INGVAR HELLSING LUNDQVIST
WIE MAN EIN GENIE TÖTET
Copyright © 2019 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Originaltitel: Komponisten – eller att döda ett geni
© 2016 Ingvar Hellsing Lundqvist
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Porträt Hans Rott © ÖNB/Wien F156.Rott.44/2
Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Notenblatts
von Hans Rotts Komposition »Das Veilchen«
© ÖNB/Wien: Mus.Hs.28.327, Bl. 1
ISBN 978-3-7117-2074-0
eISBN 978-3-7117-5391-5
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Ingvar Hellsing Lundqvist, aufgewachsen in Göteborg, studierte Literatur und Philosophie und arbeitete als Lehrer. Er publizierte zahlreiche Erzählungen, »Wie man ein Genie tötet« ist sein Romandebüt. Seit der Uraufführung von Hans Rotts erster Symphonie 1989 (hundert Jahre nach dessen Tod) beschäftigt er sich mit dem österreichischen Komponisten.
ROMAN
AUS DEM SCHWEDISCHEN
VON JÜRGEN VATER
PICUS VERLAG WIEN
Über den Autor
Wie man ein Genie tötet
Nachwort
ANHANG
Er schlich zwischen den Säulen des Bahnhofs herum. Er musste den Agenten von Brahms entgehen. Sie wollten sehen, ob er Wien wirklich verließ.
Sie waren überall. In der Schlange vor der Tabaktrafik. Hinter Zeitungen auf Bänken. Am Fahrkartenschalter. Er zog den Hut tiefer in die Stirn.
Und der Koffer! Hin und wieder hob er ihn vor das Gesicht, wenn er sich auf eine Bank setzte, und lugte über den Rand.
Zwei Agenten saßen auf einer langen, schmalen Bank ein Stück entfernt. Jetzt zeigte der eine auf ihn. Er sah es deutlich. Er hielt den Koffer vor das Gesicht, erhob sich und eilte hinter eine Säule. Dort konnte er sich verborgen halten.
Gleich würde der Zug hier sein. Und die Freunde – er bereute, dass er so früh gekommen war. Aber endlich waren sie da. Nun waren alle Freunde da. Sie verdeckten und verbargen ihn, und er stellte sich mitten unter sie. Jetzt konnte ihm Brahms nichts mehr anhaben. Aber ihm graute davor, die Freunde zu verlassen. Er würde gezwungen sein, den Bahnsteig allein zu überqueren. Dann müsste er sich zeigen und würde den Agenten von Brahms ein leichtes Opfer sein.
Endlich dampfte die Lokomotive an. Er musste sich verabschieden und hinüberhasten, um einzusteigen.
Er eilte zu seinem Waggon, lief so schnell er konnte, aber der Koffer behinderte ihn. Er konnte nicht so rasch rennen, wie er wollte. Und er sah den Schatten. Jemand war ihm dicht auf den Fersen. Er musste in den Zug – so schnell wie möglich.
Die lange Reise nach Mülhausen hatte begonnen. Die erste Zwischenstation war Linz, wo er übernachten wollte.
Bis Linz setzte er sich nicht eine Minute. Er ging ständig zwischen den Waggons hin und her, und jedes Mal, wenn er jemandem begegnete, schaute er zu Boden oder hielt die Hand vor das Gesicht. Er wagte es nicht, in einem Waggon, in einem Abteil zu bleiben. Er hatte Angst vor dem Schaffner. Der hätte seine Fahrkarte sehen wollen und Brahms Meldung machen können. Dann würde Brahms wissen, wo er hinwollte.
In Linz angekommen, fand er in der Nähe des Bahnhofs ein Quartier für die Nacht. Er stieg die Treppe hinauf, und die Wirtin zeigte ihm das Zimmer. Er warf sich sofort auf das Bett. Von draußen hörte er Regen und Wind. Er konnte nicht einschlafen. Aber es war nicht das Prasseln des Regens, das ihn wach hielt, sondern das Klopfen. Tief in der Nacht hörte er es deutlich, und es wurde immer eindringlicher und anhaltender. Das waren die Agenten von Brahms, die an die Wände pochten. Überall. An alle Wände gleichzeitig.
Um Gottes willen! Er hielt es nicht mehr aus!
Hans Rott lag hellwach in kaltem Schweiß, bis er aufstehen musste. Er hatte sich verspätet und keine Zeit für das Frühstück. Hungrig und müde schleppte er sich zum Bahnhof.
Dann in den Zug zur Endstation. Nach Mülhausen. Diesmal aber setzte er sich auf eine Bank in einem Abteil. Er war zu Tode erschöpft und konnte nicht mehr stehen.
Als der Zug anfuhr, kam ein eleganter und gut gekleideter Herr herein und setzte sich ihm gegenüber. Hans Rott schloss immer wieder die Augen, ohne schlafen zu können.
Der Zug schnitt durch den Nebel über die Ebene. Der Nebel wurde immer dichter und verschlang alles, sodass nur die flackernden Leuchten der schnaubenden Lokomotive wie Augen durch die dunklen, rollenden Schleier gafften.
Und als das ratternde Geräusch der Schienen unerträglich wurde, das ohrenbetäubende Summen der Schmeißfliege unerträglich wurde, der Herr gegenüber eine Zigarre anzündete und unerträglich wurde – da zog er den großen Revolver, fuchtelte damit vor dem Gesicht des erstarrten Mannes und zischte in dessen aufgesperrtes Ohr: »Machen Sie die Zigarre aus! Brahms hat den Zug mit Dynamit gefüllt!«
Der Schaffner, der vorsichtig von hinten herangekommen war, schlug ihm den Revolver aus der Hand, und Rott warf sich vornüber auf die Holzbank. Zitternd und schluchzend begann er zu singen. Doch die Töne, die über seine Lippen kamen, blieben wie entstellte und schrille Kinderlieder zwischen den Abteilwänden stecken. Er schürfte und kratzte, ritzte mit seinen Fingernägeln in den Sitz unter seiner stoßenden Stirn. Der Schaffner warf sich über seinen Rücken und hielt den Zappelnden in festem Griff.
»Brahms hat den Zug mit Dynamit gefüllt!«
Rott schrie nun laut, und die Schreie mischten sich in das heisere Schnaufen der Lokomotive, die durch den Nebel raste.
Am Grenzbahnhof in Simbach schleppten sie ihn aus dem Zug. Als sie ihn herauszogen und auf den Bahnsteig zerrten, klammerte er sich an das Geländer, aber sie waren zu stark. Seine Knöchel traten weiß hervor, aber die Männer waren übermächtig.
Dann hinein in die Jacke. Diese entsetzliche Jacke. Kaum konnte er noch atmen. Die Arme waren festgeschnürt und unbeweglich. Er konnte nur weiter schreien, bis etwas ihm auch die Kiefer zusammenschnürte.
In der hart verknoteten Zwangsjacke wurde er am nächsten Tag durch die Tore der Psychiatrischen Klinik in Wien geschoben. Völlig kopflos. Schreiend. Er winselte, als summte er ein verhaltenes, halb ersticktes Lied.
Immer wieder fragten sie ihn, wer er sei, wie er heiße, wo er wohne.
Aber er antwortete nicht. Mal wimmerte, mal schrie er in den Armen der Pfleger. In seinen Papieren war zu lesen: Hans Carl Maria Rott. Geboren: 1.8.1858. Beruf: Kapellmeister. Adresse: Rotenturmstraße 16/1/4, Wien.
Theater an der Wien. Etliche Jahre zuvor.
Es war ausverkauft und die Stimmung angespannt. Der Künstler hatte seine Nummer beendet. Man jubelte in den wogenden Sitzreihen. Die Leute erhoben sich. Eine Unmenge applaudierender Hände.
Er warf rasche Blicke nach rechts, nach links und verneigte sich. Er verneigte sich in alle Richtungen. Jemand schleuderte einen Blumenstrauß auf die Bühne. Dann kam noch einer. Und ein weiterer. Er machte schnelle, taumelnde Schritte nach vorn, um sie aufzufangen.
Er hielt die Blumen in der Linken, lächelte dem Publikum zu und verbeugte sich tief. Immer und immer wieder. Als er sich streckte, um einen letzten Strauß zu fangen, knickte er mit dem Fuß ein und glitt über die Rampe.
Er fiel kopfüber. Hinunter auf das Klavier, weiter in die Tiefe des Orchestergrabens. Etwas zerbrach, knirschte abscheulich im Rücken. Er konnte nicht mehr aufstehen.
Sofort schwirrten Gesichter und aufgerissene Münder über ihm herum. Man brachte ihn hinaus zur Kutsche, die mit stampfenden Pferden wartete. In rasender Geschwindigkeit und mit langen weißen Strahlen aus dampfenden Nüstern stoben sie durch die Straßen der Stadt zum großen Krankenhaus.
Es stand schlimm um seinen Rücken. Das fühlte er. Aber es würde wohl vorübergehen, wenn er nur Geduld hatte. Allerdings hörte es nicht auf – obwohl er geduldig war. Vielleicht wenn er noch etwas länger wartete.
Ein halbes Jahr später lag er im Bett. Die Beine waren abgestorben, und die Arme konnte er nur schwer bewegen. Ein Freund vom Theater saß bei ihm. Abend für Abend. Gegenstände aus der großen Wohnung verschwanden nach und nach, aber dafür kam Geld herein.
Ein weiteres Halbjahr, und er saß unbeweglich in seinem Stuhl. Über Arme und Knie eine dicke Decke, doppelt gefaltet. Die abgestorbenen Arme rutschten immer wieder unter der Decke hervor. Aber man half ihm, sie wieder zurückzuschieben.
Wann immer man den Stuhl durch die schönen Alleen des Krankenhausparks rollte, sprach er über seine hübsche junge Frau. Alle hatte sie mit ihrer Jugend bezaubert. Mit ihrem Gesang. Auf den größten Bühnen der Stadt. Bis sie ihm früh gestorben war.
Die Schmerzen in den Beinen und im Rücken wollten nicht vergehen, und er blieb unbeweglich. Bis zum Schluss. Es dauerte zwei Jahre, ehe der Kopf sich endgültig zur Seite neigte. Im Stuhl. Im Park.
Es war Winter. Spätwinter.
Die Arme blieben hilflos über den Rädern hängen, pendelten hin und her. Ein Windstoß fuhr durch das vergilbte Gras. Ganz langsam rollte der Stuhl herrenlos zwischen längst verwelkte Blumen eines gefrorenen Beetes. Eine erneute Bö wühlte knisterndes, reifglitzerndes Herbstlaub um seine Füße auf.
Eine Krankenschwester lief rufend zu dem Rollstuhl: »Herr Rott, Herr Rott!«
Die Studenten, die Anton Bruckner in den Korridoren begegneten, lächelten verstohlen. Sie lächelten über die viel zu großen Hosen, die im Luftzug über den Fußboden flatterten. Und wenn er die Straßen entlangwanderte, rannte ihm stets eine Horde Jungen hinterher. Sie lachten und zeigten mit dem Finger auf ihn. Sie hatten grenzenlosen Spaß an dem kurz geschorenen Onkel in der allzu großen Kleidung. In der einen Hand hielt er den schwarzen Hut, der Kautabak rann unter dem kleinen Schnurrbart. Ständig wischte er sich die Stirn mit einem blauen Taschentuch, das wie angeklebt in der anderen Hand lag.
Etwa ein Jahr vor dem Unfall seines Vaters hatte Hans Rott am Konservatorium begonnen. Das Ende des Semesters und eine letzte Prüfung standen bevor. Es würde gut gehen – dank der Orgel. Sie war von Beginn an sein Instrument gewesen. Und er war zufrieden mit Anton Bruckner, den er bewunderte: den Orgellehrer, den Virtuosen, den Symphoniker.
Auch den anderen Studenten gefiel es bei Bruckner. Man mochte ihn. Und man weinte mit ihm bei Rückschlägen. Wie kurz vor Weihnachten voriges Jahr, als Bruckner seine dritte Symphonie aufführen sollte. Niemand wollte dirigieren, und die Wiener Philharmoniker waren geradezu feindselig. Bruckner war kein erfahrener Dirigent und führte linkisch das widerspenstige Orchester. Bald hörte man Gelächter aus dem Publikum. Selbst der anwesende Rektor des Konservatoriums lachte laut. Die Leute standen auf und gingen, einer nach dem anderen.
Sie aber blieben bis zum Ende sitzen. Bruckners kleine, getreue Schar. Er legte weinend den Taktstock nieder, war untröstlich und rief: »Kein Mensch mag mich …« Da eilten sie nach vorn, legten ihm die Hände auf die Schultern und versuchten, ihm etwas von dem Elend abzunehmen, das auf seiner zitternden Gestalt lastete.
Immer saß Anton Bruckner in den Pausen mit seinen Studenten zusammen. Und er lud sie zum Mittagessen ein. Zwar mussten sie Brot und Speisen selbst bezahlen, aber das Bier spendierte er – was wohl etwas an dem miserablen Gehalt zehrte, das die Schule ihrem bedeutendsten Lehrer zahlte. Hans Rott, Gustav Mahler und Rudolf Krzyzanowski mussten sich mit dem Bier zur Pause begnügen, weil ihre Taschen nie Gulden enthielten.
Aber beim Bier wurde lebhaft geredet. Philosophie, Gott, Politik, die Wege der Musik, Krieg, Revolution, Marx, der neue zeitgenössische Gott Wagner und dessen Prophet Nietzsche. Theorien und abermals Theorien.
»Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum. Goethe, meine Herrschaften.«
Bruckner hatte sich erhoben, als das Gespräch laut wurde und vor Überzeugungen loderte.
Er interessierte sich vor allem für einen der Studenten. Es war der junge Orgelschüler mit dem etwas träumerischen Blick und den blassen Wangen. Hans Rott spürte die Wärme, wenn sie gemeinsam an der Orgel saßen.
In einer der letzten Unterrichtsstunden wandte sich Anton Bruckner an ihn.
»Herr Rott, als ich meine Orgelprüfung ablegen sollte – das war vor vielen Jahren –, saß ich im Piaristenkloster an der großen Orgel. Sie ist so groß, dass ich meinte, Gottes eigene mächtige Stimme zu hören. Fünf ernste Herren sollten mich prüfen, und einer von ihnen hatte ein Stück ausgesucht. Einer der Richter fand es zu leicht und holte ein anderes, unendlich viel schwierigeres.«
»Das erste wäre sicher schon schwierig genug gewesen.« Hans lächelte Bruckner an.
»Ja, aber ich hatte keine Angst. Ich hatte den Herrn so lange durch das Spielen der Orgel in Sankt Florian und im Dom in Linz gepriesen, dass ich wusste, er würde meine Hände führen. Als ich mich hinsetzte, um das Stück durchzulesen, und etwas zögerte, hörte ich kaum verhülltes Gelächter von den hohen Herren. Aber nach einer Weile saßen sie mit offenen Mündern und starrten zu den Orgelpfeifen hinauf.«
»Und Sie spielten nur die Noten, die Sie in die Hand bekommen hatten, Herr Professor?«
»Nein, ich fing bald an zu erfinden. Ich improvisierte.«
»Und darin sind Sie ja Meister, Herr Professor.«
Bruckner lachte auf.
»›Herr Bruckner‹, sagte einer von ihnen, ›Sie hätten uns prüfen sollen! Wenn wir zusammen ein Zehntel von dem beherrschten, könnten wir uns sehr glücklich schätzen.‹«
Als Hans begann, seine Noten einzupacken, berührte Bruckner ihn leicht an der Schulter.
»Der Herr hat mich für alle Tage, Monate und Jahre an seinem Instrument belohnt. Und Herr Rott … man wird vielleicht darüber lachen und höhnen, was Sie geschaffen haben. Aber ich bin überzeugt, dass Ihre Richter Ihnen eines Tages dasselbe sagen werden, was sie mir einst gesagt haben.«
Sie standen auf und gingen zur Tür. Dort hielt Bruckner seinen Schüler an.
»Ich habe mit den Leuten im Piaristenkloster gesprochen. Ich habe Sie so eindrücklich, wie ich konnte, als Organist für die Klosterkirche empfohlen. Der Posten ist frei. Das würde Ihre Kasse etwas strecken. Kommen Sie mit und feiern das mit einem Bier?«
Hans Rott begleitete seinen Lehrer zur Bierhalle.
Hans Rott hielt sich die Stirn mit beiden Händen und schüttelte heftig den Kopf. Als wollte er sich schützen und nicht mehr mitmachen. Das war die Katastrophe! Die ihn nie wieder loslassen würde. Erneut tauchte sein rotes, verweintes Knabengesicht vor ihm auf, und er sah den Ausdruck von Verständnislosigkeit und Entsetzen in seinen eigenen Augen.
Die erste Katastrophe seines Lebens hatte sich in einem August ereignet, ehe die Schule beginnen sollte. Es war die Mutter gewesen! Alle Bilder fauchten wie Blitze hervor, und die Gedanken brannten wie glühendes Eisen. Er zuckte zusammen, und alles war wieder da. Obwohl er so häufig versucht hatte, es zu verbergen, überrumpelte es ihn. Er hob die Ellbogen und schlug sie mit aller Kraft auf den Tisch. Es hallte durch das Zimmer, und der stechende Schmerz betäubte und verbannte die qualvollen Bilder.
Er rieb sich lange die empfindlichen Ellbogen und schaute mit leerem Blick auf die Tischplatte, bis der Schmerz nachließ. Er saß am abgenutzten Küchentisch in der verlassenen Wohnung seines Vaters. Der Blick heftete sich an einfache Bretter mit eingetrockneten Speiseresten. Früher hatten sie den schönsten Eichentisch besessen, aber der war bei einer Auktion draufgegangen. Da nach Vaters Unfall am Theater nicht mehr viel Geld hereinkam, war ein Möbelstück nach dem anderen auf diese abscheuliche Weise versteigert worden. Etliche hübsche Gegenstände waren aus Regalen und Schränken verschwunden. Er selbst war einmal im Dorotheum gewesen und meinte, einige Sachen erkannt zu haben. Aber er wollte Vater nichts sagen. Merkwürdigerweise standen die alten, gediegenen Eichenstühle noch immer am Küchentisch. Ansonsten war nicht mehr viel übrig in der Wohnung. Dennoch war nun eine weitere Auktion angesagt, und Hans und Karl würden nicht viel behalten können. Der Nachlass war inventarisiert worden, und der ältere Bruder Theodor aus Vaters erster Ehe hatte nicht viel haben wollen. Jetzt sollte der Rest geregelt werden.
Hans fühlte sich schwer und vermochte nicht aufzustehen. Nicht jetzt. Es war zu viel, was in ihm widerhallte und hin und her irrte wie in einer Schublade mit Bildern, die jemand schüttelte. Alle Erinnerungen wirbelten wie ein starkes Schneegestöber, und er sah sein Gesicht auf den großen Flocken umhertreiben. Wie klein er aussah, als er unter den Bildern versank und sich von ihnen einhüllen ließ. Er wurde wieder ein Kind, das mit unverzagtem, offenem Blick seine frühesten Jahre anschaute.
Als er die Augen schloss, begann die Reise hinab in die allererste Welt. Seine Gedanken waren die des Kindes, und als Kind griff er gierig und neugierig nach den schwebenden Bildern, und alles wurde einfach und verklärt. Gleichzeitig wie in dicken Stoff gewickelt, der in Wasser getaucht und immer schwerer wurde. Er hielt das erste Bild fest.
Es war bei Mutter, und er war noch ganz klein. Das lag so weit zurück, dass er das Bild nur verschwommenen sah. Großmutter wohnte auch dort. Sie saß am Klavier und versuchte ihm zu zeigen, wie vorsichtig und sanft man die Tasten niederdrücken musste. Sie spielte immer zwei Tasten gleichzeitig. So zart! Er erinnerte sich, wie sie ihn anschaute. Wie sie ihn mit ihren Augen umfasste, als wollte sie ihm den rechten, gesegneten Weg im Leben zeigen.
Dann das nächste Bild. Nun wohnten sie bei Vater, und er war nicht mehr allein. Er hatte einen Bruder. Aber alles war weit weg, ehe es sich aufklärte und deutlicher wurde.
Er ging in die Schule. Oder eigentlich nicht. Die Schule kam zu ihm. Sie kam nach Hause, und er saß da und schrieb, las und rechnete, und die Tante war streng. Einmal, als er seine Zahlen nicht konnte, zog sie ihn an den Haaren. Er schrie auf, Vater hörte es und stand in der Tür. Dann kam eine neue Tante, weil Mutter es wünschte, und Vater hatte etwas Geld. Der Unterricht konnte bei ihnen zu Hause stattfinden, solange er und sein Bruder klein waren.
Hans Rott sah sich selbst die Hand ausstrecken und das nächste schwebende Bild einfangen. Aber das war noch älter und führte ihn ein Stück zurück. Da standen Mutter und Vater beisammen in schönen Kleidern, denn sie hatten geheiratet, und er und sein Bruder hatten denselben Nachnamen erhalten. Jetzt war er Hans Rott und sein Bruder war Karl Rott, obwohl sie verschiedene Väter hatten – aber das wusste er damals nicht.
Dann ging er durch das Tor der Schule von Sankt Anna. Eine richtige Schule, und er war größer. So groß, dass er mit Vater Orgel spielen konnte.
Dieses Bild war warm. Innerlich. Vater, elegant wie immer, an den Tasten der alten Tretorgel. Er selbst nahm mit großen Augen so viel auf wie er konnte, und versuchte beharrlich und unablässig, etwas zu lernen. Manchmal schlief er an der Orgel ein, während er auf Vater wartete.
Vater war ein großer Schauspieler. Das bekamen Karl und er häufig zu hören. Und Mutter spielte auch am Theater und war außerdem Sängerin. Aber die Orgel leuchtete und glänzte am stärksten in seiner Erinnerung.
Hans Rott fühlte, wie sehr ihm etwas fehlte, und das Bild der Orgel blieb vor seinen Augen. Seine Hände wanderten trommelnd über die schmutzigen Bretter des Küchentischs. Als suchten sie nach den Tasten. Erst als er bemerkte, wie kalt und schmierig alles war, hielten die Hände inne.
Nun ging er über widerhallende Marmortreppen. Die Decke war hoch, denn er befand sich im Akademischen Gymnasium. Eine vornehme Schule, für die man bezahlen musste. Vater sagte, dass sogar Schubert, der große Komponist, hier Schüler gewesen war. Vater mochte Schubert und spielte einige der Sonaten des Meisters auf seiner einfachen Tretorgel. Hans entsann sich, dass es wehmütig klang, manchmal traurig.
Nach vier Jahren schloss er die Schule ab. Mit gutem Erfolg. Er wollte weiter Musik machen, an der Orgel. Aber dazu müsste er an dem feinen Konservatorium studieren, das von der Gesellschaft der Musikfreunde betrieben wurde. Vater meinte, er solle zunächst an die Handelsschule gehen. Danach könne er sich für die Musik entscheiden. Und wenn es mit der Musik nicht klappte, könnte er so sein Geld mit Buchführung in einem Büro verdienen.
Das war Anfang Juli gewesen. Sommer und überall Möglichkeiten. Er rechnete damit, dass er sehr wohl am Konservatorium sein würde, wenn das Herbstsemester begann. Ja, er hatte sich entschieden. Hans Rott erinnerte sich, wie glücklich er in diesem Sommer gewesen war. Wie leicht seine Füße über alles hinwegtanzten. Wie Laub in wirbelnder Überflutung warmer Sonnenstrahlen. Und er ließ sich auf einem wogenden Lichtteppich davontragen.
Doch nun offenbarte sich wieder das fürchterliche, rot verweinte Knabengesicht, und diesmal konnte er sich nicht wehren und es fortjagen. Die grausigen Bilder rollten heran. Da war die Mutter wieder!
Sie hatte hart gearbeitet. Er sah sie kaum. Außer in seinen Träumen am Abend, wenn er einzuschlafen versuchte. Da sah er ihr sanftes Gesicht. Ihren kleinen, engelhaften Mund. Ihr warmes Lächeln, wenn sie ihn anschaute. Aber sie hatte so viele Vorstellungen. An so vielen Abenden. So oft musste er allein einschlafen. Ohne ihre Stimme hören zu können.
Dafür hörte er Mutter im Traum. Er sah sie im Traum. Sie sprach zu ihm, und er sprach zu ihr.
Wenn sie nicht so viel Theater spielte, würde sie mehr mit ihm reden können, würde er mehr von Mutter haben. Er wünschte sich, dass sie nicht so viel Theater spielen würde.
Eines Abends kam Mutter früher nach Hause. Er fand, sie sah glänzend aus. Sie strahlte in ihren hellen, schönen Bühnenkleidern.
Sie war so oft nach Hause gekommen. Und sie hatte so oft geglänzt. Aber diesmal hatte sie sich nicht umgezogen. Sie kam nur nach Hause und glänzte so seltsam. Alles war merkwürdig. Jetzt sah er, dass Mutter sich nicht wohlfühlte. Dann brach sie zusammen. Vater trug sie zum Bett. Dort lag Mutter. Mit einem sonderbaren Fieber. Sie wurde ganz weiß im Gesicht.
Aber der Arzt gab ihr eine Medizin gegen das Weiße. Damit würde sie wieder gesund werden. Trotzdem blieb ihr Gesicht weiß.
Nächste Woche würde die Medizin wirken. Dann würde sie gesund werden.
Aber sie wurde nicht gesund. Also bekam sie noch mehr Medizin.
Die wollte aber nicht helfen. Er kniete nieder und legte Arme und Hände auf ihr Laken. Großmutter war da. Und Vater. Und Karl. Sein Bruder stierte ins Leere. Alle stierten ins Leere.
Dann ging es Mutter schlechter. Das Fieber stieg und stieg. Sie atmete seltsam. Der Arzt kam mit noch mehr Medizin. Trotzdem atmete sie seltsam. Und obwohl der Arzt ihr immer mehr Medizin gab, hörte sie schließlich auf zu atmen.
Wie sehr er mit seinen Fäusten auch auf das Bett einschlug, auf das Laken, die Decke – es half nicht. Sie lag völlig unbeweglich dort. Ihm war klar, dass sie nie mehr aufstehen würde.
Das Bild ließ sich nicht verjagen. Als wäre es an die Wand über dem Küchentisch genagelt. Die Musik hatte dann nicht mehr genauso lockend geklungen. Das Konservatorium leuchtete nicht mehr so stark. Jetzt war Mutter fort, und alles wurde zu einer ängstlichen Flucht durch eine große Leere. Und Vater wollte, dass er etwas Handfesteres bekam. Etwas, das ihm Geborgenheit gab. Also war er an diese Handelsschule gegangen.
In seiner Erinnerung erschienen die beiden Jahre mit Papier und Ziffern wie ein grauer und trüber Nebel.
Er sah sich gezwungen, aufzustehen. Er musste hinaus und schleppte sich in das große Zimmer.
Das Konservatorium! Dort war das Licht. Dort gehörte er hin, und er war bereits ein Stück weit gekommen. Und die Orgel, die er nun spielte, war wirklich und jeden Tag gegenwärtig.
Hans Rott verließ die Wohnung. Er würde bald zurückkehren. Dann wollte er die Dinge seines Vaters und was von seinem früheren Leben übrig war in Angriff nehmen.
Leise schloss er die Haustür hinter sich.
Vor sich sah er die unzähligen Pferde mit Wolken ihres dampfenden Atems um schnaufende und schäumende Mäuler. Und die Wagen mit ihren quietschenden, eisenbeschlagenen Rädern. Und die brutalen Riesen, die mit ihren groben Armen Mutters zerbrechlichen Spiegel packten. Die fluchten und krakeelten, als sie das unförmige und schwere Tafelklavier die Treppen hinuntertrugen. Sie stießen damit an die Wände, mit krachendem Schmettern. Sie zerstörten Großmutters Tafelklavier! Er sah, wie der zierliche, verschnörkelte Notenständer hinabglitt. Auf den harten Steinen zerschlug er in tausend Teile. Hans schauderte und zuckte zusammen.
Jemand spuckte gewaltigen Rotz aus. Roh. Rücksichtslos. Vaters feiner, blanker Hut wurde unglücklich getroffen, während er auf der Bühne stand. Die Leute im Publikum begannen zu buhen. Sie bugsierten und schoben einander, als sie zu den Ausgängen drängten. Jemand ließ Mutters schöne Krinoline in den Rinnstein fallen. Bei der Versteigerung wurde sie voll dunkler Flecke in die Höhe gehalten. Die Menschen deuteten mit den Fingern darauf und lachten. Wer mochte wohl eine Krinoline kaufen, geschändet von Gosse und Pferdehufen? Wer wollte überhaupt eine Krinoline kaufen? Alles wurde zu einem einzigen Wirrwarr von Schlamm und Schmutz.
Aber nein. So war es nicht gewesen! Er musste diese fürchterlichen Bilder loswerden. Wo kamen sie her? Warum tauchten sie auf?
Es war ein ganz normaler Umzug gewesen. Normale Wagen. Normale Pferde. Normale, schwer arbeitende Männer, die nach bestem Vermögen Möbel trugen. Natürlich war es so gewesen!
Hans Rott schämte sich ein wenig für die falschen Bilder, die sich auflösten, sobald er die Tür zu Vaters Wohnung aufschloss. Die Sachen, die noch hier waren, dürften wohl immerhin eine Summe einbringen. Außerdem hatte er den Posten als Organist im Piaristenkloster bekommen. Für einige armselige Gulden im Monat sollte er an der riesigen Orgel der Klosterkirche spielen. Man hatte ihm ein paar einfache Zimmer im zweiten Stockwerk eines öden Klosterflügels hergerichtet. Dort würde er nicht viel von Vaters und Mutters Habe unterbringen können.
Jetzt ging er langsam von Zimmer zu Zimmer, schaute nach dem alten Tafelklavier in der Ecke, wo Großmutter gesessen und gespielt hatte. Aber auch Vater hatte dort gesessen und Stücke für das Theater komponiert.
Und die Tretorgel mit ihren abgenutzten Pedalen. Sie mochte Vater am liebsten. Vielleicht weil es sein erstes richtiges Instrument gewesen war. Und weil er als Zehnjähriger als Organist in einer Kirche hatte spielen dürfen.
Und das Cello. Vater hatte es ganz gut beherrscht. Einst war er Cellist an einem Theater in Pressburg gewesen. Aber nun stand das Instrument dort, rissig und still. Er und Karl hatten es umgestoßen, als sie einmal herumgerannt waren und einander durch die Zimmer jagten. Ein großer Sprung zog eine bösartig schwarze Furche über den Korpus, und der Steg stand schräg.
Und dann der große Spiegel. Hinter seinem Glas mussten sich unsichtbare Abdrücke des Gesichts seiner Mutter befinden. Er sah, wie es sich über die silbrige Fläche bewegte. Seine Hände strichen behutsam über das kalte Glas.
In der anderen Ecke des großen Zimmers stand der mächtige Kachelofen. Wie oft hatte er nicht vor ihm gestanden und sich gewärmt, wenn er an kalten Wintertagen von der Schule nach Hause gekommen war.
Wintertage. Er entsann sich, wie er einmal geglaubt hatte, vor Dunkelheit sterben zu müssen. Er war auf dem Weg von der Schule nach Hause gewesen, und es war ungewöhnlich kalt. Er ging entlang des schwarzen, frostglitzernden Zaunes. Er kam auf die Idee, daran zu lecken. Die Zunge blieb haften. Sie fror am kalten Eisen fest, und es war, als würde etwas Dunkles und Erstickendes sein Wesen in Besitz nehmen. Es verschlug ihm den Atem. Er saß fest. Und würde sterben!
Diese kalte Finsternis tauchte seitdem manchmal ganz unerwartet auf. Obwohl er seine Zunge vom gefrorenen Eisen gerissen hatte und davongerannt war, so schnell er konnte, verfolgte ihn diese grauenvolle Finsternis. Er konnte sie spüren, als er nun die Treppe hinaufstieg.
Aber es war doch lächerlich! Warum dachte er gerade jetzt daran? Er sah doch selbst, wie das Licht durch alle Fenster in die Wohnung strahlte und wie die Tasten des alten Tafelklaviers leuchteten. So war es vormittags immer. Die vibrierenden und spielerischen Lichtbündel, die durch die schweren Vorhänge und Gardinen rieselten, formten sich zu Armen und Händen, die Großmutter umarmten, die dort saß.
Dann kam der Nachmittag mit seinen tiefen Schatten. Großmutter löste sich langsam auf. Er konnte sie nicht mehr sehen.
Der Blick streifte durch das Zimmer. Dort standen der Esstisch und die massiven, schweren Stühle mit ihren reichlich verzierten Lehnen. Die Tischplatte war von Großmutters besticktem Sonntagstuch bedeckt gewesen. Nun stand der Tisch nackt und öde da, starrte mit leerem Blick auf die Stuckatur um die Deckenleuchte, die ihre glänzenden Messingarme hübsch krümmte und drehte.
Und Vaters Sekretär. Den gab es auch noch. In ihm hatte Vater Noten und persönliche Dinge aufbewahrt, und nur er hatte den Schlüssel dazu besessen.
Unter der Habe, die das Krankenhaus nach Hause geschickt hatte, befand sich ein kleines Kästchen mit einem Schlüssel drin. Er probierte ihn, und die kleinen Schubladen sprangen auf. In einer davon fand er einen Zettel mit Noten darauf. Er las, und in seinem Kopf begann langsam, ein Lied zu klingen. Zart wie eine verhaltene Hymne. Er fragte sich, wann Vater es geschrieben hatte. Er wendete das Papier, aber dort konnte er lediglich lesen:
Carl! Vergiss nicht, heute Nachmittag Mehl und Butter zu kaufen. Und das Bild über dem Tafelklavier – kannst Du es umhängen, wie wir verabredet hatten? Das Landschaftsbild macht sich viel besser dort. Du weißt, das, von dem wir sprachen. Mit den Fischern und deren Booten am Ufer. Und Dein gutes Hemd hängt vor dem Ofen. Es ist inzwischen sicher trocken. Leg es in den Wäscheschrank. Ich komme später.
Maria
Er fand noch weitere Zettel mit Noten. Und weitere Rückseiten.
Carl! Vergiss nicht, Hans heute Abend warmes Honigwasser gegen die Erkältung zu geben. Sieh zu, dass er im Bett mit einer Extradecke zugedeckt ist. Und leg noch etwas Kohle im Ofen nach. Es soll heute Nacht kalt werden. Es wird wohl spät.
Maria
Carl, kannst Du bitte nach der Lampe in der Diele schauen? Sie leuchtet nicht, wie sie soll. Ich habe Angst vor einem Leck in der Gasleitung. Carl, versprich mir, dass Du Dich darum kümmerst!
Maria
Heute kamen die Ergebnisse der Blutproben. Der Arzt sagt, dass alles gut aussieht. Aber wir sprechen darüber, wenn ich nach Hause komme. Kann spät werden.
Maria
Er spürte Mutters Atem im Nacken, als er die Papiere zurücklegte. Er öffnete andere Schubladen.
Dort lag ein weiteres Blatt, zweimal gefaltet und mit einem Band herum. Er faltete es auf. Darin fand er ein vergilbtes Bild. Es sah aus wie eine Lithografie oder Zeichnung. Oder war es ein Foto? Es war verschwommen. Ein Mann in Uniform starrte ihn an. Helm, Bänder und Abzeichen. Medaillen und Verdienstnadeln. Wen mochte das Bild darstellen? Es schien alt zu sein. Aber die Hemdbrust und all die Medaillen! Es musste Wilhelm sein, der Erzherzog. Der Vater seines Bruders. Aber wie war das Bild hierhergekommen? Konnte Vater es in Mutters Nachlass gefunden haben? Hans dachte sofort an seinen Bruder Karl. Sohn und doch nicht Sohn. Obwohl sie beide Carl Mathias Rotts Söhne waren. Das müssen sie doch gewesen sein – Söhne. Schließlich hatte er sie ja dazu gemacht. Als Mutter und er endlich heirateten. Das Bild brannte in seiner Hand, und er warf es heftig von sich.
Dabei entdeckte er das Etui mit dem Bild des Kaisers. Aber erst als er es geöffnet hatte und das schwere Metall in der Hand wog, war ihm klar, worum es sich handelte.
Das Goldene Kreuz des Kaisers! Eine der höchsten Auszeichnungen, die man erhalten konnte, glänzte ihn in leuchtendem Gold an.
Kaiser Franz Joseph selbst hatte seinen Vater ausgezeichnet. Warum hatte Vater nie etwas davon erzählt?
Wieder wog er die Medaille in der Hand. Immer wieder. Dabei sah er den Rollstuhl im Krankenhauspark vor sich. Und den fadenscheinigen dunklen Rock, den Vater so manchen Abend im Theater getragen hatte. Er sah das zerfurchte und traurige Gesicht, den hohlen und toten Blick, wenn er Vater im Krankenhaus besuchte.
Er sah auch den hohen Hut, den Vater nicht aus der Hand geben wollte. Der gebürstet und bei jedem Wetter getragen werden sollte, wenn er über die Gänge gerollt wurde.
Er bestand auch auf einer Blume im Knopfloch. Ständig setzte er der Krankenschwester deswegen zu. Es musste eine richtig feine Blume sein. Eine von der Sorte, wie Mutter sie gemocht hatte. Er hatte ein Foto von ihr gesehen, auf dem sie ihr riesiges Kleid mit den tausend Falten trug. Das sich ausbreitete und wie eine Kirchenglocke über dem Boden schwang. Vor ihr auf dem Foto stand eine Vase mit Blumen. Er erkannte sie, wusste aber nicht, wie sie hießen. Eine solche Blume war es gewesen. Genau so eine.
Er steckte die Medaille in seine Tasche. Gleichzeitig nagte die Frage an ihm, warum Vater sie ihm nie gezeigt hatte. Aber er verwarf den Gedanken und überlegte stattdessen, wann Vater die Medaille erhalten haben mochte.
Er stand wankelmütig mitten in der Wohnung. Mitten in dem Leben, das wie eine verwitterte Mauer zu zerbröckeln begann.
Als Hans die Bücherkiste fertig gepackt hatte, lehnte er sich an den Kachelofen und schaute Karl an.
»Hast du die Dienstmänner für den Umzug besorgt?«
»Ja.«
»Und das Dorotheum? Nehmen die auch etwas?«
»Ja. Wenn wir eine Liste hinbringen oder sie herkommen lassen, geht alles in Ordnung.«
»Ich möchte nicht hier sein, wenn sie kommen, Karl. Vielleicht stelle ich lieber eine Liste auf. Es werden schon einige Sachen zusammenkommen, weil wir im Kloster nicht viel Platz haben. Gib Gott, dass wir ein wenig Geld einnehmen. Hier, ein paar Gulden. Geh zu den Möbelpackern und sag, dass sie morgen anfangen können. Dann kannst du zum Markt gehen und dir etwas zu essen kaufen.«
Sie gingen in die Diele hinaus. Hans holte noch eine Münze hervor und steckte sie dem Bruder in die Hand. In seiner Tasche fühlte es sich trostlos an.
»Geh dann ins Kaffeehaus Pfob und warte auf mich. Ich komme, sobald ich mit der Liste fertig bin.«
Er blieb stehen und grub in der anderen Tasche.
»Hast du gesehen, Karl? Hast du das hier gesehen?«
Die funkelnde Medaille blendete den Bruder. Sie reflektierte das grelle Licht, das durch die offene Küchentür einfiel, und Karl zwinkerte irritiert.
»Ich habe sie in einer von Vaters Schubladen gefunden. Es ist das Goldene Kreuz des Kaisers. Eine der vornehmsten Auszeichnungen, die man bekommen kann. Seltsam, dass er nie etwas gesagt hat. Oder? Ich meine, das ist doch eine große Sache!«
Karl nahm die Medaille in die Hand, betastete zögernd die goldene Oberfläche. Dann gab er sie rasch zurück, als hätte er sich daran verbrannt.
»Aber was ist denn? Was ist los, Karl?«
Der Bruder schwieg und senkte den Blick.
»Heraus damit! Stimmt etwas nicht?«
»Also … ich wusste Bescheid. Ich wusste, dass es sie gab. Ich meine, dass er sie bekommen hat.«
Hans schaute ihn erstaunt an. Aber Karl sprach weiter.
»Ich wollte nichts sagen. Mir war, als würde es nur mich angehen.«
»Aber wieso? Was meinst du?«
»Vater hat sie mir gezeigt. Vor etlichen Jahren. Er sagte, dass er sich schämte …«
Hans packte Karl und schüttelte ihn.
»Sich schämte? Wie meinst du das? Man kann sich doch nicht schämen, wenn man ausgezeichnet wird. Oder doch?«
Karl schrie auf: »Lass mich los! Das tut weh!«
»Entschuldige!«
Hans nahm seine zitternden Hände zurück.
»Hans, wir haben ja nicht …«
»Ja?«
Hans wurde ungeduldig wegen der Unterbrechung.
»Wir haben nicht denselben Vater. Meinen Vater … ja, den habe ich nur auf Bildern gesehen. Und Mutter sprach auch nicht viel über ihn.«
»Ich weiß, dass wir nicht denselben Vater haben. Na und? Wir wissen doch beide, dass wir dennoch irgendwie denselben hatten, nicht wahr? Das ganze Leben hatten wir denselben Vater. Was meinst du also?«
Karl zögerte.
»Ich meine, mein Vater war der Bruder des Kaisers … vielleicht nicht gerade Bruder, aber jedenfalls ein naher Verwandter. Und Vater meinte, also unser Vater meinte …«
Karl seufzte und schaute weg.
»Was meinte er? Was meinte Vater? Heraus damit!«
»Er meinte, dass er als Schauspieler wohl nicht gut genug war. Dass alle, die das Theater besuchten, ihn nicht genügend schätzten. Und was die Zeitungen über seine Auftritte schrieben, war nicht gut genug. Das einzig Gute an ihm und der Medaille war, dass er sich um den Sohn des Erzherzogs gekümmert hatte.«
»Sagte er das? Hat er das so formuliert?«
»Ja.«
Hans drückte die Medaille fest in der Hand. Er wankte, als das kalte Metall in seinen Fingern brannte, und ließ los. Die Medaille fiel auf den harten Dielenboden. Ein klingender Laut hallte zwischen den Wänden.
»Das ist gelogen, Karl! Du weißt, dass alles gelogen ist. Dass Vater sich täuschte. Ganz und gar. Geh auf die Straße. Frag alle Leute nach Carl Mathias Rott. Sie werden lächeln und in Erinnerungen schwelgen, wenn sie den Namen hören. Hast du nicht begriffen, wie beliebt er war? Wie die Leute in seine Vorstellungen stürmten? Und die Blumenmeere! Bitte, Karl. Du weißt doch noch, wie voll die Wohnung von all den Blumen war, die nach den Vorstellungen hergeschleppt wurden. Weißt du das nicht mehr?«
Der Bruder versuchte, seinem Blick zu begegnen.
»Sicher. Natürlich weiß ich noch …«
»Vater hat sich getäuscht!«
Hans schrie die Worte hinaus.
»Wenn ich es nur gewusst hätte. Ich hätte mit ihm gesprochen. Vergiss das mit dem Erzherzog! Nimm die Medaille. Jedes Mal, wenn du sie hervorholst, musst du die Augen schließen und Vater auf der Bühne sehen. Seine Kratzfüße. Seine Mimik. Seine grandiosen Gestaltungen. Seine umjubelten Narreteien. Verstehst du?«
Karl bückte sich zögernd. Er hob die Medaille auf und steckte sie in die Tasche. Ohne etwas zu sagen, sah er zu Hans hinauf, seinen Blick mied er aber.
»Ich werde mich darum kümmern …«
Er murmelte etwas vor sich hin, während er sich zur Tür bewegte.
Rasch verschwand Karl die Treppen hinunter. Draußen auf der Straße ging er ein Stück. Dann blieb er stehen. Der goldglänzende Gegenstand verschwand durch das Gitter eines Gullys. Karl Rott machte sich so schnell davon, dass er das Platschen beim Aufprall auf das strömende Wasser nicht hörte.
Hans taumelte zum Sekretär des Vaters hinüber und ließ sich schwer auf den Stuhl davor fallen. Er musste sich zusammennehmen und die Sache hinter sich bringen. Morgen würden die Möbelpacker kommen. Er nahm ein Blatt Papier hervor und tauchte die Feder in das Tintenfass. Er begann unbeholfen.
An alle, die es angeht
Nein, das war nicht gut. Er strich es durch und schrieb:
An die Dienstmänner.
Folgende Dinge sollen versteigert werden. Bitte an die gebührende Adresse bringen.
Hans Rott
Gebührende? Was war das für eine Sprache? Er konnte nicht schreiben. Alle Wörter waren auf der Flucht, und er konnte sie nicht einfangen.
Aber die Liste nahm langsam Gestalt an.
1. 1 Tafelklavier. Bechstein
2. 1 Heimorgel. Fabrikat unbekannt
3. Großer Spiegel. Blattgold
4. Sekretär. 18. Jahrhundert
5. Gemälde an der Wand im Salon. (»Fischfang«) Unbekannte
Künstler …
Er kratzte weiter mit dem Tintenstift und gelangte schließlich zu
15. Cello
Er schaute rasch auf das gesprungene Cello, das in der Ecke an der Wand lehnte. Es glänzte ein wenig im inzwischen absterbenden Tageslicht. Aber nein. Nicht das Cello! Er strich es von der Liste.
Die Hand hielt inne, hob die Feder. Ehe er den Sekretär verließ, warf er einen Blick auf die dritte und letzte Schublade, die er zu öffnen vergessen hatte. Er zog sie heraus. Ein Revolver! Hatte Vater einen Revolver? Er las auf dem grauen Stahl. Gasser, Wien 1870. Er wühlte weiter. Aber keine Patronen. Nichts. Der Revolver war leer. Er steckte ihn in die Innentasche seines Rockes. Er wollte niemandem etwas davon erzählen.
Er schloss die Tür hinter sich und ging rasch die Treppen hinunter. Vor der Haustür blieb er stehen und sah ein letztes Mal zu den Fenstern hinauf. Ihm fiel ein, dass er vergessen hatte, Karl das Bild zu zeigen, das er in Vaters Sekretär gefunden hatte.
Er tastete die Tasche ab. Er wollte sicher sein. Ja, das vollgeschriebene Blatt war dort. Die Liste für die Dienstmänner, die er gleich übergeben würde. Gleich würde er ein Stück seines Lebens weggeben.
Der eiskalte Stahl drückte in der Rocktasche. Bei erstbester Gelegenheit würde er den großen Revolver wohl wegwerfen.
Es war Zeit, weiterzugehen.
Erst später, als er an der Orgel hoch oben in der Kirche stand, sah er ein, wie groß sie war. Würde er darauf spielen können? Vater hatte als Zehnjähriger in einer Kirche Orgel gespielt. Er selbst war viel älter. Würde er sich würdig erweisen?
Jetzt trat er in den schmutzig grauen Schnee, der den Gehsteig bedeckte. Im feuchten und matschigen Dunst erkannte er die Piaristenkirche. Das helle, hohe Gebäude erhob sich mit seinen zwei Türmen aus dem Schneetreiben. Gleich würde er dort sein.
Anton Bruckner hatte ihn unterrichtet, und Hans hatte alle Orgelprüfungen glänzend bestanden. Bruckner hatte ihn ermutigt, ihm die Anstellung besorgt. Natürlich würde Hans die Aufgabe bewältigen! Wenn Vater das gewusst hätte, wäre er wohl doch zufrieden gewesen. Vater! Da war er wieder, und Rollstuhl und Krankenschwestern flimmerten vorbei. Hans trat geradewegs in eine Pfütze. Die war unerwartet tief, und er fühlte, wie das eiskalte Wasser in seine Schuhe drang.
Der untersetzte und schweigende Bedienstete verbeugte sich und ging zurück, um die Tür hinter Hans Rott zu schließen.
»Sie können sich umschauen, Herr Rott. Sie wissen, wo sich die Orgel befindet: die Treppe hier gleich links.«
Hans warf einen Blick nach oben. Aber es war so weit bis hinauf, dass er fast das Gleichgewicht verloren hätte, als er sich zurückneigte. Die Orgel war nicht zu sehen. Aber er spürte, wie die tiefen Töne sein Rückgrat erschütterten.
Die Tür fiel mit einem tiefen, widerhallenden Laut ins Schloss, und er zuckte zusammen. Er stützte sich gegen die Wand. Alles war so gewaltig. Ein breiter Gang mit Bankreihen zu beiden Seiten und weit vorn der Altar. Es schwindelte ihn, als er zu der mächtigen Kuppel emporschaute. Er ahnte Gemälde. Eine Menge Figuren – waren es Engel? Sie drehten sich um die gewölbte Decke herum.
Als er den Blick über die Wände gleiten ließ und all die Skulpturen, Kandelaber und Gemälde sah, fühlte er sich geblendet. Alles erstrahlte in goldenen Glanz.
Über ihm die riesige Deckenleuchte, überreichlich mit Kerzen und Lampen versehen. Vergoldete Arme. Weiter vorn links die große Kanzel. Mit Treppe, Himmelsdach und überall Intarsien und goldene Schnitzereien.
Er ging langsam und mit wankenden Schritten zum Altar. Das Echo seiner Schritte auf den großen Steinplatten am Fußboden prallte an die Wände, ehe es von all den vergoldeten Engelfiguren und den unzähligen Bildern von Maria und dem Jesuskind aufgesogen wurde. Vorn auf dem Altar mit dem kreideweißen und reich bestickten Tuch zählte er sechs große Kandelaber. Alle goldglänzend. Wenig darüber hing Christus an seinem Goldkreuz mit goldenen Nägeln, die durch seine Hände getrieben waren. Und das Altarbild. Wieder Maria mit ihrem Kind, umgeben von leuchtendem Goldschimmer. Neben dem Altar riesige Marmorsäulen mit goldenen Ornamenten – und Engeln. Überall Engel. Alle mit Flügeln aus schwerem Gold. Gold und abermals Gold. Noch nie hatte er so viel Gold gesehen.
»Ich bin Vater Anselmus. Und Sie sind wohl Herr Rott, unser neuer Organist?«
Hans Rott stand mit offenem Mund mitten in der glänzenden Pracht und kam erst zu sich, als einer der Mönche ihn leicht am Arm berührte.
Hans nickte dem Mönch zu. Vater Anselmus mochte etwas über dreißig sein. Er hatte ein freundliches Gesicht. Hans meinte, hinter der sanften Stimme Wärme zu ahnen.
»Sie möchten natürlich die Bibliothek sehen, Herr Rott?«
Der Mönch ging voran durch den großen Kirchenraum, und etwas später waren sie in der Bibliothek.
»Hier ist unser Lese- und Schreibsaal. Und selbstverständlich alle Bücher.«
Hans Rott ließ den Blick über die unzähligen Regale schweifen. Hier und dort konnte man hinter Türen aus Glas dicke Handschriften ausmachen.
»Sie sind ja Musiker …«
Hans Rott nickte.
»Ja, Sie sind unser neuer Organist. Aber ich habe auch gehört, dass Sie Dirigent und Komponist sind?«
Hans Rott nickte wieder, sagte aber nichts. Er schaute immer noch auf die Bücher. Einige waren mit kunstvoll verzierten Einbänden geschmückt.
»Herr Rott, dies hier wird Sie interessieren, glaube ich.«
Der Mönch führte ihn in eine Ecke, in der ein massiver Schrank stand. Die Türen waren massiv und mit Glasscheiben versehen. Der Schrank mit einem kräftigen Schloss, das Glas mit dunklem Gitter gesichert.
Hans Rott ging einen Schritt näher und blickte durch das Gitter.
»Eine alte Handschrift? Warten Sie mal – sind das nicht Noten? Ist das eine Partitur?«
Der Mönch ließ seinen Blick auf ihm ruhen.
»Herr Rott, das hier ist eine der Kostbarkeiten des Klosters.«
Er machte eine kurze Pause.
»Haydn. Joseph Haydn hatte hier an den Weihnachtstagen 1796 die Uraufführung einer seiner großen Messen. Das Kloster hatte ihn eigens zu dieser Aufführung eingeladen. Übrigens war er selbst Schüler der hiesigen Klosterschule gewesen und hatte hier seine Prüfung abgelegt. Nun aber waren es unruhige Leidens- und Kriegszeiten, deshalb nannte er sein Werk Messe in Kriegszeiten. Für uns hier ist dieses Stück stets ein Ruf nach Frieden in unruhiger Zeit gewesen.«