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ARON BOKS, WOLF HOGEKAMP,
NOAH KLAUS (HSRG.)

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SLAMTEXTE AUS DER HAUPTSTADT

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E-Book-Ausgabe Februar 2019

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2019

www.satyr-verlag.de

Cover: Karsten Lampe

Lektorat: Noah Klaus

Korrektorat: Jan Freunscht

Herausgeberfotos (von oben): © privat, V. Surmann, YOLAphotography/Graz

© Audioaufnahmen bei den Verfasser*innen, bzw., wo angegeben, bei Kampf der Künste gGmbH, Hamburg/YouTube-Channel Poetry Slam TV.

Keine unerlaubte Sendung und Vervielfältigung!

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

E-Book-ISBN: 978-3-947106-25-7

INHALT

Editorial

Petra Anders: Berlin – Ein Melting Pot der Slamszene

1. KAPITEL: BERLIN, HALLELUJA, BERLIN!

Rainer Holl: Deutschland, Deutschland, überall is’ scheiße

Aron Boks: Hoffentlich Berlin

Anselm Neft: Berlin, das Rheinland und die Dinge dazwischen

David Friedrich: Es juckt noch ein bisschen

Katharina Huboi: Stadtkinder

Petra Lampe: Du hast noch einen Koffer in Berlin

Veronika Rieger: Gekommen, um zu bleiben

2. KAPITEL: GLANZ UND ELEND

Paul Bokowski: Ach, Berlin

Tanasgol Sabbagh: Sili

Christian Ritter: Berliner Dialoge

Bas Böttcher: Ansichten einer Stadt

Annette Flemig: Milch

Frank Klötgen: Cindyrella

RedeVux: Geschichten aus dem Wunderland

Tilman Birr: Mein zweites geklautes Fahrrad

Frank Klötgen: Berlin an guten Tagen

3. KAPITEL: SCHAUT AUF DIESE STADT!

Bas Böttcher: Berlin Paradoxien

Gauner: Babylon

Volker Strübing: Schönhauser Allee Arcaden

Yusuf Rieger: Das Sein sein lassen

Sebastian Lehmann: Zu verschenken

Marcos Rosado: Halb zehn am Kotti – Von Schöpfung und Schöpfer

Noah Klaus: Bekenntnisse eines im Leben gescheiterten Bauwerks

Paul Hofmann: Metropol

4. KAPITEL: BEWEGUNGSMELDER

Paul Bokowski: Reden ist Silber

Insa Kohler: Achtung! Sie betreten den amerikanischen Sektor!

Aron Boks: Augen der U8

Christian Ritter: Lichtenberg

Sulaiman Masomi: Aggropolis

Michael Bittner: Versuch über die Sinnlosigkeit

Chriss Lyasann: Die Masken der Harlekine

Lars Ruppel: Maik Lübke

5. KAPITEL: SEX AND THE CITY

Jon Lorenzen: Von der anderen Seite des Tisches

Dominik Erhard: Wechselwarm

Olga Lakritz: Dinge, die ich liebte, wurden zu Dingen, die ich hasse, denn sie erinnern mich an bessere Zeiten – Sie erinnern mich an dich. Oder: Lauf, Blondie, lauf

Noah Klaus: Ein Frauenleben

Yo-Pa Schneider-Neumann: 10 Gründe

Birdy: Der Nächste geht auf mich

Julian Heun: Vom Loslassen und Festhalten der Gangschaltung

6. KAPITEL: THIS IS SO BERLIN!

Felix Bellermann: Wer nix wird, wird weird – 10 Fakten über Berlin

Wolf Hogekamp: Neulich in Berlin-Neukölln in einem Aufzug

Maik Martschinkowsky: Juten Tach

Karsten Lampe: Über Biesdorf

Samson: U-Bahn Alexanderplatz

Piet Weber: Berlin, das »J« steht für Freundlichkeit

Volker Surmann: Abschottung

7. KAPITEL: TEXTE, DIE ES NICHT INS BERGHAIN GESCHAFFT HABEN

Micha Ebeling: Auf der Suche nach Stoff

Sebastian Lehmann: I can dance

Jacinta Nandi: Geschmackssache

Till Reiners: Brötchen

Ken Yamamoto: Die Schwäne von Kreuzberg

Inke Sommerlang: Heimweg

Wolf Hogekamp: Berlin liegt am Meer

Die Autorinnen und Autoren

EDITORIAL

Im Intro der amerikanischen Serie Louie, in der der Stand-up-Comedian Louis C.K. sein fiktives Alter Ego spielt, sieht man ihn abends aus einer Metrostation in die Nacht von Manhattan treten. In einem Imbiss verschlingt er ein Stück Pizza und betrachtet dabei die auf der Straße vorbeiströmenden Passanten, um daraufhin einen Block weiter zu trotten und schließlich die Stufen in den berühmten Comedy Cellar hinabzusteigen. Rein in eine Show, die von den Nummern und Texten unterschiedlichster Menschen getragen wird, und vor ein Publikum, das oft zur gleichen Zeit unterhalten, erheitert, begeistert und bewegt werden will.

Nun ist Berlin nicht New York und die hiesige Bühnenkultur nicht die der US-Stand-up-Comedy, doch die Szenerie, die das Intro bebildert, ist auch denen nicht fremd, die in den deutschsprachigen Metropolen Monat für Monat Texte schreiben und einüben, welche in den Kneipen, Clubs, Cafés, Theatern, Kinos und Konzerthallen dieser Metropolen ihren passenden Aktualisierungsort finden. Auf den Poetry Slams, Lesebühnen und Mixed Shows wird auch diesseits des Atlantiks fortwährend ausprobiert, performt und an Texten gefeilt. Es ist diese schnelle, direkte, orale, wilde und vor allem urbane Bühnenliteratur, die dieses Buch zu Wort kommen lassen will, und zwar am Beispiel Berlins.

Die Stadt bildet dabei die Kulisse und das Element einer Disziplin der Sprachkunst, die für die Auftretenden und das geneigte Publikum einen Teil ihres Lebensgefühls ausmacht. Die Berliner Bühnenliteraten und -literatinnen können an vielen Tagen des Monats am Morgen beim Kaffee eine Idee haben, sich mittags an den Schreibtisch setzen und am gleichen Abend noch mit dem neuen Text bei einer der vielen Shows dieser Stadt auftreten. Dabei überschreiten und missachten sie zumeist die Konventionen der Schriftliteratur. Lieber nutzen sie ihre fünf Minuten vor dem Mikrofon und vor den gespitzten Ohren dazu, sich ein Sprachrohr für ihre Weltverbesserungsvorschläge, Selbsterkundungen oder Alltagsbeobachtungen zu schaffen. Sie versuchen, den Zeitgeist aus den Regungen der Stadt herauszulesen, ihn in eine Textminiatur zu gießen und dieselbe dann zu Gehör und Gesicht zu bringen. Dabei können sie groß auftrumpfen oder krachend scheitern. Ihr Schreiben und Lesen ist also immer angebunden an einen unvermittelten Echoraum und die Reaktion eines jungen, gut gelaunten und hungrigen Publikums. Die Gedichte, Ergüsse, Monologe und politischen Statements werden kontinuierlich hineingeworfen in diesen schnellen sprachlichen Schlagabtausch, den Formate wie der Poetry Slam oder die Lesebühne für einen findigen Geist bereithalten.

Berlin als das Mekka der Kreativen, Unfertigen, Realitätsverweigerer und Menschen mit latentem Peter-Pan-Syndrom sorgt immer wieder für neue Impulse und neue Gesichter auf den Brettern, die für fünf Minuten die Welt bedeuten können. Und Berlin färbt auf die Texte ab, auch thematisch. Berlin kann Sehnsuchtsort sein und Moloch, Lebenselixier und Endgegner. In den Szenebezirken, Vororten und Touristen-Hotspots krachen Lebensentwürfe aufeinander. Berlin ist nicht homogen, sondern fraktal. Wir haben versucht, dieser Vielschichtigkeit in der Auswahl der Texte zumindest annähernd gerecht zu werden. Dabei sollte aber der Leser oder die Leserin stets im Hinterkopf behalten, dass die Texte für die Bühne konzipiert sind und eigentlich erlebt gehören. Wir haben es trotzdem gewagt, sie aufs Papier zu bringen. Nicht alle Texte spielen in oder nehmen direkten Bezug auf Berlin, doch sie alle rühren an Probleme, Aspekte und Lebensgefühle einer Großstadt.

»Berlin, halleluja, Berlin« behandelt das »Dicke B« als Anlaufpunkt der Menschen, die es aus der Heimat fortgezogen hat und die nun hier ihren Hut in den Ring werfen. Welche Spuren hinterlässt die Wahlheimat an ihnen?

Thema von »Glanz und Elend« ist die Ambivalenz dieser Stadt, deren Rhythmus die einen in die höchsten Höhen trägt und die anderen zu verzehren droht … Hier ist der Platz für die Hymnen und Abrechnungen.

Das Kapitel »Schaut auf diese Stadt« entfaltet ein Textensemble, das sich anschickt, das zeitgenössische Berlin in verschiedensten Merkwürdigkeiten und festgehaltenen Absonderlichkeiten zu porträtieren, und dabei dem Geist des urbanen Flanierens verpflichtet ist.

»Bewegungsmelder« lautet der Titel des Kapitels, das sich mit den zusammengewürfelten Querschnitten des menschlichen Potpourris auseinandersetzt, die der öffentliche Verkehr tagtäglich kredenzt. Hier wird am Puls der Stadt gefühlt.

In Berlin wird freier und aufmerksamer geliebt und begehrt als in vielen anderen Städten der Welt, so will man zumindest meinen. Das Kapitel »Sex and the City« möchte das exaltierte und oft auch innovative Liebesleben der Hauptstadt einfangen.

»This is so Berlin« wirft einen Blick auf den Einfluss der Massen, die tagtäglich vom Ruf der Berliner Subszene hergelockt werden und das große Erlebnis oder einfach nur ein entspanntes Wochenende suchen. Eine Auswahl an Kollisionen zwischen Langzeitbewohnern und Kurzzeitbesuchern.

»Texte, die es nicht ins Berghain geschafft haben«, nehmen den Leser oder die Leserin am Ende noch mit in die Berliner Nächte und zeigen die Süße, die Wehmut und die Dramen, die sich in diesen Nächten verbergen.

Wir wünschen erhebende, anregende und lustvolle Lektüre und laden herzlich dazu ein, sich auch live und unvermittelt von den Autorinnen und Autoren begeistern zu lassen.

Aron Boks, Wolf Hogekamp, Noah Klaus

BERLIN – EIN MELTING POT DER SLAMSZENE

Petra Anders

Berlin 2003: Wer Slam will, geht in den Bastard Club, Kastanienallee. Dort stehen Leute für Literatur Schlange. Die Kasse macht Ingo. Er weiß schon, wer Poet oder Poetin ist, wer dazugehört, wer zahlt. Manche, die heute zahlen, gehören morgen schon dazu. Im engen Vorraum stehen, dann rein in das Gewühl. Im Bastard sitzt man nicht an Tischen. Da wird gestanden. Es ist dunkel, es ist heiß, alle schwitzen und sehen gut aus. Sie kommen alle in die Kastanienallee, die »Champs-Élysées«, so Micha Ebeling. Hier spielt die Musik. Einer steht an den Turntables, und das ist Wolf. Der hat den Slam im Griff. Wer auf die Bühne will, drängt sich durch. Viele habe ich gesehen, die sich hier durchgedrängt haben, meist begleitet von einer klatschenden Menge: Bas Böttcher, Nora Gomringer, Sebastian Krämer, Wehwalt Koslovsky, Micha Ebeling, Gauner, Felix Römer, Marc-Uwe Kling, Xóchil und Volker Strübing. Bastard, das war: die Macht der Sprache, die Bundestagsrede. Bastard war nicht Bonn. Es ist schön: Bastard. Danach noch in das Café Sonntag im August.

Raus aus dem Club, auf zur deutschsprachigen Meisterschaft. 1997 fand der erste deutsche »National« im Berliner Ex’n’Pop statt, Wolf Hogekamp war Slam-Master, allerdings mit nur vier Städten am Start: Berlin, Hamburg, München, Düsseldorf. Zehn Jahre später, 2007: Wolf Hogekamp und Sebastian Krämer melden Berlin als Austragungsort für den National auf dem Slam-Master-Meeting in Leipzig an: »Wir machen den Slam 2007. Petra, du machst den U20.« Was für eine Ehre. Dann mal los: Zehn Slam-Poeten touren durch Schulen und machen alle heiß auf Slam – das Format war bei Jugendlichen kaum bekannt. Neue Stimmen kommen an Bord, darunter Julian Heun. Alle Vorrunden sind ausverkauft. Das gab es noch nie. Unvergessen Sebastian23 im Festsaal Kreuzberg: Um das Halbfinale für sich zu entscheiden, setzt er auf Interaktion mit dem Publikum, und der Saal ruft unisono: »Geh los!« Das Finale im Admiralspalast platzt aus allen Nähten. Nora Gomringer nickt anerkennend. Das alles ist noch vor den Känguru-Storys. Marc-Uwe Kling gewinnt mit einem Text über die Generation Praktikum. Julian Heun holt für Berlin den U20-Sieg. Der erste Preis ist ein Flug nach San Francisco, Slam vor Ort inbegriffen. Immer wieder USA im Berliner Slam.

Die Meisterschaft bildete den Startschuss: Das Berliner Slam-Netz legte sich über die Stadt, wurzelte fest und begann, sich zu verzweigen. Wochentage werden zu Slam-Tagen, auf einer einzigen Tour können auch auswärtige Slammer viele wichtige Stationen der Hauptstadt abklappern.

Aber Berlin kann nicht nur live, sondern auch in Farbe: Poetry Clips. Dieses Format entstand 2005 in Berlin. Wieder auf Initiative von Wolf Hogekamp, zusammen mit Rolf Wolkenstein und Bas Böttcher. Die Stadt Berlin ist die Kulisse. Typisch: So klar das Konzept des Poetry Slams ist – begrenzte Zeit, selbst verfasster Text, Jury –, so klar ist auch das Konzept der Clips: ein Text, ein Autor, ein Ort. Für den Text »Drogen« fängt die Kamera den Lehrter Bahnhof (heute: Hauptbahnhof) ein, wo Wolf Hogekamp mit großer Brille ironisch über die Schwierigkeit spricht, Drogen zu nehmen. Vor dem Palast der Republik regnet es in einem anderen Clip Ponys. LED-Schrift flackert zur Rapoetry von Bas Böttcher am Haus des Lehrers. Und in einer Berliner Altbauwohnung bügelt Sebastian Krämer vor laufender Kamera seine Hemden. Poetry Clips machen Sinn in der Welt vor YouTube, denn so halten die Poeten ihre flüchtigen mündlichen Werke fest. Die Inszenierungen auf DVD machen die Runde. Später dann sehen wir Slam-Auftritte als Live-Mitschnitte auf den gängigen Online-Portalen. Konträr dazu erfindet Bas Böttcher die Textbox als »phonozentrische Kultstätte«. Er kuratiert Texte auf den Messen der Welt. Ken Yamamoto slammt in der Textbox, Timo Brunke spricht darin, Felix Römer, Dalibor und viele mehr. Die Textbox ist Berlins kleinste, aber internationalste Bühne.

Berlin – Stadt der Gegensätze: Während kleine Slams aus dem Boden schießen, gehen Wolf Hogekamp und Julian Heun ins Großformat: Sie hosten den Bastard Slam als ältesten Slam Berlins ab 2012 in der Ritter Butzke. Prinzip: Nach den Texten geht es zum Tanzen in einem der schönsten Clubs der Stadt.

Was macht den Berliner Slam so besonders? Natürlich ist die Hauptstadt ein Magnet. Sie zieht viele Slammerinnen und Slammer aus der ganzen Republik und anderen Ländern an. Die Bühne spiegelt diesen Melting Pot — hier sieht man, wie sich Kulturen kreuzen. Der Slam-Standort Berlin fördert nicht nur die Außenwirkung des Slam, sondern auch die in Berlin ansässigen Poetinnen und Poeten: Sie treten in ihrer eigenen Berlin-Brandenburg-Meisterschaft jedes Jahr gegeneinander an, um den oder die Beste zu küren.

Natürlich spielt auch die Nachwuchsförderung eine riesige Rolle. Der Slam für Jugendliche unter 20 Jahren (U20-Slam) startete in Berlin mit der Release-Party des ersten Workshop-Buchs zum Slam (Anders 2004). Gewinner war der achtzehnjährige Newcomer Lars Ruppel, damals angereist aus Marburg, heute längst in der Hauptstadt ansässig. Der monatlich stattfindende U20-Slam im Podewil des GRIPS-Theaters gibt den jungen Poeten und Poetinnen eine Bühne, durch die sie sich professionalisieren können. 2014 trägt Berlin erstmalig die deutschsprachige U20-Meisterschaft aus. Dabei gibt es sogar noch ein besonderes Highlight: Gebärdensprachdolmetscherinnen übersetzen die Shows simultan.

Neue Gesichter: Max Gebhardt, Robin Isenberg, Sarah Bosetti, Daniel Hoth, Sebastian Lehmann und Maik Martschinkowsky steigen in die Szene ein, slammen und moderieren. Berliner Slam-Poetry ist nicht nur ein wesentlicher Bestandteil der Berliner Literaturszene, sondern ein wichtiges Element der Lese- und Schreibförderung. Zahlreiche Anthologien dokumentieren die Slam-Bewegung und ihre Texte. Die umfangreichste ist »Die Poetry-Slam-Fibel: 20 Jahre Werkstatt der Sprache« (Böttcher/Hogekamp 2014). Weil sich Slam-Poetry oft mit der Gegenwart auseinandersetzt, liegen derzeit Themen wie der Aufstieg des Rechtspopulismus, #MeToo und die Auseinandersetzung mit Rassismus in der Luft. Und nicht nur die hiesige bürgerliche Jugend, auch viele, die nicht in demokratischen Staaten aufgewachsen sind, nehmen Poetry Slam als Chance, als einen Ort der freien Sprache wahr. Der beste Feind des Slams – so banal es klingen mag – ist gutes Wetter.

Poetry Slam ist ein Teil der Kulturindustrie. So viel Slam muss organisiert sein. Die zahlreichen Veranstaltergruppen Berlins müssen sich jüngst auch gegen Agenturen durchsetzen, die Slammer für den deutschen Fernsehmarkt »wegschnappen«. Aber der Berliner Poetry Slam lässt sich nicht stören. Ganz im Gegenteil: Es wird ausgerichtet, was 2019 vor uns liegt: 25 Jahre Poetry Slam in Berlin! Der Slam in seinen besten Jahren.

1.BERLIN, HALLELUJA, BERLIN!

Komet Bernhard: »Berlin wäre die langweiligste Stadt der Welt, wenn ihr nicht alle gekommen wärt!«

Interviewerin: »Wer sind ›ihr‹?«

Komet Bernhard: »Alle Menschen aus aller Welt, das ist Berlin! Jeder Originalberliner weiß, wie langweilig er ist …«

(Technolegende Komet Bernhard im YouTube-Interview mit Munchies Guide to Berlin)

DEUTSCHLAND, DEUTSCHLAND. ÜBERALL IS' SCHEIßE

Rainer Holl

Das Ruhrgebiet ist hässlich. Darauf scheint man sich irgendwann in den vergangenen fünfzig Jahren mal geeinigt zu haben. Und irgendwie sind die Leute wirklich überrascht, wenn sie dann in Bochum stehen, und dann sind da gar keine rauchenden Schornsteine mehr, und dann sterben auch nicht direkt alle an Tuberkulose, nur weil sie mal zu lange das Fenster aufgelassen haben, und die Wäsche kann man auch trocknen, ohne dass sie nach zwei Minuten schwarz wird.

Und dann finden die Leute das Ruhrgebiet immer total grün. Richtig grün ist es da. Toll. Dazu möchte ich Folgendes sagen:

1. In Deutschland ist es überall total grün. Wir leben quasi im Wald.

2. Das Ruhrgebiet ist trotzdem hässlich. Das macht dem gemeinen Ruhrgebietler aber nichts aus. Man hat gelernt, damit umzugehen.

Ein Bildband über das Ruhrgebiet der 80er Jahre trug einst den Titel: »Woanders is auch scheiße!« Und recht hat er damit. Aber irgendwo muss man ja leider wohnen, und da hört es bei den meisten Deutschen dann auch schon auf mit dem Scheißefinden. Denn zu Hause ist es ja dann doch immer ganz besonders schön. Und woanders ist es dann immer ganz besonders scheiße. Denn da wohnen ja die anderen. Ekelhaft!

Wohnt man im Norden, schimpft man auf Münchner. Die Hamburger hassen die Bremer, die Kölner hassen die Düsseldorfer und die wiederum die Kölner, wobei das ganz ehrlich zwei vollkommen identische Städte sind, in denen man ausschließlich ekelhaftes Bier zu trinken bekommt.

Berlin wiederum finden alle ziemlich scheiße, ziehen aber trotzdem hin, um dort ihren Hass besser ausleben zu können, die Bayern hassen alle anderen und wollen am liebsten ihren eigenen Staat gründen.

Und ich? – Komme gebürtig aus Rheinland-Pfalz. Das Bundesland ohne Eigenschaften.

Man schätzt uns für unsere behäbige Gemütlichkeit. Rheinland-Pfalz. Was soll man daran noch gut finden? Unsere Metropolen sind Mainz und Koblenz. KOBLENZ! Gut, wir haben auch Trier. Die älteste Stadt Deutschlands. Toll! Dafür, dass sie so lange Zeit hatte, ist erstaunlich wenig daraus geworden!

Rheinland-Pfalz ist das ZDF unter den Bundesländern. Wir sind der fucking Fernsehgarten.

Alles ist megabunt, die Leute tragen kurzärmlige Freizeithemden von Tschibo und saufen literweise Weißwein, dann kommt Florian Silbereisen, er singt ein Lied, Playback, egal, alle klatschen falsch, auf eins und drei, gute Laune. Alle sind glücklich.

Aber ich habe trotzdem auch nützliche Dinge in Rheinland-Pfalz gelernt. Meine Oma hat mir beigebracht: »Junge! Rauchen hilft.« Meistens hat sie sich dann ein Gläschen eiskalten Malteser eingeschüttet, das Glas hoch in die Luft gereckt und dabei gerufen: »Leber, duck dich, es kommt!«

Derlei Weisheiten waren dann vor allem für meine spätere Zeit in Dortmund hilfreich.

Ach, Dortmund … Die Standardfrage, die mir jahrelang gestellt wurde, wenn ich jemandem erzählte, dass ich in Dortmund wohne, lautete: Warum?

Meistens habe ich mich dann peinlich berührt umgedreht und bin gegangen. Aber eines Tages habe ich etwas entdeckt, das das Leben in Dortmund und vielleicht sogar im ganzen Ruhrgebiet perfekt zusammenfasst. In einer kleinen Eckspelunke in der Dortmunder Nordstadt hing ein Schild im Fenster, auf dem stand: »Dienstags und donnerstags morgens zwischen 8 und 12 ist das 11. Bier umsonst.«

Wo ist euer Gott jetzt? Es stimmt, Ruhrgebiet muss man wollen, und möglicherweise ist es hier auch relativ hässlich, aber dafür sind wir alle sehr betrunken, also fick dich!

Aber irgendwann wird man nüchtern, und dann landet man plötzlich doch in Berlin. Und Berlin ist super. Man kann da prima leben. Nur wohnen ist schwierig. Und arbeiten. Und Freunde finden.

Das Einzige, was man in Berlin sehr gut machen kann, ist U-Bahn-Fahren. Riiiiiichtig laaaaaange U-Bahn-Fahren. Man ist einfach immer mindestens 45 Minuten unterwegs. Auch wenn man beim Bäcker nebenan Brötchen holt.

Und dann heißt es immer: »Weltstadt, Weltstadt, alles ist so krass!«

Ja, megawitzig, wenn man sich eine Wohnung anschaut, und der Mitkonkurrent legt dem Vermieter einfach einen 5000-Euro-Schein in die Bewerbungsmappe. Da wird man natürlich stutzig. Ich hab auch direkt gefragt, seit wann es denn bitte 5000-Euro-Scheine gibt. Da hat der Typ mich ausgelacht und mich mit zusammengeknüllten 300-Euro-Scheinen beworfen.

Aber es gibt ja auch Erfolgserlebnisse: »Ja, weißt du, ich habe neun Monate nach einer Wohnung in Neukölln gesucht, aber jetzt habe ich wirklich was gefunden. Und irgendwie war das auch ganz einfach. Ich brauchte nur eine unfreiwillige Selbstauskunft, Einkommensnachweise der letzten zwanzig Jahre sowie die Bürgschaften meiner Eltern, Großeltern und Urgroßeltern. Dazu noch einen offiziellen Instagram-Führerschein, eine offizielle Thermomix-Lizenz und ein Foto meiner Tupperwarenkollektion. Um die Chancen hintenraus noch ein bisschen zu optimieren, hab ich der Wohnungsbaugenossenschaft dann noch meinen Erstgeborenen überlassen und – was soll ich sagen? –: ein Zimmer, neun Quadratmeter, an einer zwölfspurigen Straße im Erdgeschoss, Träumchen! Es ist zwar ziemlich runtergekommen, aber dafür auch seeeeehr teuer. Aber weißt du, so ist das eben in einer Weltstadt, Weltstadt, Weltstadt.

Vor meinem Fenster fahren zwar jeden Tag 90.000 Autos lang. Aber das macht mir nichts aus, aus, aus. Das ist ja nicht bloß Lärm. Das ist Weltlärm. Da liegt auch nicht einfach nur Müll auf der Straße. Das ist Weltmüll. Dann steht man im Weltstau, oder man fährt mit Weltassis in der Weltbahn zum Weltwahn.«

Aber wisst ihr was? Ich scheiße auf die Weltstadt.

Deutschland, Deutschland. Überall is’ scheiße.

Deswegen kann man auch nach Leipzig ziehen. Denn wer braucht schon eine Weltstadt, wenn man in einer Stadt von Welt leben kann?

Deutschland, Deutschland. Überall is’ scheiße. Vergesst das nicht. Aber eben auch überall ganz gut. Klar, Niedersachsen ist megalangweilig.

Und was ist eigentlich mit Hessen los? Niemand weiß das.

Aber letztlich sind wir alle gleich bescheuert und gleich privilegiert. Es geht uns gut, und es ist wirklich okay hier. Mehr als das. Außer im Saarland. Dort ist es wirklich, wirklich, wirklich finster und ganz und gar grauenvoll.

Also, in diesem Sinne: Leber, duck dich. Ich komme!

HOFFENTLICH BERLIN

Aron Boks

Wenn Nadelbäume sich im kalten Wind verbiegen

Und Menschen auf den Sandsteinruinen liegen,

All die Wernigeröder, die Blankenburger, die Halberstädter,

Dann sagen Sonnenstrahlen: »Sohn, heute ist Wanderwetter.«

Denn da gibt es gar keine Diskussion,

Weil das eine ungeschriebene Regel ist:

Hast du einen Garten, so wird im Sommer Vereinsfahne gehisst.

Und Oma sagt: »Kindchen, dass du mir ja nicht vergisst,

Dass du sonntags kein scheiß Vegetarier bist.«

Und die Balken halten nicht nur die Fachwerkhäuser im Zaum.

Nein, ich glaube wohl kaum,

Dass diese Stadt, diese Region

Wirklich der Lohn für Träumer ist.

Hier, wo der Aufstieg zum Brocken

Zur Zerreißprobe wird für frische Paare,

Wo Kreisligafußballspiele besser besucht sind als Wahllokale,

Wo man zur Bratwurst niemals den Senf vergisst

Und Hasseröder Premium Pils für alles eine Lösung ist.

Du hast die Prüfung bestanden? Hasseröder Premium Bier!

Hier, nimm erst mal ’n Halben, denn der Grill brennt.

Trennt sich deine Liebe von dir,

Bleibt dir immer noch Hasseröder Premium Bier.

Und ja, vielleicht übertreibe ich,

Doch seit einiger Zeit wirkt der Wald hier nur noch nebelig.

In dieser Stadt, in dieser Region,

Warst du damals eigentlich meine Hauptattraktion.

Und ich ruhte mich aus auf diesem Kissen der Bequemlichkeit,

Und mit der Zeit

Wurdest du bald

Meine ausgehende Taschenlampe im dunklen Wald.

Denn hinter den Bäumen,

Hinter den frisch gestrichenen Gartenzäunen

Höre ich etwas, und du wunderst dich,

Aber ich höre dich nicht, ich hör nur das Quietschen der Gleise.

Fernweh schickt ’ne Nachricht ab.

Wann ich weiß, wie es weitergeht,

Sag ich dir, wenn ich Pause hab,

Doch Pause machen kann ich nicht.

Ständig ist ’ne Verbindung schneller,

Die mich wegfährt, weg von alledem.

Wann wir uns wiedersehen, weiß ich nicht,

Doch morgen ganz bestimmt.

Wenn du mich fragst, wo ich bin,

Sage ich: »Nicht allzu weit.«

Doch mit der Zeit denke ich:

Hoffentlich Berlin.

Es wird Zeit, endlich wegzuzieh’n,

Weg von all dem Dreck,

Denn ich steck in dir

So emotional,

Das Bier neben dir schmeckt immer schal,

Denn es zeigt den Fehler auf.

Die beste Ausfahrt nahmen wir damals nicht, genau.

Und jetzt stehen wir im Stau.

Also muss ich flieh’n,

Und der Zug spuckt mich aus: Hoffentlich in Berlin.

Weg von Acker, Harzkäse und deinem Geruch,

Lieber das Riechen von Tabak, Staub und Benzin.

Und wenn ich sage: Hoffentlich Berlin,

Dann meine ich eigentlich: Hoffentlich weg von dir.

Das hier ist wie auf Odyssee,

Noch bin ich der ausgehungerte Fahrer

Auf der gierigen See.

Du die Sirene, die mich hält.

Also muss ich weg.

Mittel zum Zweck

Ist flieh’n.

Hoffentlich Berlin.

Also ziehe ich die Wanderstiefel aus,

Nehme den nächsten Weg,

Wir sind hier im Harz, also geht er garantiert bergauf,

Zieh ein Ticket, und fang an zu flieh’n.

Und wenn mich jemand sucht,

Dann hoffentlich nicht in Berlin.

BERLIN, DAS RHEINLAND UND DIE DINGE DAZWISCHEN

Anselm Neft

Wie läuft’s denn so in Berlin, werde ich von Kölnern und Bonnern gefragt, nachdem ich aus dem Rheinland nach Berlin gezogen bin. In den Augen der Fragenden scheint etwas zu blitzen, etwas wie Häme oder Neid oder eine Mischung aus beidem. Die Neidischen denken vielleicht, ich wohne da äußerst günstig in einem Biotop von Nichtsnutzen, trinke Latte Macchiato und studiere ganztägig schrullige Untergrundliteratur, bevor ich abends auf bestens besuchten Lesebühnen den Clown gebe, um schließlich umschwärmt von aufgeschlossenen Ostmädchen durch die coolsten Clubs der Bundesrepublik zu ziehen. Die Hämischen hingegen sehen mich in einem abgeranzten Sozialbau mit Ofenheizung, rachitisch auf mein Ende zuschreibend, umgeben von unzähligen Menschen, die viel mehr auf der Pfanne haben als ich, damit aber auch keinen Blumentopf gewinnen. Aufgrund der Kälte sind die Ostberlinerinnen so eingepackt, dass ich sie mit meinen eingefrorenen und ohnehin beidseitig linken Händen nie ausgepackt bekomme, bevor die Lust rum ist. Da sitze ich dann in preußischer Finsternis, fernab von Freunden und rheinischem Frohsinn, dafür inmitten von übellaunigen Boulettenschmieden und unsäglich hippen Schwaben, die glauben, am Prenzlauer Berg spiele noch die Musik.

Tatort