Anatomisch betrachtet besteht das primäre weibliche Geschlechtsorgan aus drei Einheiten:
– dem sichtbaren, äußeren Teil: der Vulva,
– der Körperöffnung, die den äußeren und den inneren Teil miteinander verbindet: der Vagina,
– sowie dem inneren, nicht sichtbaren Teil: dem Muttermund, der Gebärmutter und den Eierstöcken. In Umgangs- und Fachsprache kommt die Vulva jedoch nahezu nicht vor. Stattdessen wird der Begriff Vagina verwendet. Dadurch bleibt von dem sichtbaren weiblichen Genital nur ein Loch übrig.
Montage von Christian Ahlborn: Vulva = Loch (Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers)
E-Book-Ausgabe 2018
Vulva erschien erstmals 2009 im Verlag Klaus Wagenbach in Berlin.
© 2009, 2017 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Str. 40/41, 10719 Berlin Umschlaggestaltung Julie August unter Verwendung der Photographie Judith von Georg Bochem. Reihenkonzept: Rainer Groothuis. Das Karnickel auf Seite 1 zeichnete Horst Rudolph.
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ISBN: 9783803142443
Auch in gedruckter Form erhältlich: 9783803127693
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Dies ist eine kleine Kulturgeschichte des Abendlandes – allerdings anhand der Darstellung des weiblichen Genitals in Alltag, Folklore, Medizin, Mythologie, Literatur und Kunst. Das mag auf den ersten Blick irritierend erscheinen. Reicht es nicht, dass es Kulturgeschichten des Küssens oder der Teekanne gibt? Welcher Erkenntnisgewinn soll nun durch die Vulva erzielt werden? Auf solche Einwände lässt sich erwidern, dass zwar jeder sein eigenes Konzept des Küssens oder der Teekanne haben mag, allerdings kaum jemand leugnen würde, dass es diese Phänomene gibt. Anders beim weiblichen Genital, so schreibt der Psychoanalytikerstar Jacques Lacan:
Strenggenommen, werden wir sagen, gibt es keine Symbolisierung des Geschlechts der Frau als solches. Auf jeden Fall ist die Symbolisierung nicht die gleiche, hat nicht die gleiche Quelle, hat nicht die gleiche Zugangsweise wie die Symbolisierung des Geschlechts des Mannes. Und das, weil das Imaginäre nur eine Abwesenheit liefert, dort wo es anderswo ein sehr hervorragendes Symbol gibt (Abb. 1).1
Oder in einem Satz: Hast du keinen Penis, hast du kein ›richtiges‹ Geschlechtsorgan. Eine Aussage, die so offensichtlich falsch ist, dass sie schon wieder einen gewissen absurden Charme hätte, wenn Lacan damit nicht in einer Linie mit den prägenden Denkern des Abendlandes stünde. Nach Aristoteles verfügte nur der Mann über genug Energie, um vollständige Geschlechtsteile zu entwickeln. Galen sah das weibliche Genital als invertiertes männliches Genital. Und Sigmund Freuds Haltung kann man auf die Formel bringen: Man nehme einen Menschen – also einen Mann –, entferne den Penis und erhalte so eine Frau. Auch aktuellere Theoretiker wie etwa Jean Baudrillard und Roland Barthes erklären, wenn sich Frauen öffentlich entkleiden, wie etwa beim Striptease, könnten sie dabei nicht ihr Geschlecht, sondern einzig und allein ihren Mangel enthüllen, sprich das Fehlen eines Phallus. Die Vulva wird als Loch, Leerstelle oder Nichts beschrieben. Im besten Fall fungiert sie als ungenügender Penis.
Je nach Temperament mag Frau das amüsant oder ärgerlich finden. Doch was bedeutet die Leugnung einer biologischen Tatsache wie der Vulva für die Wahrnehmung ganz konkreter Körper? Bei einer Versuchsreihe, die ich an verschiedenen Gruppen von Wissenschaftlerinnen durchführte, stellte ich fest, dass sie alle Penisse zeichnen konnten, jedoch keine eine wiedererkennbare Vulva zustande brachte. Das faszinierte mich. Wieso konnten diese hochgebildeten Frauen problemlos männliche Genitalien reproduzieren, während ihre eigenen Genitalien für sie so fremd und geheimnisvoll waren, dass sie sie nicht einmal rudimentär nachzeichnen konnten? Dabei fiel mir auf, dass sie und auch ich Bilder der Vulva – abgesehen von medizinischen Illustrationen – nur als Produkte der Porno- oder Hygieneindustrie zu sehen bekommen. So beschloss ich, mich auf die Suche nach dem symbolischen Ort zu machen, den die Vulva in unserer Kultur besetzt.
Als Erstes sprang mir der eklatante Widerspruch ins Auge, dass das weibliche Geschlecht einerseits gar nicht da sein oder doch zumindest unbedeutend und unsichtbar sein soll, während es gleichzeitig als ›schwarzes Loch‹ und ›klaffender Abgrund‹ erscheint, als »Tor zur Hölle, Quelle allen Zwists und Ärgers auf der Welt und möglicher Untergang des Mannes«.2 Die eindringlichste Illustration dafür ist die mit spitzen, blutbeschmierten Zähnen bewaffnete Vagina, die derart häufig in Mythen und Legenden auftaucht, dass sie sogar einen eigenen Namen hat: vagina dentata. Wo immer die vagina dentata auftaucht, droht sie den Penis zu dem zu machen, wozu der phallische Blick die Vulva degradiert hat, nämlich zu einer Absenz, einem Loch, einer Leerstelle – indem sie ihn abbeißt. Wie kann etwas, das vermeintlich gar nicht existiert, eine solche Gefährdung darstellen? Wir haben es hier mit etwas zu tun, das ich ein ›kulturelles Flimmern‹ nenne: Wenn zwei Konzepte konträr zueinander stehen – wie Farben, die sich am entgegengesetzten Ende des Spektrums befinden –, erzeugen sie, sobald sie zusammenkommen, eine ständige Irritation. Das sind immer hochspannende Phänomene, die darauf hinweisen, dass sich dahinter noch andere Schichten verbergen.
So finden sich in den meisten Mythologien Geschichten, in denen die Menschheit mindestens einmal durch die Zurschaustellung der Vulva gerettet wurde. Es gab den festen Glauben, dass Frauen, indem sie ihre Röcke heben, Tote erwecken und sogar den Teufel besiegen konnten. Das weibliche Genital war ein heiliger und heilender Ort. Die Vulva wurde nicht etwa übersehen, sondern mit gewaltiger Anstrengung zuerst diffamiert und daraufhin verleugnet, bis zu der irrigen und irren Auffassung, sie sei nicht der Rede wert (Abb. 2).
Zum Glück lässt sich nichts hundertprozentig verdrängen. Sodass ich im Laufe meiner Recherchen Verweise auf das primäre weibliche Geschlechtsorgan plötzlich überall in der Literatur und Kunst des Abendlandes entdeckte, also in jenen Medien, mit denen unsere Kultur sich darstellt und sich selbst erklärt. Allerdings waren diese Verweise meist verzerrt und kaum lesbar. Was jedoch nicht verstanden wird, kann auch nicht gestaltet und vor allem nicht umgestaltet werden.
Und genau darum geht es in diesem Buch. Es ist der Versuch, die kulturelle Bedeutung des weiblichen Genitals zu rekonstruieren und die Anstrengungen sichtbar zu machen, die unternommen werden mussten, um die Vulva zu verdrängen, da an ihrer Re/Präsentation der Kampf um die Definitionsgewalt über den weiblichen Körper ausgetragen wurde. (Wobei Körper in diesem Fall eine Metonymie für das ist, was wir als ›weiblich‹ definieren. Das ist wichtig zu unterscheiden, schließlich handelt es sich hier um die Untersuchung eines kulturell umkämpften Bereichs und nicht um eine erneute Gleichsetzung der Konzepte ›Frau‹ und ›Körper‹.) Vor allem aber will ich die Gegenbewegungen würdigen, die das ›unsichtbare Geschlecht‹ durch die Jahrhunderte in Wort und Bild sichtbar gemacht haben. Denn, wie der indianische Schriftsteller und Pulitzerpreisträger Natachee Scott Momaday schrieb: »Wir sind unsere Vorstellungen. [...] Unsere schiere Existenz besteht aus den Bildern, die wir uns von uns selbst machen [...]. Das Schlimmste, was uns zustoßen kann, ist, dass es keine Vorstellungen von uns gibt.«3
Die englische Redewendung naming and shaming bedeutet übersetzt: ›öffentliches Bloßstellen‹. In der Regel wird sie noch von einem dritten gleichklingenden Wort begleitet, nämlich blaming, also ›Schuld zuschreiben‹ oder ›verurteilen‹. Die britische Regierung nutzt die Strategie des naming and shaming derzeit extensiv, um Bilder von mutmaßlichen oder tatsächlichen Straftätern in der Presse, auf Webseiten und Baumstämmen zu platzieren, und erzeugt damit keineswegs nachbarschaftlichen Zusammenhalt, sondern vielmehr explosionsartige Gewalt gegen die ›Beschämten‹ (und Menschen, die das Pech haben, ihnen ähnlich zu sehen). Dasselbe geschah im großen Stil mit der Vulva. Nur dass ihre Bilder eben nicht weithin verbreitet wurden, sondern das öffentliche Bloßstellen mit einer öffentlichen Verschleierung und Fehlbezeichnung einherging: ›shaming and re-naming‹ also.
Die Journalistin Gloria Steinem erinnert sich:
Ich komme aus der ›Da-unten‹-Generation. ›Da unten‹, das waren die Worte – nur selten und mit gedämpfter Stimme ausgesprochen –, mit denen die Frauen in meiner Familie alle weiblichen Geschlechtsorgane, innere wie äußere, bezeichneten. [...] [Ich] habe keine korrekten Bezeichnungen gehört, ganz zu schweigen von Wörtern, die Stolz auf diese Körperteile ausdrückten. [...] So wurde mir, ob ich nun sprechen oder schreiben oder Hygiene lernte, die richtige Bezeichnung für jeden unserer wunderbaren Körperteile beigebracht – außer für die in der unaussprechlichen Gegend. Dies machte mich schutzlos gegenüber den beschämenden Ausdrücken und schmutzigen Witzen auf dem Schulhof und, Jahre später, gegenüber dem weit verbreiteten Glauben, dass Männer, ob als Ärzte oder als Liebhaber, mehr über den weiblichen Körper wissen als die Frauen selbst.4
Gloria Steinem wuchs in den 1930er und 1940er Jahren in Ohio auf. Ihre Erfahrungen unterscheiden sich eklatant von denen später geborener Mädchen, wozu sie als zentrale Figur der Frauenbewegung und Mitgründerin der feministischen Zeitung Ms – benannt nach der damals revolutionären Selbstbezeichnung von Frauen, die sich nicht mehr entweder als ›Miss‹/›Fräulein‹ oder ›Mrs‹/›Ehefrau von‹ anreden lassen wollten – selbst maßgeblich beigetragen hat. Trotzdem erschien noch im März 2006 ein Buch in Deutschland, das doch angeblich so viel weniger prüde ist als Amerika, mit dem keineswegs ironisch zu verstehenden Titel: Ich nenne es ›Da unten‹ – Frauen erzählen über ihre Vagina, die Lust und den Sex.5 Auch die Frauenzeitung Woman bezeichnete das weibliche Genital in ihrem Heft 3/2006 als »Unsere Wissenslücke«6 und fuhr jovial fort: »Wir haben uns schlaugemacht in Sachen Bezeichnungen, Funktion und Pflege. Und jetzt bitte nicht verschämt die Beine übereinanderschlagen!«7 Bei den Bezeichnungen, mit denen Woman aufwartete, kam ›da unten‹ an erster Stelle, dicht gefolgt von ›zwischen den Beinen‹. Das einzig halbwegs Originelle, mit dem die Journalistinnen, die den Artikel zusammengestellt hatten, aufwarteten, war die Erklärung, warum sie die Bezeichnung ›Vulva‹ ablehnten: Sie erinnerte sie an eine schwedische Automarke.
Ist der Gebrauch des Wortes Vulva schon schwierig, dann ist derjenige von cunt – oder auf Deutsch ›Fotze‹ – absolut verpönt, wie die Autorin Inga Muscio feststellen musste, als sie unter einen ihrer Artikel die Wortzahl tippen wollte, aber das ›o‹ in word count vergaß:
Ich betrachtete die beiden Wörter nebeneinander und fand, dass ›word cunt‹, also ›Wort Fotze‹ ein hervorragender Titel für eine Autorin wäre. Die Handvoll Menschen, die meine Originalmanuskripte zu Gesicht bekamen, reagierten entsetzt und fragten, warum ich ausgerechnet diese beiden Wörter unter meine Artikel setzte. Nachdem ich Verlagsassistenten, Redakteuren, Korrekturlesern und Empfangsdamen meine Beweggründe erklärt hatte, begann ich mir Gedanken über die tatsächliche, kontext-unabhängige Macht von ›cunt‹ zu machen.8
Tatsächlich ist die Bezeichnung für das weibliche Genital in seiner vulgären Form das heftigste Schimpfwort, mit dem die englische Sprache aufwarten kann. In den Medien ist cunt sogar noch unaussprechlicher als fuck. Man muss nur an die Kontroverse denken, die die BBC im Januar 2005 auslöste, als sie in Jerry Springer – The Opera die Worte »cunting, cunting, cunting, cunting cunt« (Deutsch etwa: hinterfotzige Fotze) als Beschreibung für den Teufel über den Äther schickte. Wenn jedoch nicht einmal der Teufel etwas mit dem weiblichen Genital zu tun haben will, dann muss damit etwas ernsthaft im Argen liegen. Dabei drückte das alte englische Wort cunt in seiner ursprünglichen Bedeutung ›heiliger Ort‹ die höchste Wertschätzung aus; es ist etymologisch eng mit queen, kin und country verwandt – also mit Königin, Sippe und (Mutter-)Land. Nach der Eroberung Englands durch die Normannen wurde cunt offiziell durch den lateinischen Begriff vagina ersetzt, hielt sich jedoch hartnäckig im Sprachgebrauch. Der englische Poet und Philosoph des 14. Jahrhunderts Geoffrey Chaucer benutzte es in zahlreichen Schreibweisen – queynte, queinte – in seinen Canterbury Tales, und in London gab es eine Straße mit dem sprechenden Namen Gropecunt Alley, wo Prostituierte auf ihre Kunden warteten. Erst im frühen 18. Jahrhundert wurde der ›heilige Ort‹ verfemt. Der endgültige Siegeszug der Vagina begann.
Zusammen mit ihrer direkten Übersetzung ›Scheide‹ ist Vagina auch im Deutschen die häufigste und akzeptierteste Bezeichnung für das weibliche Genital. Wie bereits erwähnt, bezieht sich Vagina jedoch ausschließlich auf die Körperöffnung, die die Vulva mit den inneren Geschlechtsorganen verbindet. Damit wird nicht nur der gesamte sichtbare Teil des weiblichen Genitals sprachlich unsichtbar, es hat so auch keine eigenständige Bedeutung mehr, ist nur ein Loch, in das der Mann sein Genital stecken kann, oder, um im Bild zu bleiben: eine Scheide für sein Schwert. Und genau daher kommt der Begriff, denn in der Anatomie war es üblich, Analogien zur Namensgebung zu verwenden. Der italienische Anatom und Chirurg Matteo Realdo Colombo, der das Wort ›Vagina‹ 1599 in die Medizin einführte, begründete seine Wahl in der Abhandlung De Re Anatomica mit der Beschreibung des weiblichen Sexualorgans als: »desjenigen Teils, in den der Spieß eingeführt wird wie in eine Scheide.«9 Das ist umso bemerkenswerter, als von Colombo beispielsweise auch die Bezeichnung labia minora – ›innere Schamlippen‹ – stammt. Offensichtlich war er also durchaus in der Lage, die Vulva zu sehen, zu beschreiben, nicht jedoch zu erkennen. Mit dieser selektiven Blindheit war er nicht alleine. So beschreibt Barbara Walker in ihrer Enzyklopädie des Geheimen Wissens der Frauen:
[B]ei einem Hexenprozess im Jahre 1593 entdeckte der untersuchende Scherge (ein verheirateter Mann) offensichtlich zum ersten Mal eine Klitoris und identifizierte sie als ein Teufelsmal, sicherer Beweis für die Schuld der Angeklagten. Es war ein ›kleines Stück Fleisch, herausstehend, als ob es eine Zitze sei, ein halber Zoll lang‹, was der Henkersknecht ›beim ersten Blick davon bemerkte, aber es war versteckt, denn es lag an einem sehr geheimen Ort, den anzusehen unschicklich war; jedoch am Ende, da er nicht bereit war, eine derart seltsame Sache zu verschweigen‹, zeigte er dieses Ding mehreren Zuschauern. Die Zuschauer hatten noch nie zuvor so etwas gesehen. [sic!]10
Das ist zumindest überraschend, da die Akten der ›peinlichen‹ Befragungen und die Gestaltung von Folterwerkzeugen wie der Vaginalbirne oder der Judaswiege11 zeigen, dass das Interesse an dem tabuisierten Genital enorm war. Der Arzt und Philosoph Ludwik Fleck brachte in den 1930er Jahren den Mechanismus, dass nur wahrgenommen werden kann, was auch wahrgenommen werden darf, auf die Formel: »In der Naturwissenschaft gibt es gleichwie in der Kunst und im Leben keine andere Naturtreue als die Kulturtreue.«12
Doch auch bevor Anatomen und Ärzte das weibliche Genital im 17. Jahrhundert auf die Vagina reduzierten, waren sie keineswegs präziser in Bezug auf den ›unaussprechlichen Bereich‹. Gynäkologische Werke zeichneten sich durch vage Euphemismen wie sinus pudoris – ›Höhle der Schamhaftigkeit‹ – und ernsthafte Begriffsverwirrungen aus. ›Vulva‹ wurde wahlweise entweder für die Vulva, die Vagina oder den Uterus oder für alles zusammen verwandt. Da die Kirche die Auffassung vertrat, die weiblichen Geschlechtsorgane seien ohnehin nur zur Fortpflanzung gut, galt das Hauptinteresse der Forscher der Gebärmutter, wo die Unklarheiten jedoch genauso evident waren. So gab es ernsthafte Beschreibungen, nach denen das Jungfernhäutchen den Penis davon abhalten solle, in den Uterus einzudringen.13
Da Sprache das System ist, mit dem wir uns in der Welt orientieren und Bewertungen vornehmen, geht das Verschwinden von wertschätzenden oder schlicht präzisen Bezeichnungen stets mit dem Verschwinden eines wertschätzenden Umgangs einher, spiegelt dieses wider oder bereitet es vor. Und da Menschen sich so stark über ihre Geschlechtsorgane identifizieren, dass sie sich aufgrund dieser sogar in zwei grundlegende Gruppen unterscheiden – Männer und Frauen –, sind Aussagen über Geschlechtsorgane in der Regel als Aussagen über das gesamte Geschlecht zu lesen. Der römische Arzt Claudius Galenus (129–199 n. Chr.), genannt Galen, der bis in die Renaissance die absolute Autorität auf dem Gebiet der europäischen Gesundheitslehre blieb, erklärte:
Ebenso wie die Menschheit die vollkommenste aller Tiergattungen ist, so ist innerhalb der Menschheit der Mann vollkommener als die Frau [...]. Die Frau ist in Bezug auf die der Fortpflanzung dienenden Teile weniger vollkommen als der Mann. [...] Natürlich darf man nicht glauben, dass unser Schöpfer die Hälfte der ganzen Spezies absichtlich unvollkommen und, wie es der Fall ist, verstümmelt geschaffen hätte, wenn nicht in solch einer Verstümmelung irgendein großer Vorteil läge.14
Dieser Vorteil lag laut Galen in der vermeintlichen Disposition der Frau zur Unterordnung und zum Dienen. Die Überlegenheit der männlichen Geschlechtsorgane erklärte Galen, aufbauend auf Aristoteles, mit der größeren inneren Hitze des Mannes15 – ein Konzept, das über mehr als tausend Jahre kolportiert wurde und sich zum Beispiel noch in dem mittelalterlichen Kompendium Secreta Mulierum wiederfindet, dessen Autor mahnt, die Frau würde dem Mann beim Geschlechtsakt Wärme – symbolisiert durch den heißen Samen – entziehen, sodass ein Mann, der zu viel Sex mit Frauen hätte, schwach und debil würde.16
Zwar sah Galen die Frau nicht als unmittelbare Bedrohung für den Mann, wie sein vehementer mittelalterlicher Kollege Pseudo-Albertus Magnus, dafür aber als schwach, verkrüppelt und im eigentlichen Sinne unmenschlich. Denn nur der feurige männliche Fötus sei in der Lage, seine Genitalien nach außen zu stülpen und damit ein vollständiger Mensch zu werden, während die weiblichen Geschlechtsorgane invertiert und unterentwickelt im Körper verblieben. Pseudo-Albertus Magnus führte diesen Gedankengang weiter: »Wenn bei diesem Prozess ein weibliches Kind entsteht, liegt das daran, dass bestimmte Faktoren die Bestimmung des Körpers verhindert haben, deshalb heißt es, dass die Frau von ihrer Natur her kein Mensch ist, sondern eine Missgeburt.«17
Die Vorstellung des weiblichen Geschlechts als identischer Entsprechung des männlichen, nur eben innerhalb des Körpers, hielt sich hartnäckig. So stellte Andreas Vesalius Mitte des 16. Jahrhunderts in seinem Grundlagenwerk der modernen Anatomie De Humani Corporis Fabrica die gesamten weiblichen Genitalien als riesigen Penis dar, mit der Vulva als Eichel. Und Vesalius’ Nachfolger auf dem Anatomielehrstuhl in Padua, Prospero Borgarucci, hatte auf die Frage, warum »die weise Natur bei den Frauen nicht in gleicher Weise wie bei den Männern die Hoden außen gepflanzt habe«,18 eine Antwort, die die ›minderwertige‹ Physiognomie der Frau mit ihrer ebenso ›minderwertigen‹ Psychologie verband (Abb. 3):
Im Wissen um die Unbeständigkeit und den Hochmut der Frau, und um auf diese Weise ihren dauernden Wunsch nach Herrschaft zu unterbinden, beließ die Natur die Frau so, dass jedes Mal, wenn diese an ihren vermeintlichen Mangel denkt, sie im Gegenteil umso sanftmütiger, demütiger und schließlich schamhafter als irgendein anderes Wesen auf der Welt werden müsste. Kein anderer Grund ist dafür anzunehmen, dass die Natur die Geschlechtsteile bei der Frau im Inneren gelassen hat, als dass sie damit deren hochmütiges Verlangen zügeln wollte.19
Noch bis ins 18. Jahrhundert wurden die Eierstöcke als ›weibliche Samenleiter‹ beschrieben. »Das bedeutet schlicht, dass eine veraltete und willkürliche Doktrin diktierte, der Mann sei die Norm, an der sich die Frau orientieren müsse, und sein Penis der Maßstab für ihre Genitalien«,20 resümiert Catherine Blackledge in ihrem Buch The Story of V. Strenggenommen müssten wir also sagen, dass der abendländische Diskurs gar nicht auf Zweigeschlechtlichkeit basiert, sondern auf Eingeschlechtlichkeit, da ein Geschlecht gesetzt wurde, nämlich das männliche, und das weibliche ausschließlich in Abgrenzung dazu konstruiert wurde. Damit war die Frau die Trägerin der Geschlechterdifferenz. Sie war – minderwertige – Abweichung von der Norm und – da ein vollständiger Mensch ohne Penis nicht gedacht werden konnte – die Kastrierte.21
Nun passte die Analogie Vagina=invertierter Penis zwar wunderbar ins Weltbild, aber irgendwann nicht mehr zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Das Ergebnis war, dass nicht etwa das Denkmuster hinterfragt wurde, sondern eine neue Analogie herhalten musste, nämlich Klitoris = kleiner Penis. Diese neue Analogie ging maßgeblich auf den italienischen Arzt und Botaniker Gabriello Fallopio zurück, den ›Entdecker‹ der Eileiter, die seitdem seinen Namen tragen – Fallopische Tuben.
Fallopio, der 1561 als Erster die Klitoris detailliert beschrieben und durch anatomische Schnitte ihre tieferliegende Struktur offenbart hatte, widersprach Galen an zentralen Punkten, trotzdem übernahm er dessen Gleichung von Klitoris und Penis kritiklos. Das dachte er zumindest. Dabei hatte Galen die Klitoris in seinen Werken überhaupt nicht erwähnt. Doch da die medizinischen Texte des Altertums aus dem Griechischen erst ins Lateinische übersetzt wurden, dann aus dem Lateinischen ins Arabische und schließlich aus dem Arabischen wieder zurück ins Lateinische – und die Bezeichnungen für das weibliche Genital, wie bereits ausgeführt, alles andere als eindeutig waren –, war es kein Wunder, dass sich Übersetzungsfehler einschleichen konnten. Sehr wohl verwunderlich ist dagegen, dass dieser Irrtum bis zum Ende des 20. Jahrhunderts unentdeckt blieb. Dabei ist die einzige Ähnlichkeit zwischen Penis und Klitoris, dass beide bei sexueller Erregung erigieren. Vierhundert Jahre lang übersah man geflissentlich, dass durch den Penis die Harnröhre verläuft, wohingegen die Klitoris undurchbrochen ist. Auch mit der vermeintlichen Übereinstimmung der Form ist es nicht so weit her. Was man gemeinhin als Klitoris wahrnimmt, ist nur ihre Krone oder Spitze. Unter der Haut lässt sich noch der Schaft ertasten, doch der größte Teil der Klitoris liegt tiefer. Es handelt sich um die sogenannten Crura oder Schenkel, die die Form eines umgekehrten Ypsilons haben und jeweils etwa zehn Zentimeter lang sind.
Die Psychologin Josephine Lowndes Sevely veröffentlichte 1987 eine Studie, in der sie nachwies, dass die Klitoris keineswegs dem Penis entspricht, dafür aber der Mann durchaus eine Entsprechung zur Klitoris hat, sowohl ihre Form als auch ihre Struktur betreffend. Es handelt sich um den corpus spongiosum: den Schwellkörper. Lowndes forderte: »Die Spitzen der männlichen und der weiblichen Klitoris sind die Lowndes-Kronen, so genannt nach derjenigen, die die korrekte Homologie festgestellt hat – getreu der Tradition, dass anatomische Teile nach der Person benannt werden, die sie entdeckt hat. Alle Teile des menschlichen Körpers sind von männlichen Wissenschaftlern bestimmt und benannt worden – oft nach ebendiesen Männern. Meines Wissens wird die Lowndes-Krone der erste Teil der menschlichen Anatomie, der nach einer Frau benannt wird.«22
Männer haben also ebenfalls eine Klitoris! Dass ein für das Lustempfinden so zentrales Organ beim Mann bisher übersehen wurde, zeigt, dass der zwanghafte Versuch, das weibliche Genital als geringere Ausgabe des männlichen zu betrachten, nicht nur den Blick auf das weibliche Geschlecht verstellt, sondern auf beide Geschlechter.
All das wurde und wird selbstverständlich nicht schweigend hingenommen. Tatsächlich gibt es sogar gerade einen Hype der Wiederaneignung des eigenen Genitals. Inga Muscio schrieb 1998 ihr Manifest cunt: a declaration of independence, das in den politischen Frauengruppen der amerikanischen Universitäten von Hand zu Hand gereicht wird. Die Journalistin Kirsten Anderberg nutzt das Internet als Forum für ihr Online-vulva-museum. Und trotz aller Versuche, die Spekulum-Gruppen der zweiten Frauenbewegungswelle lächerlich zu machen, steht auch im third-wave-feminism Do-it-yourself-Gynäkologie hoch im Kurs. Den Mainstream erreichte Charlotte Roche mit ihrem Roman Feuchtgebiete, in dem die Hauptfigur ihre Vulva aufs Genauste inspiziert und negative Bezeichnungen wie äußere und innere Schamlippen durch ›Vanillekipferl‹ und ›Hahnenkämme‹ ersetzt. Seit Erscheinen des Buches im Februar 2008 wandert Roche durch die Talkshows und erklärt, sie habe ihr Buch gegen den Intimhygienewahn geschrieben, der impliziert, dass die Vulva etwas Dreckiges sei – und ist dabei sichtbar souveräner als die Moderatoren, die nicht wissen, wohin sie schauen sollen.
Ähnlich prominent, wenn nicht sogar noch breitenwirksamer, waren Die Vagina-Monologe von Eve Ensler. Das 1998 als Buch erschienene Stück wurde als Bibel für eine neue Generation von Frauen begrüßt: »eine erschütternde und schreiend komische Reise zur letzten Grenze, der ultimativen Tabuzone«.23 Die Autorin hatte über 200 Frauen zu ihren Genitalien befragt und die Ergebnisse der Interviews in leicht literarisierter Form zusammengefasst. Sie schreibt:
Dieses Stück ist entstanden, weil ich anfing, mir über die Vagina Sorgen zu machen. [...] Ich machte mir Sorgen darüber, was wir über Vaginas denken, aber noch mehr beunruhigte mich, dass wir nicht über sie nachdenken. Auch über meine eigene Vagina machte ich mir Sorgen. Sie bräuchte die Gesellschaft anderer Vaginas, eine Gemeinschaft, eine Kultur von Vaginas. Sie sind von so viel Dunkelheit und Heimlichtuerei umgeben – wie das Bermudadreieck. Auch von da taucht keiner wieder auf. [...] Zuerst widerstrebte es den Frauen, darüber zu reden. Sie waren ziemlich zurückhaltend, aber wenn sie einmal angefangen hatten, konnte man sie nicht mehr aufhalten. Insgeheim lieben es Frauen, über ihre Vagina zu sprechen. Sie können sich richtig begeistern, besonders weil sich nie zuvor jemand dafür interessiert hat.24
Das war zwar ein wenig übertrieben, aber das enorme Echo auf Die Vagina-Monologe bewies, dass Ensler, wenn sie auch nicht die Erste war, so doch ein vitales Bedürfnis bediente. Die Monologe wurden in zahllose Sprachen übersetzt, auf Bühnen in aller Welt aufgeführt, und die Autorin wurde mit Preisen überschüttet. Stars drängten sich um Rollen in dem Stück, in bekannten Fernsehserien kauften die Charaktere Tickets dafür, und es wurde sogar in den Nachrichten darüber berichtet – teilweise als Realsatire, ohne das V-Wort auch nur ein einziges Mal zu erwähnen, wie auf CNN in einem zehnminütigen Special.
Die Psychoanalytikerin Harriet Lerner ging mit höchsten Erwartungen ins Theater:
Doch als ich mir die Vagina-Monologe mit meinem Ehemann, Steve, in New York ansah, fühlte ich mich, als würde ich durch das Kaninchenloch in Alice im Wunderland fallen. Hier war ein Theaterstück, dessen Ziel es war, den Stolz auf die weiblichen Genitalien – einschließlich des Stolzes auf die korrekte Bezeichnung – wiederherzustellen, und es hätte die genitale Realität nicht ungenauer darstellen können.
Zu meiner Überraschung schauten sich Frauen und Männer das Stück an und taten so, als würde nichts fehlen – als würden die weiblichen Genitalien nicht kontinuierlich falsch bezeichnet oder als wäre das egal.25
Das Problem war, dass Ensler in der Tradition der Medizin seit dem 17. Jahrhundert das weibliche Genital – zumindest linguistisch – auf einen Schlauch aus Schleimhaut reduziert hatte. Lerner erklärt:
Obwohl einige der Geschichten in dem Stück tatsächlich von der Vagina handelten, musste man in der Regel ›Vagina‹ durch ›Vulva‹ ersetzen, damit die Geschichten überhaupt Sinn ergaben [...]. ›Gibt es eine plötzliche feministische Massenamnesie in Bezug auf den Unterschied zwischen der Vulva und der Vagina?‹, sinnierte meine heißgeliebte Freundin Emily Kofron. ›Ich bezweifle, dass Männer eine vermeintliche Feier ihrer Sexualität dulden würden, die den Hoden mit dem Penis verwechseln würde.‹26
Derselbe Fehler unterläuft auch der wegen ihres Provokationsfeminismus umstrittenen Rapperin Lady Bitch Ray. Die Künstlerin, die plant, ihr erstes Album Die Aufklärung nach Emanuelle Cunt zu nennen, machte von sich reden, als sie Harald Schmidts Kollegen Oliver Pocher in der Schmidt&Pocher-Sendung vom 24.4.2008 ein Töpfchen »Fotzensekret« überreichte und – wie in jedem Interview – die »vaginale Selbstbestimmung« proklamierte. Allerdings machte sie keinen Unterschied zwischen Vagina, Möse, Fotze und Cunt. 27 Und auch der ›Vagina-Hut‹, den sie unter dem Label Vagina-Style für ihre Auftritte entworfen hat, ist nichts anderes als ein Vulva-Hut.
Bereits Mitte der 1970er Jahre hatte Harriet Lerner in einem angesehenen Ärzteblatt einen Aufsatz über die Fehlbenennung der weiblichen Genitalien und deren Folgen veröffentlicht. Der Artikel wurde mit eisernem Schweigen quittiert. Insgesamt gab es nur zwei Anfragen, ihn nachzudrucken, und ihre Kollegen sagten weiterhin Vagina, wenn sie Vulva meinten. Also gründete Lerner in den 1980er Jahren zusammen mit einer Gruppe feministischer Wissenschaftlerinnen den Vulva-Club, um das Bewusstsein für die korrekte Bezeichnung zu verbreiten. Als Illustration des Problems zitiert sie ein populäres Aufklärungsbuch, in dem steht:
Ein Mädchen hat zwei Eierstöcke, einen Uterus und eine Vagina. Das sind ihre Sexualorgane. Die Sexualorgane des Jungen sind der Penis und die Testikel. Eine der ersten Veränderungen am Körper des Mädchens während der Pubertät ist das Wachstum der Schamhaare um die Vaginalöffnung.28
Lerner kommentiert:
Eine so partielle und missverständliche Benennung der weiblichen Genitalien könnte jedes pubertierende Mädchen dazu veranlassen, sich mit einem Spiegel auf dem Badezimmerfußboden niederzulassen und zu dem Schluss zu kommen, dass sie eine Missgeburt ist.29
Tatsächlich sieht die Situation für die meisten Mädchen sogar noch desolater aus. »Kleine Mädchen mögen eine Mumu haben, ein Blümchen, Fützli, Döschen [...] nahezu jeder Name, den man einem kleinen, kuscheligen Haustier geben könnte, scheint für den Job geeignet«,30 stellt die Journalistin Mimi Spencer in einem Artikel im Guardian fest, der den an Eve Ensler angelehnten Titel The Vagina Dialogues trägt. Diese Worte sind jedoch nicht nur verniedlichend bis verfremdend, sondern auch noch höchst individuell. Dr. Pat Spungin erklärt: »Es gibt keine kollektiv akzeptierten Bezeichnungen. Jungen haben verschiedene Optionen, Mädchen einfach gar keine. Viele der vorhandenen Bezeichnungen – Muschi oder Möse – beziehen sich nur auf erwachsene Genitalien. Die Bezeichnungen, die kleine Mädchen verwenden, mögen süß sein, doch sie werden nicht geteilt.«31 Das bedeutet, dass Mädchen nicht miteinander über ihre Genitalien sprechen können. Jeder Verweis bleibt auf den Bereich des Hyperprivaten beschränkt, in der Regel auf die Kernfamilie, sodass, egal wie positiv sich die Eltern auch äußern mögen, der Vulva stets eine Aura von Geheimnis und Versteck anhaftet: Sie ist das, worüber man nicht redet. »Wenn wir unseren Töchtern nicht sagen können, wie ihre Sexualorgane wirklich aussehen, dann fordern wir jede neue Generation von Frauen dazu auf, mit Täuschungen zu arbeiten und ihre Sprache, ihre Gedanken und ihre Empfindungen zu vernebeln«,32 kritisiert Harriet Lerner, die seit Beginn ihrer Auseinandersetzung mit dem V-Wort buchstäblich Hunderte von Eltern interviewt und gefragt hat, warum sie ihren Töchtern nicht einfach verraten, dass ihr Genital Vulva heißt. Die Antworten verblüffen sie nach über dreißig Jahren immer noch.
[V]iele durchaus gebildete Eltern sagten sogar, sie hätten das Wort nie zuvor gehört. [...] Jene, die Kenntnis von den korrekten Begriffen haben, geben die phantasievollsten Erklärungen dafür ab, warum sie sie nicht benutzen. [...] ›Vulva ist ein medizinischer Begriff, und ich möchte meine Tochter nicht mit Begriffen belasten, die ihre Freundinnen nicht kennen‹ – ›Sie wird es in ihrer Klasse herumerzählen, und was machen wir dann?‹ – ›Vulva und Klitoris sind technische Begriffe‹ (das kam von Eltern, die ihrer kleinen Tochter unter anderem den Begriff ›Ovarien‹ beigebracht hatten). Und von einem besonders freimütigen Vater: ›Ich möchte nicht, dass meine Tochter eine Sexbesessene wird oder in dem Glauben aufwächst, dass Männer durch einen Vibrator ersetzt werden können.‹ 33
Die Angst vor der Sexualität der Töchter ist größer als die Angst um die Sexualität der Töchter, wie auch eine Schweizer Studie zur Prävention von Missbrauch herausfand. Das Projekt, bei dem Kindergartenkinder nach einem neuartigen Konzept Widerstand gegen sexuelle Gewalt erlernen sollten, scheiterte beinahe daran, »dass die Mädchen mit einer einzigen Ausnahme keine Bezeichnung für ihre Scheide kannten. [...] Den Knaben hingegen war bekannt, dass sie einen Pimmel zwischen den Beinen haben.«34 Wie sollen die Mädchen jedoch benennen, was mit ihnen geschehen ist, wenn sie sexualisierten Übergriffen ausgesetzt sind? 35 Und bereits geringere Probleme wie etwa Infektionen können traumatische Dimensionen annehmen, wenn es keine Sprache dafür gibt. »Da ist das erschütternde Beispiel einer Grundschülerin, die über Verletzungen ihres Kanarienvogels klagte und von der Lehrerin nicht verstanden wurde (obwohl alle Lehrer, die nicht in der Lage sind, einen Vorschuleuphemismus wie ›Kanarienvogel‹ zu knacken, ihre Prüfungen wiederholen sollten)«,36 berichtet Mimi Spencer. Doch niemand bereitet Lehrerinnen und Lehrer auf eine solche Situation vor. In keinem Referendariat wird auf die Worte für das weibliche Genital beziehungsweise deren Fehlen eingegangen. Dabei stehen auf Schulhöfen Witze über Geschlechtsteile hoch im Kurs. Natürlich mit strengen Genderunterschieden. Die Knaben müssen die Größe ihres Penis verteidigen, während Mädchen darüber informiert werden, dass ihr Genital angeblich nach moderndem Thunfisch stinkt oder eine Schleimspur wie die einer Schnecke hinterlässt.37
Später im Leben gibt es mehr Optionen, Worte aus dem Behandlungszimmer bis zum Bordell. Erstere gehören der Medizin, sie sind hervorragend geeignet, den Ort zu beschreiben, der wehtut, und nützlich bei den erniedrigenden Untersuchungen während Schwangerschaft und Geburt. Letztere dagegen gehören noch nicht einmal uns. Also uns Frauen. Der überwiegende Teil der Worte, die in Gesprächen benutzt werden, um die weiblichen Genitalien zu beschreiben, sind ein Vorrecht der Männer,38
konstatiert Spencer. Um an diesem Punkt ihrer Recherchen nicht zu beginnen, an Verschwörungstheorien zu glauben, machte sie sich auf die Suche nach wissenschaftlichen Erklärungen für dieses scheinbar unerklärliche Phänomen und besuchte David Messer, Professor für Kinderpsychologie und Sprachentwicklung an der Londoner Open University.
›Unser Vokabular ist mit einer Menge von Fähigkeiten verknüpft, mit Sprache und unserem Verständnis der Welt‹, sagt er.
Warum dann also diese Lücke, wo wir Worte für einen entscheidenden Teil des weiblichen Körpers benötigen?
›Es ist schwieriger, Dinge, die abwesend sind, zu benennen; wir neigen dazu, Namen für Dinge zu haben, auf die wir hinweisen wollen. Funktionell mag eine Betreuungsperson auf einen Penis hinweisen müssen – »Pass auf, dass du ihn nicht in deinem Reißverschluss einklemmst« –, aber es mag nicht so oft notwendig sein, auf die weiblichen Genitalien hinzuweisen‹,39 antwortete Messer. Das Fehlen von Bezeichnungen für die Vulva liegt also nur daran, dass diese gar nicht notwendig sind? Messer räumte ein: Kulturell würde ich zustimmen, dass Frauen dadurch entrechtet werden. Das schiere Fehlen einer Terminologie erschafft einen größeren Unterschied zwischen Männern, die etwas haben, und Frauen, die nichts haben.40
Ein Statement, das wortgleich von Aristoteles oder Galen, von Sigmund Freud oder Jacques Lacan stammen könnte. Spencer packte ihr Aufnahmegerät ein und ging. Auf der Straße beobachtete sie kleine Mädchen, deren primäres Geschlechtsmerkmal ihre pinke Kleidung sein sollte, und kam zu dem Schluss:
Während Männer etwas haben, das sie vorzeigen und hervorheben können, haben wir etwas, das als Nicht-Ort, Nicht-Identität und Mangel erachtet wird – nicht nur physisch, sondern auch linguistisch und darauf aufbauend sozial und kulturell. Wie es die klassische feministische Theorie bereits beschrieben hat, gibt es ohne angemessene und anerkannte Bezeichnungen kein Gefühl von Besitz, eine Trennung des Mädchens von ihrem Körper ist die Folge und später eine Entfremdung von ihrer sexuellen Identität. Für Germaine Greer war das, damals in den 1970er Jahren, die Basis der weiblichen Unterdrückung und Entrechtung. Viel hat sich nicht geändert.41
Die Argumentation, man könne und müsse nicht über die Vulva sprechen, weil es dort nichts zu sehen gäbe, widerspricht jedoch nicht nur unserer direkten, überprüfbaren Sinneswahrnehmung, sondern auch den kulturellen Zeugnissen. Sogar die klassische Antike, die gerne als tragende Säule des christlichen Abendlandes beschrieben wird, wartet mit einer dramatischen Geschichte über die Enthüllung der Vulva auf, nachzulesen im Homerischen Hymnus an Demeter. Zwar wurde das Gedicht keineswegs von Homer geschrieben, sondern ist eines von 33 Gedichten anonymer Autoren, die im 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung zusammengestellt und unter dem Etikett Homerische Hymnen bekannt wurden, doch stellt die Zuschreibung den Hymnus neben die Ilias und die Odyssee, also an die Seite der Gründungstexte der abendländischen Literatur.
Der Homerische Hymnus an Demeter wirkt erst einmal bekannt. Wir begegnen Demeter, der griechischen Göttin des Getreides und Ackerbaus, nach der Entführung ihrer Tochter Persephone in die Unterwelt und damit in den Tod. Demeter irrt mit aufgelösten Haaren durch das Land, das im selben Maße abstirbt, wie sie ihren Körper durch Nahrungsverweigerung auszehrt. Die Menschen schreien um Hilfe, weil ihre Ernten ausbleiben und sie vor dem Hungertod stehen. Doch nicht einmal den Göttern gelingt es, die Göttin aus ihrer fatalen Depression herauszureißen. Demeter bleibt untröstlich und trostlos.
An diesem Punkt tritt Iambe auf den Plan (Abb. 4).
Iambe oder Baubo, wie sie ebenfalls genannt wird, war ursprünglich eine anatolische Göttin, die von den Griechen übernommen wurde. Wie häufig in solchen Fällen wird der neue Mythos der alten Figur nicht so recht Herr. So wird sie in den unterschiedlichen Quellen als Göttin und als Dämon beschrieben, als alt und hässlich und als fruchtbare, gebärende Frau, als Dienerin, Kupplerin und Königin. Das Einzige, worin die Schilderungen übereinstimmen, ist, dass sie die olympische Ordnung sprengt.
Auch Iambe wird zunächst von Demeter abgewiesen, doch lässt sie sich davon nicht beeindrucken, und mit ihren spöttischen Scherzen gelingt ihr schließlich, was das gesamte griechische Pantheon nicht vermochte: Sie bringt Demeter zum Lachen und darauf auch wieder zum Essen und Trinken.
Was ist geschehen?
»Das Wort, das diese Scherze bezeichnet, kann sowohl eine ironische wie eine sarkastische Bedeutung haben. Außerdem waren diese Scherze nicht verbal, sondern visuell«,42 erklärt der Ethnologe und Psychoanalytiker Georges Devereux opak.
Die Orphik ist in diesem Punkt expliziter: »Nachdem Baubo gesprochen hatte, hob sie ihren Peplos und zeigte, was an ihrem Körper am obszönsten war.«43
Iambe/Baubo hat Demeter also – frei nach der spanischen Redensart: El habla por en medio de las piernas, also ›Sie spricht durch die Organe zwischen ihren Beinen‹ – ihre Vulva gezeigt.
Bei den rituellen Feiern zu Ehren Demeters, den Thesmophorien, war diese Geste ein fester Bestandteil. Auch weitere Mysterienkulte, die hauptsächlich von Frauen praktiziert wurden, entwickelten sich um die Enthüllung des weiblichen Genitals herum. So berichtet Aristophanes von den Eleusien, dass die Frauen sich für eine Weile aus ihren weltlichen Bindungen lösten und im Demeter-Tempel die Begegnung mit Baubo reinszenierten, bis die Feiern schließlich mit obszönen Gesängen und Reden (Aischrologien) endeten.44 Wie in der Heiligen Messe die Hostie wurde dabei mylloi gereicht: Sesam- und Honiggebäck in Form der Vulva. Auch der griechische Buchstabe Delta – der Anfangsbuchstabe Demeters, deren Name übersetzt ›Mutter des Delta‹ bedeutet – steht nach der Suda, dem umfangreichsten erhaltenen byzantinischen Lexikon, entstanden um 970, für das Vulvadreieck.45 Daher war für den griechischen Mathematiker Pythagoras das Dreieck heilig. Schließlich braucht man mindestens drei Linien, um Raum darzustellen, womit dem Dreieck die Rolle zukommt, als erste Figur aus dem Chaos herauszutreten. Überreste der Thesmophorien hielten sich bis ins Mittelalter. Dabei wurde ein Schwein, das magische Tier Demeters, mit Birnbaumzweigen und mylloi geschmückt, in eine Grube hinabgelassen und nach drei Tagen als wiedergeborene Göttin an die Oberfläche geholt.
Noch Goethe war mit der Figur der Baubo vertraut und lässt sie in seinem Faust die Walpurgisnacht anführen:
Stimme:
Die alte Baubo kommt allein;
Sie reitet auf einem Mutterschwein.
Chor:
So Ehre dem, wem Ehre gebührt!
Frau Baubo vor! und angeführt!
Ein tüchtig Schwein und Mutter drauf,
Da folgt der ganze Hexenhauf.46
Danach werden die Verweise auf Baubo seltener und unverständlicher. Wenn Peter Sloterdijk schreibt: »Baubo heißt Möse, sie ist das weibliche Geschlechtsorgan im unverschämtesten Grad, das sich dem Männervolk für einen kurzen vergeblichen Einblick höhnisch entgegenstreckt«,47 dann irrt er. In den frühesten Zeugnissen von vulvaweisenden Frauen tauchen Männer weder für einen kurzen Einblick noch in anderer Funktion auf. Die Geste der Baubo existiert, nach allem, was wir wissen, in einem primär von und für Frauen besetzten Sprachraum.
Bedauerlicherweise ist die Szene zwischen Baubo und Demeter nur in christlichen Quellen überliefert, nämlich bei Clemens von Alexandrien, Eusebius von Caesarea und Arnobius von Sicca.48 Der Ursprungstext ist verloren, und die Kirchenväter waren von dem, was sie wiedergaben, offensichtlich überfordert. So verwundert sich Arnobius:
Um dem Verlangen durch Nahrung und Speisung gefällig zu seyn, wird nicht irgendein Grund, eine Zeit, ein gewichtiges Wort oder ernste Gastfreundlichkeit bewirken, sondern die Offenbarung des schamvollen Unflaths des Leibes und die Ausstellung jener Theile, welche die allgemeine Schamhaftigkeit, welche das Gesetz der Sittsamkeit zu verbergen befiehlt; welche vor keinen Ohren ohne Erlaubniss und ohne vorhergehendes Respektvermeiden zu nennen erlaubt ist. Ich frage, was war in solchem Anschauen, was in Baubos Scham, dass das weibliche Geschlechtszeigen die mit ähnlichem begabte Göttin zur Verwunderung und zum Lachen bewegte?49
Die Frage ist rhetorisch zu verstehen. Für Arnobius gibt es darauf keine Antwort. Seine, Clemens’ und Eusebius’ Adaptionen entstanden zwischen 200 und 400 unserer Zeitrechnung und markieren den Beginn der christlich-dogmatischen Verleugnung des weiblichen Genitals. Von daher liegt es nahe, dass es sich dabei um Entstellungen der ursprünglichen Szene handelt, wie Monika Gsell in ihrer Studie über die Bedeutung der Baubo vermutet:
Der Verlust der ursprünglichen Bedeutung, die Baubos Geste im weiblichen Ritual gehabt haben mag und von den Frauen gewusst wurde, markiert den symbolischen Ort der Geschichte des weiblichen Genitals: Es ist eine Geschichte des Vergessens, des Verlustes von Wissen, der Nicht-Tradierung. Dieser Mangel an positivem (weiblichem) Wissen um die Bedeutung der Baubo markiert die eigentliche Kastriertheit des weiblichen Geschlechts – Kastration hier verstanden im linguistischen Sinne einer Loslösung von Zeichen und Bedeutung.50
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