Aus dem Amerikanischen von Susanna Mende
Herausgegeben von Wolfgang Franßen
Copyright 2017 by Attica Locke
Originaltitel: Bluebird, Bluebird
First published by Mulholland Books/Little, Brown and Company
Dieses Buch ist ein fiktives Werk. Jede Ähnlichkeit mit Personen, ob lebendig oder tot, ist zufällig und nicht von der Autorin beabsichtigt. Es gibt in Texas eine Stadt namens Lark, aber die in Shelby County ist rein meine Erfindung. – Attica Locke
Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2019
Aus dem Amerikanischen von Susanna Mende
© 2019 Polar Verlag. Stuttgart
www.polar-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) oder unter Verwendung elektronischer Systeme ohne schriftliche Genehmigung des Verlags verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Redaktion: Eva Weigl, Claudia Denker
Umschlaggestaltung: Robert Neth, Britta KuhlmannM
Coverfoto: © Michel/fotolia
Autorenfoto: © Mel Melcon, Los Angeles
Satz/Layout: Martina Stolzmann
Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck, Deutschland
ISBN: 978-3-945133-71-2
eISBN 978-3-945133-72-9
Für die Männer und Frauen der Familien
Hathorne
Jackson
Johnson
Jones
Locke
Mark
McClendon
McGowan
Perry
Sweats
Williams,
die alle Nein sagten
I told him: »No, Mr. Moore«
Lightnin’ Hopkins, »Tom Moore Blues«
Shelby County
Texas, 2016
Erster Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Zweiter Teil
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Dritter Teil
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Vierter Teil
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Camilla
Danksagung
Geneva Sweet zog ein orangefarbenes Verlängerungskabel an Mayva Greenwood, Geliebte Ehefrau und Mutter, Möge sie beim himmlischen Vater in Frieden ruhen, vorbei. Die Vormittagssonne fiel in dünnen Strahlen durch die Bäume und bildete ein gepunktetes Muster auf dem Bett aus Kiefernnadeln zu Genevas Füßen, als sie das Kabel zwischen Mayvas Schwester und ihrem Ehemann Leland, Vater und Bruder in Christus, entlangführte. Sie zog einmal kräftig daran und erklomm den kleinen Hügel, achtete darauf, nicht auf die Gräber zu treten, sondern nur auf den Furchen zwischen den Grabsteinen zu gehen, die wie Zähne eines Bettlers in krummen Winkeln zueinander standen.
Sie hatte eine Papiertüte von Brookshire Brothers in Timpson dabei, gemeinsam mit einem kleinen Radio, aus dessen Lautsprecher Muddy Waters dudelte, und zwar eines von Joes Lieblingsstücken – Have you ever been walking, walking down that ol’ lonesome road. Als sie den letzten Ruheplatz von Joe »Petey Pie« Sweet erreichte, Ehemann und Vater und, vergib ihm, Herr, ein Teufel auf der Gitarre, stellte sie das Radio vorsichtig auf den polierten Granitstein und klemmte das Stromkabel an seinen verborgenen Platz hinter dem Grabstein. Der Stein daneben war von identischer Form und Größe. Er gehörte noch einem Joe Sweet, vierzig Jahre jünger, aber genauso tot. Geneva öffnete die Einkaufstüte und holte einen mit Alufolie bedeckten Pappteller heraus, eine Opfergabe für ihren einzigen Sohn. Zwei handgemachte Teigtaschen, perfekt geformte, in Fett ausgebackene Halbmonde, gefüllt mit braunem Zucker und Obst – Genevas Spezialität und Lil’ Joes Lieblingsspeise. Sie konnte die Wärme durch den Tellerboden spüren, und der buttrige Duft überlagerte den intensiven Kieferngeruch in der Luft. Sie legte den Teller mittig auf den Grabstein und beugte sich hinunter, um heruntergefallene Nadeln von den Gräbern zu wischen, wobei sie, sich ihrer arthritischen Knie stets bewusst, eine Hand auf die Granitplatte stützte. Unten donnerte ein Sattelzug über den Highway 59 und schickte einen Schwall heißer, benzingeschwängerter Luft zwischen den Bäumen empor. Für Oktober war es einer der wärmeren Tage, doch das waren sie heutzutage alle. Knapp sechsundzwanzig Grad, und sie fand, dass es an der Zeit war, die Weihnachtsdekoration aus dem Trailer hinter ihrem Laden zu holen. Klimawandel nennen sie das. Wenn das so weitergeht, lebe ich wahrscheinlich noch lange genug, um die Hölle auf Erden mitzuerleben. Das alles erzählte sie den beiden Männern in ihrem Leben. Erzählte ihnen von dem neuen Stoffladen in Timpson. Dass Faith ihr wegen eines Autos in den Ohren lag. Von dem hässlichen Gelbton, in dem Wally sein Eishaus gestrichen hatte. Sieht aus, als hätte jemand einen großen Batzen Schleim abgehustet und an die Wände der Kneipe geworfen.
Allerdings erwähnte sie nicht die Morde oder den Ärger, der sich im Ort zusammenbraute.
Diesen kleinen Frieden ließ sie ihnen.
Sie küsste ihre Fingerspitzen und berührte damit zuerst den einen und dann den anderen Grabstein. Beim Grab ihres Sohnes verweilte sie einen Moment und stieß einen müden Seufzer aus. Der Tod hatte anscheinend vor, sie ihren Lebtag nicht in Ruhe zu lassen. Er war wie ein heimlicher Schatten in ihrem Rücken, so zielgerichtet wie ein Hund auf der Jagd – und genauso treu. Hinter sich hörte sie Kiefernnadeln knirschen und Blätter rascheln, die von den Pappeln geweht worden waren, und als sie sich umdrehte, stand Mitty vor ihr, der inoffizielle schwarze Friedhofswärter. »Es gibt Batterien für die Dinger«, sagte er und nickte zu dem kleinen Radio hin, während er sich auf den Betongrabstein von Beth Anne Solomon, Viel zu früh von uns gegangene Tochter und Schwester, stützte.
»Schick mir die Stromrechnung, sobald du sie kriegst«, sagte Geneva.
Mitty war älter als Geneva, an die achtzig schätzungsweise. Er war ein kleiner, dunkelhäutiger Mann mit Beinen so dürr wie Zweige und aschfahl. Er verbrachte die Nachmittage in der kleinen Hütte auf dem Grundstück und vertrieb streunende Hunde und Gesindel. An fünf Tagen der Woche war er mit einem Motorsportmagazin und einem Zigarrenstumpen hier draußen, wachte über die versammelten Toten und hatte ein Auge auf sein zukünftiges Zuhause. Er tolerierte Genevas spezielle Art, sich um ihre Verstorbenen zu kümmern – die Steppdecken im Winter, die Lichterketten an Weihnachten, das Gebäck und das fortwährende Bluesgedudel. Er beäugte den Teller und hob mit einem Finger die Folie an, um besser sehen zu können. »Sie verpetzen dich«, sagte Geneva, »und dein Name steht auch nicht drauf.«
Der Weg den Hügel hinunter war für ihre Knie jedes Mal eine größere Tortur als der hinauf, und auch heute war es nicht anders. Sie zitterte vor Schmerzen, als sie zu ihrem Wagen ging und dabei die Strickjacke ihres Mannes auszog, eine der letzten in ausreichend gutem Zustand, um sie täglich zu tragen. Ihr 98er Grand Am stand auf einem Gelände aus Grasflecken und roter Erde am Rand des vierspurigen Highways. Sie hatte noch nicht einmal die Schlüssel aus ihrer Handtasche genommen, als sie Mitty eine der Teigtaschen essen sah. Geneva rollte mit den Augen. Der Mann hatte nicht einmal den Anstand, wenigstens so lange zu warten, bis sie weggefahren war.
Sie stieg in ihren Pontiac und rumpelte langsam von dem provisorischen Parkplatz, wobei sie nach Sattelschleppern und zu schnell fahrenden Wagen Ausschau hielt, bevor sie auf den Highway 59 abbog und Richtung Lark fuhr. Sie tuckerte die Dreiviertelmeile bis zu ihrem Laden in aller Stille, während sie in Gedanken eine Bestandsaufnahme machte. Sie hatte nur noch zwei Halbliterdosen Fruchtcocktail, acht Salatköpfe, Sirup für den Getränkeautomaten, Dr Pepper, von dem sie nie ausreichend Vorrat hatte, außerdem ein oder zwei Flaschen Ezra Brooks Whiskey, den sie für ihre Stammgäste unter der Kasse aufbewahrte. Sie fragte sich, ob der Sheriff wohl schon da war, ob sich dieses Mädchen, das einsam in ihrem Hinterhof gelegen hatte, noch immer dort befand. Sie war ein wenig besorgt darüber, wie sich das auf ihr Geschäft auswirken würde, doch hauptsächlich versuchte sie zu verstehen, was in Gottes Namen mit dem kleinen Ort passierte, in dem sie die ganzen neunundsechzig Jahre ihres Lebens verbracht hatte.
Zwei Leichen in einer Woche.
Was zum Teufel war nur los?
Vor Geneva Sweet’s Sweet, einem niedrigen Flachbau, der rotweiß gestrichen war, fuhr sie vom Highway runter. Das Café hatte geraffte Vorhänge in den Fenstern und ein Schild an der Ladenfront mit einem beleuchteten Pfeil, der auf die Eingangstür zeigte. Schwarzrot gestreifte Buchstaben verkündeten BBQ PORK SANDWICH $4.99 und DIE BESTEN TEIGTASCHEN IN SHELBY COUNTY. Sie parkte auf dem gewohnten Platz, den ausgefahrenen Reifenspuren von der Breite eines Pontiacs, neben dem Café, zwischen der Holzwand des Gebäudes und dem Unkraut auf dem öffentlichen Parkplatz auf der anderen Seite. Sie war seit Jahrzehnten an diesem Ort, seit damals, als er nur Geneva’s geheißen hatte und eine von Hand errichtete Bretterbude war, die aus einem einzigen Raum bestanden hatte. Die asphaltierten Parkplätze neben der Zapfsäule waren für Gäste. Und für Wendy natürlich, mit der Geneva gelegentlich Geschäfte machte. Ihr alter grüner Mercury parkte direkt vor dem Eingang. Der rostige, zwanzig Jahre alte Wagen sah aus wie eine Piñata, auf die man zu lange eingeschlagen hatte, und er war vollgestopft mit gebrauchten Nummernschildern, Eisenpfannen, zwei Perückenständern, alten Klamotten und einem kleinen Fernseher, dessen Antenne aus dem hinteren linken Fenster ragte.
Die winzige Messingglocke an der Cafétür bimmelte leise, als Geneva eintrat.
Zwei ihrer Stammgäste blickten von ihren Plätzen am Tresen auf: Huxley, ein Rentner aus dem Ort, und Tim, ein Fernfahrer, der Woche für Woche die Strecke Houston-Chicago zurücklegte. »Der Sheriff ist da«, sagte Huxley, als Geneva hinter ihm vorbeiging. Am Ende des Tresens öffnete sie die Klappe, die zu ihrer »Zentrale« führte, dem Bereich zwischen Küche und Gästen. »Ist vor dreißig Minuten aufgekreuzt «, sagte er, und sowohl er als auch Tim machten lange Hälse, um ihre Reaktion zu sehen.
»Muss den ganzen Weg hundertvierzig Sachen draufgehabt haben«, bemerkte Tim. Geneva presste die Lippen aufeinander und schluckte ihre Wut hinunter.
Vom Haken neben der Tür, die zur Küche führte, nahm sie eine Schürze. Sie war alt und verwaschen, mit zwei ausgeblichenen Rosen auf den Taschen.
»Bei andern hat’s n’ ganzen Tag gedauert – das hast du doch gesagt, oder?« Tim hatte sein Schinkensandwich zur Hälfte gegessen und redete mit vollem Mund. Er schluckte und spülte mit einem Schluck Cola nach. »Van Horn hat sich alle Zeit der Welt gelassen.«
»Der Sheriff?«, fragte Wendy von ihrem Hocker am anderen Ende des Tresens aus. Sie saß vor einer Reihe Einmachgläser, die mit dem Besten aus ihrem Garten gefüllt waren, dicken roten Paprikas, gehackten grünen Tomaten, eingelegt mit Kohl und Zwiebeln, und ganzen, in Essig konservierten Okraschoten. Geneva hob die Gläser der Reihe nach hoch, hielt sie gegen das Licht und prüfte den Dichtungsgummi.
»Ich habe noch ein paar andere Sachen draußen«, sagte Wendy, als Geneva einen Filzstift aus ihrer Schürzentasche zog und einen Preis auf jeden Deckel schrieb.
»Du kannst das eingelegte Gemüse und die Okra-Pickles dalassen«, sagte Geneva, »aber bei dem ganzen anderen Kram, den du zu verkaufen versuchst, muss ich nein sagen.« Sie nickte zum Fenster hin, vor dem Wendys Wagen stand. Wendy und Geneva waren im gleichen Alter, wobei Wendy je nach Zuhörer oder Stimmungslage ihr Alter anzupassen pflegte. Sie war eine kleine Frau mit männlich breiten Schultern und gespielter Gleichgültigkeit, was ihr Aussehen betraf. Ihr Haar war grau und mit Hilfe von Pomade zu einem strengen Dutt gebunden. Zumindest war es das gewesen, als sie es das letzte Mal gekämmt hatte, was zwischen drei und sieben Tage her sein durfte. Sie trug das Unterteil eines gelben Hosenanzugs, ein verwaschenes T-Shirt der Houston Rockets und Herrenhalbschuhe.
»Geneva, die Leute kaufen gern alten Kram am Wegrand. Das gibt ihnen das Gefühl, im Wohlstand zu leben. Sie nennen es Antiquitäten.«
»Ich nenne es Schrott«, sagte Geneva. »Und die Antwort lautet nein.«
Wendy warf einen Blick durch das Café – von Geneva zu Tim und Huxley und weiter zu den beiden anderen Gästen in einer der Sitznischen aus Kunstleder – bis zum anderen Ende des Ladens, wo kein Essen mehr serviert wurde und Isaac Snow viereinhalb Quadratmeter gemietet hatte, die einen Spiegel und einen erbsengrünen Friseurstuhl beherbergten. Isaac war ein schmächtiger Mann in den Fünfzigern mit hellbrauner Haut und kupferfarbenen Sommersprossen. Er redete nur so viel wie nötig, doch für einen Zehner schnitt er jedem, der darum bat, die Haare. Ansonsten ließ Geneva ihn ein wenig fegen, damit er sich die drei Mahlzeiten am Tag verdiente, die er in ihrer Küche zu sich nahm.
Der Herr hatte keine Seele erschaffen, die von Geneva nicht etwas zu essen bekam.
Ihr Laden war aus der Idee heraus entstanden, Schwarzen, die in diesem County sonst nirgendwo einkehren konnten, einen Rastplatz zu bieten. Man konnte eine ordentliche Mahlzeit und einen Schluck Whiskey bekommen, sofern man es für sich behielt; sich einen anständigen Haarschnitt verpassen lassen, bevor man weiter zu den Verwandten im Norden oder einem Job fuhr, der hoffentlich noch zu haben war, wenn man auf der anderen Seite von Arkansas ankam, weil es sonst keinen Grund gab, sich auf den Weg zu machen, wenn man Arkansas nicht hinter sich lassen wollte. Etwas über vierzig Jahre nach dem Tod von Jim Crow hatte sich nicht viel geändert: das Geneva’s war noch genauso wie früher, einschließlich der vergilbten Kalender an den Wänden des Cafés. Es war eine feste Größe am Rand des Highways, auf dem unaufhörlich Menschen vorbeizogen.
Wendy blickte in die schwarzen Gesichter im Raum und versuchte, den Grund für die gedrückte Stimmung und das, was in der Luft lag, zu finden. Die Jukebox hinter ihr spielte einen der fünfzig Songs, die rund um die Uhr dudelten, diesmal eine Ballade von Charley Pride mit einem Gospelwehklagen, einer flehentlichen Bitte um Gnade.
Einen Moment lang sagte keiner etwas.
An Geneva gewandt bemerkte Wendy schließlich: »Wieso bist du heute Morgen so gereizt?«
»Sheriff van Horn ist draußen«, sagte Huxley und nickte zur Rückwand des Cafés, die mit sich wellenden Wandkalendern der letzten fünfzehn Jahre bedeckt war – die für alles Mögliche warben, von Malzlikör über das örtliche Bestattungsinstitut bis hin zur gescheiterten Kandidatur von Jimmie Clark zum County Commissioner. Hinter der Rückwand befand sich die Küche, wo Dennis einen Topf mit Ochsenschwänzen zubereitete. Geneva konnte Lorbeerblätter riechen, die in Rinderfett mit Knoblauch, Zwiebeln und Flüssigrauch durchzogen. Hinter der Fliegengittertür der Küche lag ein weitläufiges Grundstück, auf dessen roter Erde Butterblumen und Fingerhirse wuchsen, und das sich bis zum Ufer eines rostfarbenen Bayous erstreckte, der die westliche Grenze von Shelby County bildete. »Er hat drei Deputys mitgebracht.«
»Was ist los?«
Geneva seufzte. »Sie haben heute Morgen eine Leiche aus dem Bayou gezogen.«
Wendy blickte entgeistert. »Noch eine?«
»Eine weiße diesmal.«
»So ein Mist.«
Huxley nickte und schob seinen Kaffee weg. »Erinnert ihr euch noch, wie unten in Corrigan ein weißes Mädchen ermordet wurde? Sie haben fast jeden Schwarzen im Umkreis von dreißig Meilen verhaftet. Haben sie aus Kirchen und Spelunken geholt, aus den Geschäften, die im Besitz von Schwarzen waren, haben jeden, der ihrer Vorstellung von einem Mörder entsprach, verfolgt.«
Geneva spürte, wie sich in ihrer Brust etwas löste, wie die Furcht, die sie in Schach zu halten versucht hatte, in ihr aufstieg, bis sie sie beinahe von innen heraus erstickte.
»Aber wegen dem Schwarzen, der letzte Woche ein Stück die Straße rauf ermordet wurde, hat niemand auch nur einen Finger gerührt«, sagte Huxley.
»Sie verschwenden keinen Gedanken mehr an den Mann«, sagte Tim und warf eine fettige Serviette auf seinen Teller. »Nicht, wenn ein weißes Mädchen tot aufgefunden wird.«
»Merkt euch meine Worte«, sagte Huxley und blickte ernst in jedes schwarze Gesicht im Café. »Jemand wird dafür einfahren.«
Wie es ihm sein Onkel beigebracht hatte, legte Darren Mathews seinen Stetson mit der Krempe nach unten auf die Balustrade des Zeugenstands. Für den Gerichtstermin ließen ihn die Ranger die offizielle Uniform tragen – ein fast zu Tode gestärktes Button-down-Hemd und eine gebügelte dunkle Hose. Die silberne Marke war an der linken Brusttasche befestigt. Er hatte sie seit Wochen nicht getragen, nicht seit der Untersuchung wegen Ronnie Malvo, die zu seiner Suspendierung geführt hatte; auch seinen Ehering hatte er seither nicht mehr am Finger gehabt. Er gehörte ebenfalls zu seiner heutigen Aufmachung. Er widerstand dem Bedürfnis, daran herumzuspielen und das Metall am Ringfinger seiner unerklärlicherweise geschwollenen Hand zu drehen.
Seine Gedanken umkreisten erneut die einzige verbliebene Erinnerung an den Vorabend nach zwanzig Uhr: Ein Styroporteller mit geräuchertem Hühnchen, ein Fernsehtablett, eine Flasche Jim Beam und Blues aus der Hi-Fi-Anlage seines Onkels. Das Klirren der Eiswürfel, der erste Schluck, den er sich eingoss, das war das Letzte, woran er sich erinnerte. Und an das erlösende Gefühl natürlich, das mit der Kapitulation einherging. Ja, er war machtlos, was seine Ehe betraf, Schritt eins. Schritt zwei, sich drei Fingerbreit einschenken und das mehrmals. Schritt drei, Johnnie Taylors raue Stimme übernehmen lassen – seine unverhohlene Männlichkeit, das Einfordern von Dingen, die ein Mann in seinem Leben haben sollte, einschließlich der Liebe einer guten Frau, ihrer Loyalität und Bereitschaft, mit einem, falls nötig, durch Scheiße zu waten, um auf die andere Seite zu gelangen. Die melancholische Gitarre und die Wärme des bernsteinfarbenen Bourbons waren vage Erinnerungen. Und dann war da nichts mehr bis auf das harte Holz auf der hinteren Veranda des Familiensitzes, wo Darren im Morgengrauen erwacht war.
Er hatte einen Holzsplitter in der Wange und keine Ahnung, was mit seiner Hand passiert war. Geblutet hatte sie nicht, nur die Fingerknöchel waren geschwollen, und der pochende Schmerz wollte erst nach vier Ibuprofen nachlassen, doch er war eindeutig mit etwas auf dem Grundstück in Kontakt gekommen, etwas, das kräftig zurückgeschlagen hatte. Der vertraute Katzenjammer danach, in dem er lebte, seit Lisa und er getrennt waren, hatte seine Neugier gedämpft, und er hatte gar nicht erst zu rekonstruieren versucht, was genau passiert war. Die Fakten, soweit er sie kannte: Er hatte allein getrunken und war allein aufgewacht. Seine Autoschlüssel lagen noch immer im Eisfach, wohin er sie in einem Moment weiser Voraussicht gelegt hatte. Er schien nur sich selbst wehgetan zu haben, und damit konnte er leben. Er war es allerdings leid, allein zu schlafen, allein zu essen und einfach nur zu warten: auf die Ergebnisse der Grand Jury und darauf, dass seine Frau ihn bat, nach Hause zu kommen.
»Und woher kennen Sie den Angeklagten?«, fragte Frank Vaughn, der Bezirksstaatsanwalt von San Jacinto County, von seinem Platz auf dem Podium aus.
»Mack hat für …«
»Wie bitte?«
»Rutherford McMillan … Mack«, erklärte Darren. »Er arbeitet seit über zwanzig Jahren für meine Familie.«
Weshalb es Darren an dem Abend, als Mack Ronnie Malvo mit einer Schusswaffe bedroht hatte, von Houston zu Macks Haus im San Jacinto County in weniger als einer Stunde geschafft hatte. Lisa hatte ihn angefleht, nicht zu fahren. Er sei doch gar nicht im Dienst, hatte sie gesagt. Doch sie wussten beide, dass es so etwas nicht gab. Er war gerade erst nach einem Monat Außendienst zurückgekommen, und sie war wütend gewesen, dass er sie so bedenkenlos wieder allein ließ. Darren, tu’s nicht. Er hatte sie trotzdem allein gelassen und war Mack zu Hilfe geeilt, und jetzt war er Zeuge in einer Mordermittlung. Seitdem hatte er für Lisas Ich hab’s dir gesagt bezahlt. Sie schien zu ahnen, dass alles ein böses Ende nähme – seit er seinen Diensteid abgelegt hatte.
Vaughn nickte und warf einen Blick zu den Geschworenen hinüber, Männer und Frauen aus der Region, die man von ihren Farmen und aus Postämtern und Friseurläden geholt hatte, und für die ein Tag bei Gericht wirklich aufregend – wenn nicht gar unterhaltsam – war, auch wenn das Leben eines Menschen auf dem Spiel stand. Der Bezirksstaatsanwalt hatte das Talent eines Geschichtenerzählers, was Tempo und überraschende Wendungen anging, indem er Schlüsselinformationen nur nach und nach preisgab. Es gab keinen Richter, sondern nur einen Gerichtsdiener, den Staatsanwalt, einen Gerichtsreporter und die zwölf Mitglieder der Grand Jury, welche die bedeutungsvolle Aufgabe hatten zu entscheiden, ob Rutherford McMillan des Mordes angeklagt würde. Weil sämtliche Verfahren mit einer Grand Jury unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden, waren die honigfarbenen Bänke auf der Galerie leer. Der Richtertisch war aus Respekt vor dem Staat erhöht. Weder dem Angeklagten noch seinem Anwalt war es erlaubt, eine Erklärung zu den vom Staat vorgelegten Beweisen abzugeben. Darren war scheinbar im Namen der Staatsanwaltschaft hier. Doch er wollte alles tun, um in den Köpfen der Geschworenen Zweifel zu säen. Der Trick bestand darin, das zu tun und trotzdem seinen Job zu behalten, ein Risiko, das er bereitwillig einging. Er wollte einfach nicht glauben, dass Mack jemanden kaltblütig ermordet hatte.
»In welcher Funktion ist er für Ihre Familie tätig?«, fragte Vaughn.
»Er kümmert sich um unser Grundstück im County, fünfzehn Morgen in Camilla. Ich bin in dem Haus aufgewachsen, doch es wohnt niemand mehr dort, jedenfalls nicht die ganze Zeit, schon seit Jahren nicht«, sagte er. »Im Moment wohne ich allerdings dort. Wissen Sie, meine Frau und ich haben zurzeit einen Konflikt, und sie braucht ein wenig Abstand, um …«
Einspruch: Irrelevant.
Das hätte er an Vaughns Stelle gesagt, wenn das ein richtiger Prozess gewesen wäre.
Doch es gab keinen Richter. Und Darren, der ehemalige Jurastudent, wusste, dass er das auch zu seinem Vorteil nutzen konnte. Er wollte, dass ihn die Geschworenen kennenlernten, wollte, dass sie bereit waren zu glauben, dass er die Wahrheit sagte. Er vertraute nicht auf seine Marke, nicht, wenn er so aussah: Die Achseln seines Anzughemds waren feucht und aus seinen Poren drang ein übler Gestank. Er spürte die erste Welle eines Katers, den die Schmerzen in der Hand überdeckt hatten. Sein Magen rebellierte und etwas Saures stieß ihm auf.
Er hatte eine der Grundregeln seiner Onkel verletzt: Geh nie in die Stadt, wenn du jämmerlich oder heruntergekommen aussiehst oder gar wie ein Mann, der sich fünfzehn Mal am Tag entschuldigt. Selbst sein Onkel Clayton, ein ehemaliger Strafverteidiger und Professor für Verfassungsrecht, pflegte zu sagen, dass für Männer wie uns eine ausgebeulte Hose oder ein heraushängender Hemdzipfel ein »hinreichender Verdacht auf zwei Beinen« seien. Sein Zwillingsbruder und ideologischer Gegenspieler William, ein Gesetzeshüter und selbst Ranger, stimmte darin vollkommen mit ihm überein. Gib ihnen keinen Anlass, dich anzuhalten, mein Sohn. Die beiden Männer hatten wenig gemeinsam – und widersprachen damit dem gängigen Klischee von Zwillingen, die mit einem Verstand dachten – bis auf die Tatsache, dass sie der Mathews-Familie angehörten, einer Sippe, die seit Generationen in Osttexas lebte, Schwarze, deren Selbstachtung sowohl ein natürlicher Zustand als auch eine Überlebensstrategie war. Seine Onkel hielten sich an diese alten Regeln des Lebens im Süden, weil sie begriffen hatten, wie schnell sich das alltägliche Verhalten eines schwarzen Mannes in eine Sache auf Leben und Tod verwandeln konnte. Darren hatte stets glauben wollen, dass sie die letzte Generation waren, die so leben musste, dass der Wandel im Weißen Haus seine Wirkung entfalten würde.
Doch in Wirklichkeit war genau das Gegenteil passiert.
Als Folge von Obama hatte Amerika sein wahres Gesicht gezeigt.
Trotzdem waren sie Giganten für ihn, Männer mit einer Haltung und Überzeugungen, die beide in ihrem jeweiligen Beruf eine Möglichkeit gefunden hatten, das Land irgendwie erträglich für schwarzes Leben zu machen. Für William, den Ranger, war es das Gesetz, das sie rettete, indem es sie beschützte – indem Verbrechen gegen Schwarze genauso zielstrebig verfolgt wurden wie gegen Weiße. Nein, sagte Clayton, der Verteidiger: Das Gesetz ist eine Lüge, vor der Schwarze beschützt werden müssen – ein Regelwerk, das schon damals, als Tinte zum ersten Mal Pergament berührte, gegen sie verfasst worden war. Es war ein uralter Streit, in dem schwarzes Leben als heilig und lebenswert und schutzbedürftig behandelt wurde, ein Streit, dem Darren beiwohnte, seit er zwischen ihren langen Beinen unter dem Küchentisch herumgekrabbelt war, als die Brüder noch unter einem Dach gewohnt hatten, bevor es zwischen ihnen wegen einer Frau zum Zerwürfnis gekommen war. Sie hatten sich von Anfang an um Darren gekümmert, und er hatte sein Leben lang die ideologische Trennung der Familie zu überbrücken versucht.
Vaughn schnitt ihm das Wort ab und machte mit der nächsten Frage weiter. »Als Mr. McMillan Sie an diesem Abend angerufen hat, war das als Freund oder als Texas Ranger?«
Einspruch: Spekulativ, dachte Darren.
»Beides, denke ich«, sagte er.
»Und wissen Sie, weshalb Mr. McMillan Sie angerufen hat, anstatt die 911 zu wählen?«
Lisa hatte ihn dasselbe gefragt. In einem verwaschenen SMUT-Shirt hatte sie auf dem Bett gesessen und gefragt, weshalb Mack nicht die örtlichen Behörden angerufen hatte, wieso Darren da überhaupt mit hineingezogen worden war. Darren hatte ihr versichert, dass Mack die Cops angerufen hatte. Doch wie sich später herausstellte, war das ein Irrtum, was er der Grand Jury allerdings nicht erzählte. »Ich glaube, ihm war wohler, mit jemandem zu tun zu haben, den er kennt«, sagte er.
Vaughn zog seine sandfarbenen Brauen zusammen. Er war ein Weißer Mitte vierzig, ein paar Jahre älter als Darren, mit haselnussbraunen Haaren, die zwei Töne dunkler waren als seine Brauen. Darren vermutete, dass er sie färbte, und plötzlich hatte er das unselige Bild vor sich, wie Vaughn die Reihen im Brookshire Brothers Lebensmittelladen auf der Suche nach Miss- Clairol-Haarfärbemittel abschritt.
Vaughn war durch und durch Beamter, in einem schlichten blauen Anzug mit polierten hellbraunen Ropers an den Füßen. Man hatte ihm berichtet, dass Darren dieses Verfahren nicht wollte, dass er glaubte, die Ranger und der Staat Texas machten einen Fehler. Und seit ihrem ersten Treffen zur Vorbereitung von Darrens Zeugenaussage hatte er versucht, etwas zu finden, das ihn aufs Glatteis führen würde.
»Den er kennt, jawohl«, sagte Vaughn und warf einen Blick zu den Geschworenen hinüber. »Einen Gesetzeshüter. Aber trotzdem ein Freund, wollen Sie das sagen?«
Darrens Antwort war unbestimmt. »Ein freundlicher Mensch, ja.«
»Sie sind also von Houston heraufgefahren, um ihm zu helfen. Ich glaube nicht, dass Sie das für jeden tun würden.«
»Der Mann hatte einen einschlägig vorbestraften Kriminellen auf seinem Grundstück.«
»Hat Mack ihn nicht einen Proleten genannt?«
»Nachdem Malvo ihn einen Nigger genannt hatte«, erwiderte Darren.
Das Wort erzeugte eine gewisse Unruhe im Gerichtssaal. Mehrere weiße Geschworene waren auf einmal sichtbar angespannt, als glaubten sie, dass allein das Aussprechen des Worts in gemischter Gesellschaft zu Gewalt anstacheln oder den Bürgerrechtler Al Sharpton auf den Plan rufen konnte.
Doch Darren wollte eine Klarstellung: Ronnie »Redrum« Malvo war ein über und über tätowierter Weißer mit Verbindungen zur Arischen Bruderschaft von Texas, einer kriminellen Organisation, die mit der Herstellung von Meth und dem Verkauf illegaler Waffen ihr Geld verdiente – eine Gang, deren Initiationsritus es war, einen Nigger zu töten. Ronnie hatte Macks Enkelin Breanna, eine Studentin am Angelina College, wochenlang belästigt – er war ihr in seinem Wagen gefolgt, wenn sie zu Fuß in die Stadt oder nach Hause ging, hatte ihr Worte zugerufen, die sie nicht wiederholen wollte, war vor ihrem Zuhause auf- und abgefahren, wenn er wusste, dass sie da war, beschimpfte sie wüst wegen ihrer Hautfarbe, ihrem Körper und der Art, wie sie ihr krauses Haar trug. Das Mädchen war verständlicherweise verängstigt. Es war allgemein bekannt, dass Ronnie einen Hund erschossen hatte, weil dieser in seinen Garten geschissen hatte, und dass er das und mehr jedem Schwarzen androhte, der sich der windschiefen Hütte, die er sein Zuhause nannte, auch nur näherte. In der Highschool hatte er andere Jungs verprügelt, auf Farmen im Besitz von Schwarzen mutwillig Schaden angerichtet, indem er Feldfrüchte herausgerissen und Zäune umgeworfen hatte, und war einmal dafür verhaftet worden, dass er in einer afrikanisch-methodistischen Episkopalkirche im benachbarten Camilla, Darrens Heimatort, Feuer gelegt hatte. Ronnie war wie ein Hydrant gebaut, klein, mit breitem Oberkörper und einem spitz zulaufenden Schädel mit dünner werdendem Haar, das er unter Bandanas verbarg. Mack war ein siebzig Jahre alter Schwarzer, der sich noch an den Klan erinnerte, daran, wie er sich hinter seinem Daddy, der eine Schrotflinte trug, versteckt hatte, an die Angst vor nächtlichen Überfällen und Geschichten von Klansmännern, die aus Ortschaften wie Goodrich und Shepherd heraufgeritten waren. Doch es war das Jahr 2016, und Rutherford McMillan wollte sich das nicht mehr gefallen lassen.
»Das ist richtig«, sagte Vaughn. »Ein Krimineller und, wie Sie sagen, bekannter weißer Suprematist hat den Angeklagten bedroht …«
»Ich weiß nicht genau, ob Ronnie ihn bedroht hat.« Er blickte zur ersten Reihe der Geschworenen, vier Männern und zwei Frauen, alle weiß. »Doch er hatte jedes Recht, sein Grundstück zu verteidigen«, sagte Darren. Zwei der weißen Geschworenen nickten.
Es gab Grundschüler in Texas, die die Castle-Doktrin, das »Stand-your-ground«-Gesetz des Staates, genauso rezitieren konnten wie den Fahneneid.
Das mit Mack war ein Fall wie aus dem Lehrbuch.
Ronnie Malvo hatte im Schutz der Dunkelheit Macks Grundstücksgrenze überschritten, indem er in einem brandneuen Dodge Charger, aufgemotzt mit zwanzig Zoll hohen Reifen und wahrscheinlich mit Drogengeldern bezahlt, in seine Auffahrt gefahren war. Er hatte bei ausgeschalteten Scheinwerfern den Motor angelassen, und warme Abgase waren aus dem doppelten Auspuffrohr über die Wipfel der Kiefern aufgestiegen, die Macks Stückchen Land am Rand von San Jacinto County säumten. Der nächste Nachbar war mindestens eine Viertelmeile entfernt und nur über einen einspurigen Feldweg erreichbar, der an Macks Haus vorbeiführte.
Breanna, die allein zu Hause war, war auf die Veranda des Schindelhäuschens getreten, in dem sie mit Mack lebte, und hatte versucht zu erkennen, wer da im Dunkeln saß und das Haus beobachtete. Als sie den Dodge mit Ronnie Malvos Silhouette auf dem Vordersitz erkannte, schrie sie auf und ließ ihr Handy fallen, woraufhin dessen Glasabdeckung zerbrach. Sie rannte hinein, verriegelte die Tür und rief ihren Großvater vom Küchentelefon aus an. Aus dem alten Ford Pick-up hatte Mack dann Darren angerufen, während er von einem Job im nahe gelegenen Wolf Creek nach Hause gerast war. Als Mack in die Auffahrt einbog, versperrte er Ronnie Malvos Wagen den Weg.
Mack brüllte Breanna zu, ihm seine Pistole aus dem Haus zu holen. Sekunden später war sie mit einem kurzläufigen 38er Revolver zurückgekehrt. Mack wusste nicht, ob Ronnie bewaffnet war. Doch der schnellste Weg es herauszufinden, war mit Sicherheit, dem anderen eine Waffe unter die Nase zu halten.
Bei Darrens Ankunft hatten sich die Männer bereits in einer Pattsituation befunden.
Er war mit ausgeschalteten Scheinwerfern auf Macks Grundstück zugerollt und hatte seinen Truck auf der FM 946, einer Farm-to-Market-Street, unter den Zweigen einer großen Eiche geparkt. Nachdem er leise die unbefestigte, mit Schotter bedeckte Auffahrt hinaufgegangen war, wurde Darren mit folgender Situation konfrontiert: Mack, der zwischen dem Gerümpel in seinem Garten stand, hielt Ronnie eine Pistole an den Kopf, während dieser schwor, dass er nur mit dem Mädchen habe reden wollen, und sagte: »Aber ich steh hier nicht einfach rum und lass mich von dem Nigger kaltmachen.« Er hatte eine 357er auf Macks Brust gerichtet, eine Waffe mit mehr Feuerkraft als der 45er Colt, den Darren aus seinem Holster zog. Ronnie schien die Idieotie der Situation wütend zu machen. Der »Nigger mit Baumwolle im Kopf« müsste erst mal seinen verdammten Truck wegfahren, wenn er so dringend wollte, dass er, Ronnie, von seinem Grundstück verschwand. Mack befahl Ronnie, seinen »bigotten weißen Arsch« zuerst in seinen Dodge zu befördern. Speichel spritzte, Gesichter glänzten vor Wut.
»Nimm die Waffe runter, Malvo«, sagte Darren. »Lasst uns die Sache friedlich regeln.«
»Erzähl das dem Nigger«, sagte Ronnie und nickte in Richtung Mack.
»Mit welchem Nigger redest du gerade, Ronnie?«, fragte Darren. »Und bevor du antwortest, denk daran, dass einer der Nigger ein Texas Ranger ist, der wegen dem Zirkus hier sein Bett verlassen hat. Strapaziere also nicht meine Geduld.« Im Colt spiegelte sich das Licht der Verandalampe. Einen Augenblick lang wirkte Ronnie in die Enge getrieben und ängstlich, doch Darren wusste, dass das nicht unbedingt gut war. Ronnie begann zu zucken. Angesichts der beiden Waffen, die auf seinen Kopf gerichtet waren, zitterte er in seinen Bikerstiefeln, nachdem er zu spät erkannt hatte, dass er es zu weit getrieben und sich, nachdem er auf Widerstand gestoßen war, zum Narren gemacht hatte. Das mit dem Stolz war eine teuflische Sache, und Darren wusste, dass so mancher schon wegen viel weniger erschossen worden war.
Er änderte rasch seine Taktik.
»Mack, lass die Waffe fallen«, sagte Darren. Von den beiden war es wohl eher Mack, den man zur Vernunft bringen konnte. Doch weit gefehlt.
»Den Teufel werd’ ich«, sagte der.
»Ich übernehme das, Mack.«
»Ich will keinen Ärger, Mann«, sagte Ronnie.
Darren konnte hören, wie Breanna auf der Veranda weinte.
»Ich will, dass das Arschloch von meinem Grundstück verschwindet«, sagte Mack.
»Nimm die Waffe runter, Mack. Das ist es nicht wert.«
»Ich habe jedes Recht, mein Grundstück zu verteidigen.«
»Ja, aber mit jeder Minute, die du diese Pistole auf ihn richtest, manövrierst du uns tiefer in eine Situation hinein, aus der ich dich nicht mehr rausbringe. Hör mir zu, Mack. Lass nicht zu, dass du wegen ihm ins Gefängnis kommst. Ich kriege ihn wegen unerlaubten Betretens dran, wenn du die Waffe runternimmst, okay?«
»Kümmre dich nicht darum«, sagte Mack, und seine wässrigen Augen glänzten. »Ich will, dass er entweder verschwindet oder stirbt, nichts dazwischen.«
»Fahren Sie den Truck weg, und ich verschwinde«, sagte Ronnie. »Ich hab nur das Mädchen ein bisschen angemacht. Die kann froh sein, wenn überhaupt einer ihren Affenarsch anschaut.«
»Wirf Bre deine Schlüssel rüber, Mack«, sagte Darren. Der alte Mann tat, wie ihm geheißen, doch er ließ die Pistole nicht sinken, die in seiner großen Hand wie ein Spielzeug aussah. Darren forderte Breanna auf, in Macks Ford zu steigen und ihn auf die Straße zu fahren, um Ronnie Malvo Platz zu machen, damit er die Auffahrt und damit das Grundstück verlassen konnte.
Inzwischen war Mack den Tränen nahe und Speichel sammelte sich in seinen Mundwinkeln, während er hervorpresste: »Der hat kein Recht, auf meinen Grund und Boden zu kommen und sich an mein kleines Mädchen ranzumachen. Ich muss mir von so ’nem weißen Pisser nichts gefallen lassen.«
Darren spürte, wie sich Macks Atemzüge in ein Schnauben verwandelten. Er dachte, sie hätten nur noch Sekunden, bis der alte Mann seiner Wut, die jeden Muskel seines sehnigen Körpers durchzuckte, freien Lauf ließe. »Fahr sofort den Truck weg!«
Als Breanna von der Veranda zu Macks Ford stürzte, nutzte Darren die Ablenkung, um Mack außer Gefecht zu setzen. Er griff nach seinem rechten Handgelenk und drückte es mit einer Bewegung herunter, wobei er den Colt auf Ronnie gerichtet hielt. Mack fluchte, gab dann aber nach und sank ins Gras. Ronnie nahm augenblicklich seine Waffe herunter. Er warf sie durch das offene Seitenfenster in seinen Dodge und sprang auf den Fahrersitz, als wäre ihm der Teufel auf den Fersen.
Darren krönte seine Aussage, indem er die Castle-Doktrin zitierte.
Vaughn nahm eine drohende Haltung ein. »Ich bin hier für das Gesetz verantwortlich, Mr. Mathews.«
»Es heißt Ranger Mathews.«
»Tatsache ist, Ranger Mathews, dass – anstatt die 911 zu wählen – der Angeklagte sich entschloss, einen Ranger anzurufen, den er kennt, einen afroamerikanischen Kumpel, der auf jeden Fall den Zorn, den der Vorfall auslöste, verstehen würde …«
»Einspruch.« Diesmal sagte Darren es laut.
Vaughn blickte ihn vom Podium aus wütend an und umklammerte dessen Brüstung so fest, dass seine Fingerknöchel weiß wurden. »Mr. Mathews …«
»Ich bin ein Texas Ranger, Counselor.«
»Dann verhalten Sie sich entsprechend.«
Sobald er das ausgesprochen hatte, wusste Vaughn, dass er zu weit gegangen war. Die zwei Frauen in der vorderen Geschworenenbank schüttelten den Kopf, so redete man nicht mit einem Mitglied der meistgeachteten Strafverfolgungsbehörde im Staat. Einer der beiden Schwarzen in der zweiten Reihe verschränkte ostentativ die Arme und schob einen Zahnstocher, der direkt auf den Bezirksstaatsanwalt gerichtet war, wie einen kleinen Dolch von einem Mundwinkel zum anderen.
»Fragen Sie etwas anderes«, sagte Darren, seinen Vorteil nutzend.
»Ist Mr. Malvo an jenem Abend aus freien Stücken gegangen?«
»Ja. Malvo hat seine Waffe in sein Fahrzeug geworfen und sich davongemacht.«
Zwei Tage später, nachdem man Ronnie in einem Graben, der in der Nähe seiner Bretterhütte verlief, mit zwei Kugeln einer 38er in der Brust gefunden hatte, war es Darrens Bericht gewesen, weshalb Mack auf der Liste der Verdächtigen gelandet war. Er fühlte sich für den ganzen Schlamassel verantwortlich. Hundertmal am Tag wünschte er sich, er wäre in der Nacht nicht dort aufgetaucht, hätte den Bericht nie geschrieben. Er hatte sogar gezögert, hatte die Seiten nach dem Ausdrucken kritisch betrachtet, wohl wissend, dass allein die Erwähnung von Macks Namen in dem Bericht, egal ob Opfer oder nicht, eine Tür öffnete, durch die Mack vielleicht nie mehr zurückkehren würde, wenn er einmal hindurchgegangen war. Sobald ein schwarzes Leben mit Kriminalität in Berührung kam, war das ein schwer zu beseitigender Makel. Doch Darren war ein Cop, weshalb er seiner Pflicht nachkam. Er hatte sich an die Regeln gehalten, was sie alle hierher gebracht hatte – vor eine Grand Jury, die darüber entschied, ob Mack des Mordes angeklagt werden sollte. Falls ja, würde er vor Gericht gestellt, ein Mann um die siebzig, der sein Leben lang nichts anderes getan hatte, als zu arbeiten und seine Familie zu lieben. Falls er verurteilt würde, drohte ihm die Todesstrafe.
In Wahrheit gehörte Ronnie Malvo zu einer der gewalttätigsten Gangs der amerikanischen Geschichte, Leute, die ihre eigenen Anhänger kaltblütig umbrachten, vor allem diejenigen, die sie im Verdacht hatten, dass sie von ihnen verraten wurden. Darren hatte von einem Captain der Arischen Bruderschaft von Texas gehört, der einen besonders grausamen Mord an einem der Handlanger verübt haben sollte, der verdächtigt wurde, mit den Cops geredet zu haben. Sie fanden den neunzehn Jahre alten angeblichen Spitzel am Zaun auf einer Weizenfarm in Liberty County an dem bisschen Fleisch aufgeknüpft, das er noch auf den Knochen hatte. Jeder hätte Ronnie Malvo töten können, der tatsächlich ein krimineller Informant der Bundesregierung gewesen war. Darren war – bis auf den Staatsanwalt – der Einzige im Gerichtsaal, der das wusste. Er war in der Ranger-Dienststelle in Houston stationiert, und ein paar Monate vor dem Mord an Malvo hatte er sich darum bemüht, einer behördenübergreifenden Einheit zugeteilt zu werden, die gemeinsam mit den Feds gegen die Arische Bruderschaft von Texas, kurz ABT genannt, ermittelte. Natürlich war es ihm nicht erlaubt, auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verlauten zu lassen, doch er wusste, dass die Bruderschaft Gründe gehabt hätte, Ronnie zu beseitigen – falls jemand herausgefunden hatte, dass er plauderte.
»Mr. McMillan war an dem Abend ziemlich aufgebracht, meinen Sie nicht?«
Darren stufte es herab auf »besorgt« und fügte hinzu: »Er schien nicht auf Rache aus zu sein, wenn Sie das meinen.«
»Wir wollen nicht, dass Sie spekulieren.«
»Ich kann nur berichten, was ich gesehen habe, und Mack hat niemanden erschossen.«
Vaughn presste die Lippen aufeinander. Das wich vom Drehbuch ab, und Darren wusste es.
»Ronnie Malvo ist mit einem Revolver vom Kaliber 38 erschossen worden, korrekt?«
»Ich habe die Ermittlungen nicht durchgeführt.«
»Und weshalb nicht?«
»Ich bin nicht damit beauftragt worden«, sagte er beiläufig.
»Lieutenant Fred Wilson meinte, Sie wären zu nah dran, nicht wahr?«
»Ja, Ronnie Malvo wurde mit einer 38er erschossen.« Zumindest das gestand er ihm zu.
»Und an dem Abend, als Sie auf seinem Grundstück waren, haben Sie gesehen, wie Mr. McMillan einen Revolver vom Kaliber 38 auf den Verstorbenen gerichtet hat, korrekt?«
»Den er nicht abgefeuert hat.« Darren rutschte auf seinem Stuhl herum. »Er wollte nur seine Ruhe haben, sich sicher in seinem Zuhause fühlen. Deshalb hat er mich gebeten zu bleiben.«
In dem Moment, als Ronnie mit aufheulendem Motor in einer Wolke aus Staub und spritzendem Schotter von Macks Grundstück geflohen war, hatte sich Darren neben Mack gekniet. Er hatte ihn in zwanzig Jahren nicht ein einziges Mal auch nur schniefen sehen, ganz zu schweigen davon, in aller Öffentlichkeit zu weinen, wie er es an diesem Abend tat, zutiefst erschüttert davon, beinahe einen Menschen getötet zu haben. Darren sagte, dass er Ronnie folgen oder bei ihm und seiner einzigen Angehörigen bleiben könnte.
Leise bat Mack ihn zu bleiben.
Mit der Pistole in der Hand verbrachte Darren schließlich die ganze Nacht auf Macks Veranda und hielt Ausschau nach irgendwelchen Scheinwerfern, die sich dem Haus näherten. Er hielt Wache, bis tiefe, rostrote Morgenwolken aufzogen, die die Erde von Osttexas am Himmel spiegelten. Er hatte in diesem Zipfel des Staates Wache gehalten, damit Rutherford McMillan endlich einmal die ungestörte Nachtruhe hatte, die ihm sein Leben lang versagt geblieben war.
Zwei Tage später wurde Ronnie Malvo tot hinter seinem eigenen Haus gefunden.
»Was mich zu meiner letzten Frage bringt«, sagte Vaughn, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Darren sah, wie er ganz leicht die Mundwinkel hochzog. »Sie waren aber nicht die darauffolgenden achtundvierzig Stunden bei dem Angeklagten, oder?«
»Ich bin am nächsten Morgen nach Hause gefahren. Und dann zur Arbeit gegangen.«
Und zurück zu Lisa, die ihm sagte, er solle das Jurastudium wieder aufnehmen. Denk darüber nach, Darren.
Er wusste, dass es so einfach wäre.
Entscheide dich für ein Leben, das sie versteht, und kehre nach Hause zurück.
»Heißt das nein?«
»Nein, ich war nicht bei ihm.«
»Sie können also nicht wissen, ob Mr. McMillan in diesen achtundvierzig Stunden sein Zuhause mit derselben Waffe verlassen und Mr. Malvo damit getötet hat?«
»Nein«, sagte Darren. Schweiß rann ihm auf der rechten Seite seines Körpers herunter. Er machte sich Sorgen, dass man es durch das Hemd hindurch sehen konnte, ebenso wie er befürchtete, Mack gerade zum Tode verurteilt zu haben.
»Die Waffe ist immer noch nicht aufgetaucht.«
»Weshalb sie keinen Fall haben«, sagte Greg am Telefon.
»Glaubst du wirklich, die guten Menschen von San Jacinto County scheren sich um die Bedingungen für einen Indizienprozess?«, fragte Darren und kippte den Rest der Big-Red-Limonade hinunter, die er sich bei Kay’s Kountry Kitchen gegenüber vom Bezirksgericht geholt hatte, wobei er heute den diskriminierenden Gebrauch des Buchstaben K ignorierte – ein offenkundiger Akt von Mikroaggression, wie er für Texas typisch war –, denn das Café hatte geöffnet und war in der Nähe, und er musste sich um seine Hand kümmern. Während er trank, achtete er darauf, das Eis im Glas zu lassen und kippte die schmelzenden rosa Klümpchen in ein Stofftaschentuch, das er im Handschuhfach gefunden hatte. Er verknotete die Ränder des Taschentuchs und drückte den selbst gemachten Eisbeutel auf die wunden Knöchel seiner linken Hand. »Ach zum Teufel, die Hälfte von denen wünscht sich wahrscheinlich, sie hätte ihn selbst erschossen. Ronnie Malvo ist das, was man Güteklasse A von weißem Abschaum nennt, und der Hass auf jemanden wie ihn ist so ziemlich das Einzige, was in dieser ach so politisch korrekten Welt noch gesellschaftsfähig ist …«
»Vielleicht werden sie McMillan ja wie einen Helden behandeln – und ihm eine Anklage ersparen.«
»Von den Leuten hier, die Mack für einen Mörder halten, ist nichts Gutes zu erwarten«, sagte Darren, während er mit dem Rücken an der Fahrertür seines Chevys lehnte. »Für ihn gelten nicht dieselben Regeln, und das weißt du, Greg«, sagte er und sah zu dem kleinen Gemeindeplatz von Coldspring hinüber. Es gab nur eine einzelne Blinkleuchte an der einzigen Kreuzung, in deren Umgebung sich Antiquitätengeschäfte und Kommissionsläden befanden, die alles Mögliche führten, von alten Waffen über gebrauchte Kinderbetten bis hin zu rostigen Lone Star-Blechschildern, die auf Holzveranden standen. Ins San Jacinto County kam nie etwas Neues. Die Wirtschaft dort beruhte auf Resteverwertung.
»Die Feds versuchen lediglich, ihre Ermittlungen zu schützen«, sagte Darren.
Agent Greg Heglund, derzeit bei der Außenstelle der Criminal Investigation Division des FBI in Houston stationiert, seufzte in gespielter Verärgerung. Sie hatten sich vor Jahren in ebendieser Stadt kennengelernt, nachdem Darrens Onkel Clayton ihm einen Platz in einer privaten Highschool in Houston verschafft hatte, weil er, was seinen Neffen betraf, nichts in San Jacinto County für gut genug befand. Lisa und Greg waren die ersten Freunde gewesen, die Darren an der Schule gefunden hatte, wo er später auch seinen Abschluss machte. Alle drei hatten sie einen Beruf ergriffen, der mit der Justiz zu tun hatte, und er und Greg waren all die Jahre in Kontakt geblieben.
Greg war ein Weißer, der die meiste Zeit seines Lebens mit Schwarzen verbracht hatte – mit ihnen Basketball gespielt und schwarze Mädchen gedatet hatte, Step Shows anstelle des Two-Step bevorzugte, das ganze Paket. All das hörte natürlich in dem Moment auf, als er beim FBI anfing und seine Jordans gegen Johnston & Murphys eintauschte. Doch Darren machte ihm keinen Vorwurf daraus. Wenn auch nur durch Osmose, hatte er Greg in der Kunst des Code-Switching unterwiesen. Für Darren war das ein netter Zeitvertreib, in dem jeder Schwarze geschult sein sollte. Neben Basketball war das ihr eigentlicher Trumpf. Bei geselligen Zusammenkünften der Ranger hatte Darren eine Liebe zu Vince Gill oder Kenny Chesney vorgegeben, die er nicht empfand, und hatte sich mit Lisa dazu auf der Tanzfläche gedreht. Er konnte Johnny Cash und Hank Williams ertragen, die klassische Countrymusik, mit der er großgeworden war – am liebsten war ihm Charley Pride –, doch Blues war das wahre Erbe eines schwarzen Texaners. Er hatte Greg Sachen von Clarence »Gatemouth« Brown und Freddie King vorgespielt, lange bevor einer von ihnen von Jay Z oder Sean Combs gehört hatte. Entscheidend war, dass sich Darren vor Greg nicht verstellen musste, nie. Und so hielten sie es auch seit jeher.
Greg gehörte nicht zu der Einheit, die die Arische Bruderschaft von Texas unter die Lupe nahm und deren Aktivitäten innerhalb und außerhalb der staatlichen Justizvollzugsanstalten genau überwachte – einschließlich des Verkaufs von Methamphetamin und automatischen Handfeuerwaffen, der zahlreichen Morde und Verabredungen zu Straftaten –, doch er war über die Ermittlungen im Bilde. Ronnie Malvo war vor ein paar Monaten als Kronzeuge aufgetreten, um seiner eigenen Verurteilung zu entgehen, indem er zu gegebener Zeit aussagen würde. Er hielt in seinen tätowierten Händen genügend Beweise, um mehrere Captains der ABT ans Messer zu liefern. Falls irgendjemand innerhalb der Bruderschaft Wind von seinen Plänen bekommen hatte, war Ronnie Malvo schon so gut wie tot gewesen, auf die eine oder andere Weise. Diese Einschätzung hatte Darren in den letzten Wochen schon öfter geäußert. »Die Sache stinkt gewaltig nach ABT.«
Greg argumentierte dagegen. »Zwei saubere Schusswunden und kein Gemetzel? Das ist nicht gerade ihr Markenzeichen.« Er mahnte Darren, sich nicht in etwas zu verrennen, daran zu denken, was es ihn kosten könnte, sich hinter Mack zu stellen.
»Das ist so unsinnig wie die Vorstellung, dass Mack es getan hat, nur weil er eine 38er besitzt.«
»Eine 38er, die verschwunden ist.«