Band 2
Der zweite Fall für die MounTeens
Für Siloa
Impressum
Copyright © 2019 boox-verlag, Urnäsch
Alle Rechte vorbehalten
Illustrationen und Covergestaltung: Natalie Behle
Korrektorat: Beat Zaugg
ISBN
978-3-906037-48-6 (Hardcover)
978-3-906037-49-3 (ebook)
www.boox-verlag.ch
(Mit 1% seiner Einnahmen unterstützt der Verlag eine Umweltschutzorganisation)
DIE MOUNTEENS SIND …
WER IST GEGEN DEN TIERPARK?
EIN FALL FÜR DIE KLASSE 7A
DIE ERMITTLUNG BEGINNT
VERFOLGTER ODER VERFOLGTE?
SCHMETTERLINGE UND ANDERE TIERE
UNERWÜNSCHTER BESUCH
SO EIN MIST!
EIN MOUNTAINBIKE GIBT RÄTSEL AUF
RECHERCHE AUF DER LÄRCHENALP
AUF DEN HUND GEKOMMEN
DIE SCHNÜFFLER
DER UNSICHTBARE KNUTSCHFLECK
ERHÄRTETE VERDACHTE
NÄCHTLICHER NIEDERSCHLAG
AKTIONSTAG FÜR DEN TIERPARK
VERFOLGUNG IM MORGENGRAUEN
DER ZERSCHNITTENE ZAUN
DAS GESTÄNDNIS
FRÜHLINGSGEFÜHLE
Sam
Samuel Winter, von seinen Freunden Sam genannt, ist für seine dreizehn Jahre gross, kräftig und ein richtig guter Sportler. Er ist stets voller Tatendrang, wagemutig und besitzt einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Vielleicht liegt das ja daran, dass sein Vater, Wachtmeister Jan Winter, als leitender Polizist in Bad Lärchenberg arbeitet.
Seine Mutter Sarah ist Englischlehrerin im örtlichen Sportgymnasium und hofft insgeheim, dass sich Sam in der Schule noch etwas mehr anstrengt, um nicht nur im Eishockey erfolgreich zu sein. Sam hat wilde blonde Locken und blaue Augen. Die vereinzelten Sommersprossen und sein spitzbübisches Lächeln machen ihn unwiderstehlich sympathisch. Sam ist selbstbewusst, spontan und unbekümmert, sodass er sich oft ohne zu überlegen in neue Abenteuer stürzt.
Lena
Lena Sander ist blitzgescheit und gilt als Denkerin der MounTeens. Gemeinsam mit ihren Freunden besucht sie die siebte Klasse in Bad Lärchenberg, wobei sie den Schulstoff eher als lästige Pflicht sieht. Viel lieber stillt sie ihren grossen Wissensdurst, indem sie in ihrer Freizeit das Internet nach allen möglichen Informationen durchsucht. Mit ihren schulterlangen roten Haaren, der frechen schwarzen Hornbrille und ihrem leicht spöttisch wirkenden Gesichtsausdruck gilt Lena als pfiffiger, kaum zu bändigender Wirbelwind. Was andere über sie denken, kümmert sie wenig. Das zeigt sich auch in ihrem ausgefallenen Kleidungsstil. Sie legt sich – zumindest mit Worten – mit jedem an und ist dabei nicht auf den Mund gefallen. Ihre Mutter, Anna Sander, ist alleinerziehend und als Tourismusdirektorin von Bad Lärchenberg zeitlich stark beansprucht, weshalb Lena viele Freiheiten geniesst.
Matteo
Matteo Bertone, kurz »Berti«, ist ausgesprochen hartnäckig – und dies nicht nur beim Fussballspielen, wenn er dem Ball nachjagt. Auch bei den Moun-Teens kann er sich so richtig in einen Fall verbeissen. Besonders auffallend ist Matteos positive Ausstrahlung – sein allzeit spürbarer Optimismus und die ansteckend gute Laune, welche seine Freunde Matteos italienischen Wurzeln zuschreiben. Mit seinem wachen Blick, den dunkelbraunen Augen und seiner temperamentvollen Art versprüht Matteo jedenfalls viel Charme. Als Einziger der MounTeens wohnt Matteo nicht in Bad Lärchenberg, sondern mitten im Ski- und Wandergebiet, da seine Eltern Claudio und Monica Bertone das Hotel Regina auf der Lärchenalp führen. Matteos Bruder Diego ist bereits achtzehn, was ihn aber nicht daran hindert, seinen Bruder und die MounTeens immer wieder mal tatkräftig zu unterstützen.
Amélie
Amélie Richard ist humorvoll und unkompliziert. Ihr Lachen steckt an und macht sie gepaart mit ihrer herzlichen Art zur unverzichtbaren »Seele« der MounTeens. Amélie ist sehr sportlich, was wenig verwundert, da ihr Vater Tim Richard im Winter als Skilehrer und im Sommer als Bademeister in Bad Lärchenberg arbeitet.
Ihrer Mutter Lou Richard hilft sie manchmal im familieneigenen Friseurgeschäft, weshalb sie über Klatsch und Tratsch in der kleinen Bergstadt gut informiert ist. Amélie hat lange blonde Haare, blaue Augen und ist wie alle MounTeens dreizehn Jahre alt. Mit ihrer eher zurückhaltenden und bisweilen ängstlichen Art weckt sie den Beschützerinstinkt der Jungs – insbesondere jenen von Sam. Mit allen MounTeens verbindet sie eine enge Freundschaft, wobei sie sich selbst nicht sicher ist, ob der Begriff »Freundschaft« ihre Gefühle für Sam wirklich treffend beschreibt …
Über der Flanke des Gämshorns war die Sonne aufgegangen. Lena sog die kühle Morgenluft ein und schaute sich um. Bad Lärchenberg war in ein zauberhaftes Licht getaucht. Die vorwitzigen Sonnenstrahlen hatten die Nacht aus dem Tal vertrieben und das Schwarz-Grau in leuchtende Frühlingsfarben verwandelt. Lena liebte diese Jahreszeit, wenn die letzten Schneereste in der kleinen Bergstadt schmolzen und der Winter damit endgültig vorbei war.
Beim morgendlichen Treffpunkt angekommen, wandte sich Lena der wärmenden Sonne zu und öffnete ihre Winterjacke ein Stück. Endlich Frühling, dachte sie und betrachtete versonnen die noch immer weissen Berggipfel.
Es war zwanzig nach sieben. Gleich würde Matteo herangeschwebt kommen. Sie hielt sich die Hand vor die Augen und blickte blinzelnd zur Lärchenalp hoch, von wo eine rote Gondel talwärts unterwegs war. Lena betrat die Ankunftshalle der Talstation. Ihre Gedanken schweiften zu den Ereignissen im vergangenen Dezember. Das verdächtige Treiben rund um das Hotel Montana oben auf der Lärchenalp hatte sie und ihre Freunde Matteo, Sam und Amélie mehrere Wochen beschäftigt und dazu geführt, dass sie zu den »MounTeens« – einer verschworenen Detektivbande – geworden waren. Lena erinnerte sich an die Namenssuche und die anfänglichen Zweifel, ob es dreizehnjährigen Teenagern aus den Bergen nicht peinlich sein sollte, sich »MounTeens« zu nennen. Nachdem sie den ersten Fall nahezu im Alleingang gelöst hatten, war der Name jedoch nicht mehr wegzudenken gewesen. Seither war leider Alltag eingekehrt, stellte Lena bedauernd fest. Zu gerne hätte sie wieder im Detektivteam beobachtet, recherchiert, diskutiert und kombiniert. Aber woher sollte ein neuer Fall kommen?
Lena seufzte. Ein langer Schultag erwartete sie, und der einzige Lichtblick schien ihr, mit Matteo zum Schulhaus zu schlendern und dort die anderen zu treffen. Der Rest langweilte sie.
Die Gondel war beinahe lautlos in die Talstation eingefahren, weshalb das plötzliche Rumpeln beim Öffnen der Türen Lena jäh aus ihren Gedanken riss.
Matteo trat als Erster aus der Kabine und grinste. Lena hatte winkend die Hand gehoben, um sich bemerkbar zu machen. Sie wäre mit ihren roten Haaren, der grünen Winterjacke und den violetten Jeans als einziger schriller Farbklecks in der grauen Ankunftshalle der Talstation aber auch ohne Handzeichen nicht zu übersehen gewesen! Lenas unmöglicher – oder zumindest ausgefallener – Modestil war ihr Markenzeichen und Matteo bewunderte insgeheim ihren Mut, sich wenig um die Meinung anderer zu scheren und ihr »Ding« durchzuziehen, wie sie das zu sagen pflegte. Dazu passte, dass sie ihn jeden Morgen abholte, um den Weg zum Schulhaus gemeinsam unter die Füsse zu nehmen. Dass man in der Schule deswegen tuschelte, weil Mädchen und Jungs in diesem Alter nur abmachten, wenn sie zusammen waren, war ihr egal. Und Matteo interessierte sich sowieso mehr für Fussball als für Mädchen, also war das Ganze zwischen ihnen schlicht kein Thema.
»Hey Berti, schon wach heute?«, fragte Lena gutgelaunt.
Matteo wusste, worauf sie anspielte. Er wohnte auf der Lärchenalp, rund achthundert Meter oberhalb von Bad Lärchenberg, und pendelte per Luftseilbahn zur Schule und zurück. Obwohl er früher als andere aufstand, wurde er oft schwer wach und war froh, wenn er nichts sagen musste. Mit einem mürrischen »Mhm, geht so« liess Matteo den für Lena typischen morgendlichen Schwung auch heute an sich abprallen.
Lena zeigte sich wenig beeindruckt. »Sag mal, habt ihr noch Schnee oben auf der Lärchenalp oder hat die Sonne alles weggeputzt?«
Matteo zog eine Augenbraue hoch. Was sie wohl jeweils zum Frühstück einnahm? So viele Wörter morgens um halb acht – da konnte und wollte er nicht mithalten. »Fast weg.« Das musste reichen.
»Wow, du sprichst schon!«, stichelte Lena. »Ein gutes Zeichen!«
Mit einem Augenrollen gab Matteo nach. »Okay. Ja, es ist nahezu überall grün. Nur wo es lange schattig ist, hat es ein paar Schneereste.«
»Gehen wir los, bevor du mir hier den Kopf vollquatschst«, sagte Lena lachend.
Matteo folgte ihr kopfschüttelnd. Diese Energie war manchmal kaum auszuhalten. Er warf einen prüfenden Blick auf die Uhr – in einer halben Stunde würde die Schule beginnen.
»Lass uns den Weg durch den Tierpark nehmen, um zu sehen, ob die Murmeltiere aufgewacht sind.« Lena war bereits zwei Schritte voraus und Matteo musste sich sputen, um mitzuhalten. »Vor drei Wochen, als ich mit meiner Mutter dort durchspazierte, waren sie nämlich noch im Winterschlaf.« Sie schnallte den Schulrucksack enger und legte tempomässig einen weiteren Zacken zu. »Wusstest du übrigens, dass man im Gemeinderat darüber beraten hat, ob man den Tierpark schliessen soll?«
»Ohne Eintritt bringt er der Gemeinde natürlich nichts«, schlussfolgerte Matteo nickend.
»Meinst du das ernst oder ist dein Hamster im Hirn noch nicht angerannt?« Lena bedachte Matteo mit einem abschätzigen Seitenblick. »Das ist genau die Meinung von einigen wichtigen Leuten im Gemeinderat.« Die Art, wie sie die »wichtigen Leute« betonte, zeigte, wie wenig sie von ihnen hielt. »Der Tierpark ist erstens interessant für Touristen, zweitens ein schöner Ort für uns Einheimische und drittens lehrreich für Kinder. So können sie die hier lebenden Alpentiere sehen und etwas über sie erfahren.« Bevor Matteo ihr beipflichten konnte, holte sie tief Luft und fuhr unbeirrt weiter. »Diese Egoisten im Gemeinderat denken hingegen nur an sich. Die wollen das Land hier umzonen und überbauen – also den Tierpark schliessen, die Ställe abreissen und dann das Land jemandem verkaufen, der hier Ferienwohnungen baut! Dass andere Menschen Freude an den Tieren haben oder Herr Frieder dort arbeitet, interessiert die nicht!« Ihre Wangen leuchteten rot vor Aufregung und Empörung. Bernhard Frieder war Tierpfleger und als einziger Angestellter für die Sorge um die Tiere und die Instandhaltung des Tierparks verantwortlich. Sein Sohn Daniel war ein Klassenkamerad der MounTeens und erzählte ihnen oft von der Arbeit seines Vaters, der diese äusserst ernst nahm und viel Herzblut investierte.
Matteo und Lena hatten den oberen Eingang des Tierparks erreicht, in welchem Steinböcke, Rothirsche, Rehe, Murmeltiere, Gämsen, Dachse, Waschbären, Füchse und Ziegen zu sehen waren. Da es keine Eintrittsgebühren gab, war der Park rund um die Uhr und das ganze Jahr über zugänglich.
»Warum weisst du das alles?« Matteo hatte beschlossen, auf weitere Argumente gegen den Tierpark zu verzichten.
»Von meiner Mutter und aus der Zeitung. Letzte Woche hiess es im Lärchenberger Tagblatt, der Park sei eine Zumutung – es grenze an Tierquälerei, wie die Tiere dort leben müssten.«
»Wer schreibt denn so etwas?«
»Darauf habe ich nicht geachtet. Meine Mutter hat mir nachher erklärt, das passe zur momentanen Stimmung im Gemeinderat.« Lenas Mutter, Anna Sander, war Tourismusdirektorin von Bad Lärchenberg und über das politische Geschehen bestens im Bild.
Matteo runzelte die Stirn. »Du meinst, jemand hat bewusst Unwahrheiten geschrieben, damit der Tierpark geschlossen wird?« Sie waren am Gehege der Steinböcke vorbeigegangen und blieben bei der Info-Tafel über Murmeltiere stehen.
Nachdenklich betrachtete Lena den von einer kleinen Mauer umrahmten Lebensraum ihrer Lieblingstiere. »Schau hier, Berti«, sagte sie bedrückt. »Ganz falsch ist das halt schon nicht. Viele Gehege müsste man dringend renovieren. Dafür fehlt aber das Geld – oder sagen wir besser, dass manche es lieber für anderes ausgeben.«
Matteo sah sich um. Zugegeben, was in seinen Kinderaugen ein aufregender Zoo gewesen war, schien nüchterner eingeschätzt ein heruntergekommener, alter Tierpark zu sein – ein trister Anblick! Die Holzpfosten beim Gehege der Wildtiere waren morsch, die Steinmauer bei den Dachsen bröckelte und der Stall der Ziegen stand recht windschief. Ausserdem fehlten auf dem Dach viele Ziegel. »Nur Mut, Lena! Noch ist nichts entschieden. Schau dir lieber die kleinen Nager an. Da sind sie nämlich!« Matteo zeigte auf zwei Murmeltiere, die sich aus ihrem Bau gewagt hatten. Ein weiteres Tier streckte seinen Kopf aus dem Loch und schaute sich um.
»Ja, komm nur hervor!«, sagte Lena halblaut und ihre üble Laune war wie weggeblasen. »Es ist Frühling, du Faulpelz!«
Interessiert beugte sich Matteo über die Info-Tafel. »Hier steht, dass der Winterschlaf üblicherweise von Oktober bis März gehalten wird. Heute ist der fünfzehnte April – passt also!« Er las weiter. »Wusstest du, dass Murmeltiere in dieser Zeit bis zu einem Drittel ihres Körpergewichts verlieren?« Lena hörte ihm nicht richtig zu – viel zu fasziniert war sie von den putzigen Alpentieren, zu denen sie sich hingezogen fühlte, seit sie sich erinnern konnte. Matteo wurde ungeduldig. »Träumst du? Komm, es ist Viertel vor acht. Wir müssen los, die Schule beginnt bald!«
Widerwillig riss sich Lena vom Schauspiel der auf den Hinterbeinen stehenden und um sich blickenden Murmeltiere los und wandte sich an Matteo: »Was wird bloss aus diesen Tieren, wenn der Park schliessen muss?« Sie konnte ihre Tränen nur mühsam unterdrücken.
»Jetzt hör doch auf! Ausser einigen geldgierigen Politikern will niemand, dass …« Matteo brach mitten im Satz ab und blieb mit offenem Mund stehen. Auf einem Plakat neben dem unteren Eingangstor des Parks stand schwarz auf weiss mit grossen Lettern geschrieben: Stoppt die Tierquälerei – schliesst den Tierpark!
»Das ist ein starkes Stück. Herr Frieder wird vor Wut ausser sich sein, wenn er das sieht!« Lena war bleich geworden, nachdem sie den Rest des darunter kleingedruckten Textes gelesen hatte. »Verwahrlosung der Tiere – ein Vorwurf, der ganz sicher nicht stimmt. Herr Frieder liebt sie wie seine Familie. Weisst du auch nur von einem einzigen Tier, das hier jemals gelitten hätte?«
Matteo erinnerte sich weder an ungenügend ernährte Tiere noch an dreckige Ställe, wie das behauptet wurde. Er schüttelte den Kopf. »Da macht jemand gezielt Stimmung – das ist jedenfalls kein offizielles Plakat einer Partei. Und der Name einer Tierschutzorganisation steht ebenfalls nicht drauf.«
»Schau hier, das ist mit gewöhnlichen Klebestreifen aufgehängt worden.« Lena versuchte, die Streifen wegzuklauben.
»Was tust du da? Komm, das geht uns nichts an. Vielleicht hatte ja jemand die offizielle Erlaubnis, das hier hinzukleben.«
»Das glaubst du doch selbst nicht. Und klar geht uns das etwas an: Das ist ein neuer Fall für die MounTeens!«
Wo Lena und Matteo nur blieben, fragte sich Sam. Seine Armbanduhr zeigte fünf vor acht. Sonst waren sie doch immer eine Viertelstunde vor Schulbeginn da.
Amélie fröstelte und stellte sich näher zu Sam. Sie hatte in ihrer Frühlingseuphorie die Jacke zuhause gelassen und war im dünnen Pullover aus dem Haus gegangen, was sie bereits bereute. Sam hingegen war es ganz recht, dass er ihr wie ein echter Gentleman seine Windstopper-Jacke um die Schultern legen konnte. Als er sie dabei fast umarmte und ihrem Gesicht so nahekam, dass ihn ihre langen blonden Haare an der Nase kitzelten, wurde ihm wieder einmal schmerzlich bewusst, wie unglaublich gerne er sie hatte – und wie kompliziert alles war. Ja, Amélie war seine Freundin, allerdings eben nur so, wie man das bis in die fünfte oder sechste Klasse definierte, fand Sam. Nun aber waren sie Siebtklässler, dreizehn Jahre alt und zumindest körperlich keine Kinder mehr, wie Sams Mutter jeweils spitzfindig bemerkte.
Sam verharrte einen Augenblick länger als nötig in der Umarmungspose und war sich sicherer denn je, dass »Freundin« bald mehr als bloss »gute Kollegin« bedeuten müsste, damit ihn die Sehnsucht nach dieser Nähe nicht irgendwann verrückt machen würde.
»Da kommen sie!« Amélie löste sich von ihm und der beinahe zärtliche Moment war verflogen.
»Was hält Lena da in der Hand?«, wunderte sich Sam. »Mussten wir etwa eine Posterpräsentation vorbereiten?« Er stellte sich den neuerlichen Eintrag für vergessene Hausaufgaben und seine schimpfende Mutter bereits bildhaft vor.
»Quatsch«, sagte Amélie, die ihre Arbeiten gewissenhafter als Sam erledigte. »Da ist sonst etwas los. Schau dir an, wie aufgeregt sie sind!«
»Wo wart ihr denn so lang?«, rief Sam ihnen zu.
In aller Kürze erzählten Lena und Matteo den anderen von den Absichten des Gemeinderates, dem Zeitungsartikel und ihrer Entdeckung beim Tierpark.
»Und dieses Plakat hältst du jetzt in der Hand?«, fragte Sam.
»Nein, das haben wir hängen lassen. Aber wisst ihr was? Auf dem Weg hierher haben wir ein zweites Plakat entdeckt. Es hing sogar auf dem Schulhausareal – dort drüben an der Tür der Sporthalle! Der Hausmeister muss es übersehen haben.«
Lena zögerte nicht. »Wir werden ihn befragen, schliesslich ist das ein neuer Fall für die MounTeens.«
Sam und Amélie schauten Matteo fragend an. Dieser zuckte nur mit den Schultern, als ob er sagen wollte, dass man Lena sowieso nicht mehr vom Gegenteil überzeugen könne.
»Was genau willst du Herrn Manz fragen?« Sam hatte bereits angebissen.
»Kommt, wir gehen los. Das weitere Vorgehen müssen wir später besprechen. Der Unterricht beginnt in einer Minute!«
Matteo rannte zur Treppe und nahm zwei Stufen auf einmal, um rechtzeitig im Klassenzimmer anzukommen. Lena hastete ihm hinterher und grinste. Auch er hatte Feuer gefangen!
Keuchend stürmten die MounTeens an Frau Fuchs, ihrer Klassenlehrerin, vorbei und erreichten das Schulzimmer unmittelbar vor ihr.
»Das war knapp!«, raunte Sam Amélie zu.
»In der Tat, Sam!«, sagte Frau Fuchs und schloss die Türe hinter sich.
Sam fragte sich, wie sie das gehört haben konnte. Er setzte sich und fischte seine Bücher aus dem Rucksack.
Frau Fuchs fixierte Sam weiterhin und wartete, bis sie die ungeteilte Aufmerksamkeit der Klasse hatte. »Eigentlich zu knapp. Wenn es läutet, solltet ihr eure Schulsachen ausgepackt haben und euch nicht erst wie Sprinter durch die Türe ins Ziel werfen!« Ihr Blick war ernst, ihre Mundwinkel hingegen zuckten verdächtig und die Stimmung im Zimmer entspannte sich merklich. So war Frau Fuchs: konsequent und gerecht, zugleich aber auch humorvoll und wohlwollend. Die MounTeens und ihre Klasse, die 7A, mochten ihre Lehrerin, bei der sie Deutsch, Englisch und Geschichte hatten. Melina Fuchs eilte der Ruf voraus, dass sie sich in hohem Masse für ihre Schülerinnen und Schüler interessierte und einsetzte. Ihre eigene Begeisterung für die Unterrichtsthemen wirkte nicht nur für die MounTeens mitreissend, sodass ihre Lektionen zu den besten in der Schule zählten.
Wie gewohnt begann die Doppelstunde Deutsch am Montagmorgen mit ein paar allgemeinen Informationen von Frau Fuchs, bevor sie im Anschluss daran wissen wollte, ob es von Seiten der Klasse Mitteilungen oder Gesprächsbedarf gab.
Lena meldete sich zu Wort: »Vielleicht ist es ja kein Thema für alle, aber mich beschäftigt es sehr, dass Unbekannte gegen den Tierpark vorgehen.«
»Wie meinst du das?«, fragte Frau Fuchs und bat die Klasse um Aufmerksamkeit.
Lena erzählte vom Zeitungsbericht und den Ereignissen des Morgens. Ihre Lehrerin schlug vor, das gleich im Deutschunterricht zu thematisieren, allerdings erst in der folgenden Lektion, da sie nun etwas anderes geplant habe.
In der 9-Uhr-Pause liess Frau Fuchs Lena den anonym erschienenen Artikel aus dem Lärchenberger Tagblatt, der online verfügbar war, für die ganze Klasse kopieren. Anschliessend suchten sie Argumente für und gegen den Tierpark, was in einer von Frau Fuchs geleiteten Podiumsdiskussion gipfelte. Auf der Pro-Seite sassen Amélie und Daniel Frieder, der Sohn des Tierpflegers. Auf der Contra-Seite fanden sich wenig überraschend Marc Geiger, der Sohn des Gemeindepräsidenten Ralph Geiger, und Sabine Hansen, eine Nichte des lokalen Baulöwen Peter Hansen, wieder. Beide schienen sich bereits vor der Lektion mit diesem Thema befasst zu haben. Sie hatten jedenfalls eine klare Meinung.
Mit einem »Herzlich willkommen zur heutigen Podiumsdiskussion« eröffnete Frau Fuchs das geplante Rededuell. »Wir hören zuerst die Argumente für den Tierpark.« Sie lud Amélie mit einer auffordernden Geste zum Sprechen ein. »Bitte!«
»Der Tierpark ist ein Markenzeichen unserer Stadt. Seit zwanzig Jahren können Kinder und Erwachsene dort die hier lebenden Alpentiere kennenlernen. Er zieht Touristen an und bietet uns Einheimischen einen herrlichen Rückzugsort.« Amélie war sofort warmgelaufen.
»Zudem geht es den Tieren dort gut, weil sich mein Vater um sie kümmert«, schaltete Daniel sich ein.
»Was meint die Gegenseite?« Frau Fuchs verblieb in der neutralen Moderatorinnenrolle.
»Wir denken, dass genug lang Geld ausgegeben wurde für einen Park, der noch nie etwas eingebracht hat«, sagte Marc und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Langsam sind die Gehege und Gebäude alt, und anstatt alles zu renovieren, würde man den Park besser schliessen.«
»An dieser tollen Lage könnte man etwas bauen, das der Gemeinde viel mehr bringt«, fuhr Sabine fort.