Jens Schadendorf
Für Karsten
Für Jan Philipp, Theresa, Saskia und Maximilian
Für Sebastian, Nicola, Alexander, Marie und Anja
Für Maximilian und Chloé
Für meine Eltern †
WIE EINE DYNAMISCHE MINDERHEIT DIE GLOBALE WIRTSCHAFT VERÄNDERT
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1. Auflage 2019
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Lektorat: Christiane Otto, München
Umschlaggestaltung: Maria Wittek, München
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Satz: Satzwerk Huber, Germering
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
eBook: ePubMATIC.com
ISBN Print 978-3-86881-736-2
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96267-087-0
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-088-7
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Anstatt einer Einleitung
Die GaYme Changer sind los. Wie eine dynamische Minderheit die globale Wirtschaft verändert
TEIL I
Barilla, ein Pasta-Schlachtfeld und eine globale Wende
1. Es beginnt alles ganz harmlos
2. »Wir« gegen »die«
3. Zwölf Nudelmarken, die »nicht vor den Kopf gestoßen haben«
#boycottbarilla
Kampfplatz 20
4. Umsteuern
Schock auf der Autofahrt
Gefahren für den Ruf
Eine Reise beginnt
5. Dazulernen (1): Tyler Clementi und gefährdete Kinder
Tod eines Studenten …
… und wie seine Eltern damit umgehen
6. Dazulernen (2): Italienische Verhältnisse
Bescheidene Fortschritte
Das Katholische, die Moral und das Geschäft: Auch Dolce & Gabbana
Schwieriges Umfeld selbst für veränderungsbereite Unternehmen
Hilfe von Parks und Ivan Scalfarotto
7. Dazulernen (3): GLAAD, die Medien und ein neues Skript
8. Dazulernen (4): David Mixner – ein Treffen in Manhattan
9. Worte und Taten
Konkrete Maßnahmen: Intern …
… und extern
10. Vom Saulus zum Paulus: Vor den Augen der Welt
»Unwiderlegbar« und »umfassend«
11. »Vor fünf Jahren war das nicht der Fall«
»Dumm und rückwärtsgewandt«
12. Spiegel des Wandels: Andere Werte, andere Preise, andere Entscheidungen
13. Abkehr von Milton Friedman, die wiederentdeckte Unternehmensverantwortung und der soziale Zweck
Klaus Schwab und »unwissende Marionetten«
Wachsende Kritik und dann Schwenk – vor allem bei den Jüngeren
CSR und Blackrocks Forderung: »Leiste einen Beitrag«
Steigender Druck auf »Imagepolierer« – …
… und auf »Pinkwasher«
Nachklapp in New York
Antonio Zappulla, die Thomson Reuters-Stiftung und Openly
Barillas Engagement: Ohne Einmischung, mit Resonanz …
… und mit globalem Fokus
Nicht das erste Mal: Nähe zu den Vereinten Nationen
14. Ein neues Versprechen und seine Glaubwürdigkeit – nach innen, nach außen und immer wieder
15. Nach Deutschland: Mit Starthilfe durch die Stiftung Prout at Work
Erste Anlaufstelle
Entstehung und Gründung
Ebenfalls ein Spiegel
16. Anruf von Freunden aus Mailand
Fortschritte auch in Italien
Europäische Vernetzung
17. Ein Kennenlernen in Köln und dann mehr
Zivilgesellschaft und Business
Deutschland-Chef an Bord – und Verpflichtung
Konkretisierung
Der Blick geht weiter – auch nach Frankreich
18. »Denken wir an einen Reisenden, der einen falschen Weg wählt«
Katalysator des Wandels
Zwei Frauen auf einer Schachtel
TEIL II
Davoser Impuls, Versteckspiele und eine ökonomische Botschaft, die bis heute wirkt
1. Frühstück bei Microsoft
Inspiration im Schnee, Einfluss und Netzwerke
Eigentlich am Rand und doch doch historisch
Prall gefüllt
Trotz Widerstand des »offiziellen« Weltwirtschaftsforums
Vor allem Aktivisten
Paul Singer: Inspiration und Antrieb
Unerwartete Fürsprecher – und eine Zäsur
2. Courage eines Wirtschaftsjournalisten
3. Gefallener BP-Chef: Scham und Schock
Mediales Spektakel
Deutungshoheit
4. Das Anliegen des Lords: Wirtschaftlicher Nutzen
5. Topunterstützung für einen Autor und sein Buch: Beispiellose Wirkung
Im Jahr zuvor noch undenkbar
Statements trotz möglicher Nachteile
6. Gay Business Bosses: Auf Sendung
7. Ein mutiger Einschnitt – und drei Begründungen
8. In einem Paket: Gleiche Rechte und Chancen und das Leistungsprinzip
9. Nicht mehr zweimal denken: Gesünder, produktiver, wirtschaftlicher
Verschwendete Energie
Coming-out der Jungen im Vergleich – und deutsche Befunde
10. Wachsender Druck auf die Unternehmen durch Millennials und Generation Z
Es werden deutlich mehr: 20 Prozent!
Starker Zuwachs bei von der Mehrheit abweichenden sexuellen Orientierungen
Große Sprünge auch bei von der Mehrheit abweichenden Gender-Identitäten
Veränderte Selbstbeschreibungen
Öffentliche Diskussionen
»Sexuelle Zwischenstufen«: Auf den Spuren von Magnus Hirschfeld – und Erwin Haeberle
Botschaft an die Wirtschaft: Bewegt euch!
Gewünscht: Soziale Verantwortung kombiniert mit Diversität und Inklusion
Generation Z überholt Y
Bundesstaaten reagieren bereits …
… und auch United Airlines: »Fly how you identify«
Fließende Identitäten: Sam Smith und Coming-outs in Serie
Gezielte Unterstützung – auch durch das Trevor Project
Mehr als Barilla: Schnell sein für den Wettbewerbsvorteil
»Unternehmen bereiten sich auf eine nicht-binäre Welt vor«: Baker McKenzie, …
… Netflix und seine Stars, …
… Universitäten und Accenture …
… und Out & Equal
Mehrheit der Jungen: Hohes Produktivitätspotenzial in der Masse
Zarte Facetten in Deutschland
11. »Volle Führungskraft« (1): Holger Reuschling von der Commerzbank – ein langer Weg
»Irgendwann ging es nicht mehr«
Der »beste Kumpel«, Begegnungen in der Stadt und das gemeinsame Haus
Vertrauen wächst und vereinfacht …
… – wenn es nicht zerstört wird
Risiken versus Nutzen
Inspiriert durch Thomas Hitzlsperger
Unterstützt durch das Unternehmensnetzwerk
In einer Managerrunde
Ein Fest – dann durchstarten
Auch andere (1): Matthias Webers Seminar …
… mit weitreichenden Folgen …
… auch mit Frustrationen …
… und mit frischen Chancen
Auch andere (2): Fabienne Stordiaus persönliches Unternehmertum …
… auch bei einer neuen Handelskammer
12. »Volle Führungskraft« (2): Holger Reuschlings neues Engagement
Eine Reise …
… beginnt am Lützowplatz
Weiter mit Stuart Cameron
Harvey Milk und Sticks & Stones: Inspiration, Bühne und Wachstum
Der Rahm auf der Milch
Hundert Gäste im Haus
Harter Wettbewerb, neue Netzwerke und mehr
13. »Volle Führungskraft« (3): Als CEO vom Mann zur Frau, die sie schon immer gewesen ist: Angela Matthes von der Baloise Versicherung
Ein Plan
Unterstützung aus Basel
Parallel: Die Serie Transparent
Lisa Shermans Blick
Echte Geschichten mit echten Menschen
Lange Begleitung
Viele Gespräche
Es lohnt: Produktivitätspotenzial an der Spitze
14. »Volle Führungskraft« (4): Cook, Simões & Co. – mehr Vorbilder und neue Hitlisten
Ein Gottesgeschenk – nicht nur für Apple
Arroganter Machtmissbrauch oder verantwortungsbewusster Bürger-Boss?
Man kann es auch anders sehen
Ein portugiesischer Banker in London und die »persönliche Verpflichtung, sich zu outen«
Outstanding und Financial Times: Rollenmodell-Rankings …
… und begehrte Platzierungen
Ein (Wettbewerbs-)Vorteil? Oder: »Mein Mann wird sich von mir scheiden lassen«
Ein kleiner Spiegelstrich in Davos: »Auf dem Radar der Vorstände«
Von Anfang an mit offenem Visier: Sander van’t Noordende, CEO
Beth Brooke-Marciniak: Spät und dann richtig
Die »It gets better«-Kampagne und eine unerwartete Entscheidung
Vorbilder-Rankings nun auch in Deutschland – …
… mit Anlaufschwierigkeiten
15. Vorteile der Vielfalt (1): Gestützt von der Wissenschaft – bessere Entscheidungen, bessere Innovationen, bessere Ergebnisse
Mehr Studien, mehr Wissen
Die Stellung im sozialen Gefüge und ihre Bedeutung für die Vorteile der Vielfalt
Besondere Herausforderung: Unbewusste Voreingenommenheit
Diversität und Inklusion: Immer zusammen
Die Potenziale der Vielfalt kompakt
Keine Vorteile ohne vielfältiges Personal
LGBT+-Mitarbeiter: Zugehörigkeit, Motivation und offenes Arbeitsklima fördern
Ein paar Beispiele: Aufbruch bei Siemens …
… auch mit Arthur Schmid – bis nach Indien
Nachhaltiger Wandel?
Juergen Maier, »Siemens UK CEO«: Klare Ansagen
Die Welt der Wirtschaftsanwälte: Hogan Lovells – auch in Russland, auch in Spanien
Bertelsmann: Später Start, starke Unterstützung von der Spitze …
… und präsent bei der Queer Media Society
Discovery: Großes Netzwerk, bis nach Tennessee, Südamerika und Polen
Allianz Global Investors: Finanzplatzpräsenz
16. Vorteile der Vielfalt (2): Teil eines globalen Großtrends – Allianzen, Zahlen und die Weltgemeinschaft (der Unternehmen)
Verstärkt im Management-Leitmedium
Wachsende Geschäftschancen
McKinseys »Davos für LGBT+«
Networking und Geschäft
Lawrence Spicer von der Royal Bank of Canada
Zahlen und Zahlendefizite
Open for Business: Mehr Daten und Evidenz
Unterstützung von Business Case, Economic Case & Co.
Aufbruch der UN: Eine beispiellose weltweite Bildungskampagne …
… und die UN-LGBTI-Verhaltensstandards für Unternehmen
Echte Durchbrüche auch in Davos: Schlag auf Schlag, …
… Donnerhall des US-Vizepräsidenten, …
… Forschungspremiere mit drei Modellen und …
… Blog-Explosion – mit einer texanischen Erinnerung
Die neue »Partnerschaft für globale LGBTI-Gleichstellung«
Epilog
Danksagung
Der Autor
Stimmen zum Buch
Glossar
Anmerkungen
Wirtschaft und Gesellschaft wandeln sich rasanter denn je: Sie werden interkultureller, vielfältiger und für manche auch unübersichtlicher. Wie ist damit umzugehen?
Durch die schnellen Veränderungen wachsen nicht nur Risiken. Es entstehen auch laufend neue Chancen: für jeden einzelnen – und auch für Unternehmen. Immer mehr von ihnen reagieren auf die Notwendigkeit, sich zu wandeln, indem sie sich nunmehr auch Minderheiten zuwenden: mit Blick auf aktuelle und künftige Mitarbeiter und Führungskräfte, mit Blick auf Kunden, Geschäftspartner, junge Generationen und die kritischer werdende Öffentlichkeit.1
Eine der in dieser Hinsicht spannendsten Entwicklungen der letzten Jahre betrifft eine lange ausgegrenzte, vielerorts sogar kriminalisierte Gruppe: die LGBT+-Community. Zu ihr gehören Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender sowie Menschen weiterer, von der Mehrheit abweichender sexueller und geschlechtlicher Identitäten.
Fünfzig Jahre nach den Stonewall-Unruhen im Sommer 1969, als von der New Yorker Polizei drangsalierte Mitglieder dieser Gruppe erstmals deutlich sichtbar für ihre Menschen- und Bürgerrechte eingestanden sind, geht von dieser Minderheit eine ungeheure ökonomische und soziale Dynamik aus – unterstützt von international operierenden Unternehmen sowie anderen Akteuren und Entwicklungen aus deren Umfeld.
Man könnte auch sagen: Die GaYme Changer sind los. Wobei das Wort »Gay« im Englischen und auch sonst häufig als Synonym für die gesamte LGBT+-Community verwendet wird.
Mit großem Tempo etabliert sich diese Community als wichtiger Faktor in Unternehmen, Märkten und Volkswirtschaften. Mehr noch: Die Frage ihrer Anerkennung, der Wertschätzung und Offenheit ihr gegenüber ist zu einem der wichtigsten Prüfsteine für lebendige Organisationskulturen, funktionierende Märkte und wachsende Ökonomien geworden.
Denn Unternehmenspraxis und Wissenschaft belegen immer klarer: Die Mitglieder der LGBT+-Community sind, je mehr man ihnen gleiche Rechte und Chancen gewährt, unternehmerische Akteure von Kreativität und Veränderung. Sie werden gebraucht in modernen Gesellschaften, die auf Innovation und Wandlungsfähigkeit existentiell angewiesen sind.
Unternehmen, Regierungen und gesellschaftliche Gruppen, die das nicht verstehen oder akzeptieren wollen, berauben sich wertvoller Ressourcen- und Produktivitätspotentiale. Anzuerkennen und wertzuschätzen, dass die Menschen vielfältig unterschiedlich sind, ist nicht nur human und fair. Es ist auch ökonomisch vernünftig.
Ein wichtiges Konzept ist dabei die Vielfalt. Wird Vielfalt nicht nur anerkannt und wertgeschätzt, sondern auch genutzt, ist das zum Vorteil von Gesellschaft, Volkswirtschaft und Firmen, von Bürgern, Mitarbeitern, Führungskräften und Unternehmern gleichermaßen.
Vielfalt meint dabei: jegliche Vielfalt. Ethische, religiöse, kulturelle, geschlechterbezogene und andere Formen der Vielfalt. Sie meint auch die Diversität sexueller Orientierungen und geschlechtlicher Identitäten.
Das verstehen auch immer mehr Unternehmen rund um den Planeten. Vorreiter sind dabei die Vereinigten Staaten, aber auch Großbritannien und überhaupt der angloamerikanische Raum liberal-westlich geprägter Gesellschaften und globaler Firmen.
Aber auch viele andere Teile der Welt öffnen sich immer stärker für dem Leitgedanken der Wertschätzung und Nutzung von Vielfalt und Inklusion. Eine rasant wachsende Zahl von Unternehmen – und auch anderer Organisationen – managt sie strategisch und systematisch. Auch in Deutschland. Vielfalt und Inklusion und ihr erfolgreiches Management sind im Begriff, zum Megatrend zu werden. Oder sind es bereits.
LGBT+-Inklusion, das bedeutet: Durch die geeigneten Maßnahmen zu gewährleisten, dass alle Menschen den gleichen Schutz, die gleichen Rechte und die gleichen Chancen haben, etwas aus ihrem Leben zu machen. Auch Angehörige sexueller Minderheiten.
Etwas aus seinem Leben zu machen, heißt dabei nicht zuletzt, in einem Unternehmen die Karriere verfolgen zu können. Bis an die Spitze. Als die ganze Person, die jemand ist. Es heißt zugleich, einen Beitrag für das Unternehmen leisten zu können und zu dürfen. Und so auch für die Gesellschaft.
Das erfolgreiche Management von LGBT+-Vielfalt und -Inklusion bedeutet also auch, dass die legitime Forderung nach Schutz, Gerechtigkeit und Fairness einerseits und die nach Leistungsorientierung andererseits nicht gegeneinander in Stellung gebracht werden dürfen.
Das Gegenteil ist richtig: In einer hoch kompetitiven globalen Wirtschaft können und müssen diese Dimensionen überall auf der Welt zusammengedacht werden.
Welche Ursachen treiben diese Entwicklung an?
Etwa rasante demografische Veränderungen. Oder die Effekte der Globalisierung, Digitalisierung und Medialisierung. Oder der permanent wachsende Veränderungs- und Innovationsdruck.
Oder der Wertewandel bei den Jüngeren, darunter ihr einschneidend anderer Umgang mit Sexualität und Identität – eine kleine Revolution mit großen Folgen.
Oder ihre veränderte Erwartung gegenüber dem, was Unternehmen leisten sollten – sich nämlich der Gesellschaft gegenüber über das hinaus verantwortlich zu zeigen, was Recht und Gesetz vorschreiben.
Welche Protagonisten – welche GaYme Changer – spielen dabei die zentrale Rolle?
Es sind viele. Nicht nur einzelne LGBT+ auf allen Firmenebenen, sondern auch immer mehr heterosexuelle Verbündete, sogenannte »straight allies«.
Die GaYme Changer sind nicht nur engagierte LGBT+-Mitarbeiternetzwerke, sondern gesamte Unternehmen.
Es sind zudem Plattformen, Kooperationen, Allianzen, Partnerschaften, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und andere Institutionen rund um den Globus, die – bislang vor allem zusammen mit globalen Großunternehmen – mit Ideen, immer mehr Einfluss und Macht auf verbesserte LGBT+-Gleichheit im Job (und in der Gesellschaft) hinarbeiten.
Es sind auch andere Player wie die Medien, die Politik, die Vereinten Nationen oder nun auch – nach langem Zögern – das Weltwirtschaftsforum in Davos, wichtiges Machtzentrum des globalen Business.
Welche Folgen hat diese Entwicklung in einer globalisierten Welt mit ihrer großen Vielfalt an Unternehmen und Persönlichkeiten, mit unterschiedlichen Geschichten, Kulturen, Ethnien und Gesetzen? Leben und Lieben, Arbeiten und Führen, Konsumieren und Investieren in New York, London, Frankfurt oder Berlin ist anders als in Hongkong, Johannesburg oder Rom.
An diese und viele andere Orte bin ich für dieses Buch gereist. Habe viele Einzelinterviews geführt. Recherchiert. Zugehört. Beobachtet.
Habe Vertreter von Accenture, Allianz, Allianz Global Investors, Axel Springer, Baloise, Barilla, Bertelsmann, BCG, BNP Paribas, BP, Commerzbank, Discovery, Deloitte, Deutsche Bank, EY, Freshfields Bruckhaus Deringer, Hogan Lovells, IBM, KPMG, McKinsey, Latham & Watkins, Microsoft, Norton Rose Fulbright, Oliver Wyman, Raiffeisen, Royal Bank of Canada, PwC, Salesforce, SAP, Shell, Siemens, Siemens Healthineers, Societé Générale, Thyssenkrupp, Vodafone und vielen anderen Unternehmen erlebt oder gesprochen.
Vertreter auch von Stiftungen, Verbänden, Handelskammern, Universitäten, NGOs, der UN und weiteren Institutionen.
War auf Konferenzen, Workshops und anderen Events von Unternehmen, manchmal als einziger Externer. Durfte in geschlossenen Gruppen mitverfolgen, was in sozialen Medien gepostet wurde. War bei der UN in Manhattan und im Europäischen Parlament in Brüssel. War Gast bei Kongressen in Wien oder Seattle, wo rund 6.000 Teilnehmer der großen Out & Equal-Konferenz zur LGBT+-Gleichheit am Arbeitsplatz neue Rekorde beschert haben.
Dieses Buch basiert also nicht nur auf aktuellen Forschungsergebnissen zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen. Es dokumentiert außerdem die Erfahrungen von LGBT+-Führungskräften, -Aktivisten und -Mitarbeitern. Auch von heterosexuellen LGBT+-Unterstützern, von denen es immer mehr gibt.
Ein interessantes Ergebnis: Die Zeit um 2014 markiert so etwas wie einen Wendepunkt zu sich schnell verändernden Anstrengungen für mehr LGBT+-Gleichheit in den Unternehmen und der Welt. Viele Indikatoren und Storys belegen das.
GaYme Changer zeigt mit seinen Geschichten, Analysen und Hintergründen auch, dass es viele Wege und unterschiedliche Konzepte und Schritte für Unternehmen gibt, um ein integratives, regenbogenfreundliches Umfeld zu schaffen.
Diese Konzepte und Tempi können je nach lokaler Geschichte, Kultur und Rechtsordnung, aber auch je nach lokalem Fortschritt, Hindernissen und Dilemmata unterschiedlich sein.
In diesem Sinne sind die Unternehmen nicht naiv, sondern können intelligent und – auf vielfältige Weise – mehr oder weniger mutig handeln.
In dem Maße, in dem sie mutiger sind, entstehen auch neue inspirierende Einzel- und Netzwerk-Rollenmodelle. Sie inspirieren nicht nur ihre LGBT+-Peers, sondern auch ihre unterstützenden Verbündeten und andere Kollegen, Kunden, Geschäftspartner und viele mehr.
Natürlich gibt es auf der Karte der globalen LGBT+-Rechte und -Realitäten noch viele dunkle »Kontinente«. Und nicht jedes Versprechen, das von Staaten und Gesetzen, Unternehmen und Führungskräften gegeben wird, wird eingehalten. Der Druck auf Politik, Institutionen und auch Unternehmen, der mehr denn je von den jüngeren Generationen ausgeübt wird, bleibt auch deswegen wichtig.
Insgesamt jedoch sind Schwule, Lesben & Co. in wenigen Jahren zu einem wichtigen Erfolgsfaktor in der Weltwirtschaft geworden. Es lohnt sich, sie einzustellen, zu fördern und zu dynamischen GaYme Changern werden zu lassen – mit starken Vorbildern, flexiblen Strategien, handfesten Maßnahmen und innovativen Kooperationen.
Unternehmen, die das tun, werden selbst zu GaYme Changern. Genauso, wie viele andere Institutionen und Organisationen, die sie dabei unterstützen und auf sie einwirken. Sie alle können die Welt damit zu einem besseren Ort machen. Für jeden.
Es beginnt alles ganz harmlos. Und eskaliert dann schnell. Damit war nicht zu rechnen. Allerdings auch nicht damit, was im Anschluss geschieht. Doch der Reihe nach.
Ein Spätsommerabend Anfang September 2013. Ziemlich offen gibt Guido Barilla, Chef des altehrwürdigen Nudelkonzerns, dem italienischen Radio 24 in der Sendung La Zanzara ein Interview. Sie ist für ihre Direktheit bekannt, aber es wird niemand genötigt zu sagen, was er nicht sagen will.
Guido Barilla, Jahrgang 1958, in zweiter Ehe verheiratet und Vater von fünf Kindern, erzählt zunächst ausführlich von der langen Firmengeschichte rund um Pasta & Co. Insgesamt eine Erfolgsgeschichte, zweifellos. Denn wer kennt nicht Barilla? Die Marke steht für kulinarische Qualität, Wohlfühlmomente durch italienisches Kochen zu Hause, gesunde mediterrane Küche, gemeinsames Essen mit lieben Menschen am Mittagstisch oder abends.
Und wer kennt nicht Wasa? Auch das Premiumknäckebrot aus Schweden gehört zur Barilla-Gruppe – wie andere angesehene Marken ebenfalls. Ökonomisch gesund ist das Unternehmen noch dazu.
Bis auf eine kurze Zeit in den 1970ern war der rund 150 Jahre alte Konzern mit Sitz in Parma dabei immer in Familienhand. Heute gehören 85 Prozent Guido Barilla und seinen Geschwistern. Die Familie macht nicht viel Aufhebens um ihren Reichtum, sucht nicht das Rampenlicht, kultiviert keine übertriebenen Eitelkeiten in der Öffentlichkeit.
In seinem Interview bei Radio 24 will Guido Barilla offenbar noch mehr sagen, als nur in Nudeln und Saucen zu schwelgen. Und so beantwortet er nicht nur die Frage, warum der Pasta-Primus keine Werbung mit Homosexuellen machen will. Er wählt auch klare Worte zu seinem Verständnis von Familie. Guido Barillas Kernsätze haben es in sich. Und sie lesen sich so:1
Zu den Werten von Barilla:
»Wir haben eine etwas andere Kultur, für uns bleibt die ›heilige Familie‹ einer der Kernwerte des Unternehmens. Unsere Familie ist eine traditionelle Familie.«
Zur Pasta-Werbung und zum Pasta-Essverhalten von Homosexuellen:
»Wenn Homosexuelle unsere Pasta und unsere Werbung mögen, werden sie unsere Pasta essen. Wenn sie sie nicht mögen, essen sie die Pasta eines anderen.«
Zur Werbung mit einer homosexuellen Familie:
»Ich würde keine Werbung mit einer homosexuellen Familie machen. Nicht aus Mangel an Respekt gegenüber Homosexuellen – die das Recht haben, zu tun, was sie wollen, ohne andere zu stören. […] Wir wollen uns an die traditionelle Familie wenden. Die Frauen sind dabei entscheidend.«
Die Worte des Konzernpatriarchen sind unmissverständlich. Sie ziehen eine klare Grenze: Auf der einen Seite stehen »wir« – die Hüter der »echten«, gleichsam »heiligen« Familienwerte. Und auf der anderen Seite stehen »die« – also jene, die einem anderen, einem offenen oder einem alternativen Familienkonzept anhängen. Oder die einfach nur Single sind. Dazu passt, dass Guido Barilla in dem Interview zwar nichts gegen gleichgeschlechtliche Ehen sagt. Allerdings spricht er sich entschieden gegen die Adoption von Kindern durch gleichgeschlechtliche Paare aus.
Für diese Werte also steht der Nudelmacher aus Parma. Und wenn Schwule und Lesben Barilla-Pasta deswegen nicht mögen, sollen sie doch einfach andere essen. Im familienorientierten Italien, wo das Wort der Heiligen Mutter (katholische) Kirche noch Gewicht hat und Frauen und Männer ihren Platz kennen (sollen), kommt das an. Dachte wohl Guido Barilla. Oder dachte er nichts?
Schnell kommt es in den Medien, vor allem in den sozialen, zu einem gewaltigen Shitstorm gegen den Pasta-Konzern – bis hin zu Aufrufen, es Barilla so richtig zu zeigen. Ebenso schnell gibt es Boykottaufrufe von Politikern, LGBT+-Aktivisten und anderen.2 Und dies nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa und der Welt. Der Vorwurf der Kritiker ist ebenso klar wie die Botschaft des Familien- und Firmenoberhauptes. Er lautet: Barilla ist homophob und diskriminiert.
»Gastronomische Homophobie hatte uns bisher gefehlt. Diese Lücke hat jetzt Guido Barilla geschlossen«, findet Franco Grillini, Chef der LGBT+-Organisation Gaynet Italia, spitz. Und weiter: »60 Prozent der Italiener sollten seine Pasta nicht mehr kaufen, weil sie nicht einer traditionellen Familie angehören.«3 Der greise, mittlerweile verstorbene Literaturnobelpreisträger Dario Fo, der früher selbst für Barilla geworben hat, fordert mit einer Petition, »Familie in allen verschiedenen Formen unserer Zeit zu akzeptieren und abzubilden«.
#boicottabarilla wird nicht nur in Italien zu einem der meist genutzten Twitter-Hashtags, sondern auch global nimmt er eine Steilkurve. Das 1877 gegründete Milliardenunternehmen droht mit der sich anbahnenden Boykottwelle, die längst auch andere Länder erreicht hat, in äußerste Bedrängnis zu geraten.
Eigenen Angaben zufolge hat Barilla zu jener Zeit weltweit 30 Produktionsstätten und produziert 1,7 Millionen Tonnen Nahrungsmittel, die in rund 100 Ländern verkauft werden.4 In den Vereinigten Staaten macht Barilla 2013 rund 430 Millionen US-Dollar Umsatz mit Pasta, was einem Marktanteil von 30 Prozent entspricht.5 Für den Nudel-Champion ist das Land zum zweitwichtigsten Standbein geworden. Und während Barilla rund 20 Jahre zuvor noch den Großteil seiner Einnahmen im Heimatland erwirtschaftete, sind es nun nur noch weniger als die Hälfte.
Angesichts der heftigen Reaktionen rund um die Welt eine gefährliche Situation also. Zumal Barilla ja neben Wasa mit weiteren umsatzstarken Marken wie Harrys (französisches Toastbrot), Gran Cereale (italienische Vollkornkekse) und anderem mehr unterwegs ist.6 Sie könnten leicht mit in den Boykottstrudel gerissen werden.
Schnell entschuldigt sich Barilla USA als Unternehmen auf seiner Facebook-Seite. Doch wirkt das? Ist das glaubwürdig? Erst einmal nicht.
Die Cafeteria der Harvard-Universität verkündet, keine Barilla-Pasta mehr zu servieren.7 Vertreter von GLAAD, der einflussreichen US-LGBT+-Lobbyorganisation mit besonderem Fokus auf die Medien,8 äußern sich kritisch.9 Golden-Globe-Preisträgerin Mia Farrow twittert: Nun, da man wisse, dass Guido Barilla homophob sei, sei es ein guter Tag zu sagen, dass DeCecco – eine der großen italienischen Konkurrenzmarken – ohnehin besser schmecke.10
Bertoni, San Remo und Buitoni, ebenfalls Wettbewerber, posten Social-Media-Botschaften, die die Unterstützung aller Typen von Familien zum Inhalt haben. Die englische Ausgabe der Huffington Post bringt einen Artikel mit der Überschrift »12 Pasta-Marken, die Homosexuelle nicht vor den Kopf gestoßen haben« und führt diese dann auf.11
Deutschland wird auch zum Pasta-Schlachtfeld. Konkurrent Bertolli zeigt besonders originell Flagge. Auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht das Unternehmen mit dem Claim »Pasta und Liebe für alle« ein Motiv mit »gleichgeschlechtlichen« Nudelpaaren – und erhält großen Zuspruch. Bereits 2009 schaltete der Hersteller von Nudeln und Pastasaucen einen Werbespot mit einem schwulen Paar und verweist nun – genüsslich – noch einmal darauf.12
Was also tun? Einen Kulturkampf anzetteln? Zwar erhält Barilla von sozial konservativen und kirchennahen Kreisen vor allem in Italien Zuspruch. Doch die Gefahr für Barilla ist schon da. Wächst sie weiter?
Das fürchtet auch Claudio Colzani. Kaum ein Jahr im Amt als Vorstandsvorsitzender des Konzerns, sind seine zuvor gesammelten umfangreichen Erfahrungen in dieser Krisensituation hilfreich. Vor allem mit Blick auf das US-Geschäft und das Management von Vielfalt. Denn bevor er zum Chef in Parma wird, hat Colzani 25 Jahre lang für den britisch-niederländischen Konsum- und Verbrauchsgüterkonzern Unilever gearbeitet – zuletzt in den USA, wo er nicht nur Kundenvorstand gewesen ist, sondern auch im Diversity-Rat des Unternehmens gesessen hat.13
Auf einer Autofahrt von Mailand nach Parma zu einem ohnehin geplanten Abendessen mit Guido Barilla verfolgt Colzani dessen Live-Interview im Radio hautnah mit.14 Entsetzt über das, was er da hört, und um zu verstehen, warum es gesagt wird, ruft er sofort seinen Kommunikationschef an. Dreißig Minuten später sitzt Colzani bereits mit Barilla im Restaurant. Das Essen ist Nebensache. Es geht vor allem darum, ihm die Folgen seines Interviews klarzumachen.
Die Rollenverteilung im Konzern ist dabei klar. Guido Barilla fungiert als Chairman, seine beiden Brüder Luca und Paolo als Vize-Chairmen, alle drei sind so etwas wie Aufsichtsräte. An sie berichtet Colzani als Vorstandsvorsitzender – wobei die Barillas als Eigentümer das letzte Wort haben.
Als sich Guido Barilla und Claudio Colzani treffen, hat der Shitstorm im Netz mit seiner Welle von Boykottdrohungen noch gar nicht richtig begonnen. Er sei zwar besorgt gewesen wegen möglicher Umsatzeinbrüche, »aber ich war viel besorgter, dass die Leute Barilla als eine altmodische Marke wahrnehmen würden,«15 erzählt Colzani später in einem Bloomberg-Interview.
Als schließlich die ganze Wucht der Reaktionen über Barilla hereinbricht und sich die Boykottdrohungen vervielfachen, schlägt sich das erst einmal kaum auf den Umsatz nieder. »Die Gefahr für Unternehmen liegt weniger in den kurzfristigen Gewinneinbußen, da Boykotte den Umsatz kaum direkt beeinflussen,«16 meint denn auch Mary-Hunter McDonnell, Professorin für Strategie an der McDonough Business School der Washingtoner Georgetown-Universität. Bei Boykotten gehe es letztlich darum, das Image und den Ruf eines Unternehmens beziehungsweise einer Marke zu beschädigen – und über so entstehende Reputationsschäden könne sich das dann schließlich erheblich auf den Erfolg auswirken.
Umso stärker achtet Colzani auf mögliche Veränderungen der seit Jahren stabilen Barilla-Markenreputation. Mithilfe von speziellen Tools des Werbekonglomerats WPP stellt er bald fest, dass sie abnimmt. Im 2014er-Ranking des auf Reputationsmessung und -beeinflussung von Unternehmen spezialisierten US-amerikanischen Reputation Institute17 verliert Barilla zudem 21 Punkte.18 Das Reputationskapital, das Unternehmen beziehungsweise Marke im Laufe vieler Jahre aufgebaut haben, droht dahinzuschmelzen.
Auch Mitarbeiter zeigen sich teilweise geschockt und unangenehm berührt von Guido Barillas Äußerungen und ihren verheerenden Wirkungen. Das gilt ebenfalls für Mitglieder seines Führungsteams, erzählt Colzani, und für Familienmitglieder und für Freunde.19
Guido Barilla – sonst in Auftreten und Kommunikation sehr zurückgenommen – versteht allmählich, dass er einen kapitalen Fehler gemacht und viele Menschen vor den Kopf gestoßen hat.
Colzani ruft alte Kollegen an, um sich Rat zu holen. Er lässt sich von der Personalberatung Korn Ferry unterstützen und nimmt die Dienste der – wie Barilla – familiengeführten US-PR-Agentur Edelman in Anspruch.20 Dass die nicht einfach für eine Imagekorrektur sorgen kann, ist angesichts der Heftigkeit des öffentlichen Aufschreis klar. Ebenso klar ist, dass eine oberflächliche Imageverbesserung allein kaum genügt.
Was dann geschieht, lässt sich – je nach Sicht – als ein Lehrstück interessegeleiteten schnellen Umlernens oder als blanker Opportunismus interpretieren. Ich vertrete, auch weil mir die Neigung zum Moralisieren abgeht, die erste Sicht. Nicht zuletzt deswegen, weil Barilla einschneidend, wirksam und nachvollziehbar überzeugend vorgeht.
Der Konzern beginnt eine Reise des Dazulernens und Umsteuerns, die tastend und doch rasant verläuft. Sie ist auch im Detail besonders aufschlussreich. Denn hier macht sich ein altes Familienunternehmen aus einem tief katholisch geprägten Land auf den Weg. Es ist noch dazu ein Unternehmen, das keine Software, Finanzprodukte, Beratungsdienstleistungen oder Ähnliches verkauft, sondern kulinarische Alltagsware – vor allem ein Produkt, das viele Menschen wirklich lieben: Pasta.
Das Ziel der Reise wird sehr schnell klar: Barilla soll offener und moderner werden. Die grundlegende Verwandlung des Familienkonzerns beginnt noch Ende September, als sich Guido Barilla in einem Video auf der Firmenwebsite entschuldigt.21 Doch das ist nur der erste Schritt.
Guido Barilla bietet an, sich mit Vertretern der LGBT+-Community auszutauschen, um zuzuhören und zu lernen, was er nicht gesehen hat und nicht wusste, als er sein Interview gab. Nicht jeder will sofort mit dem Konzernpatriarchen sprechen. Viele befürchten, für PR-Zwecke missbraucht zu werden. Schließlich gelingt es aber doch recht schnell, dass sich Barilla mehrfach mit LGBT+-Aktivisten in Italien und den USA treffen kann.
Besondere Gespräche führt Guido Barilla vor allem in den Vereinigten Staaten, dem wichtigen Markt. Dabei geht er ungewöhnliche Wege: Er will das Umfeld kennenlernen, das Leben anderer Familienformen und von LGBT+-Menschen überhaupt.
So führt er auch Gespräche mit Vertretern der Tyler-Clementi-Stiftung. Viele Eltern von LGBT+-Kindern in den USA kennen sie gut. Und das hat seinen Grund: Tyler Clementi ist ein 18-jähriger Student an der Rutgers-Universität im US-Bundesstaat New Jersey gewesen, der sich im September 2010 das Leben genommen hat – mit einem Sprung von der mächtigen, New Jersey mit Manhattan verbindenden George-Washington-Brücke.22 Aber sein Tod ist nicht einfach ein weiterer Selbstmord eines lebensmüden Teenagers, der keinen Sinn mehr im Dasein entdecken konnte. Er löste vielmehr landesweit Bestürzung aus, weil er schwul und deswegen Opfer von bösartigem Cyber-Mobbing geworden war – unter anderem mit heimlich von seinem Zimmerkollegen aufgenommenen Webcam-Bildern.
Auch Präsident Barack Obama und Außenministerin Hillary Clinton äußerten sich entsetzt – persönlich, als Eltern, als Familie. Die Aufmerksamkeit für das Thema Mobbing und Cyber-Mobbing gegen junge LGBT+ vergrößerte sich noch, als sich im gleichen Monat mindestens drei weitere US-Teenager aus ähnlichen Gründen das Leben nahmen.
Rund ein halbes Jahr nach Tylers Tod entscheidet die Point Foundation, fortan ein Tyler-Clementi-Point-Stipendium zu vergeben, um den Verstorbenen damit zu ehren. Die Stiftung unterstützt begabte LGBT+-Studierende seit vielen Jahren durch verschiedene Förderungen und ist in dieser Hinsicht die größte Organisation in den USA.23
2011 ergreifen dann Tylers Eltern Jane und Joseph Clementi ihrerseits die Initiative und gründen die Tyler Clementi Foundation – ebenfalls, um ihren Sohn zu ehren. Und wohl auch, um seinem eigentlich sinnlosen Tod doch noch einen Sinn zu geben. Das Ziel der Stiftung überrascht daher nicht. Sie will die Akzeptanz von LGBT+-Teenagern und anderen von der Gesellschaft ausgegrenzten Personen fördern, über alle Formen von Mobbing und Cyber-Mobbing aufklären und die Erforschung und Entwicklung der Ursachen und Prävention von Selbstmord unterstützen.
Die Tyler Clementi Foundation ist seit ihrer Gründung mit Anti-Mobbing-Kampagnen und vielem anderen mehr sehr aktiv. Untersuchungen belegen, dass in den USA deutlich höhere Selbstmordraten von LGBT+-Jugendlichen (im Vergleich zu heterosexuellen Jugendlichen) und deren deutlich größere Selbstmordgefährdung trotzdem auch heute noch Realität sind.24
Das Gleiche gilt für andere Länder. Eine Ende 2018 veröffentlichte Studie illustriert diese Befunde. Die drei in Italien und Kanada forschenden Studienautoren werteten Umfrageergebnisse von 2,5 Millionen Jugendlichen zwischen zwölf und 20 Jahren in 35 Forschungsprojekten aus zehn Ländern aus. Bei homosexuellen Jugendlichen lag das Selbstmordrisiko um gut das Dreifache höher als bei ihren heterosexuellen Altersgenossen, bei bisexuellen um gut das Vierfache und bei Transgender-Jugendlichen um das rund Sechsfache.25 Ester di Giacomo von der italienischen Universität Milano-Bicocca, eine der Autorinnen, sieht Haupterklärungen für das erhöhte Risiko für selbstgefährdendes Verhalten vor allem in der gesellschaftlichen Stigmatisierung von LGBT+ und der davon nicht zu trennenden Schwierigkeit, sich selbst zu akzeptieren, wie man ist.26
Was Guido Barilla in seinen Gesprächen mit der Stiftung also lernt, ist: Erniedrigendes Mobbing, Selbstmordgefährdungen und Selbstmorde gehören zur Lebenswirklichkeit von Familien mit LGBT+-Kindern. Sie gehören zur Lebenswirklichkeit von deren Freunden, deren Schul- und Studienkameraden. Sie gehören zur Lebenswirklichkeit der Gemeinschaften, in denen sie leben.
Wie relevant das Thema Homophobie und Diskriminierung auch in seinem Heimatland Italien ist – nicht nur gegenüber jungen LGBT+-Menschen –, kann Guido Barilla nur wenige Wochen nach seinen umstrittenen Äußerungen hautnah besichtigen. In der ersten Session des italienischen Parlaments direkt nach seinem Interview provoziert zunächst Gianlucca Buonanno von der rechten Lega zwei offen homosexuelle Parlamentskollegen mit einer Fenchelknolle und versucht dann, einen von ihnen physisch zu attackieren.27 Im Italienischen heißt Fenchel »finocchio«. Wenn das Wort in bestimmten Kontexten beziehungsweise auf eine bestimmte Art benutzt wird, trägt es den Ton der großen Geringschätzung gegenüber Homosexuellen in sich.
Im Monat darauf ruft ein 21-jähriger schwuler Medizinstudent, der ein Opfer von Mobbing geworden war, zehn Selbstmord-Hotlines an, bevor er vom 11. Stock einer alten Pasta-Fabrik in Rom springt. Später findet sich eine Nachricht von ihm: »Italien ist ein freies Land. Aber es gibt Homophobie.« Es ist der dritte Selbstmord dieser Art in Rom in jenem Jahr.28
Überhaupt ist Italien im europäischen Vergleich alles andere als ein Paradies für LGBT+. Einen Eindruck dazu gibt ILGA Europa, eine LGBT+-Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Brüssel (siehe Kasten), die dazu jährliche kompakte Rankings und ausführliche Reports erstellt.
In seinem Rainbow Europe Ranking listet ILGA Europa 49 europäische und zentralasiatische Länder auf und vergleicht sie auf Basis von sechs Kategorien zu gleichen Rechten, Familie, Hasssprache und -versprechen und anderem mehr. Am Ende steht ein Wert zwischen 100 Prozent (volle Respektierung der Menschrechte für LGBT+ = vollständige Gleichheit) und 0 Prozent (keine Respektierung der Menschrechte für LGBT+ = sehr starke Diskriminierung).30
Betrachtet man nur die 28 EU-Länder, so liegen Malta, Belgien, Luxemburg, Finnland und Dänemark aktuell an der Spitze. Österreich ist an zwölfter Stelle, Deutschland an 14. Italien findet sich seit vielen Jahren auf den hinteren Plätzen wieder. Derzeit lässt das Land in der EU-Liste nur Bulgarien, Rumänien, Polen und Lettland hinter sich und belegt einen bescheidenen 24. Platz.
Nimmt man die Liste aller untersuchten 49 Länder, so liegt Italien aktuell auf Rang 35 – und ist damit schlechter als Ungarn, Serbien, Montenegro, Albanien oder Georgien platziert. Das Nicht-EU-Mitglied Schweiz – in der von knapp 9 Prozent der Einwohner italienisch gesprochen wird – ist hier übrigens auch kein Vorbild. Auf Platz 27 rangiert das Land ebenfalls noch hinter Ungarn, Albanien & Co.
Bloomberg,3132