Hans Dieter Zimmermann
Theodor
Fontane
Der Romancier Preußens
C.H.Beck
Zurückblickend komme er sich vor wie der Reiter über den Bodensee, hat der größte deutsche Romancier des 19. Jahrhunderts 1891 an seine Frau geschrieben, «denn ein Apotheker, der anstatt von einer Apotheke von der Dichtkunst leben will, ist so ziemlich das Tollste, was es gibt». Es war bis in sein sechstes Jahrzehnt hinein ein Leben am Abgrund – bis dann 1878 der erste Roman erschien: «Vor dem Sturm». Endlich konnte der Autor der «Wanderungen» von nun im Jahresrhythmus erscheinenden Romanen als freier Schriftsteller leben.
Hans Dieter Zimmermann zeichnet das an harter Realitätserfahrung reiche Leben Fontanes nach, das ihn mit allen Schichten der preußischen Gesellschaft in Berührung brachte. Er widmet nicht nur den Romanen und Balladen seine Aufmerksamkeit, sondern ebenso den Reiseberichten, Kriegstagebüchern, Theaterkritiken, Gelegenheitsgedichten – und nicht zuletzt den Briefen des größten Realisten der deutschen Literatur, dessen Menschenfreundlichkeit ihresgleichen sucht.
Hans Dieter Zimmermann ist Professor em. für Literaturwissenschaft an der TU Berlin. Er hat u.a. Bücher zu Kleist und Kafka vorgelegt und die «Tschechische Bibliothek» in deutscher Sprache herausgegeben. Bei C.H.Beck erschienen zuletzt: «Martin und Fritz Heidegger. Philosophie und Fastnacht» (2005) sowie in der Reihe «Die Deutschen und ihre Nachbarn» der Band «Tschechien» (2009).
LEHRJAHRE
1. Schiffmühle
2. Die Eltern
3. Hugenotten
4. Eine beinahe glückliche Kindheit in Neuruppin und Swinemünde
5. Die Schulzeit in Berlin
6. Armer Apotheker, ehrgeiziger Poet
7. Mein Leipzig lob ich mir
8. Lichtblick London
9. Der Tunnel über der Spree
10. Nicht nur preußische Balladen
11. Fünf Jahre Verlobung mit Emilie Kummer
12. Restauration und Revolution
13. Der März 1848 in Berlin
14. Das Parlament der Frankfurter Paulskirche
15. Apotheker und Publizist
WANDERJAHRE
16. Freier Schriftsteller, ein Versuch
17. Heirat und Literarisches Kabinett
18. Ein Sommer in London
19. Im Dienst der Regierung
20. Vier Jahre Korrespondent in London
21. Redakteur der Kreuz-Zeitung
22. Unechte Korrespondenzen
23. Die Grafschaft Ruppin
24. Das Oderland
25. Havelland
26. Spreeland
27. Mathilde von Rohr
28. Henriette von Merckel
29. Der Krieg gegen Dänemark
30. Der Krieg gegen Österreich
31. Kriegsgefangen in Frankreich
32. Reise durch ein besetztes Land
33. Abschied von den Eltern
34. Meister des Gelegenheitsgedichts
35. Der Vorläufer Willibald Alexis
MEISTERJAHRE
36. Vor dem Sturm
37. Drei wenig gelungene Kriminalgeschichten
38. Zum Beamten nicht geeignet
39. Schach von Wuthenow
40. L’Adultera
41. Graf Petöfy
42. Reisen nach Italien
43. Irrungen, Wirrungen und Stine
44. Cécile und Mathilde Möhring
45. Der Theaterkritiker
46. Frau Jenny Treibel und Die Poggenpuhls
47. Quitt
48. Zwischen Skepsis und Glaube
49. Unwiederbringlich und Effi Briest
50. Der Briefschreiber
51. Ein Antisemit?
52. Der Stechlin
53. Die letzten Jahre
54. Die Tochter Mete
Nachwort
Siglenverzeichnis
Bibliographie
Werke Theodor Fontanes
Wanderungen durch die Mark Brandenburg
Romane und Erzählungen
Kriegsbücher
Autobiographisches
Gedichte
Kritische Schriften
Briefe
Sekundärliteratur
Abbildungsnachweis
Personenregister
Ortsregister
Für Herta Elisabeth Killy
«Es ist etwas unbedingt Zauberhaftes um seinen Stil und namentlich um den seiner alten Tage, wie er uns in den Briefen der achtziger und neunziger Jahre wieder entgegentritt. Mir persönlich wenigstens sei das Bekenntnis erlaubt, dass kein Schriftsteller der Vergangenheit oder Gegenwart mir die Sympathie und Dankbarkeit, dies unmittelbare und instinktmäßige Entzücken, diese unmittelbare Erheiterung, Erwärmung, Befriedigung erweckt, die ich bei jedem Vers, jeder Briefzeile, jedem Dialogfetzchen von ihm empfinde. Diese bei aller behaglichen Breite so leichte, so lichte Prosa hat mit ihrer heimlichen Neigung zum Balladesken, ihren zugleich mundgerechten und versmäßigen Abbreviaturen etwas bequem Gehobenes, sie besitzt, bei scheinbarer Lässigkeit, eine Haltung und Behältlichkeit, eine innere Form, wie sie wohl nur nach langer poetischer Übung denkbar ist, sie steht in der Tat der Poesie viel näher, als ihre unfeierliche Anspruchslosigkeit wahrhaben möchte, sie hat poetisches Gewissen, poetische Bedürfnisse, sie ist angesichts der Poesie geschrieben, und wie seine Greisenverse, die doch so konzentriert und vollkommen sind, dass man sie sofort auswendig weiß, stilistisch seiner Prosa immer näherkommen, so ist das Merkwürdige, dass seine Prosa sich in demselben Maße sublimiert, in welcher sie (Erlaubnis für das Wort!) verbummelt.»
Thomas Mann, Der alte Fontane (1910)
«Was diesen Mann uns unvergleichlich macht, das ist – wie bei Goethe – die Luft, in der er lebte und die er atmete. Das ist jene Aura um die Dinge seines Seins herum, dieses Undefinierbare, das Fontane zu einem Symbol macht, zu einem Symbol einer Zeit, und mehr: zu dem einer ganzen kleinen Welt. Sie ist dahin. Was war es denn schließlich mit ihm? – Er schrieb seine Bücher, und arbeitete – er war einer der gewiegtesten Techniker, die die deutsche Literatur je gehabt hat, ohne dass man Versen und Sätzen ansieht, wie sie gebosselt sind – er schrieb und lebte bescheiden daher. Und das Leben auf der großen Weltbühne rauschte vorbei, umbrauste ihn, und er lächelte. Wer so lächeln kann! Es war ein Gemisch, ein prachtvolles Gemisch von Lavendelduft und neuer Zeit, wie er sie verstand, aus edelstem Menschentum und jenem Schuss Ironie und Skepsis, die den Mann so anziehend machten. In seinen Augen lag immer das gewisse leichte Zwinkern, der kleine berliner Plinzler, der die Möglichkeit zum Rückzug offen lässt, und der deshalb jedes Pathos erträglich macht – weil man weiß: der bullert keinen Theaterdonner.»
Kurt Tucholsky, Fontane und seine Zeit (1919)
Wer auf dem nördlichen Berliner Autobahnring nach Osten fährt, kommt an das Dreieck Barnim, an dem der Ring wieder nach Süden biegt. Wenn er dort den Abzweig nach Stettin nimmt, muss er etwa 50 Kilometer Richtung Stettin fahren bis zur Ausfahrt Finowfurt und Eberswalde. Er wundert sich über die Ausdehnung von Eberswalde, immerhin eine Stadt von 40.000 Einwohnern; sobald er sie hinter sich hat, ist er auf derselben Straße, die Theodor Fontane im Juni 1867 nach Bad Freienwalde nahm. Freilich fuhr er nicht im Auto, sondern in einem offenen, von Pferden gezogenen Wagen. Aber die Straße war dieselbe. Sie führt durch Sommerfelde und Falkenberg, das mit einer Erhebung überrascht. Freienwaldes Berg ist sogar 160 Meter hoch, eine für die flache Mark Brandenburg erhebliche Größe.
Auf der Höhe von Freienwalde kommt eine Kreuzung: rechts geht es hinauf in die Stadt, links hinunter nach Schiffmühle über eine Brücke, die sich über die alte Oder spannt. Am Ende der Brücke gabelt sich der Weg: links nach Neuenhagen und rechts beginnt sogleich Schiffmühle, ein Ort, der nur aus einer Straße und aus einer nicht gar zu langen Reihe von kleinen Häusern auf deren beiden Seiten besteht. Das zweite Haus links ist das Fontane-Haus. Ein kleines Haus mit einem Erker zur Oder hin und einem bescheidenen Giebeldach. Alles ist unverändert, so wie es 1867 war, als Theodor Fontane hier seinen Vater besuchte. Die Räume darinnen sind dieselben, nur jetzt als Museum ausgestattet. Damals fehlten allerdings die meisten Häuser, die jetzt die Straße säumen. Das Fontane-Haus hatte freien Blick auf die alte Oder, die hier träge steht, kaum fließt, und die Brücke, damals eine Holzbrücke, führte direkt auf das Haus des alten Fontane hin. Der Garten rings ums Haus ist immer noch «kahl», wie ihn der Sohn beschrieb, und hinter dem Haus geht es immer noch hinauf auf den Sandberg, auf dem ein Fichtenwäldchen sich hinzieht.
«Ich hatte mich, wie gewöhnlich, bei ihm angemeldet, machte zunächst die reizende Fahrt bis Eberswalde per Bahn, dann die reizendere, bis Freienwalde selbst, in einem offenen Wagen und schritt nun auf einem von alten Weiden eingefassten Damm auf Schiffmühle zu, dessen blanke, rote Dächer ich gleich beim Heraustreten aus der Stadt vor Augen hatte», so Theodor Fontane (Kin, 193). Der Name Schiffmühle soll von einer Mühle auf einem Schiff herkommen, das man je nach Wasserstande bewegen konnte und das hier auf der alten Oder lag.
Wie sein Vater Louis Henri Fontane ausgerechnet hierher, in dieses kleine Haus in diesen kleinen Ort kam, der allerdings kaum eine halbe Stunde von Freienwalde entfernt liegt, wusste der Sohn nicht. Freienwalde war ein beliebter Kurort mit seinem Gesundbrunnen und seinem Moorbad und ist es bis heute geblieben. Mancher wählte damals deshalb Freienwalde als Alterssitz. Die letzte Apotheke, die der Vater leitete, lag in Letschin, einem großen Dorf im Oderbruch, südlich von Freienwalde; vielleicht war damals Freienwalde ihm als angenehm aufgefallen. Allerdings waren die Eltern aus Letschin zunächst nach Berlin gezogen. Was sich lange andeutete, wurde hier beschlossen: die Eltern trennten sich. Die Mutter kehrte nach Neuruppin zurück, wo sie sich einst wohl gefühlt hatte, und der Vater landete zunächst in Eberswalde und dann in diesem Häuschen in Schiffmühle, wo er als Einsiedler lebte, wie er selber sagte, mit einer Haushälterin Luise, «die nach dem Satze lebte: Selig sind die Einfältigen, aber einen weitgehenden Gebrauch davon machte», wie der Sohn schrieb (Kin, 193). Von 1855 bis 1867 lebte Louis Henri in Schiffmühle. Als sein Sohn Theodor ihn 1867 besuchte, er kam jedes Jahr einmal zu Besuch, war er 71 Jahre alt. Theodor Fontane war 48 Jahre alt und immer noch ein «Zeitungsschreiber», wie der Vater sagte. Erst 11 Jahre später, 1878 mit 59 Jahren, publizierte Theodor Fontane seinen ersten Roman.
«Denn wie er ganz zuletzt war, so war er eigentlich.» (Kin, 191) Dieser bekannte Satz steht am Anfang des 16. Kapitels «Vierzig Jahre später», mit dem Theodor Fontane die Chronologie der Erzählung seiner Kindheit und Jugend unterbricht, um eben diesen letzten Besuch bei seinem Vater zu schildern. Er will «das Charakterbild meines Vaters nach Möglichkeit vervollständigen, will sagen nach oben hin abrunden» (Kin, 191). Er will ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen, was er nur kann, wenn er den alten, abgeklärten, nun selbstkritischen Mann zu Wort kommen lässt. Denn was er zuvor in seinem «autobiographischen Roman» Meine Kinderjahre von 1894 über ihn berichtete, ist nicht nur schmeichelhaft, wenn auch immer die Sympathie des Sohnes für den Vater hindurchschimmert.
Die Eltern waren von höchst unterschiedlichem Charakter, was ihr Zusammenleben erschwerte, aber der eigentliche Streitpunkt zwischen den beiden war die Spielsucht des Vaters. Was er in seiner Apotheke in Neuruppin und später in Swinemünde verdiente, brachte er meist beim Spiel durch. Er war ein schlechter Spieler, aber er konnte es nicht lassen, fast jeden Abend mit anderen Spielern, die offensichtlich geschickter waren als er, sich an den Spieltisch zu setzen zum Kummer der Mutter, zum Nachteil der Kinder. 1849, als die Eltern ihre silberne Hochzeit feierten, also 25 Jahre ihrer Ehe, soll er das letzte Mal dem Spiel gefrönt haben, schreibt der Sohn in «Meine Kinderjahre» (Kin, 70). Rechnet man nach, merkt man, dass 1849 keineswegs die silberne Hochzeit gefeiert wurde, sondern – wie es im «Schlusswort» des in Friedrich Fontanes, des Enkels, Verlag erschienenen Ausgabe von Meine Kinderjahre heißt – der «dreißigjährige Krieg» dieser Ehe (Kin, 227), die im März 1819 geschlossen worden war. Schon 1847 hatten sich die Eltern getrennt, die Mutter zog mit ihrer Tochter Elise nach Neuruppin.
Als nun bei seinem Besuch in Schiffmühle Theodor Fontane das leidige Thema «Spiel» aufgreift, sagt der Vater: «Es hat mir nie Vergnügen gemacht, auch nicht ein bisschen. Und ich spielte noch dazu herzlich schlecht. Aber wenn ich mich den ganzen Tag über gelangweilt hatte, wollte ich am Abend wenigstens einen Wechsel verspüren, und dabei bin ich mein Geld losgeworden und sitze nun hier einsam, und deine Mutter erschrickt bei dem Gedanken, ich könnte mich wieder bei ihr einfinden. Es sind nun beinahe fünfzig Jahre, dass wir uns verlobten, und sie schrieb mir damals zärtliche Briefe; denn sie liebte mich. Und das ist nun der Ausgang. Zuneigung allein ist nicht genug zum Heiraten; heiraten ist eine Sache für vernünftige Menschen. Ich hatte noch nicht die Jahre, vernünftig zu sein.» (Kin, 204)
In der Tat war er bei der Heirat erst 23 Jahre alt. Und das ist es, worauf er sich nun herausredet: auf seinen Unverstand, auf seine Jugend. Der Sohn fragt, ob er dies alles der Mutter erzählen dürfe. Ja, sagt der Alte, es seien schließlich ihre eigenen Worte. Und dann: «Sie hat recht gehabt in allem, in ihren Worten und in ihrem Tun.» (Kin, 204)
So ist es der alte und geläuterte Louis Henri Fontane, den hier der Sohn zum Sprechen bringt, ein vergleichbares Kapitel über die alte Mutter fehlt in Meine Kinderjahre. Doch sie musste sich nicht rechtfertigen, das war des Vaters Sache. Und deshalb ist diese späte Einsicht so wichtig für den Sohn: «Denn wie er ganz zuletzt war, so war er eigentlich.» Ein Satz, der gerne auch auf den Sohn angewandt wird, der nach einem langen Arbeitsleben als Apotheker, als Journalist, als Balladendichter, als Korrespondent, als Kriegsberichterstatter, als Theaterkritiker endlich in hohen Jahren zu seinem eigentlichen Werke fand: zu seinen Romanen, die ihn über die anderen deutschen Autoren seiner Zeit hinausheben, und zu seinen späten Briefen, die ihn an Klarsicht über viele seiner Zeitgenossen stellen.
Louis Henri Fontane wurde am 24. März 1796 in Berlin geboren. Sein Vater war der Maler und Zeichenlehrer Pierre Barthélemy Fontane, 1757 in Berlin geboren, 1826 dort gestorben. Die Familie Fontane stammte aus der französischen Kolonie, wie es hieß, also aus der Gemeinschaft der französischen Protestanten, der Hugenotten, die hundert Jahre zuvor, aus Frankreich fliehend, in Preußen eingewandert waren. Die Malkunst des Pierre Barthélemy beschränkte sich, so sein Enkel, auf das Kopieren englischer Werke, doch als Zeichenlehrer hatte er Erfolg. Zu Beginn des Jahres 1800 kam er an den Hof, er wurde Zeichenlehrer der ältesten königlichen Prinzen, und Königin Luise zog ihn als Kabinettsekretär in ihren Dienst. Dabei mag das Urteil des Bildhauers Gottfried Schadow, wenn auch nicht ohne Neid gesprochen, zutreffend sein: «Ein Herr Fontane, seines Zeichens Maler, ist Kabinettsekretär der Königin geworden; er malt schlecht, aber er spricht gut französisch.» (Kin, 8) So zitiert der Enkel aus Schadows Tagebuch. Nach der Niederlage bei Jena und Auerstedt 1806 gegen Napoleons Truppen flüchtete die königliche Familie nach Königsberg. Ihren Zeichenlehrer Pierre Barthélemy Fontane versorgte sie noch zuvor. Er wurde Kastellan des Schlosses Niederschönhausen.
Das ist ein bescheidener, wohlproportionierter Bau, einst der Sitz der Frau König Friedrichs II., des alten Fritz, der sie dort weit weg von Potsdam unterbrachte, damit er sie nicht zu Gesicht bekam. 1740 schenkte er Königin Elisabeth Christine dieses Schloss als Sommerresidenz, den Winter verbrachte sie im großen Berliner Schloss, während ihr Mann in Potsdam residierte. Das Haus steht heute noch, renoviert und zugänglich am Rande von Pankow in einem Park an dem Flüsschen Panke. Dort wuchs Louis Henri auf, Sohn aus der ersten Ehe seines Vaters mit Louise Sophie Deubel, die aus einer westfälischen Familie stammte. Sie starb ein Jahr nach der Geburt ihres Sohnes. Der Vater heiratete noch zweimal. «Von hier aus besuchte mein Vater», so Theodor Fontane in Meine Kinderjahre, «also wahrscheinlich bis Herbst 1809 das Gymnasium zum Grauen Kloster. Es waren harte Schuljahre, denn der weite, wenigstens anderthalb Stunden lange Weg nach Berlin erforderte, dass jeden Morgen spätestens um sechs Uhr aufgestanden werden musste.» (Kin, 8) Man kann es heute noch ausprobieren und vom Schloss Niederschönhausen bis in die Mitte Berlins laufen, es sind mehr als zwölf Kilometer. Der Schulweg war besonders im Winter eine entsetzliche Strapaze, auch als die beiden Jungen, Louis Henri lief zusammen mit seinem Bruder, endlich warme Mäntel erhielten, denn diese waren von der Art, dass sie das Gespött der anderen Jungen hervorriefen. Louis Henri hielt drei Jahre durch, dann nahm er Abschied mit 13 Jahren. Und damit endete auch seine Schulbildung.
In diesem Punkt ist er in der Familie Fontane nichts Außergewöhnliches. Alle, die von den Refugiés, den französischen Einwanderern, besonderen Fleiß und Ehrgeiz erwarteten, was bei den meisten auch der Fall war, werden von der Familie Fontane enttäuscht, denn auch Theodor Fontane schaffte nicht das Abitur. Als sein zweiter Sohn, ebenfalls Theodor genannt, zum Erstaunen des Vaters nicht nur das Abitur bestand, sondern auch noch «primus omnium», der beste von allen war, schrieb er ihm einen anerkennenden Brief am 27. März 1875: «Mein lieber alter Theo. Ich glaube nicht nur, dass Du der erste ‹primus omnium› in der Familie bist, ich bin dessen gewiss. Nach meiner durch vier Generationen gehenden Kenntnis zählt es zu den fragwürdigen Vorzügen unseres Geschlechts, dass nie ein Fontane das Abiturexamen gemacht, geschweige vorher die Stelle eines primus omnium bekleidet hat. Der Durchschnitts-Fontane […] ist immer aus Oberquarta [nach der dritten Klasse des Gymnasiums] abgegangen und hat sich dann weitergeschwindelt, das beste Teil seiner Bildung aus Journalen dritten Ranges zusammenlesend.» Das war denn auch bei Louis Henri der Fall, was dieser aber später nicht als Nachteil, sondern als Vorteil sah, worin er von seinem Sohn unterstützt wurde.
Die Mutter Emilie Fontane. Porträt von Pierre Barthélemy Fontane, 1817.
Wie Louis Henri auf die Idee kam, Apotheker zu werden, ist nicht überliefert. Es gibt kein Beispiel für diesen Beruf in der Familie oder in der Kolonie. Dass sein ältester Sohn Theodor ebenfalls zunächst diesen Beruf ergriff, geschah wohl genauso wie beim Vater aus Verlegenheit. Er wusste keinen besseren, den er rasch ergreifen konnte. Und wie der Sohn unzufrieden in diesem Beruf war, so dass er schließlich einen anderen wählte, so auch der Vater. Nur dass dieser nie zu einem anderen Beruf kam und dass vor allem dies sein lebenslanges Ungenügen begründete, was ihn dann zur Spielsucht führte.
Apotheker war damals ein Beruf, den man ohne Studium erlangen konnte. Nach einer gewissen Lehrzeit in einer Apotheke und nach einem Examen, «damals nicht viel mehr als eine Formsache», schreibt Theodor Fontane, konnte man den Beruf ausüben (Kin, 17). 1818 bestand Louis Henri als 22-Jähriger das Apotheker-Examen zweiter Klasse. Zuvor hatte er eine junge Frau kennengelernt und sich mit ihr verlobt. Nachden er das Examen hatte, heirateten sie, kauften mit vereinten Mitteln eine Apotheke, die Löwen-Apotheke in Neuruppin, und zogen dorthin. Damit beginnt Theodor Fontanes «autobiographischer Roman»: «An einem der letzten Märztage des Jahres 1819 hielt eine Halbchaise vor der Löwen-Apotheke in Neuruppin und ein junges Paar […] entstieg dem Wagen und wurde von dem Hauspersonal empfangen. Der Herr […] war erst dreiundzwanzig, die Dame einundzwanzig. Es waren meine Eltern.» (Kin, 7) Neun Monate später, am vorletzten Tag des Jahres 1819, am 30. Dezember, wurde der älteste Sohn des Paares geboren: Henri Théodore Fontane. Theodore mit Akzent auf dem ersten e und Fontane nasal, also französisch ausgesprochen.
Der Vater Louis Henri Fontane. Bleistiftzeichnung von Helmuth Raetzer, 1859.
Louis Henri Fontane war 1819 keineswegs ohne jegliche Erfahrung, wie er später zu seiner Entschuldigung gerne anführte, er hatte die blutigste durchgestanden: den Krieg. 1809 war er als Lehrling in die Berliner Elefanten-Apotheke am oberen Ende der Leipziger Straße eingetreten und hätte dort auch brav seine Lehrzeit bis 1813 vollendet, wenn nicht der Aufruf König Friedrich Wilhelms III. erfolgt wäre: Zu den Fahnen. Es ging gegen Napoleon. Die Befreiungskriege begannen. Er kürzte seine Lehrzeit um ein halbes Jahr ab und meldete sich als Freiwilliger mit kaum siebzehn Jahren. «Du warst wohl sehr patriotisch», fragte ihn der Sohn. «Nein, höchstens Durchschnitt.» Und der Vater erzählte eine Geschichte, die er erlebt und die ihn tief beeindruckt hatte. Eine feine Dame, wohl von Adel, trat in einen Laden, in dem auch Louis Henri sich gerade aufhielt, es war das Tuchgeschäft Köppen und Schier in der Burgstraße. Hinter der Theke stand ein hübscher junger Mann. Die Dame wunderte sich, ihn hier zu sehen. «Ich stehe hier lieber als anderswo», erwiderte der Junge, worauf ihm die Dame eine schallende Ohrfeige gab und verschwand. (Kin, 11) Der Druck, als junger Mann sich freiwillig der Armee anzuschließen, war also enorm. Louis Henri gab ihm nach.
Der Siebzehnjährige erhielt ein Gewehr, eine Büchse, die nicht recht funktionierte, doch auch wenn sie geschossen hätte, hätte er nicht getroffen, so der Vater. Die Büchse stand sein Leben lang in einer Ecke der Wohnung, die er jeweils bewohnte. Mit etwa fünfzig anderen Freiwilligen kam er ohne rechte Ausbildung in ein Garde-Bataillon. Der Hauptmann, der sie dorthin führte, ließ sie antreten und stellte fest: «Wenn unser allergnädigster König und Herr darauf angewiesen ist, mit Ihnen den Kaiser Napoleon zu besiegen, tut er mir jetzt schon leid.» Vier Wochen nach seinem Eintritt in die Armee nahm er an der Schlacht bei Groß-Görschen teil und danach an der bei Bautzen. Er hatte Glück. Eine Kugel traf ihn, aber sie ging in seinen Tornister, durchbohrte seine Wäsche und blieb in den Pergamentblättern der dicken Brieftasche stecken. Die Brieftasche mit der Kugel darin war neben der Büchse viel bestauntes Überbleibsel der ruhmreichen Militärzeit des Vaters. Im Sommer 1814 war diese Zeit zu Ende. Der Vater «konditionierte» in etlichen Apotheken, wie das damals hieß, er arbeitete also als Praktikant bis zu seinem Examen und seiner Verlobung.
Die Verlobte Emilie Labry stammte ebenfalls aus der französischen Kolonie; lange war es üblich, dass die eingewanderten Hugenotten untereinander heirateten. Sie war die älteste Tochter des Seidenkaufmanns Jean François Labry, Firma Humbert und Labry, und wurde am 21. September 1797 in Berlin geboren. Die Hugenotten waren fleißige Handwerker und Kaufleute. Die Seidenzucht war eine ihrer bevorzugten Tätigkeiten, die vom Kurfürsten, später vom König gefördert wurde. Und eben der Handel mit Seidenstoffen und Seidengarn. Das vornehme Seidengeschäft, der Sinn ihres Vaters für Respekt und Repräsentation begleiteten Emilie ihr Leben lang. Freilich fiel es ihr nicht leicht, diese kultivierten Lebensgewohnheiten mit der fidelen Lebensart der Fontanes in Einklang zu bringen. So erschien sie oft streng, denn sie achtete auf die guten Sitten, und manchmal war sie allzu streng ihrem Mann und ihren Kindern gegenüber.
So wie dem Vater konnte Theodor Fontane auch der Mutter erst in späten Jahren Gerechtigkeit widerfahren lassen. «Erst in meinen alten Tagen ist mir ihr Sinn für ihre Superiorität aufgegangen. Als ich selber noch jung war, erschien mir vieles in ihrer Haltung, besonders meinem Vater gegenüber, zu hart und zu herbe, später indes habe ich einsehen gelernt, wie richtig alles war, was sie tat, vor allem auch, was sie nicht tat, und beklage jetzt jeden gegen sie gehegten Zweifel. Sie war dem ganzen Rest der Familie gegenüber, der damaligen wie der jetzigen, weit überlegen, nicht an sogenannten Gaben, aber an Charakter, auf den doch immer alles ankommt.» (Kin, 16)
Die Mutter der Mutter, also Theodors Großmutter, war eine geborene Mumme, ob französischer oder brandenburgischer Herkunft ist ungewiss. Sie hatte einen wohlhabenden Bruder, «Onkel Mumme», der Rittergutsbesitzer auf Klein-Beeren bei Berlin war und in «glänzenden Verhältnissen» lebte, was Mutter Emilie auch die Anschauung von einem gelungenen Leben geboten haben wird. Er besaß mehrere Kutschen, Chaisen und Halbchaisen, wie das hieß, darunter einen «Char à banc mit langen kirschroten Sammetpolstern». Mit diesem «weithin leuchtenden Prachtstück» wurden die Kinder mitunter mit der Mutter in Berlin abgeholt und hinaus nach Klein-Beeren gebracht. Für die Mutter war dies jedes Mal «ein hohes Fest, nicht viel anders, wie wenn wir zu Hofe gefahren wären». (Kin, 15)
Das glückliche Leben der jungen Emilie Labry endete mit dem frühen Tod des Vaters, der, kaum vierzig Jahre alt, verstarb. Die Mutter lebte dann mit den Kindern in einem anderen Haus in der Brüderstraße, in dem auch der Seidenladen gelegen war. Doch auch die Mutter starb bald. Die kleineren Geschwister Emilies kamen in das französische Waisenhaus, sie selbst in das Pensionat der Madame Lionnet, wozu die Zinsen ihres Vermögens ausreichten. Dort lernte sie Louise Rogée kennen, eine beliebte Schauspielerin, mit der sie sich anfreundete. Diese Louise verlobte sich mit einem Sohn des königlichen Kabinettsekretärs Pierre Barthéleme Fontane. Emilie begleitete ihre Freundin in das Haus ihres zukünftigen Schwiegervaters, wo sie einen anderen Sohn des Kabinettsekretärs kennenlernte: Louis Henri. Theodor Fontane: «Man fand rasch Gefallen aneinander, und da die Verhältnisse glücklich lagen, kam es bald zur Verlobung, und das Haus meines Großvaters sah auf kurze Zeit zwei Brautpaare unter einem Dache.» (Kin, 16) Auf kurze Zeit, denn Louise Rogée löste die Verlobung wieder und heiratete Karl von Holtei, der liebenswürdiger und glanzvoller schien. Dieser Karl von Holtei wurde bald ein bekannter Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur. Seine Ehe mit Louise Rogée dauerte nicht lange; sie starb schon mit 25 Jahren 1825.
Beide, Vater und Mutter Theodor Fontanes, waren stolz auf ihre französische Herkunft und sprachen gerne davon; sie hatten beide noch in ihren Elternhäusern französisch gesprochen. So entstand ein kleiner Wettkampf unter den beiden, wer denn aus der besseren Gegend Frankreichs stammte und wer die berühmteren Vorfahren hatte. Doch die nachweisbaren Ahnen der Fontanes waren kleine Leute, meist Zinngießer, wie die der Labrys, die Strumpfwirker waren. Nur Louis Henri fand einen Namensvetter, mit dem er blutsverwandt zu sein behauptete: Louis de Fontanes, Unterrichtsminister unter Napoleon und Großmeister der Universität, der tatsächlich aus Südwestfrankreich stammte wie angeblich die Vorfahren von Louis Henri.
Aus ihrer Herkunft leitete der Sohn die unterschiedlichen Temperamente der Eltern ab, darin vom Vater unterstützt. Denn dieser verwies gerne auf die Gascogne, aus der seine Vorfahren kamen, um seine Lebensart zu erklären. Allerdings ist diese Herkunft aus der Gascogne nicht verbürgt. Die Gascogne ist jenes Gebiet, das sich südlich von Bordeaux den Atlantik entlang bis zu den Pyrenäen erstreckt und ins Landesinnere bis nach Toulouse reicht, eigentlich eine baskische Gegend mit Verbindungen ins spanische Baskenland. Es umfasst jedenfalls das wohl berühmteste Weinbaugebiet, eben das um Bordeaux. Und wo Weinbau betrieben wird, wird Wein auch getrunken, und der Wein macht die Menschen fröhlich und redselig, so jedenfalls der Vater. Der Sohn über diesen: «Mein Vater war ein großer, stattlicher Gascogner voll Bonhomie, dabei Phantast und Humorist, Plauderer und Geschichtenerzähler, und als solcher, wenn ihm am wohlsten war, kleinen Gasconnaden nicht abgeneigt», also kleinen Streichen (Kin, 18). Auch trank er gerne Rotwein, was der Sohn hier vergaß, der sich mehr in der Nachfolge des Vaters sah als in der seiner Mutter.
Die Vorfahren der Mutter stammten aus den Cevennen. Diese sind ein Teil des französischen Zentralmassivs südlich der Linie von Mende und Montélimar, ein reizvolles, aber auch teils unwegsames, teils unwirtliches Gebirge, was es zum Rückzugsort für die Waldenser und dann die Protestanten prädestinierte. Vom 16. bis ins 18. Jahrhundert fanden hier immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen zwischen der katholischen Zentralgewalt des Königs und den in den Cevennen heimischen Protestanten statt. Noch 1702 gab es einen Aufstand und eine blutige Unterdrückung, bis 1706 eine Amnestie erlassen wurde. Und im Zweiten Weltkrieg waren die Cevennen noch einmal ein Ort des Widerstands, diesmal gegen die deutsche Besatzung. Die Glaubenskriege in den Cevennen werden gewöhnlich Cevennenkriege genannt.
Der Sohn: «Meine Mutter andererseits war ein Kind der südlichen Cevennen, eine schlanke, zierliche Frau von schwarzem Haar, mit Augen wie Kohlen, energisch, selbstsuchtslos und ganz Charakter, aber […] von so großer Leidenschaftlichkeit, dass mein Vater halb ernst-, halb scherzhaft von ihr zu sagen liebte: ‹Wäre sie im Lande geblieben, tobten die Cevennenkriege noch.›» (Kin, 18) Der Unwille der Mutter konnte sich bisweilen in Wutanfällen entladen, die in der Familie gefürchtet waren. Ihr leidenschaftliches Temperament äußerte sich jedoch «ganz allgemein» und nicht als Ausdruck eines Religionseifers wie bei ihren Vorfahren, so der Sohn. Sie war ein «Kind der Aufklärungszeit» wie der Vater auch, aber kam die Rede darauf, dann bestand sie doch auf ihrem «Genfertum», das sie für vornehmer hielt als das Luthertum: «Wir sind reformiert», sagte sie dann. (Kin, 18) Die Hugenotten waren eben Anhänger des Genfer Reformators Jean Calvin und nicht des Wittenbergers Martin Luther. So lebten die Eltern Fontane noch den Stolz der französischen Kolonie Berlins, der auch dem Sohn erhalten blieb.
Woher der Name Hugenotten (französisch Huguenots) kommt, ist umstritten. Er taucht etwa um 1560 auf, und zwar als Schimpfwort für die französischen Protestanten, die sich an Calvin, der von Paris nach Genf geflohen war, orientierten. So ist dies auch eine naheliegende Deutung des Namens: Er soll ein frühneuhochdeutsches Wort für Eidgenossen sein, also auch für die Genfer. Tatsächlich soll es das Wort eygenot für diese Eidgenossen gegeben haben, die sich im Kampf gegen den Herzog von Savoyen, der den Genfer Kanton erobern wollte, behaupteten. Genf war seit 1536 reformiert, wie man auch für calvinistisch sagt, das Herzogtum Savoyen blieb katholisch. Eine andere Deutung kommt aus dem Flämischen, wo die Protestanten sich heimlich im Hause eines ihrer Mitglieder trafen: Huisgenoten, also Hausgenossen hießen sie. Wie auch immer, Hugenotten ist der Begriff für die französischen Protestanten vor allem in der Zeit ihrer Kämpfe mit den Katholiken und in der Zeit ihrer Emigration. Aber auch heute gibt es noch eine Gesellschaft, die sich nach diesen Hugenotten nennt und ein Hugenotten-Museum in Bad Karlshafen, einer Hugenotten-Siedlung, betreibt. Ansonsten sprechen wir von der reformierten Kirche als der, die sich nach Calvin richtet.
In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als die Schriften Martin Luthers sich auch in Frankreich verbreiteten, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und den sich bildenden protestantischen Gemeinschaften. Beide Gruppen wurden von einflussreichen Edelleuten angeführt, die auch ihre eigenen Interessen vertraten. Die heftigen Kämpfe um Bestand und Einfluss der traditionellen katholischen und der neuen protestantischen Konfession vollzogen sich mit einer ungeheuren Brutalität, wie Religionskriege oft. Heimtückischer Mord, Verrat, Intrige, eine allgemeine Verrohung führten zu einer Gewalttätigkeit, die sich immer mehr steigerte. Es waren nicht nur die Katholiken, die Protestanten verfolgten, auch die Protestanten scheuten vor keiner Gewalttat zurück. So wurden etwa Klöster geplündert und in Brand gesteckt, auch das ruhmreiche Mutterkloster des Zisterzienser-Ordens, der so fruchtbar in Brandenburg gewirkt hatte, bis die Reformation ihm ein Ende bereitete: Cîteaux. Michel de Montaigne beklagt diese Grausamkeiten in einem seiner berühmten Essays: «Auf beiden Seiten allerdings spielt die Gewalttätigkeit und Ehrsucht eine so große Rolle, ist die Maßlosigkeit und die Ungerechtigkeit so groß, dass man kaum glauben kann, es handle sich um die Bekenntnisse zu verschiedenen Religionen: so sehr gleichen sich die beiden Richtungen in ihrer sittlichen Einstellung.»
Erst König Heinrich IV. (Henri Quatre), den Theodor Fontane verehrte und über den Heinrich Mann einen zweibändigen Roman schrieb, gelang es, dem blutigen Kampf ein Ende zu bereiten. Heinrich, 1553 geboren, wurde 1572 König von Navarra, das ist etwa die Gegend, die auch als Gascogne bezeichnet wird, er war also ein Gascogner wie Louis Henri Fontane. 1589 wurde er König von Frankreich, musste dazu aber die katholische Konfession annehmen; bis dahin war er einer der wichtigen Anführer der Hugenotten. So wusste Heinrich um beide Seiten und er wusste um die Grausamkeiten beider Seiten, die er beenden wollte, was ihm nicht sogleich nach Beginn seiner Regentschaft gelang. Erst 1598 erließ er das Edikt von Nantes, das den Hugenotten Religionsfreiheit sowie fast dieselben politischen Rechte wie den Katholiken gab und ihnen erlaubte, befestigte Enklaven zu ihrem Schutz anzulegen. Es ist das erste der drei Edikte, die so folgenreich für die Hugenotten waren.
Mit dem Tod des guten Königs Heinrich – er wurde 1610 von einem Attentäter erstochen, der sicherlich Hintermänner hatte – kam es wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden Konfessionen, aber sie blieben erträglich bis zur Thronbesteigung Ludwigs XIV., des Sonnenkönigs. Er wollte ein zentrales Reich mit einer einzigen Religion, der katholischen. Mit brutalen Schikanen versuchte er die Hugenotten zur katholischen Kirche zurückzuzwingen. Das gelang ihm kaum, so dass er im Jahr 1685, nicht einmal hundert Jahre nach dem Toleranzedikt von Nantes, in einem neuen Edikt dieses aufhob. Die Verfolgungen begannen, die protestantischen Kirchen wurden zerstört, die wohlhabenden Hugenotten ausgeplündert, eine Massenflucht setzte ein. Mehr als 200.000 Menschen verließen Frankreich trotz aller Schwierigkeiten, die ihnen entgegengesetzt wurden. Es war eine Emigration, die Frankreich schadete und den Ländern, die den Flüchtenden sich öffneten, großen Nutzen brachte. Die Hugenotten zogen nicht nur nach Deutschland, sondern auch in die Schweiz, in die Niederlande und nach Skandinavien.
Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der große Kurfürst, der die Mark schon gegen Schweden bei Fehrbellin und gegen Polen bei Warschau verteidigt hatte, verstand sogleich die Gelegenheit. Er erließ im selben Monat, in dem Ludwig XIV. sein Edikt bekannt gab, im Oktober 1685, das Edikt von Potsdam, dies das dritte wichtige Edikt. In diesem Edikt lud er die Hugenotten ein, nach Brandenburg zu kommen. Er fühlte sich verpflichtet, den verfolgten Glaubensbrüdern beizustehen und versprach ihnen sicheren und freien Aufenthalt, Gerechtigkeit und Freiheiten besonderer Art. Dieses Edikt ist wohl das Klügste und das Beste, was je ein Hohenzoller für Brandenburg tat, denn es brachte die arme, darniederliegende Provinz auf einen gewissen zivilisatorischen Stand. Die Hugenotten waren versierte Handwerker, geschickte Kaufleute und erfahrene Betreiber von Manufakturen, all dies mangelte Brandenburg.
In einem Aufsatz von 1862 «Die Mark und märkische Kriegsobersten zur Zeit des dreißigjährigen Krieges» bezeichnet Theodor Fontane den Einzug der Hugenotten Ende des 17. Jahrhunderts als den eigentlichen Beginn der brandenburgischen Geschichte. In welchem Zustand dieses Brandenburg um 1630 war, beschreibt er in eben diesem Aufsatz ziemlich schonungslos: «Die märkischen Städte damals ließen viel zu wünschen übrig und standen so ziemlich auf der niedersten Stufe in Deutschland. Nehmen wir Berlin, […] so lässt sich mit Leichtigkeit der Beweis führen, dass die kurfürstlich brandenburgische Residenz unter allen kurfürstlichen Residenzen jener Zeit die kümmerlichste war und weder mit München und Dresden, noch mit Mainz und Köln verglichen werden konnte. Trat es gegen diese Städte in den Schatten, so blieb es ebenso sehr hinter den freien Reichsstädten im südwestlichen Deutschland, wie hinter den Hansa- und Handelsstädten im Norden zurück.» (W IV, 420) «Des heiligen römischen Reiches Streusandbüchse» hieß lange Brandenburg, das so viel Sandboten und so viele Sümpfe hatte, es war ein armes und zurückgebliebenes Land.
Diesem Land halfen nun die Hugenotten auf. Sie bauten Seiden-, Woll- und Ledermanufakturen. Sie waren Gold- und Silberschmiede, Zinngießer und Handschuhmacher, Tapeten-, Glas- und Spiegelfabrikanten. Sie brachten überhaupt erst einen Hauch der feinen Welt nach Berlin, in ihrer Kleidung, in ihren Umgangsformen. Theodor Fontane im genannten Aufsatz: «Nach 1680 betrug die Einwohnerzahl Berlins nicht voll 10.000, zu denen sich bald darauf, nach Aufhebung des Edikts von Nantes, über 5000 französische Refugiés gesellten, so dass damals jeder dritte Mensch in Berlin ein Franzose war. Dies mag die Erscheinung erklären, dass so vieles im Berlinertum bis diesen Tag an französisches Wesen, ja oft mehr an französische als deutsche Eigenart erinnert; es erklärt auch ferner den Umstand, dass die sogenannte französische Kolonie bis zu Anfang dieses Jahrhunderts, also ungefähr 120 Jahre hindurch, ihre Sprache und Sitte in einer nominell deutschen Stadt siegreich bewahren konnte.» (W IV, 420)
Die Refugiés wurden von den Adligen und dem Königshaus freundlich aufgenommen und gefördert – zu deren eigenem Nutzen. Die Berliner waren nicht durchweg begeistert: Da kamen fremde Menschen mit fremden Gewohnheiten und einer fremden Sprache, die Privilegien besaßen, von denen die Einheimischen nur träumen konnten. Das Zusammenleben zwischen Berlinern und Franzosen war nicht ohne Spannungen. Das führte bei den Zugewanderten dazu, dass sie besondere Loyalität zu den Herrschern übten, denn diese waren es, die sie förderten und schützten. Militärische und politische Führer kamen schließlich aus der Kolonie. Und Künstler auch, jedenfalls nach einigen Generationen: Willibald Alexis, Luise von François, Otto Roquette, Friedrich de la Motte Fouqué und eben Theodor Fontane, um nur die Schriftsteller zu nennen. Adalbert von Chamisso gehörte zu den Emigranten, die 1790 nach der Französischen Revolution einwanderten.
Noch einmal aus Fontanes Aufsatz: «Unsere Geschichte hatte ihren Anfang genommen; auf den ersten Blättern standen die Namen Warschau und Fehrbellin und die Künste folgten in freier Huldigung dem neuen Siegesglanze nach. Ein geistiges Leben war erwacht, Brandenburg war der Schauplatz kirchlicher Kämpfe und doch zugleich der Schauplatz kirchlicher Duldung geworden. Französische Refugiés hatten eine Zufluchtstätte gefunden und ihre Sitte, ihr Kunstfleiß begannen der alten Mark plötzlich ein neues Ansehen, ein helleres Licht zu geben, als habe das dunkle Tannenland über Nacht sein Kleid gewechselt.» (W IV, 436)
In der Tat hatte Friedrich, der Sohn des großen Kurfürsten, ab 1701 König Friedrich I., 1696 die Akademie der Künste und der mechanischen Wissenschaften nach französischem Vorbild gegründet und dadurch Künstler, Architekten und Wissenschaftler nach Berlin gezogen. Schon 1694 hatte er die Universität Halle eingerichtet. Das Schloss erweiterte Andreas Schlüter zu einem Prachtbau, und er vollendete auch das mächtige Zeughaus Unter den Linden, einen der größten weltlichen Barockbauten Norddeutschlands.
Zur oft genannten Berliner Toleranz muss gesagt sein, dass die Kurfürsten und späteren Könige selbst Calvinisten waren im Unterschied zu der märkischen Bevölkerung, die durchweg beim lutherischen Glauben geblieben war. Die Kurfürsten hatten also nicht Toleranz gegenüber Andersgläubigen bewiesen, sondern Glaubensgenossen unterstützt, indem sie die Hugenotten einluden. Katholiken waren nach wie vor nicht willkommen und Juden nur, wenn sie sehr wohlhabend waren. Immerhin, wer heute auf dem schönen Gendarmenmarkt in Berlin steht, das Konzerthaus vor sich, das ehemalige Königliche Schauspielhaus, der sieht zu seiner Linken den deutschen Dom, also den lutherischen, und zu seiner Rechten den französischen, also den calvinistischen; sie bezeichnen die beiden Grundfesten, auf denen Preußen sich erhob.
Die Kolonieliste von 1699 verzeichnet den Namen Jacques Fontaine, in Nîmes geboren, Theodor Fontanes Vorfahre. Erst der Urgroßvater Theodors änderte den Namen Fontaine in Fontane. Dieser Fontaine ließ sich 1694 in Eberswalde nieder, dann in Berlin und arbeitete als Strumpfwirker. Nîmes, unfern der Rhone-Mündung, war ein Zentrum der französischen Seidenindustrie. Er heiratete eine Marie Duquesne, die über Mannheim nach Berlin gekommen war. Sein Sohn und sein Enkel waren Zinngießer, der Urenkel wiederum, Theodors Großvater, war Maler und Zeichenlehrer. Pierre Labry, der Vorfahre der Mutter, war ebenfalls Ende des 17. Jahrhunderts nach Deutschland eingewandert. Er stammte aus Vigan in den Cevennen. Er war Schlosser in Magdeburg, sein Sohn war Strumpfwarenfabrikant, sein Urenkel, Theodors Großvater, zog von Magdeburg nach Berlin, wo er ein Seidengeschäft leitete.
Theodor Fontane war sich immer seiner französischen Herkunft bewusst, sie gab ihm eine gewisse Distanz zu dem Märkischen, das er wiederum kultivierte in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Je älter er wurde, umso mehr pflegte er die Herkunft, die ihm in jungen Jahren nicht so wichtig gewesen war. In einem Brief an seine Frau, die natürlich auch aus der Kolonie stammte, schrieb er etwa am 9. August 1875: «Alle Augenblicke empfinde ich meine romanische Abstammung. Und ich bin stolz darauf.» Und am 24. August 1882 an die Tochter Mete: «Ich bin – auch darin meine französische Abstammung verratend – im Sprechen wie im Schreiben ein Causeur.»