Augen sehen konnte. Der Ausdruck darin, als sie sein Gesicht zurück an das ihre führte, erfüllte ihn mit solchem Glück, solcher Erwartung und Liebe, dass er beinahe weinte. Sie erhob sich unter ihm, hob den Mund an, ihre vollen Lippen, die sich glutvoll auf seine schmiegten, über sie schlüpften und daran lutschten, und ihre Hand überraschte ihn damit, hinunter an seinen Hosenschritt zu gleiten.
Dann löste sich die Zeit für ihn in einem Strudel der Sinnesreize auf – ihre seinen heißen Schwanz streifenden Finger, ihre beiden aufeinandergepressten Lippenpaare, ihr leises, tiefes Stöhnen, die seidige Wärme ihrer bloßen Haut.
Dann rollte er sich auf den Rücken, und oben schnitt ein Olivenbaum in den strahlend blauen Himmel. Mercédès richtete sich über ihm auf, den schlanken Rumpf und die herrlichen Brüste halb von ihrem herabfallenden dichten dunklen Haar verdeckt. Ihre roten Lippen lösten sich voneinander, um weiße Zähne zu entblößen, allesamt gerade bis auf einen schiefen zuoberst, der ihre Vollkommenheit wohltuend ergänzte.
Er half ihr, sich zu bewegen, mit gespreizten Beinen auf ihn zu hocken, und fühlte die schlüpfrige Enge, als sie sich um seine wartende Erektion schmiegte. Sah zu, wie sich ihre Augen halb schlossen und ihr aufreizendes Lächeln sich in Verwunderung und Lust verlor.
Oh, diese Lust.
Und er bewegte sich unter ihr, erst gemächlich, die Hände auf ihren Hüften, ihre Beine an seinen Flanken angewinkelt. Sie reckte die Arme empor, ihre Brüste hoben sich, ihre Finger streiften die tief hängenden Olivenblätter, während sich ihr Antlitz hob, ihre Lippen sich teilten und ihr Atem sich beschleunigte. Seine Welt drehte sich um die Stelle, an der sie sich schlüpfrig, heiß und rhythmisch vereinigt hatten. Er bewegte sich, sie bewegte sich ebenfalls, und die Schönheit all dessen entwickelte sich nach und nach wie ein Ankerseil, das in die Meerestiefen hinabgleitet, bis sie plötzlich beide aufschrien, beide erschauerten, verschwitzt und warm, und gemeinsam auf dem Gras zusammensanken.
«Mercédès», erinnerte er sich, geflüstert und ihr dabei das Haar aus dem Gesicht geschoben zu haben, «ich liebe dich.»
Sie erhob sich, um ihn erneut zu küssen, ihr fülliger Busen an seiner Brust, ihre von Arbeit gezeichneten Hände ein Streicheln auf seiner Schulter. «Ich werde dich immer lieben, Edmond.»
Wie oft er schon während der dunklen Jahre in seinem Verlies diese himmlischen Augenblicke nacherlebt hatte. Die Erinnerung, die Imagination war alles gewesen, was ihn in jenen frühen Tagen bei Verstand gehalten hatte … und jetzt … jetzt zogen sie ihn womöglich in den Wahn, einen tiefen Brunnen, den er willkommen hieß, denn sicher wäre es eine Labsal, verrückt zu sein, statt sich auszumalen, nie wieder das Licht des Tages zu sehen.
Er betete um seinen Tod.
Er aß nicht mehr.
Am vierten Tag nach seinem Entschluss, Selbstmord zu begehen, starrte er den Teller Schwarzbrot und den Becher brackiges Wasser an. Sein verschwommener, erkrankter Geist meinte, zwei Becher zu sehen, dann drei. Und mehrere Kanten Brot stichelten ihn. Er hätte schwören können, ein Licht in seiner Zelle zu sehen. Er spürte Mercédès’ Berührung, sah das Gesicht seines geliebten père.
Und dann hörte er von irgendwoher ein schwaches Scharren.
Und dann, viele Stunden später, bröckelte ein kleiner Teil der Steine, die sein Verlies ausmachten, zu Boden, und der Kopf eines älteren Mannes lugte herein.
«Ich bin Abbé Faria», sagte er. «Und anscheinend ist dies nicht der Weg nach draußen.»