H. Loof
kleine Ewigkeit
Verlust der Leichtigkeit
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort
Prolog
Flucht und andere Unannehmlichkeiten
Erstes Zwischenspiel
Wer suchet der findet
Schlangentage
Zweites Zwischenspiel
Gute Freunde
Ein neuer Anfang
Der Fluss des Lebens
Festlichkeit
Der neue Auftrag
Drittes Zwischenspiel
Liebe und Leid
Leben und sterben lassen
Des einen Glück, des andern Leid
Todesengel
Lebenszyklus
Epilog
Namensverzeichnis
Orte
Begriffserklärung
Impressum neobooks
Die Idee zu dieser Geschichte ist während einer Zugreise entstanden. Wie so häufig hatte mein Zug Verspätung und ich verpasster den Anschlusszug in Göttingen. Eine mehr als 2 stündige Wartezeit stand mir bevor und ich hatte nur ein Buch dabei, das mich zutiefst langweilte. Weil ich einfach nichts Besseres zu tun hatte, fing ich an eine eigene Geschichte aufzuschreiben. Eine Geschichte, wie ich sie gerne lesen würde, fantastisch und doch nicht komplett irreal. Den ersten Teil der Geschichte (kleine Ewigkeit, Verlust der Unschuld) hatte ich schon vor längerer Zeit veröffentlicht. Allerdings war das nur die halbe Story. Nun endlich habe ich auch die andere Hälfte aufgeschrieben.
An dieser Stelle möchte ich meiner Tochter danken, die sich als Probeleser zur Verfügung gestellt hatte und dieses wunderschöne Cover kreierte.
Allen Lesern wünsche ich eine interessante Zeit bei der Lektüre des Buchs.
Es war ein wirklich heißer Sommertag. Die sengende Hitze trieb die meisten Menschen in ihre Häuser. Nur vereinzelnd waren Personen unterwegs. Arvin stand am Rande der Straße und wischte sich mit einem weißen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Wieder einmal machte er sich Gedanken über die Vergangenheit. Damals hatte niemand mehr Stofftaschentücher. Es gab eigentlich ausschließlich Papiertaschentücher. Nur heute war Papier zu einem kostbaren Gut geworden und keiner würde es für so etwas Profanes wie ein Taschentuch verwenden.
„Herr Müller, sind sie soweit?“
Die Frage riss ihn aus seinen Überlegungen. Mit einem Kopfnicken bejahte er sie und machte sich daran, die Kutsche zu besteigen. Es erzeugte ein komisches Gefühl bei ihm, mit dem Nachnamen angesprochen zu werden. Nur selten wurden noch die vollen Namen verwendet. Zu wenige hatten den großen Krieg überlebt, als dass es sich noch lohnen würde. Mit ganzen Namen hieß er Arvin Bertram Müller. Das interessierte aber im Grunde keinen mehr.
Die Kutsche setzte sich ruckartig in Bewegung und der Kutscher lenkte sie auf die staubige Straße Richtung Enklave. Es war eine der wenigen Kutschen die von echten Pferden gezogen wurden. Die Tiere hatten die Verkleinerung nicht so gut überstanden und konnten sich einfach nur schlecht mit der neuen Größe arrangieren. Daher gab es nur wenige Tiere und es wurden auch nur wenige Neue geboren. Ratten waren die neuen Pferde in dieser Welt. Allerdings lebten sie nicht so lange und waren auch viel schwerer zu bändigen. Dafür vermehrten sie sich schnell. Vor ein paar Jahren gab es auch noch richtige Autos, die von einem Elektromotor betrieben wurden. In der Technik kannte sich aber niemand wirklich aus und die notwendigen Batterien konnten einfach nicht mehr hergestellt werden. So stand nun das letzte Auto in einer kleinen Halle und rostete vor sich hin.
Sie passierten die Stadttore und Arvin warf einen Blick zurück. Neu Braunschweig war immer noch eine schöne Stadt. Sie hatte den Krieg fast unbeschadet überstanden. Überhaupt hatte die Gegend wenig abbekommen, so dass die tödliche radioaktive Strahlung kaum erhöht war. Im Osten herrschte eine so hohe Strahlung, dass selbst ein Jungmensch daran starb. Berlin und die ganze Umgebung waren eines der Hauptziele in dem großen Krieg gewesen. Die anderen Himmelsrichtungen sahen wahrscheinlich ähnlich aus. Er wusste zwar nichts Konkretes, aber ihm war niemand bekannt, der jemals von weit her angereist war.
Nun saß er also hier in dieser Kutsche in einer Art postapokalyptischen Welt und war auf den Weg zu dem Lager, in dem die Kinder wohnten. Wobei, es handelte sich dabei nicht um kleine Kinder, sondern die Menschen die nach dem großen Krieg geboren wurden und dieser lag immerhin schon mehr als 40 Jahre zurück. Die Leute in Neu Braunschweig wollten mit ihnen am liebsten nichts zu tun haben. Sie waren anders. Fast alle hatten nicht die Gabe der ewigen Jugend und damit auch nicht die Krankheitsresistenz geerbt. Es schmerzte, wenn man mitansehen musste, wie seine eigenen Kinder älter und kränker wurden und langsam starben, während man selber bester Gesundheit war. So hat man schließlich vor gut 10 Jahren jeden, der nicht im Besitz der ewigen Jugend war, aus der Stadt entfernt und ihnen ein Lager gebaut. Auch in den umliegenden Städten wurde die Praxis übernommen. So musste sich die Bevölkerung nicht mit den unangenehmen Tatsachen beschäftigen.
Nur ein paar Leute hielten den Kontakt aufrecht. Arvin war einer von ihnen und war der Meinung, dass hier ein großer Fehler gemacht wurde. Jedes Mal, wenn er das Lager inspizierte, schlug ihm mehr Ablehnung und in letzter Zeit sogar Hass entgegen. Er konnte es den Bewohnern auch nicht wirklich verübeln. Sie waren Ausgestoßene. Verstoßen und vergessen von ihren Eltern. Wer würde da nicht wütend werden?
Die Menschheit hatte so viele Fehler begangen, aber nichts daraus gelernt. Vor dem großen Krieg, nachdem man endlich das Problem der Überbevölkerung und des Hungers erfolgreich beseitigt hatte, in dem die gesamte Menschheit und die großen Tiere auf ein Fünftel der ursprünglichen Größe geschrumpft wurden und dabei sogar das Altern besiegt hatte, sah es für eine kurze Zeit so aus, als ob jetzt alle in Frieden leben konnten. Aber das war ein gewaltiger Trugschluss. Arvin fragte sich manchmal, ob es nicht möglich gewesen wäre, die menschliche Natur gleich mit zu verändern. Aber das hatte man nicht und nun war die Menschheit wieder ziemlich am Anfang angelangt. Mit Sehnsucht dachte er daran zurück, wie einfach es gewesen war, auf Informationen zuzugreifen. Man musste einfach nur im Netz suchen. Es war alles elektronisch gespeichert und für jedermann leicht einzusehen. Nur war das auch das eigentliche Verhängnis gewesen. Der Krieg hatte nicht nur Städte und Menschen zerstört. Er hatte auch das Netz zerstört und ohne dieses Onlinewissen gab es keinen mehr, der die Technik reparieren oder in den Fabriken die Abläufe steuern konnte. Der Niedergang nach dem Krieg ging stetig voran und Arvin fragte sich, auf welcher Stufe sie wohl landen würden und ob es überhaupt wieder ein Zurück zur alten Größe der Menschheit gab.
Hätte man doch bloß noch echte Bücher aus Papier gehabt, dachte Arvin schwermütig.
Der Weg zu dem Lager war fast geschafft und Arvin konzentrierte sich wieder auf seine eigentliche Aufgabe. Er sollte das Lager inspizieren und dabei die Missstände aufschreiben. Nur würde es nichts helfen. Niemand aus der Stadtverwaltung würde auch nur den kleinen Finger rühren, um Abhilfe zu schaffen. Schon die ersten Häuser, an denen sie vorbeikamen, machten einen desolaten Eindruck. Das Lager bestand nur aus einer großen Anzahl schnell zusammengezimmerten Baracken. Es gab keinen Wall oder Zaun, um wenigstens etwas Schutz vor den wilden Tieren zu gewährleisten. Und leider existierten wirklich ein paar Tiere, die den Menschen gefährlich werden konnten, da bei der Verkleinerung nicht alle Tiere mitberücksichtigt wurden. Überhaupt war es eine Schande, wie die Menschen hier leben mussten. Nicht mal fließend Wasser gab es und natürlich auch keine sanitären Anlagen. Abgerissene, dreckige Gestalten beobachteten die Kutsche auf dem Weg zum großen Platz. Der Kutscher fuhr langsam und Arvin schaute sich intensiv um. Im Grunde hatte sich nichts geändert, seit seinem letzten Besuch und trotzdem hatte er das Gefühl, als ob es diesmal anders war. Er wusste nicht warum und konnte es einfach nicht an irgendetwas Speziellem festmachen. Ein mulmiges Gefühl breitete sich immer weiter in Arvin aus und es bildete sich ein großer Kloß im Hals.
Endlich hatte die Kutsche ihr Ziel erreicht und Arvin stieg aus. Er wurde schon von einigen Personen erwartet, die vor dem einzigen, etwas besseren Haus in diesem Lager standen. Arvin streckte sich noch mal und wischte sich wieder mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, bevor er auf die Gruppe zuging. In den Gesichtern konnte er Ablehnung und sogar unverhohlenen Hass lesen. Das mulmige Gefühl verstärkte sich und Arvin versuchte den immer größer werdenden Kloß herunterzuschlucken, was ihm nicht gelang.
„Seid gegrüßt. Ich bin gekommen, um nachzusehen, was ihr benötigt?“, begrüßte er die Menschen.
„Warum? Ihr helft uns doch sowieso nicht. Warum kommst Du überhaupt noch hierher?“, kam die Gegenfrage aus der Gruppe.
„Auch bei uns wird es immer schwieriger. Wir tun was wir können.“, versuchte Arvin den Frager zu beschwichtigen.
Dabei wusste er, dass es eine Lüge war. Aber was sollte er den armen Menschen sonst sagen? Er konnte ihnen doch nicht erzählen, dass in Neu Braunschweig genug leere Häuser standen, um fast alle aus diesem Lager aufzunehmen. Nur wollte das niemand. Keiner wollte alte oder kranke Menschen um sich herumhaben. Man wollte einfach nicht an diese unangenehmen Dinge erinnert werden und lieber unter sich bleiben. Es gab sogar Stimmen, die vorschlugen das Lager zu zerstören und die Nicht-Jungmenschen fortzujagen, damit sie auch nicht in der Nähe von Neu Braunschweig verweilten.
„Ihr tut was ihr könnt? Ihr sitzt gemütlich hinter eurer großen Mauer und wir interessieren Euch einen Scheißdreck.“, rief eine verhältnismäßig junge Frau.
Zustimmendes Gemurmel, kam aus der Gruppe und die Stimmung wurde noch feindseliger.
„So ist das nicht. Auch wir haben unsere Probleme.“, versuchte Arvin weiter zu beschwichtigen.
„Eure Probleme! Ihr wisst doch gar nicht was Probleme sind! Heute sind 5 Menschen gestorben. Zwei von wilden Tieren zerrissen und drei, weil wir in diesem Dreck einfach krank werden.“
Es war ein großer Mann, den Arvin nicht kannte, der jetzt direkt vor ihm stand und ihn böse anschaute. Arvin kannte so gut wie alle Menschen im Lager und ein Mann der alle anderen überragte, hätte er in den Jahren nie übersehen können. Er musste von Außerhalb kommen. Als Arvin jetzt die Gruppe intensiver musterte, konnte er nur ein bekanntes Gesicht sehen. Die Erkenntnis traf Arvin hart. Er hätte nie gedacht, dass die Lagerbewohner Kontakt zu anderen, außer ihm hätten.
„Ich versuche Euch zu helfen! Nennt mir Eure Sorgen und Probleme und ich verspreche Euch, ich werde sie dem Rat vortragen!“, als Arvin das sagte, blickte er starr auf den Hünen und machte einen Schritt rückwärts.
Der Mann verzog sein Gesicht zu einem höhnischen Grinsen.
„Das glaube ich Dir sogar. Du gehst zurück zu Deinen Leuten und dann erzählst Du ihnen von uns. Und was passiert dann? Interessiert sie das überhaupt oder machen sie sogar ein paar Witze über die Untermenschen im Lager?“
Das Gesicht von dem Riesen verfärbte sich langsam rot vor Wut.
„So ist das nicht!“, stammelte Arvin und machte noch einen Schritt rückwärts.
Die Situation lief langsam aus dem Ruder und Arvin wollte nur noch schnell in die Kutsche steigen und zurück in die Stadt fahren.
„Ach wirklich? Es ist doch überall das Gleiche. Auch in Wolfengart hatten sie uns einfach wie Dreck behandelt. Das haben sie inzwischen bereut. Und hier? Hier ist es genauso!“
„Ihr stammt aus Wolfengart? Was habt ihr gemacht?“, fragte Arvin nun schon ängstlich nach.
„Wir haben uns das genommen, was uns zusteht und genau das Gleiche werden wir auch hier machen.“, während der Riese das sagte, zog er ein langes Messer aus dem Gürtel.
Arvin starrte wie hypnotisiert auf das Messer in der Hand seines Gegenübers.
„Das könnt ihr nicht machen. Wir sind doch alle Menschen!“, versuchte Arvin noch einmal die Leute zu beruhigen.
Plötzlich spürte er einen grausamen Schmerz im Bauch. Er schaute runter. In seinem Bauch steckte das Messer. Immer noch gehalten von der Pranke des Riesen. Als er wieder aufschaute und in die Augen seines Gegenübers blickte, konnte er nur abgrundtiefen Hass darin erblicken.
„Wir werden jetzt nach Neu Braunschweig ziehen und alle Jungmenschen töten.“, dabei drehte er das Messer etwas, so dass eine erneute Schmerzwelle durch Arvins Körper wogte.
„Und Du kannst mir eins glauben. Dein Tod hier ist nichts im Vergleich dazu, was wir den Einwohnern der Stadt antun werden.“
Das Messer wurde wieder herausgezogen und Arvin sackte zu Boden und blieb einfach liegen. Er hatte nicht mehr die Kraft sich zu bewegen. Das Blut lief aus der Wunde auf die staubige Straße und sickerte langsam in den Boden. Nur am Rande bekam er noch mit, wie der Kutscher um sein Leben bettelte, bevor er erschlagen wurde.
***
Der Schmerz pochte dumpf durch seinen Körper. Mit Mühe öffnete Arvin ein Auge und musste feststellen, dass tiefe Nacht herrschte. Er lag immer noch an der gleichen Stelle im Dreck. Langsam bewegte er das rechte Bein und sofort überflutete ihn eine starke Schmerzwelle. Zwei Minuten blieb er reglos liegen, bevor er wieder Anstalten machte sich zu bewegen. Diesmal war er auf den Schmerz vorbereitet und schaffte es sogar sich aufzusetzen. Schwer atmend saß er da und begutachtete seine Wunde im Bauch, trotzdem er kaum etwas sehen konnte in der Finsternis. Zumindest stellte er fest, dass die Wunde kaum noch blutete, was wirklich verwunderlich war. Mühsam schleppte sich Arvin zu der Kutsche.
Irgendwie seltsam. Warum haben sie die Kutsche nicht mitgenommen, schoss es ihm durch den Kopf.
Als er es endlich geschafft hatte, bei der Kutsche anzukommen, kletterte er unter größten Anstrengungen darauf. Er schaute noch mal zu dem Leichnam des Kutschers, dessen Name ihm einfach nicht einfallen wollte. Es sah beinahe so aus, als ob der halbe Kopf fehlte. In diesem Moment war Arvin froh, dass die Dunkelheit die grausamen Einzelheiten verbarg. Am Horizont erweckte ein flackernder Lichtschein seine Aufmerksamkeit. Dort lag Neu Braunschweig. In Gedanken fragte er sich, wie viele Bewohner wohl dem wütenden Mob entkommen waren und ob die Stadt jetzt gerade abbrannte. Die Einwohner hatten nicht die geringste Chance gehabt, das war Arvin bewusst. Kaum einer der Jungmenschen hatte eine Waffe und noch weniger konnten damit umgehen.
Wir sind einfach zu träge und dabei auch noch zu selbstgefällig geworden, dachte Arvin bitter.
Eine ganze Weile saß er auf dem Kutschbock, schaute in Richtung Neu Braunschweig und überlegte verzweifelt was er nun tun sollte. Zur Stadt konnte er nicht zurück und scheinbar hatte das gleiche Schicksal auch schon andere Städte ereilt. Er musste einen Platz finden, an dem er seine Verletzung auskurieren konnte. Gab es noch eine Stadt zu der er hinkonnte? Würde er es überhaupt mit seiner Verletzung zu einer entfernten Stadt schaffen?
Er löste die Bremse der Kutsche und gab den noch vorgespannten Pferden zu verstehen, sich in Bewegung zu setzen. Als er sich auf der schlecht ausgebauten Straße langsam von Neu Braunschweig entfernte, hatte er immer noch kein Ziel vor Augen.
Wir sind selbst schuld! Warum können wir nicht einfach nur friedlich miteinander leben?
Der Himmel ließ die weißen Flocken in großer Anzahl zu Boden schweben. Inzwischen war die Schneedecke schon so hoch, dass Amber bis zu den Knien im Schnee einsackte. Mit ihren 33cm würde es auch nur noch ein paar Minuten dauern bis sie ganz in der weißen, grausamen Pracht versinken würde.
Hektisch schaute Amber sich um. Es musste ihr irgendwie gelingen, sich möglichst schnell so etwas wie Schneeschuhe zu bauen oder ihre Flucht und damit ihr Leben würde hier enden.
Ein Licht am Wegesrand ließ auf ein kleines Anwesen schließen. Mühsam stapfte Amber durch den hohen Schnee bis vor die kleine Mauer, die das Gebäude von der Umgebung abgrenzte. Langsam und vorsichtig schlich sie an der Mauer entlang, bis sie schließlich zu einem eisernen Tor kam. Ein kurzer Blick durch die Gitterstäbe zeigte nichts Verdächtiges.
Wer soll auch schon bei so einem Wetter draußen sein?
Das Tor war nicht verschlossen und Amber machte sich daran das Grundstück zu betreten. Sie hoffte im Stillen, dass die Bewohner ihr helfen würden. Falls es sich aber schon herumgesprochen hatte, dass die EINZIG WAHRE KIRCHE eine Frau suchte, würde sie hier wohl eher den Tod finden. Aus einem Fenster viel ein gelbliches Licht, das den Außenbereich vor dem Haus leidlich beleuchtete. Nervös näherte sich Amber der Eingangstür, als ihr Blick zufällig auf ein paar Skier fiel, die an der Wand lehnten. Das konnte ihre Rettung sein. Nach einem kurzen Zögern, schnappte sie sich die Skier und versuchte sie festzuschnallen. Mit ihrer verletzten rechten Hand brauchte Amber einige Anläufe bis die Skier sicher an ihren Stiefeln befestigt waren. Noch ein kurzer Blick in die Runde, ob sie auch niemand bemerkt hatte und sie machte sich auf den Weg.
Wieder auf der Hauptstraße angekommen, waren die Spuren, denen sie gefolgt war, schon fast vollständig vom Schnee bedeckt und kaum noch zu erkennen. Aber vielleicht hatte das auch seine Vorteile. Auch ihre Spuren würden bald nicht mehr vorhanden sein und wohin die Kutsche mit Kerwin als Gefangenen fuhr, gab es keinen Zweifel. Mit neuem Mut machte sich Amber an die Verfolgung und verfiel dabei in einen gleichmäßigen Langlaufstiel den sie ein paar Stunden durchhalten konnte. Mit etwas Glück würde sie die Kutsche bald einholen können. Schließlich war sie mit normalen Rädern unterwegs und hatte bestimmt auch Probleme bei diesem Wetter.
***
Nach gut zwei Stunden auf den Skiern machte sich Amber langsam Sorgen, ob sie wirklich auf dem richtigen Weg war. Im Schnee waren keinerlei Spuren zu erkennen. Sie war sich nicht mal mehr wirklich sicher, dass sie noch auf der Hauptstraße war. Aber das waren nicht ihre einzigen Sorgen. Falls sie den Gefangenentransport wirklich erreichen sollte, wusste sie nicht, wie sie es überhaupt schaffen könnte, Kerwin zu befreien. Ihre rechte Hand schmerzte immer noch höllisch und war kaum zu gebrauchen. Außerdem würde sie bestimmt ziemlich erschöpft sein und die halbes Dutzend Wachen waren gut ausgebildete Kämpfer. Nun sie würde wohl improvisieren müssen. Immerhin sorgte die weiße Schneedecke dafür, dass die Landschaft durch das Mondlicht relativ hell erleuchtet war. Das Schneetreiben hatte auch vor kurzem aufgehört und Amber kam nun gut voran. Der Weg führte über eine ebene Fläche leicht bergab. Weit voraus war etwas Dunkles zu erkennen. Aus dieser Entfernung konnte Amber aber nicht erkennen, was es war. Inbrünstig hoffte sie, dass es sich um die Kutsche handelte, denn langsam schwanden ihre Kräfte und es machte sich eine bleierne Schwere in den Gliedern breit. Trotzdem verlangsamte sie ihr Tempo kein bisschen.
Beim Näherkommen konnte sie erkennen, dass es sich tatsächlich um eine Kutsche handelte. Sie lag auf der Seite und war offensichtlich stark beschädigt. Um die Kutsche verstreut konnte sie vier menschliche Körper erkennen. Amber hielt an und schaute sich misstrauisch um.
Was ist hier nur geschehen?
Die Gedanken rasten durch Ambers Hirn. Es sah aus, als ob die Kutsche überfallen worden war. Vorsichtig näherte sie sich dem Gefährt. In dem Mondlicht konnte sie zwar keine Farben erkennen, aber die dunklen Stellen bei den Körpern konnten sich nur um Blutflecke handeln. Ein leises Stöhnen ließ sie aufhorchen und Amber umrundete den umgestürzten Wagen. An der Unterseite lehnte ein verletzter Diener der Kirche und stieß von Zeit zu Zeit dieses leise Stöhnen aus. Als der Kirchenmann Amber erblickte, hustete er noch mal und spuckte dabei Blut, bevor er zu Amber sprach: „Bitte helft mir!“
„Was ist hier geschehen?“, fragte Amber nach, während sie sich ihrer Skier entledigte und zu dem Verletzten herunterbeugte, um den Mann zu begutachten.
Es sah wirklich nicht gut aus. Eine Wunde an der Brust und das gleichzeitige Bluthusten ließ darauf schließen, dass der Kirchendiener eine schwere Verletzung eines Lungenflügels erlitten hatte.
„Wir wurden überfallen. Sie haben hier schon auf uns gewartet, diese Mörder des Schlangenclans.“, röchelte er leise.
Das klang irgendwie seltsam. Amber konnte sich einfach keinen Reim darauf machen.
„Wieso sollte der Schlangenclan einen Gefangentransport der Kirche überfallen? Kerwin hatte doch eigentlich nichts mit ihnen zu schaffen.“, murmelte Amber nachdenklich.
Im gleichen Augenblick merkte sie, dass sie einen schweren Fehler begangen hatte. Der verletzte Kirchenkrieger griff zu seinem Schwert. Amber aber war schneller. Sie zog mit Ihrer Linken ein Messer aus der Tasche und mit einem gezielten Stich in die Kehle des Mannes beendete sie sein Leben.
„Mist, Mist, Mist. Wie kann man nur so dämlich sein?“, schimpfte Amber vor sich hin, während immer noch das warme Blut aus der Halsschlagader rhythmisch auf ihr Handgelenk sprudelte.
Müde stand sie auf und schaute auf den gerade Getöteten. Bedauern konnte sie nicht empfinden. Sie ärgerte sich aber gewaltig über sich selbst. Der Mann hatte bestimmt noch mehr nützliche Informationen besessen und durch ihre unachtsame Äußerung würde sie die nun nicht mehr bekommen.
Eine Untersuchung des Wagens zeigte Ihr, dass von Kerwin keine Spur zu finden war. Vielleicht hatten die Mitglieder des Schlangenclans ihn mitgenommen oder er hatte fliehen können. Zudem hatte sie bisher nur fünf Leichen gesehen. Es hätten aber sechs Kirchendiener hier sein sollen. Etwas ratlos suchte sie weiter nach irgendwelchen Anhaltspunkten. Der Überfall konnte noch nicht länger als eine halbe Stunde her sein. Die Kampfspuren waren nur leicht vom Schnee bedeckt. Richtung Westen meinte sie so etwas wie Spuren im Schnee zu entdecken. Mit angehaltenem Atem probierte Amber, ob sie etwas hören konnte, doch es war einfach nur totenstill. Zweifelnd schnallte sie sich wieder die Skier an und machte sich auf den Weg, den vermeintlichen Spuren zu folgen.
Nach nicht mal einer halben Stunde hatte sie aber endgültig keine Ahnung mehr wohin sie sich wenden sollte. Von den Spuren war wirklich gar nichts mehr zu sehen und die Orientierung hatte sie inzwischen auch verloren. Erschöpft stand sie auf ihre Skistöcker gestützt da und überlegte, was sie nun tun sollte. Hier herumzuirren und zu hoffen dabei zufällig auf Kerwin zu stoßen, war ziemlich aussichtslos. Nach kurzer Überlegung kam sie zu dem Schluss, dass nur die Leute vom Schlangenclan ihr helfen konnten Kerwin zu finden. Wahrscheinlich war Kerwin sogar von diesen Leuten entführt oder sogar getötet worden. Wobei, sie hatte keine Leiche gefunden.
Also entführt!, dachte sie hoffnungsvoll.
Die Lage hatte sich damit aber noch weiter verschlechtert. Nun hatte sie es nicht nur mit 6 kampferprobten Männern zu tun, sondern gleich mit einem ganzen kriegerischen Stamm. Zudem wusste sie nicht mal, wo sie nach diesem Clan suchen sollte. Für eine kurze Zeit übermannte sie die Verzweiflung. Aber der Gedanke, dass sie an dieser Misere schuld war, holte sie wieder aus den destruktiven Gedanken zurück.
„Wenn ich nicht weiß, wo die Kerle zu suchen sind, muss ich eben jemanden finden, der das weiß!“, murmelte sie wütend und machte sich daran wieder den Weg zurück zur Hauptstraße zu nehmen, um ihr dann weiter zu folgen.
Es musste schon nach Mitternacht sein als sie am Rand der Straße dunkel ein kleines Bauerngehöft entdeckte. Leise und vorsichtig nährte sie sich den Gebäuden. Der Gutshof war nicht mal eingezäunt, so dass Amber ohne Behinderung bis zu dem Hof zwischen Scheune und Wohnhaus gelangen konnte. Sie schlich sich zur Scheune und probierte dabei möglichst wenig Spuren zu hinterlassen. Das große Scheunentor stand ein wenig auf und Amber quetschte sich hinein. Es roch nach Stroh und Heu. In dem düsteren Mondlicht, das durch die schmalen Fenster und Ritzen hereinfiel, suchte sich Amber in der hintersten Ecke auf dem Stroh ein Nachtlager. Sie legte sich hin, bedeckte sich etwas mit dem Stroh und rollte sich so gut wie möglich ein, um die Kälte etwas erträglicher zu machen. Sie wollte eigentlich nur etwas ausruhen. In Erinnerung an das Grauen und die Toten des letzten Tages dachte Amber, dass sie nicht einschlafen könnte. Doch die Erschöpfung sorgte für einen schnellen und tiefen Schlaf.
***
Die Beine bewegten sich nur langsam und unter äußerster Anstrengung durch die dunkelrote, fast schon sirupartige Flüssigkeit. Amber versuchte verzweifelt die kleine Tür am Ende des Raumes zu erreichen. Aber das Blut, das ihr bis zu den Knien reichte, schien ein Eigenleben zu führen und sie unbedingt daran hindern zu wollen. Nach einer gefühlten Ewigkeit gelang es ihr endlich doch noch die Tür zu erreichen und sie zu öffnen. Vor ihr stand ein hässlicher Mann, der ihr den Rücken zugewandt hatte und Ambers beide Schwerter in der Hand hielt.
Warum weiß ich, dass er hässlich ist?
Von irgendwoher hörte sie leise eine kleine Mädchenstimme: „Töte ihn, füge ihm Schmerzen zu, räche mich!“
Die Stimme klang verängstigt und traurig. Amber wusste wem sie gehörte und sie sah noch mal das Bild von Galina vor sich, wie sie mit aufgeschlitzter Kehle in ihrem eigenen Blut auf dem Boden lag. Der Blick von Amber wanderte langsam abwärts zu ihrer Hand, in der ein langes Messer lag. Kraftvoll stieß sie immer wieder auf den Mann ein und erwachte.
Der Traum spukte noch durch ihren Kopf als sie blinzelnd die Augen öffnete und feststellte, dass es schon hell war. Die letzte Nacht hatte in ihrem Inneren diesen Nachhall erzeugt, der aber erstaunlicherweise der Realität sehr nahekam. Natürlich war sie nicht durch ein Meer von Blut gewatet. Allerdings stimmte es, dass sie die Wache hinter der Tür brutal getötet hatte und das wohl, weil sie an die Ermordung von Galina dachte.
Vielleicht treffe ich auch noch auf deinen zweiten Mörder, dachte sie traurig und hätte am liebsten vor Wut über die EINZIG WAHRE KIRCHE aufgeschrien.
Müde und zerschlagen grub sich Amber aus dem Stroh aus und als sie endlich wieder den normalen Boden unter den Füßen hatte, legte sie ihre Schwerter beiseite. Ein Bett im Stroh klang zwar immer gut und es hatte sie auch leidlich warmgehalten, allerdings sorgten die Halme in ihrer Kleidung nun für einen Juckreiz, der einen in den Wahnsinn treiben konnte. Nachdem sie Ihre Kleidung so gut es ging von den Strohresten befreit hatte, überlegte sie, wie es jetzt weiter gehen sollte. Sie hatte noch keine Entscheidung fällen können, als Geräusche andeuteten, dass jemand die Scheune betrat. Nervös wartete sie auf den Neuankömmling. In Lumpen und einem viel zu dünnen Mantel betrat ein Kind die Scheune und näherte sich neugierig. Das kleine, etwa 10 Jahre alte Mädchen schaute Amber mit großen Augen an. Trotz ihrer Jugend schien es sofort die Situation zu erfassen.
„Hab keine Angst, ich tue Dir nichts.“, die leise gesprochenen Worte von Amber sollten beruhigen, aber scheinbar war das gar nicht notwendig.
„Ich habe keine Angst, aber Du solltest Dich fürchten.“, kam die gelassene Antwort von dem Kind.
„Draußen sind Gardisten der Kirche und fragen nach einer Frau. Einer bösen Frau.“
„Nein, böse bin ich nicht.“
Das Mädchen musterte sie skeptisch.
„Was ist mit Deiner Hand los?“
Der notdürftige Verband, der um Ambers rechte Hand gewickelt war, sah inzwischen wirklich unansehnlich aus. Das getrocknete Blut hatte sich mit dem Staub der Umgebung zu einer harten schmutzig braungrauen Masse verbunden. Zudem hatte Amber das Gefühl, dass sich die Wunden entzündet hatten. Nur traute sie sich nicht den Verband abzumachen und nachzusehen.
„Ich habe mich nur etwas an der Hand verletzt. Ist nicht weiter schlimm.“
„Sieht aber schlimm aus. Mein Opa hatte sich auch mal an der Hand verletzt. Jetzt ist er tot.“
Na toll. So ein klugscheißendes Kind hat mir gerade noch gefehlt.
Bevor Amber etwas auf die Äußerungen erwidern konnte, unterbrach ein gellender Schrei ihre Unterhaltung.
„Mama, das war Mama!“
Blitzschnell drehte sich das Mädchen um und stürzte aus der Scheune. Amber stand da und verfluchte die Situation. Sie war gerade so überrascht gewesen, dass sie einfach nicht schnell genug hatte eingreifen können, um das Kind zurückzuhalten. Immer noch fluchend griff sie zu ihren Waffen und machte sich daran dem kleinen Mädchen zu folgen. Vorsichtig schaute sie aus dem Scheunentor hinüber zum Bauernhaus. Der Platz zwischen der Scheune und dem Haus war leidlich vom Schnee befreit und an vielen Stellen lugte der braune, hartgefrorene Boden hervor. Keine Person war zu sehen. Es war alles ruhig, nur die Eingangstür vom gegenüberliegenden Haus bewegte sich noch ein wenig. Ein weiterer Schrei, diesmal von dem Mädchen, ließ Amber zusammenzucken. Mit einem splitternden Geräusch zerbarst das Fenster in der oberen Etage und ein kleiner Körper flog aus dem Haus und schlug mit einem dumpfen Knall auf dem harten Boden auf. Schnell rannte Amber über den Hof darauf zu.
Vor ihr lag das kleine Mädchen und rührte sich nicht. Es hatte sich offensichtlich bei dem Sturz das Genick gebrochen. Wütend verstärkte Amber den Griff auf ihre beiden Schwerter noch mehr und spürte den stechenden Schmerz in ihrer verletzten, rechten Hand.
„Warum musstest Du nur einfach so loslaufen?“, flüsterte sie leise und machte sich auf den Weg ins Bauernhaus.
Die Eingangstür führte auf einen dunklen Flur, von dem mehrere Türen abgingen. Am Ende des Flures führte eine Holztreppe in die obere Etage. Von dort drangen ein paar Geräusche zu ihr herüber, als ob jemand Schubladen und Schränke durchsuchte. Leise schlich Amber die Treppe hinauf und setzte dabei ihre Schritte an den äußersten Rand der Stufen, um möglichst keinen Laut zu verursachen. Nur ein einziges Mal knarrte die Treppe verräterisch, allerdings schien dies keiner bemerkt zu haben. Oben angekommen, blieb Amber erst mal stehen, um zu hören, aus welchem Zimmer die Geräusche drangen.
Vorsichtig öffnete sie die angelehnte Tür auf der rechten Seite. Ein Kirchenkrieger der ROTEN GARDE stand mit dem Rücken zu ihr und versperrte ihr die weitere Sicht in den Raum. Mit Wucht stach sie ihr linkes Schwert in den Rücken des Mannes, das es vorne am Bauch wieder austrat und versuchte dann mit ruckartigen Bewegungen noch möglichst viele Organe im Körper zu zerschneiden. Auf den Schmerzensschrei des Kirchenkriegers gab es eine Antwort aus dem Raum und Amber konnte, über den nun zusammengesackten Körper sehen, dass sich noch eine Person im Raum aufhielt. Mit brachialer Gewalt zog sie ihr Schwert wieder heraus und sprang über den sterbenden Mann ins Zimmer. Der andere Gardist hatte inzwischen seine Waffe gezogen und erwartete den Angriff von Amber. Ihr Gegner hatte einen grimmigen Gesichtsausdruck, der aber keinerlei Angst aufwies. Das Schwert in seiner rechten Hand war von minderer Qualität und augenscheinlich schon häufig verwendet worden. Mit einem Hieb ihres rechten Schwertes griff Amber an und als die beiden Klingen aufeinanderprallten, breitete sich eine Welle des Schmerzes aus ihrer verletzten Hand in den rechten Arm aus. Sie wich unwillkürlich zurück und ihr Gegner setzte gleich nach. Er hatte wohl bemerkt, dass Amber Probleme mit ihrer rechten Hand hatte. Den Schwertstreich des Kirchenkriegers parierte Amber mit ihrer Klinge in der Linken, drehte sich um die eigene Achse und hieb mit einem kräftigen Schwinger die Schwerthand ihres Gegners kurz über dem Handgelenk ab. Scheppernd viel die Waffe des Kirchenkriegers auf den Boden. Amber konzentrierte sich aber immer noch auf ihren Gegner und schlug den nun Wehrlosen den noch unverletzten linken Arm kurz unter dem Ellenbogen ab und stach ihm ins rechte Bein. Danach machte sie eine paar Schritte zurück und schaute dem Mann beim langsamen Sterben zu. Es war ein wirklich grässlicher Anblick wie der Verletzte jammerte und verzweifelt versuchte die Blutungen zu stillen, was aber ohne Hände unmöglich war. Selbst das Gegendrücken der Armstümpfe gegen die Wand hatte nur den Erfolg, dass diese immer mehr einem expressionistischen Bild glich. Mit der Zeit wurde der Kirchenkrieger immer schlapper und sackte schließlich mit den Rücken an der Wand zu Boden. Er schaute Amber mit seinen glasigen Augen an, aber kein Laut drang über seine Lippen. Erst als Amber sich ganz sicher war, dass ihr Gegner Tod war, löste sie ihren kalten Blick von der grausigen Szene und verließ den Raum, um sich weiter im Haus umzusehen.
***
Die blauen, leeren Augen aus dem fast rechtwinkelig abgeknickten Kopf des kleinen Mädchens waren gen Himmel gerichtet. Der Sturz aus dem Fenster hatte ihr einen schnellen Tod beschieden. Amber beugte sich über den kleinen Körper und hob das tote Mädchen vorsichtig auf. Der fast schon unterernährte Körper war so leicht, dass Amber das Gewicht kaum spürte. Traurig machte sie sich auf den Weg ins Bauernhaus und legte sie neben ihrer toten Mutter aufs Bett.
Noch lange stand Amber davor und starrte auf die Leichen. Es sah aus, als ob die Beiden friedlich schliefen, nur taten sie es eben nicht und dieser Tatsache war sich Amber nur zu bewusst. Noch nicht einmal die Namen der Beiden kannte sie. Trotzdem Amber schon lange ihren Glauben verloren hatte, sprach sie ein Gebet für sie und fügte in Gedanken noch ein Versprechen hinzu, die Verantwortlichen dafür zu bestrafen. Die beiden Gardisten, die im oberen Stock mit ihrem Blut den Boden rot gefärbt hatten, haben zwar die Taten begangen und mussten schon dafür bezahlen, aber das reichte Amber nicht. Sie hatte den unwiderstehlichen Wunsch, dass auch die Auftraggeber büßen sollen.
Doch bevor Amber sich darauf konzentrieren konnte, musste sie erst mal Kerwin finden und vor allem musste sie überleben. Die beiden Gardisten würden bald vermisst werden und wenn ihre Widersacher die Leichen mit den aufgeschlitzten Leibern finden, würden sie sich denken können, was hier passiert war.
Er hasste dieses Wetter. Schon immer hatte Kilian eine Aversion gegen Kälte und dies war ein Tag der wahrlich kalt war. In dicke Umhänge gehüllt saß er auf dem offenen Schlitten, fror und hoffte, dass die Reise bald zu Ende war. Am Horizont waren die Türme von Steterburg zu sehen, aber der Weg war noch weit und es wird wohl noch bis zum Abend dauern, bis sie endlich ankommen. Der Kutscher kannte Kilian gut und so trieb er die Zugtiere auch bis zum Äußersten an. Aber Ratten hatten mit dem Schnee so ihre Probleme und auch wenn der Kutscher sein Bestes probierte, würden sie dennoch nicht viel früher ankommen.
In der Zwischenzeit grübelte Kilian über die Situation nach. Die Nachricht vom Tod Gideons hatte ihn in Neu Braunschweig erreicht und er als ranghöchster Vertreter der EINZIG WAHREN KIRCHE in dieser Gegend hatte er nun die Aufgabe zu ermitteln, wie es dazu kommen konnte. Es war schon ein paar Monate her, dass er Gideon persönlich getroffen hatte. Zwar gehörten beide zum inneren Kreis der Kirche. Allerdings war Gideon ein Eigenbrötler gewesen, der immer versucht hatte, sich von den anderen fern zu halten. Im Grunde wusste Kilian nicht allzu viel von Gideon, nur die Besessenheit wegen dem legendären „Dunklen Schatten“ ist ihm in Erinnerung geblieben. Immer wenn mal ein Priester der einzig wahren Kirche umkam oder sonst ein Problem auftauchte, wurde es dieser ominösen Gestalt zugeschrieben. Nach der Meinung von Kilian existierte so ein Jungmensch nicht. Das sollte nicht heißen, dass keiner der Kirche feindlich gesinnt war. Aber eine Person, die über Jahrzehnte der Kirche nachstellte und dabei niemals gefasst werden konnte, passte einfach nicht in seine Vorstellungswelt.
Eine Schneeflocke landete auf seiner Nase und begann dort langsam zu schmelzen. Es sollte nicht die Einzige bleiben, denn unmittelbar danach fing es heftig an zu schneien. Fluchend zog Kilian seinen Mantel noch enger und rutschte unwillkürlich im Sitz etwas tiefer. Missmutig schaute er zur Seite und fing an rhythmische Verse aufzusagen, um sich in den Zustand der Meditation zu versetzten. So merkte er die Kälte weit weniger.
***
Es war schon dunkel als der Schlitten mit dem Großinspektor des inneren Kreises endlich die Stadt Steterburg erreichte. Selbst für so einen hohen Besuch wurden bei Dunkelheit die schweren Tore nicht wieder geöffnet. Steifgefroren stieg Kilian vom Schlitten und musste sich durch eine kleine Öffnung zwängen, die für solche Fälle vorgesehen war. Empfangen wurde er von einer Person in einer traditionellen braunen Kutte, die auf einen einfachen Priester oder auch niederen Diener der Kirche schließen ließ.
„Gepriesen sei Gott, dass er sie so schnell in dieser schweren Stunde zu uns geführt hat!“
Die unterwürfige Begrüßung wurde noch untermalt durch den Kniefall des Kuttenträgers. Gelangweilt hielt Kilian seinem Gegenüber die Hand hin, auf dass dieser seinen Ring küssen konnte.
„Bitte folgt mir, Sie werden schon erwartet.“, und mit diesen Worten machte der Diener sich daran Kilian durch die Gassen zu den Unterkünften von Gideon zu führen.
Die Gassen waren zu dieser Stunde menschenleer und Kilian beschlich ein ungutes Gefühl bei den Gedanken, was oder wer in den dunklen Ecken hocken konnte. Die kleine Gruppe aus dem Kirchendiener, Kilian und zwei Leibwachen schritt zügig durch die verlassenen Straßen. Das wenige Licht wurde durch die einzige Fackel erzeugt, die der Diener bei sich trug. Der Schnee ließ die nähere Umgebung trotzdem hell erscheinen. Nur außerhalb des begrenzten Lichtkreises der Fackel war es tiefschwarz und ließ Raum für die wilden Fantasien von Kilian.
Nach kurzer Zeit hatten sie ihr Ziel erreicht. Sie standen vor einer großen roten Tür und der Kuttenträger klopfte kräftig dagegen. Es dauerte nicht lange, bis sich die Tür öffnete und ein weiterer Kirchendiener in brauner Kutte ihn willkommen hieß. Es war offensichtlich, dass Kilian hier schon sehnsüchtig erwartet wurde. Im Inneren angekommen, genoss Kilian erstmal die Wärme, bevor er sich daran macht seinen Mantel abzulegen, um ihn einem Diener zu geben. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit dem Kirchenmenschen zu, der ihn hergeführt hatte.
„Wer kann mir über die Geschehnisse Auskunft geben?“
„Der ehrwürdige Priester Jaap. Er erwartet sie schon im ehemaligen Arbeitszimmer vom Großinspektor Gideon.“
Der Kirchendiener deutete an, dass er ihm folgen sollte und ging auch gleich vorweg.
So schnell geht das. Es ist schon das ehemalige Arbeitszimmer von Gideon und in einer Woche wird es nur noch das Arbeitszimmer sein, dachte Kilian missmutig.
Er fand es wirklich unangenehm daran erinnert zu werden, dass auch sie sterblich waren. Und zum x-ten Mal nahm er sich vor vorsichtig zu sein. Bisher hatte es auch gut geklappt, schließlich war er einer der ältesten Mitglieder des inneren Zirkels und dieser bestand nur aus Jungmenschen. Viele Mitglieder hatte er schon überlebt und dieser letzte Fall zeigte ihm erneut, dass die ewige Jugend nicht unbedingt das ewige Leben hieß.
Der Raum, in den Kilian geführt wurde, war für seine Ansprüche ziemlich kärglich eingerichtet. Immerhin hatten die wenigen Möbelstücke Stil. Neben dem verzierten Stuhl stand der Priester in seiner traditionellen Tracht und wirkte sichtlich nervös. Nach der formellen Begrüßung fing er auch gleich an Kilian von dem Vorgefallenen zu berichten, wie eine Frau zu Gideon geführt wurde und diese dann allein im Zimmer mit ihm den Mord begangen hatte. Kilian selber hörte nur am Rande zu und schaute sich gründlich im Zimmer um. Auf dem Boden gab es einen riesigen und ein paar kleinere Flecken von getrocknetem Blut. Auf dem Tisch lag ein Loyalitätsdolch an dem die Spieße zwar herausragten, der aber trotzdem seine Funktion offensichtlich nicht erfüllt hatte. Kilian kramte ein Taschentuch hervor, um sich nicht die Hände schmutzig zu machen und hob den Dolch an. Dieses kleine, fiese Meisterwerk faszinierte ihn immer wieder. So ein Dolch sah im Ruhezustand wie ein normaler Dolch aus. Erst durch den Druck auf den Griff kamen mehrere Stacheln am Griff herausgeschossen und bohrten sich dann in die Hand. Dieser Loyalitätsdolch war offensichtlich benutzt worden. Der Griff und auch die Spitzen waren blutverschmiert. Gideon musste wohl seiner Mörderin diesen Dolch angeboten haben und diese hatte ihn wahrscheinlich ergriffen und damit Gideon getötet.
Welche unglaubliche Selbstkontrolle muss die Frau besitzen, dachte er anerkennend.