Hubert Flattinger
wurde während eines Schneesturms in den Bergen Tirols geboren. Seine Kindheit und Jugend waren geprägt von oftmaligen Übersiedlungen, Abenteuern in der Natur und Erlebnissen, die ihn als Kind von Wirtshausleuten stark beeinflussten.
Heute lebt Hubert Flattinger in einem beschaulichen Nest in Niederösterreich, beobachtet Vögel und Menschen, schreibt Geschichten und malt Bilder.
Unter www.facebook.com/HubertFlattinger/ ist der Autor auch im Internet zu finden.
Von Hubert Flattinger bei ARAVAIPA:
Baboon
Sommersprossen auf dem Asphalt
Roman
eISBN 978-3-03864-217-6
Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form, einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien, der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung und der Aufnahme in Datenbanken, ausdrücklich vorbehalten.
Lektorat: Merle Rüdisser
Umschlaggestaltung: Agentur flin,
Coverfoto: © i-stock | stevanovicigor
Copyright © 2018 by ARAVAIPA–Verlag,
Egg bei Zürich, Freudenstadt, Tucson
7 6 5 4 3 2 1
ARAVAIPA im Internet: www.aravaipa.ch
Für dich.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Nachwort des Verfassers
Niemandsland.
Das findest du auf keiner Landkarte und auf keinem Globus. Und trotzdem kann ich dir den Weg dorthin beschreiben. Niemandsland liegt auf dem weißen Fleck zwischen Himmel und Erde, wo ich mich gerade befinde. Stühle sind die einzigen Möbel, die es hier gibt. Sie sind an Stahlseilen befestigt, schweben reglos inmitten mächtiger Stützpfeiler über schneebedeckten Pisten. Reglos? Ja, denn seit einer Minute steht der Sessellift still. Hätten wir jetzt Sommer, wäre eine Minute nicht viel. Dann ließe es sich hier für ein kleines Weilchen schon aushalten. Aber wir haben nun mal Winter und es pfeift ein eisiger Wind im Niemandsland. So kann eine Minute ziemlich lange dauern …
Nur ein kleiner Stromausfall, sage ich mir. So was kommt öfter vor, ist eigentlich keine große Sache. Trotzdem geraten manche Touristen ziemlich aus dem Häuschen, wenn der Lift während der Fahrt plötzlich stillsteht. Mit einem Aufenthalt im Niemandsland rechnet keiner. Für gewöhnlich geht die Reise nach einem kleinen Moment des Still-stands wieder weiter. So wird es auch heute sein. Charly wird an mich denken. Er hat heute Dienst in der Talstation. Gleich wird er einen Blick durchs Fenster werfen und bemerken, dass sich die Räder nicht mehr drehen. Er wird es sehen müssen, denn mit dem Gehör ist das bei ihm so eine Sache. Meistens muss ich zweimal etwas zu ihm sagen, bis er versteht. Aber im Grunde ist Verlass auf Charly. Er wird die Maschine wieder in Gang setzen. Er hat mir ja vorhin noch zugezwinkert, als er mir die Decke über das Sitzgitter warf und mit seiner tiefen Bassstimme witzelte: „Damit dir nicht der Hintern darauf festfriert, Liftboy! Und nun rauf auf den Berg mit dir, bevor es dunkel wird!“
Der alte Charly. Er wird mich nicht hängen lassen. Wird erst dann nach Hause gehen, wenn er von der Hütte oben den Funkspruch erhält, dass alles okay ist, und er weiß, dass ich heil dort angekommen bin.
Immerhin kann ich sitzen, bis die Seile über mir wieder ihren Zug finden und es weitergeht. Bis es so weit ist, muss ich mich mit dem Gewinsel des Winds begnügen. Traurig seufzt er durch das Geäst der Tannen. Im Abendlicht bietet die umliegende Landschaft den Anblick einer kitschig gemalten Weihnachtskarte. Aber das Bild täuscht! Erst im letzten Winter war’s. Da kam ein Tourist am späten Nachmittag auf seiner Skifahrt von der abgesteckten Piste ab. Geriet in eine Lawine, strauchelte und kam unter den Wurf einer Schneemasse. Bis in die späte Nacht hinein war der Suchtrupp unterwegs, bis sie den leblosen Körper des Mannes aus seinem kalten Grab schaufeln konnten. Wir saßen stumm ums Funkgerät, als eine traurige Stimme daraus ertönte und vom schrecklichen Ausgang der Suchaktion berichtete …
Noch immer rührt sich kein Seil am Lift. Kann es sein, dass Charly in seiner warmen Stube eingenickt ist? Oder er womöglich meint, dass ich längst schon oben angelangt bin? – Nein! Solche Gedanken sollte ich gar nicht erst zulassen! Ruhig bleiben. Auf Charly ist Verlass. Denn wenn es nicht so wäre, was bliebe mir anderes übrig, als hier im Niemandsland zu erfrieren oder … zu springen? Den Sicherheitsbügel öffnen und …
Es müssen an die zwanzig Meter bis zur Skipiste unterhalb sein. Hieße mindestens zwanzig Meter im freien Flug. Während ich falle, könnte ich die Arme weit von mir strecken und so tun, als ob ich fliege. Und dabei an etwas Schönes denken. An was? An wen? Keine Frage: an Agnetha Ase Fältskog von Abba! Natürlich mag ich auch Benny, Björk und Anni-Fried! Aber Agnetha ist mein absoluter Liebling!
Knowing me, knowing youuuuuu, ahhhhh …
Agnetha sieht wie ein Engel aus, wenn sie mit ihrem langen blonden Haar und im weißen Glitzeranzug über die Bühne wirbelt. Sagenhaft. Für gewöhnlich bewacht sie meinen Schlaf. Ihr Poster hängt am Kopfende meines Betts. Den Steckbrief kann ich längst auswendig:
Agnetha Ase Fältskog.
Haarfarbe: blond. (Wie meine!)
Augenfarbe: blau. (Wie meine!)
Lieblingsfarbe: blau. (Muss ich noch etwas sagen?)
Lieblingsessen: chinesische Küche. (Ich war noch nie in einem chinesischen Restaurant, aber wenn mein Schutzengel darauf schwört, wird es stimmen.)
Lieblingsgetränk: Whiskey. (Wir wollen nichts überstürzen. Aber cheers, Agnetha! Lass es dir schmecken! Du bist das Girl! The Girl!)
Agnethas Lieblingskomponist? – Brian Wilson von den Beach Boys. Ich muss mir demnächst in Garmisch unbedingt eine Scheibe von denen besorgen! Wenn sich die Boys nur halb so gut wie Abba anhören, dann wird der Plattenspieler vor Hitze bald wie eine Herdplatte aufglühen!
Musik ist das Beste. Sie nimmt dich mit, wirbelt dich im Kreis und lässt alles andere unwichtig werden. Musik kann dich an einen anderen Ort bringen. Solange du sie hören kannst. Es heißt, dass die Musikkapelle auf der Titanic bis zuletzt spielte, um die Passagiere von ihrer Angst abzulenken. Ich frage mich, woher die Musiker den Mut nahmen, trotz allem auszuharren, während rings um sie alle Menschen in wilder Panik an Deck umherliefen. – All die armen Männer, Frauen und Kinder! Da standen sie entlang der Reling und sahen hinunter ins schwarze Wasser. Springen …? Ob sie in diesen schrecklichen Momenten die Musik überhaupt noch wahrnahmen?
Ich habe mal wo gelesen, dass man im Augenblick des Todes das ganze Leben wie in einem Film an sich vorüberziehen sieht. Das ganze Leben. Mein ganzes Leben: vierzehn Jahre. Ein kurzer Film. Und was habe ich schon Großartiges erlebt, das sich für ein Kino-Abenteuer eignen würde? Und wer würde sich diesen Film ansehen wollen? Vielleicht Josef. Kann sein. Josef steht auf mich. Ist kein Wunder, wo Gerti ihm doch erst neulich den Laufpass gegeben hat. Jedenfalls läuft er mir seit diesem Tag wie ein Hündchen hinterher. Er ist einer von der Sorte, die sich selbst an eine Leine binden. Am liebsten würde er mir sogar noch aufs Mädchenklo folgen. Er würde sich jedenfalls für meinen Film interessieren. Aber ob ihm auch das Ende gefallen würde?
Komisch ist, dass ich selbst in dieser Situation wieder einmal alles richtig machen will. Ich meine, richtig sterben. Als ob es dafür eine Note im Zeugnis gäbe!
Für’s Sterben kriegst du eine Drei, Liftboy. Mehr ist da leider nicht für dich drin. Und lass dir sagen: An deiner Haltung könntest du ruhig noch ein wenig arbeiten!
Nein, niemand soll sich für mich schämen müssen. Nicht einmal mein bescheuerter Turnlehrer. Alle sollen sagen können: Liftboy hatte einen starken Abgang, als sie von uns ging. Fiel aus zwanzig Metern Höhe schnurgerade aufs blanke Pisteneis. Peng! Tot! Aus! – Gut gemacht!
Blut? Nein. Das meiste davon hat wohl über Nacht der Schnee in sich aufgesogen. War nur ein kleiner rosa Fleck an der Stelle, wo sie mit dem Kopf aufschlug. Okay, ihr Stupsnäschen war zugegebenerweise etwas aus der Form. Leicht schief, hm? Aber sag, war sie das nicht vorher schon?
Nein, eigentlich glaube ich nicht, dass ich jemandem fehlen würde. Jedenfalls nicht auf Dauer. Als Papa damals seinen Unfall hatte, weinten wir ja auch nicht ewig. Und Mama hatte einfach zu viel um die Ohren, um endlos Schwarz zu tragen. Und dann war der neue Mann an ihrer Seite. Oskar half ihr nach den endlos dunklen Tagen, wieder auf das Licht eines neuen Morgens hoffen zu können. Ich weiß nicht, wie Fredi damit umging, als Papa plötzlich nicht mehr da war. Mein Bruder ließ sich nie viel anmerken.
Hej, Fredi, darf ich mal für eine Minute zu dir unters Tuch kriechen?
Verzieh dich!
Pah! Wer will sich schon zu einer Kreuzotter ins Bett legen? Ich doch nicht.
Wie lange steht der Lift nun schon still? Zehn Minuten? Eine halbe Stunde? Immerhin brennt noch Licht in der Talstation. Charly ist noch nicht heimgegangen. Komm schon, Charly! Wach endlich auf! Ist doch nur ein Knopfdruck! Schmeiß endlich die Maschine an! Hörst du? Ich erfriere!
Was meinst du, Agnetha? Soll ich den Sprung jetzt wagen? Oder soll ich hier in luftiger Höhe mein letztes Zuhause finden, so wie es sich für einen Engel gehört? Über Nacht wird mich eine dünne Eisschicht überziehen, und am Morgen funkle ich dann wie hübscher Weihnachtschmuck. „Schaut nur!“, werden sie rufen und zum Sessellift hochzeigen. „Dort oben! Ist das nicht …?“
Hast du etwas gesagt, Agnetha? Was? Ich werde nicht sterben? Nein? Du meinst, all diese schönen und wichtigen Gedanken, die ich mir über den Tod gemacht habe, waren vollkommen umsonst? Statt Engelsflügeln darf ich morgen früh wieder die Schultasche packen und weiterleben? Mach jetzt keine Witze, Agnetha!
Can you hear the drums, Fernando?
I remember long ago another starry night like this
In the firelight, Fernando you were humming to yourself and softly strumming your guitar
I could hear the distant drums and sounds of bugle calls were coming from afar …
Es ist nur ein Lied. Aber es wirft die Maschine in Gang! Die Seile ziehen an und endlich, endlich, endlich geht die Fahrt weiter! Danke, Agnetha! Danke, Charly! Das werde ich euch nie vergessen!
There was something in the air that night.
The stars were bright, Fernando!
They were shining there for you and me for liberty, Fernando!
„Liftboy! Komm endlich aus deiner Kammer heraus! Es ist vorbei!“
Gar nichts ist vorbei. Es hat ja eben erst angefangen.
„Liftboy, bitte! Mach die Türe auf. Was sollen die Gäste denn von uns denken?“
„Die und denken? Dass ich nicht lache, Mama. Die haben ihre Hirne doch allesamt in Schnaps eingelegt.“
„Liftboy! Schätzchen, Claudia!“
Claudia? Ich hasse es, wenn Mama diesen Namen sagt. Und noch weniger kann ich es ausstehen, wenn ihre Stimme dabei auch noch weinerlich wird. Claudia? So heiße ich doch längst nicht mehr. Ich bin Liftboy, Mama. Kein Mädchen, kein Girl. Ich bin Liftboy und ich will jetzt meine Ruhe haben. Und der Abwasch in der Küche läuft mir sicher auch nicht davon.
„Liftboy, Claudia!“
„Mama. Wie konntest du diese fremden Leute nur in unser Wohnzimmer reinlassen? Steht nicht groß PRIVAT an der Tür? Und ist es nicht beinahe der einzige Platz, der uns in diesem Haus noch für uns allein geblieben ist? Wessen Idee war das, Mama? Deine?“
„So etwas gehört nun einmal zum Geschäft! Die Gäste wollen Tiroler Hüttenzauber und so was wie unser Wohnzimmer … mit all den schönen Schindeln und Wurzelschnitzereien! Oder glaubst du, Oskar hat sich die ganze Arbeit nur für uns angetan?“
„Natürlich nicht. Wieso sollte er auch? Nur für uns, das wäre ja die reinste Verschwendung, Mama.“
„Claudia!“
Jetzt wird sie hysterisch.
Passt aber sagenhaft gut zu der Affenmusik, die nun von unten aus der Wirtsstube bis unter die Dachbretter dröhnt.
Bumbera-bumbera-tiralala!
„Claaaauddiiaaa!“
Bumbera-bumbera-tiralala!
„Claaaauddiiaaa!“
Bumbera-bumbera-tiralala!
„Claaaauddiiaaa! Mach endlich die Tür auf! Die Arbeit macht sich schließlich nicht von alleine!“
„Ich war in Unterhosen, Mama! Nichts als eine Unterhose hatte ich an, als plötzlich die Tür aufging und die blöde Horde im Gänsemarsch ins Zimmer tanzte! Weißt du, wie peinlich so etwas ist? Wie ich mich geschämt habe? Und dann zieht diese blökende Schafherde durch unser Wohnzimmer und alle stieren mich an! Wie konntest du sie nur reinlassen, ohne mich vorher wenigstens vor dem Umzug zu warnen?“
Für ein paar Sekunden ist es still hinter der Tür. Dann höre ich Mama wütend schnaufen: „Du bist in einer Minute in der Küche, sonst setzt es was!“
Bumbera-bumbera-tiralala!