Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer, geboren 1958, leitet die Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm und das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen. Er ist Autor zahlreicher Bücher, darunter befinden sich auch die Bestseller Lernen und Vorsicht Bildschirm! sowie Digitale Demenz. Fast zehn Jahre moderierte er die wöchentliche Sendereihe Geist & Gehirn auf Bayern Alpha. Manfred Spitzer ist einer der bedeutendsten Gehirnforscher Deutschlands. Er versteht es wie niemand sonst, wissenschaftliche Erkenntnisse anschaulich und dennoch fundiert zu vermitteln.
Norbert Herschkowitz ist Kinderarzt, Hirnforscher und renommierter Buchautor. Er leitete 25 Jahre lang die Abteilung für Entwicklung und Entwicklungsstörungen an der Kinderklinik des Universitätsklinikums Bern. Er ist Vorstandsmitglied der Schweizerischen Hirnliga.
WIE BABYS LERNEN –
DAS ERSTE JAHR
Wenn Babys geboren werden, sind sie scheinbar völlig unfähig und eigentlich nur passive Wesen. Sie schreien, wenn sie Hunger haben, sie lassen das Ergebnis ihrer Verdauungsbemühungen unter sich und haben gerne Wärme und Geborgenheit. Doch ansonsten ist mit Babys nicht viel los. Man wickelt sie ein und lässt sie liegen. Diese Sicht der Dinge, die gab es tatsächlich einmal. Heute wissen wir: Nichts ist falscher als das. Babys sind wie Schwämme, die sich vollsaugen. Sie saugen nicht nur an der Mutterbrust, nein, sie saugen auch an der Welt. Und sie saugen die Welt in sich auf. Ganz aktiv. Die Säuglingsforschung der letzten 20 bis 30 Jahre hat sehr viel dazu beitragen können, dass wir heute besser verstehen, was genau bei Babys passiert. Wie sie lernen. Wie das Lernen in Phasen erfolgt. Warum es in Phasen erfolgt. Wie sich Gehirnentwicklung, Gehirnreifung und Lernen gegenseitig stützen und einander bedingen. Und wir haben verstanden, zumindest ein Stück weit, was Babys eigentlich tun. Sie lernen, und wie das genau passiert, erkläre ich in den folgenden Kapiteln.
Ich bin immer wieder fasziniert, was Babys im ersten Jahr bereits alles können und was sie in dieser Zeit noch lernen. Sie kommen in eine Welt hinein, die neu für sie ist, die sie so nicht erlebt haben während der neun Monate, in denen sie im Bauch ihrer Mutter heranwuchsen. All diese neuen Töne, Farben, Gerüche. Wenn ich zum Beispiel in meine Hände klatsche, dann wird es die ersten drei, vier Male zusammenzucken. Das nächste Mal dann aber nicht mehr. Es hat also gelernt: Das ist keine Gefahr für mich, es bedroht mich nicht. Und es hat gelernt, dass es nicht mehr zusammenzuzucken braucht. Der Grund dafür ist, dass das Baby ein Kurzzeitgedächtnis hat, es weiß: Ich habe das jetzt schon viermal erlebt – und nichts ist passiert. Wir nennen das in der Fachsprache Habituation.
Habituation, das heißt eigentlich nichts anderes als Gewöhnung. Und Gewöhnung ist eine ganz einfache Form von Lernen. Ich muss ja was wissen, wenn ich mich an etwas gewöhne, und offensichtlich habe ich das behalten, woran ich mich gewöhnt habe. Betrachten wir als Beispiel einmal das Riechen. Wussten Sie, dass Babys im Mutterleib schon riechen? Das ist Tatsache, doch wie hat man das herausgefunden? Herausgefunden hat man dieses durch ein Experiment, das man nur im Elsass machen konnte (wegen der Gewürze) und das vor wenigen Jahren in einer Fachzeitschrift publiziert wurde. Es ging dabei um das Riechen, genauer gesagt um das Riechen und Schmecken von Anis. Anisgeschmack ist sehr durchdringend und besonders charakteristisch.
Der Punkt ist nun, dass dieser Anisgeschmack in sämtliche Körperflüssigkeiten eindringt, also auch in die Flüssigkeit, die sogenannte Amnionflüssigkeit, in der das kleine Baby im Mutterleib badet. Nimmt nun eine Mutter zwei Wochen vor der Geburt Aniskekse, Anissaft, Anissirup und Anis in jeder erdenklichen Form in größeren Mengen zu sich, führt das dazu, dass das Ungeborene im Mutterleib quasi in Anis badet. Nach der Geburt hat man dann den Kindern dieser Mütter, den Neugeborenen, einen Wattebausch entweder mit einem geruchlosen Paraffinöl oder mit Anisöl vor die Nase gehalten. Und bei denjenigen, die das Anisöl schon kannten, jedenfalls seinen Geruch, bei denen gingen die Mundwinkel nach oben. Die haben also »gelacht«. Denjenigen, denen das Anis noch fremd war und die das Gewürz zum ersten Mal gerochen haben, bei denen gingen die Mundwinkel nach unten. Bei diesem offensichtlichen Mundwinkelrauf und Mundwinkelrunter könnte man natürlich sagen: »Na ja, der Experimentator hat auch ein bisschen gelacht und deswegen haben die Babys nur auf ihn reagiert.« So war das aber nicht. Man hat nämlich die Kleinen per Video aufgenommen und die Mundwinkel exakt vermessen. Außerdem wurde bei diesem Versuch noch eine Kontrollbedingung eingehalten: Die Personen, die die Messungen vornahmen, haben das Anis zum einem nicht gerochen (es gab für sie einen Wattebausch, der mit Paraffinöl getränkt war), und zum anderen wussten sie bei ihrer Auswertung nicht, ob das Baby im Mutterleib schon Anis gerochen hatte oder erst nach der Geburt.
Tatsächlich konnte man mit dieser Untersuchung ein für alle Mal und absolut sicher zeigen, dass Babys im Mutterleib Anis riechen können und dass sie nur wenige Stunden nach der Geburt – sie waren übrigens die jüngsten Versuchspersonen, die jemals an einem psychologischen Experiment teilnahmen – beim erneuten Kontakt von Anis sich an das Gewürz erinnern können. Und dadurch zu lächeln anfangen. Die Neugeborenen, die es nicht kannten, fanden es eigenartig und ängstigten sich eher oder bekamen dadurch schlechte Laune. Natürlich riechen die Babys im Mutterleib nicht all das, was die Mutter auch schon riecht. Aber an ein paar wenige Düfte können sie sich nach der Geburt durchaus erinnern. Sie haben sie im Mutterleib gelernt. So können sie sich etwa an den Geruch der Mutter erinnern. Und wenn Babys von der Mutter auf den Arm genommen werden, dann ist das nicht nur schön warm und weich, nein, es riecht auch, salopp ausgedrückt, die letzten neun Monate. Und das finden Babys toll und schlafen deswegen besser ein.
Was ich auch immer wieder beobachte: Neugeborene Kinder schauen mit einem gewissen Interesse Gesichter an. Und blicken mehr ein Gesicht als etwas anderes an. Das ist nicht unerhört, das ist etwas ganz Besonderes: Ein Kind kommt auf die Welt und in seinem Gehirn ist schon das Schema eines Gesichts »programmiert«. Also zwei Kreise für die Augen. Ein Vertikalstrich für die Nase. Ein Horizontalstrich für den Mund. Und auf dieses Schema spricht es an. Denn wenn man die zwei Kreise und die Linien umstellt, schaut das Baby es sich nicht an. Es braucht also dieses Gesichtsschema. Das zeigt, dass ein Kind mit vielen Möglichkeiten auf die Welt kommt. Es ist quasi lernbereit. Es hat für vieles eine gewisse Aufmerksamkeit. Es schaut sich um, es reagiert. Das sind alles wichtige Voraussetzungen für das Lernen.
Babys müssen Gesichter erkennen, denn Gesichter gehören zu dem Wichtigsten, was sie sehen. Das Sehen ist vor der Geburt praktisch noch gar nicht entwickelt. Ein Ungeborenes sieht wahrscheinlich ein paar Lichtscheine im Mutterleib, aber erst mit der Geburt geht es so richtig los. Für erwachsene Menschen ist der Sehsinn der wichtigste Sinn, aber für Babys fängt mit der Geburt das Sehen erst so richtig an. Die Welt ist ja unglaublich bunt und bewegt. Da passiert viel. Und genau das muss das Baby alles erst einmal mitbekommen.
Wir Erwachsene können uns gar nicht mehr richtig vorstellen, was es heißt, ohne Seherfahrungen die Welt zu betrachten. Wenn wir uns umschauen, also Seherfahrungen machen, heißt das nicht, dass da irgendwelche Lichtpunkte auf dem Augenhintergrund sind, mithin irgendwelche Pixel in unsere Augen hineinfallen, die dann im Einzelnen vom Gehirn verarbeitet werden. Nein, es geht viel rascher. Die Pixel gelangen unmittelbar ins Gehirn, und weil es schon so viel gesehen hat, kann es in Windeseile einschätzen, was es da vor sich hat. Einen Stuhl, einen Tisch, einen anderen Menschen, Tiere. Wir wissen heute, dass das ganz schnell geht und dass das nur deswegen so schnell gehen kann, weil wir schon so viel wahrgenommen haben. Sonst wäre es unmöglich, sich visuell derart rasch in der Welt zurechtzufinden. Weil das so ist, muss das Baby am Anfang aber erst einmal unglaublich viel gucken. Und das, was es sich da anschaut, eben auch merken. Das heißt, es wird ganz viel lernen. Und zwar nicht unbedingt Dinge, bei denen wir denken, dass man das lernen muss.
Gut, meinetwegen, es gibt Hunde und Katzen. Und es gibt Objekte, die nicht wieder verschwinden, sondern kontinuierlich vorhanden sind. Und diese Objekte sind vielleicht widerständig. Wenn man an ihnen fühlt, haben sie bestimmte Tasteigenschaften, die aber wiederum mit den Seheigenschaften etwas zu tun haben. Raue Sachen sehen anders aus und fühlen sich anders an als spiegelglatte Gegenstände. Und nasse Dinge sind wieder anders als trockene Dinge. Und so gibt es unglaublich viel zu lernen, wie all die Gegenstände um einen herum aussehen. Und wie gesagt, das Wichtigste sind die Gesichter. Denn mit anderen Leuten hat ein Baby dauernd zu tun. Und aus diesem Grund kann es tatsächlich schon bei der Geburt Gesichter erkennen. Es hat sozusagen eine Art Gesichter-Erkennungsmodul. Es hat keine Gesichter gespeichert, aber es reagiert sozusagen auf »Punkt, Punkt, Komma, Strich«. Und das ist natürlich schön, denn es fängt jetzt an, alles, was wie »Punkt, Punkt, Komma, Strich« aussieht, besonders gut zu lernen. Und dafür, wenn man so will, ein eigenes Stück Gehirn bereitzustellen, das spätere Gesichter-Areal. Und sollte es bei einem erwachsenen Menschen aus irgendeinem Grund ausfallen, dann kann diese Person zwar noch sehen wie jeder andere auch. Wenn diese Person seiner Mutter ins Gesicht guckt, kann sie sogar sagen: »Du hast einen Pickel auf der Nase.« Aber sie sieht nicht mehr, dass es die eigene Mutter ist. Denn genau dafür ist dieses Areal zuständig.
Wie sehr diese Fähigkeit lernabhängig ist, kann man daran sehen, dass für uns zum Beispiel alle Japaner gleich aussehen. Woran liegt das? Nun, weil wir uns lernenderweise auf die Unterschiede zwischen den Gesichtern, die wir dauernd sehen, jenen von Onkel Egon und Tante Emilie und so weiter, einschießen. Wir strukturieren unser Gesichter-Areal so, dass da alle Gesichter, die wir kennen, schön verteilt sind und dass der ganze Platz optimal genutzt wird. Und wenn da jetzt einer kommt, der ganz anders aussieht, dann legen wir den in eine Ecke ab. Das ist dann der mit den ganz schmalen Augen und den besonderen Gesichtszügen. Wir haben nur eine Ecke, und in diese tun wir erst einmal alle Japaner hin. Und nebenbei: Die Japaner machen es mit uns ganz genauso. Wussten Sie, dass wir Europäer für den Durchschnittsjapaner auch alle gleich aussehen? Die eigenen Landsleute sehen für sie alle ganz verschieden aus. Nur wir Europäer, die kommen ihnen alle ähnlich vor.
Woran liegt das? Ja, weil die Japaner in ihrer frühen Kindheit eben Japaner sehen gelernt haben. Und wir Europäer haben eben Europäer sehen gelernt. Im Lauf der Zeit kann sich das ändern. Wenn Sie einmal eine Weile in Japan oder China sind, werden Sie merken: Hoppla, die sehen gar nicht alle gleich aus. Aber es wird weiterhin immer ein besonderes Gefühl für den europäischen Menschen bestehen bleiben und für dessen Gesichtszüge, weil man dieses spezifische Erkennen von frühester Kindheit an am deutlichsten gelernt hat. Und dafür – das hat man nachweisen können – wurde der meiste Platz im Gehirn geschaffen. Und wodurch? Durch Lernvorgänge.
Das neugeborene Kind ist dazu eingerichtet, zu überleben. Es braucht seinen Kreislauf, es braucht seine Atmung und es braucht auch eine gewisse Aufmerksamkeit. Und dafür ist der Hirnstamm wichtig. Das ist der oberste Teil des Rückenmarks und der unterste Teil des Gehirns. In diesem Hirnstamm werden die ganz entscheidenden Lebensfunktionen, also Atmung, Kreislauf und Aufmerksamkeit, kontrolliert und auch zum Teil reguliert. Auf diese Weise hat das Kind das alles zur Verfügung, wenn es auf die Welt kommt. Und so sehen wir manchmal bei neugeborenen Kindern, dass sie ein gewisses Lächeln haben. Das ist ein Stammhirnlächeln. Das geht von diesem Teil des Gehirns aus, es hat keine emotionale Bedeutung. Zu vergleichen ist das ein bisschen mit dem Gesichter-Anschauen. Es ist nicht das Anschauen eines Gesichts einer bestimmten Person, sondern es ist das Anschauen eines Gesichtsschemas. Die Weiterentwicklung kommt dann noch. Die Bedeutung des Gesichts wird in ziemlich kurzer Zeit erlernt, und ein soziales Lächeln, das wirklich in Verbindung mit einem Menschen ausgelöst wird, erfolgt dann auch noch. Aber das braucht eine weitere Hirnentwicklung. Und in diesem Zusammenhang ist die Rolle der Hirnrinde von Bedeutung.
Normalerweise denken Sie nicht ans Atmen und an Ihren Herzschlag. Den haben Sie praktisch gar nicht unter Kontrolle. Aber Sie können einfach die Luft anhalten, wenn Sie wollen. Das Wollen ist eine ganz hochstufige Gehirnfunktion. Babys können noch nicht wollen. Bei denen läuft alles automatisch ab. Genauso ist das mit der Aufmerksamkeit. Sie können sich bewusst den Dingen zuwenden. Das Baby kann es nicht. Das Baby wendet sich automatisch dem zu, was auf es sozusagen einströmt. Und dann bleibt seine Aufmerksamkeit, kontrolliert durch den Hirnstamm und durch bestimmte Aufmerksamkeitsmechanismen, daran kleben.
Mütter finden das super. Mütter lächeln das Neugeborene an, und es schaut die Mutter an und lächelt zurück. Für die Mutter ist es ein unglaublich tolles Gefühl, wenn ihr Baby zurücklächelt und gar nicht mehr seinen Blick von ihr lassen kann und weiter und weiter die Mutter anguckt. Wenn die Mutter wüsste, dass das Kind gar nicht anders kann, als immer wieder zurückzugucken, weil seine Aufmerksamkeit noch gar nicht entwickelt ist …
Inzwischen hat man herausgefunden, dass erst mit vier, fünf Monaten die Fähigkeit entsteht, seine Aufmerksamkeit wieder abzuwenden von etwas, dem man sich gerade erst zugewendet hat. Dieses Abwenden entsteht nach und nach, und dafür braucht es höhere Hirnbereiche, da reicht der Hirnstamm nicht mehr aus. Diese höheren Hirnbereiche entwickeln sich, während die Aufmerksamkeit schon gebraucht wird. So kommt es dazu, dass es der Mutter am Anfang erscheint, als würde die Kleine oder der Kleine sie innig lieben. Und das ist vielleicht auch ganz gut, denn ein Säugling stört ja oft genug nachts und raubt ihr manchen Nerv. Es kann gut sein, dass dieses Entwicklungsdefizit manchen Babys sogar das Leben gerettet hat. Denn man könnte sie ja vielleicht doch irgendwie … Aber man tut es nicht, weil sie so süß lächeln.
Wie kann ein Kind in diesem Alter, also zwischen der Geburt und den ersten drei Monaten, so viel lernen? So viel aufnehmen? Die Nervenzellen sind mit seiner Geburt vorhanden. Diese Milliarden Nervenzellen, die hat das Kind schon. Wie praktisch. Und nun passiert es, dass in diesen wenigen Monaten die Verbindungen zwischen den Nervenzellen enorm zunehmen. Wir sprechen von einem Blühen. Das heißt, dass das Kind in den ersten drei Monaten enorm viele neue Verbindungsstellen schafft und damit neue Verknüpfungen, und das gibt ihm die Möglichkeit, alles zu lernen.
Nervenverbindungen sind die Voraussetzung dafür, dass überhaupt gelernt werden kann. Denn lernen heißt letztlich nichts anderes, als dass Nervenverbindungen sich ändern. Wichtig ist, dass sie dafür da sind. Und wenn sie dann da sind und sich ändern können durch Lernprozesse, dann entstehen im Gehirn Spuren. Das heißt, bestimmte Impulse sausen durch bestimmte Verbindungen, und dadurch werden diese Verbindungen stärker. Welche Impulse nun welche Verbindungen wählen, das hängt von den Erfahrungen des Kindes ab. Ob das Kind, na ja, grüne Bäume oder Wüste oder Eis oder was auch immer sieht. Das Gesehene sind die Erfahrungen. Und entsprechend werden diese oder jene Impulse über diese oder jene Nervenzellen laufen. Aber die Impulse werden an den Nervenzellen dafür sorgen, dass die Verbindungen, über die sie laufen, stärker werden. Und diese stärkeren Verbindungen, das ist letztlich Lernen. Immer dann, wenn wir unser Gehirn benutzen, ändert es sich. Und beim Baby ändert es sich besonders schnell. Das heißt, durch die Benutzung werden ganz schnell Synapsenstärken geändert, und dadurch entstehen, wie erwähnt, Spuren im Gehirn.
Das Gehirn ist allerdings viel interessanter als zum Beispiel ein Strand, wo man ja auch herumlaufen kann, wo vielleicht auch ein paar andere Leute die immer gleichen Wege laufen, sodass Spuren entstehen. Das Gehirn ist viel dynamischer. Stellen Sie sich Folgendes vor: einen Urwald. Da sprießt und wuchert es, und dann tauchen plötzlich Elefanten auf und laufen einen bestimmten Weg. Auf diese Weise entsteht ein Trampelpfad. Der nächste Elefant kann dadurch viel unkomplizierter in diesem dichten Dschungel vorankommen, denn dieser Trampelpfad ist auf einmal eine Spur geworden. In unserem Kopf laufen natürlich keine Elefanten durchs Gebüsch, aber Impulse über Synapsen, die Kontaktstellen zwischen zwei Nervenzellen. Und so entstehen ebenfalls Trampelpfade, Psychologen nennen die seit über 100 Jahren Gedächtnisspuren. Und Neurowissenschaftler haben wiederum zeigen können, dass es Spuren sind, die durch die Impulse hinterlassen werden.
Warum ist es nun wichtig, dass es besonders früh im kindlichen Köpfchen ordentlich sprießt und sprosst? Ganz einfach: Stellen Sie sich einen Urwald vor, wo nichts sprießt und sprosst und deswegen auch keine Spuren entstehen können. Es braucht Dickicht, damit es Spuren geben kann. Genauso brauchen wir viele Synapsen, damit Spuren entstehen können. Und diese Spuren, diese guten Wege, werden auch beibehalten. Synapsen, die nicht gebraucht, die nicht verwendet werden, werden später sogar aktiv wieder abgeräumt. Die werden durch die Passivität nicht kleiner, nein, die werden wirklich aktiv abgebaut. Die brauchen wir nicht mehr, wenn erst die Spuren entstanden sind. Hinzu kommt noch Folgendes: Der größte Teil der Nervenzellen in unserem Gehirn erhält seine Impulse gar nicht von der Welt draußen, sondern von anderen Nervenzellen. Nun liegen die Zellen nicht irgendwie kunterbunt im Kopf herum, sondern sie sind in ganz bestimmter Weise organisiert.
Wir wissen, dass es bestimmte Zellen gibt, die sich um Gesichter kümmern. Andere Zellen kümmern sich um Töne. Und wieder andere um Ecken und Kanten oder um Gerüche. Das ist alles angelegt. Unser Gehirn kommt also lernbereit auf die Welt, ist bereit, bestimmte Dinge aufzunehmen. Aber bei der Geburt sind nur ganz wenige Bereiche richtig funktionsfähig. Dazu gehört der Hirnstamm, natürlich, den brauchen Babys zum Atmen, für den Herzschlag und am Anfang auch für die Aufmerksamkeit. Später entwickelt sich dann aber dieses riesengroße Ding, die Gehirnrinde. Zunächst lässt sich noch gar nicht so richtig klar sagen, dass es sich um ein Organ handelt, weil es so gefältelt ist. Wenn Sie ein Tuch zusammenknäulen, erkennen Sie auch nicht gleich beim Betrachten des Knäuels, dass das ein Tuch ist. Aber wenn sie es auseinanderziehen, dann sehen Sie plötzlich: Oh, das ist ja ein zweidimensionales Gebilde. Ähnlich müssen Sie sich die Gehirnrinde vorstellen.
Die Gehirnrinde ist eine ungefähr fünf Millimeter dicke Schicht mit ganz vielen Nervenzellen. Etwa ein Viertel Quadratmeter groß, also 50 Zentimeter mal 50 Zentimeter messend, und sie besteht aus lauter einzelnen kleinen Bereichen. Diese Bereiche sind für bestimmte Dinge zuständig. Und jetzt kommt etwas ganz Wichtiges: Ist das Baby auf die Welt gekommen, sind die Bereiche, die für ganz einfache Sachen zuständig sind, schon funktionstüchtig. Sie sind direkt mit der Außenwelt verbunden. Das heißt, es strömen Seheindrücke, es strömen Tasteindrücke, Höreindrücke und viele verschiedene andere Dinge auf den Säugling ein, und alle Eindrücke sammeln sich dann, über eine Zwischenstation, direkt in der Gehirnrinde. So entstehen dort, erfahrungsabhängig, bestimmte Nervenzellen, die für bestimmte Dinge zuständig sind. Für tiefe Töne, für hohe Töne, für mittelhohe Töne, für spezielle Bereiche der Netzhaut, für den Rand, den linken Rand, den rechten, für oben, unten. Später für bestimmte Ecken und Kanten. Für Strukturen, für Farben und so weiter. Diese Bereiche lernen Babys also am Anfang. Deswegen sind es auch die, bei denen die Synapsen von Beginn an besonders heftig sprießen, denn wir brauchen ja Dickicht, damit Spuren entstehen.
Das ist aber noch nicht das ganze Gehirn. Es kommt auf die Welt in einer bestimmten Weise und ist entsprechend verdrahtet; man spricht auch von Verdrahtungen. Das sind natürlich keine Drähte, es sind Leitungen, Nervenleitungen. Und diese Leitungen sind nun so, dass von den einfachen Arealen ganz viele Leitungen zum nächsten Areal gehen. Am Anfang funktioniert das aber noch gar nicht richtig, weil die Leitungen nicht besonders gut funktionieren. Aber es geht weiter. Das nächste Areal, das dann etwas später zugeschaltet wird, kann vielleicht sogar schon Silben. Und das nächste, das wiederum nicht von außen die Impulse erhält, sondern von dem Areal, das darunterliegt, das kann womöglich die Silben zu Wörtern zusammensetzen oder die Wörter zu Sätzen. Und wieder weiter kann dann Sinn entstehen. Und wieder weiter kann man eine ganze Geschichte verstehen.