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Übersetzung aus dem Englischen von Sabine Thiele
© Carol Wyer 2016
Titel der englischen Originalausgabe:
»Take a Chance on Me«, Bookouture, London 2016
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Coverabbildung: shutterstock/vareennik; shutterstock/Forgem
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Charlie war sich des dröhnenden Hämmerns in ihren Ohren, das alle Geräusche um sie herum übertönte, nur allzu bewusst. Sie konnte sich nicht bewegen. Selbst wenn die Umstände einen Notaufstieg erlaubt hätten, war es ihr nicht möglich. Ihre Füße waren bleischwer und verhinderten jede Bewegung. Die Luftblasen, die wie silberfarbene Ballons über ihrem Kopf geschwebt waren, lösten sich auf, während sie den Atem anhielt, gelähmt von dem drohenden grauen Umriss, der sich auf sie richtete. Wenn sie nicht so verängstigt gewesen wäre, hätte sie für den riesigen Hai Bewunderung empfunden. Das Tier fixierte sie aus glasigen Augen, kam langsam auf sie zu und nahm sich Zeit, bevor es sich in ihr Fleisch verbeißen würde. Sie bemerkte nicht den glänzenden weißen Bauch des Hais oder die Kraft des muskulösen Schwanzes, der mühelos durch das Wasser steuerte. Sie konnte nur die unzähligen Reihen messerscharfer Zähne erkennen, die vor ihr aufleuchteten.
Atme, Charlie. Sie zwang jeden Muskel in ihrem Körper, sich zu entspannen. Ihre Kiefer verkrampften sich schmerzhaft, weil sie so fest auf den Atemregler biss. Bleib ruhig. Zeig ihm keine Angst. Die beschwichtigende Stimme in ihrem Kopf ertönte jedoch vergeblich, als ihr Körper plötzlich unkontrolliert zu zittern begann. Der Hai wurde schneller. Was zum Teufel mache ich hier nur?
»Danke fürs Zuhören in den letzten zwei Stunden. Schalten Sie morgen erneut ein, wenn wir Ihnen wieder lässige Siebzigerjahretracks und schlechte Witze präsentieren. Kuscheln Sie sich bis dahin ins Bett, und genießen Sie die Abendsendung mit Sam Sullivan, gleich im Anschluss. Ich bin Charlie Blundell und wünsche Ihnen eine gute Nacht.« Die Worte verklangen, und »Dancing Queen« erfüllte den Raum.
Charlie nahm die Kopfhörer ab und blickte zu der Glasscheibe, hinter der der Techniker und Produzent saß. Sie sah, wie ihre beste Freundin Mercedes gerade ihr Gespräch mit einem der Krankenpfleger beendete, sich umwandte und ihr den emporgereckten Daumen zeigte.
Die Tür zum Studio wurde geöffnet, und Sam eilte mit seiner üblichen Thermoskanne Kaffee herein, die er auf einer Tupperdose mit Sandwiches und Kuchen balancierte. Er war ein großer Mann Anfang sechzig und erinnerte Charlie mit seinem weißen Bart und der Brille immer an den Weihnachtsmann. Sam moderierte das City Hospital Radio jeden Abend zwischen acht und zehn Uhr, so war es ihm am liebsten. Seine Frau Brenda konnte so zu Hause in Ruhe alle Soaps und Historienschinken im Fernsehen anschauen, für die sich Sam nicht interessierte. Seine Musik und die Arbeit im Krankenhaus waren ihm wichtiger.
»Super Sendung, Charlie«, sagte er, als er sein Essen auspackte. Sie warf ihm ein strahlendes Lächeln zu. Sam war einer ihrer Lieblingskollegen. »Wo hast du nur immer diese Witze her? Ich wette, bei der Hälfte der Patienten sind beim Lachen die Nähte geplatzt.« Er grinste und setzte sich auf den Moderatorensessel, stellte etwas am Mischpult ein und lehnte sich zurück, um auf sein Stichwort zu warten. Er winkte Mercedes zu, die ihm einen Luftkuss zuwarf. Sean, das jüngste und eifrigste Mitglied des Teams, stand bei ihr und beugte sich über einen Bildschirm. Sean interessierte sich für Journalismus und IT, konnte sich aber das College nicht leisten, weshalb er beim Radio Erfahrungen sammelte.
»Hallo, liebe Hörerinnen und Hörer, hier ist Sam Sullivan mit der Abendsendung. Ich habe eine ganze Menge hervorragender Songs für Sie, die Sie angenehm ins Reich der Träume schicken werden. Und wenn Sie vor dem Schlafengehen noch einmal Ihr Gehirn anstrengen möchten, haben wir um halb neun noch Sams Quiz für Sie. Doch zuerst hören Sie Simon and Garfunkel mit einem meiner persönlichen Lieblingssongs, ›The Boxer‹.«
Charlie formte einen Abschiedsgruß mit den Lippen, den Sam mit einem Nicken beantwortete. Er konzentrierte sich auf seine Titelliste und die darauf notierten Bemerkungen. Charlie ging leise aus dem Studio in den Technikraum, wo Mercedes gerade in ihre Jacke schlüpfte und sich von Sean verabschiedete.
»Hi, Sean. Wie geht’s?«
»Gut, danke. Ich habe die Webseite des Radios aktualisiert. Heute Nachmittag hatte ich nicht viel zu tun, deshalb habe ich Fotos der Moderatoren hochgeladen und ein paar Sätze über jeden eingestellt, damit die Hörer Gesichter zu den Stimmen haben.«
»Sieht toll aus«, sagte Charlie und beugte sich mit zusammengekniffenen Augen über den Bildschirm. »Du hast wirklich ein Händchen für diesen Technikkram.«
Er strahlte. »Es macht mir Spaß. Doch die Arbeit als Sprecher ist noch besser. Ich werde Sam nachher überreden, dass er mich ein paar Nachrichten sprechen lässt.«
»Na dann, viel Glück. Wenn er einmal zu reden angefangen hat, kann ihn nichts und niemand mehr unterbrechen. Er liebt das Mikrofon«, bemerkte Mercedes. »Wahrscheinlich sogar mehr als seine Frau. Komm, Charlie, gehen wir.«
Mercedes manövrierte ihren Rollstuhl durch die Tür, die Charlie für sie aufhielt. Auf dem Parkplatz half sie Mercedes auf den Fahrersitz ihres umgebauten Vans und verstaute den zusammengeklappten Rollstuhl hinter den Rücksitzen. Mercedes war seit einem Sportunfall vor einigen Jahren querschnittsgelähmt, aber sehr auf ihre Unabhängigkeit bedacht und führte ein fast normales Leben. Sie war fünfunddreißig und mit Ryan verheiratet, einem Polizisten und der Liebe ihres Lebens. Sie hatten keine Kinder, weshalb Bentley, ihr winziger Schnauzer, umso mehr verwöhnt wurde.
»Bist du sicher, dass du am Wochenende kommen willst? Mir würde gar nicht gefallen, dass du Silvester allein verbringst, aber ich weiß ja, wie schwer das für dich ist.« Mercedes drückte Charlies rechte Hand.
»Ich schaffe das schon. Gavin und ich treffen uns zuvor am Friedhof. Ich kann einfach nicht fassen, dass es schon fünf Jahre her ist.«
Ein Bild von Amy, ihrer dreizehnjährigen Tochter, blitzte vor Charlies innerem Auge auf. Sie war so jung, so wunderschön, und musste so früh gehen. Sie blinzelte es beiseite.
»Nun, wenn du mich dort brauchst, ruf mich an. Wenn nicht, sehen wir uns um sieben bei uns, bevor die anderen kommen. Dann können wir noch in Ruhe etwas trinken, bevor Ryan Pete Tong imitiert, seine Lieblings-CDs einlegt und wir alberne Tänze im Garten aufführen. Ich habe ihm das Versprechen abgenommen, dass er dich nicht mit einem seiner Arbeitskollegen verkuppeln wird wie bei der letzten Party. Das mit Tentakel-Trevor tut mir noch immer so leid.«
Charlie lachte. »So schlimm war es nicht. Und du hast dich oft genug dafür entschuldigt. Letztendlich konnte ich seine Annäherungsversuche ja abwehren. Aber ja, der Mann hatte seine Hände wirklich überall.«
»Hilfe, erinnere mich bloß nicht daran. Also, wir sehen uns am Samstag. Ich denke an dich, und wenn du deine Meinung ändern solltest …«
»Ich komme schon klar … hoffe ich.«
Charlie blickte Mercedes nach, wie diese davonfuhr. Dann schlenderte sie zu ihrem eigenen Wagen. Ihre bisher zur Schau getragene Zuversicht schwand, als sie erneut an Amy dachte – ihren blonden Engel. Die Wochen nach ihrem Tod waren die schwersten in Charlies Leben gewesen. Die Beziehung zu ihrem Mann Gavin verschlechterte sich rapide, und wenige Monate nach dem Unfall ließen sie sich scheiden. Der Krebstod ihrer Mutter war ein weiterer harter Schlag für Charlie.
Das Krankenhausradio hatte sie vor dem Verrücktwerden und vor schlimmen Depressionen bewahrt. Dort fühlte sie immer noch eine Verbindung zu den beiden Menschen, die sie am meisten geliebt hatte. Denn beide hatten ihre letzten Tage in diesem Krankenhaus verbracht. Bei einer ihrer Runden durch die Stationen, bei denen sie Patienten nach ihren Hörerwünschen fragte, hatte sie Mercedes kennengelernt. Diese erholte sich gerade von einer schweren Operation und fühlte sich elend. Charlies Gesellschaft hatte sie aufgemuntert. Im Laufe der nächsten Wochen wurden sie zu engen Freundinnen. Charlie schätzte sich sehr glücklich, Menschen wie Mercedes in ihrem Umfeld zu haben, und das Radio gab ihrem Leben einen Sinn. Indem sie eine lockere Sendung mit viel Witz und Humor moderierte, versuchte sie, kranke Menschen etwas abzulenken und ihre Lebensgeister zu wecken. Ihren eigenen Lebensgeist hingegen hatte der Tod ihrer Tochter zerstört. Sie wischte sich die verschmierte Wimperntusche aus dem Gesicht, ließ den Motor an und schaltete das Radio zu Sams Sendung ein, weil sie bei seinem Quiz mitraten wollte. Sie lächelte, als sie seine Stimme hörte.
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Es war ein windiger Tag, als Charlie vor der Kirche St. Peter vorfuhr. Das Gebäude, das ursprünglich im dreizehnten Jahrhundert errichtet worden war, war ein alter gotischer Bau aus Steinen mit einem Schieferdach und einem rechteckigen Turm. Seit Jahrhunderten strömten die Menschen hinein. Hier hielt die örtliche Gemeinde Gottesdienste und regelmäßige Treffen ab. Charlie erinnerte sich an den Tag, an dem Gavin und sie hier geheiratet hatten. Sie sah immer noch die Gesichter von Freunden und Familie vor sich, als sie als frischvermähltes Paar Arm in Arm über den Mittelgang geschritten waren. Sie erinnerte sich, wie sie für den Fotografen posiert hatten, während die alten Glocken ihr fröhliches Lied spielten. Der Weg zum Eingang unter dem Steinbogen war voller lachender Menschen gewesen und mit buntem Konfetti bestreut. Auf der Straße hatte eine weiße Kutsche gewartet, mit der sie nach New Hall zum Festessen gefahren waren. Die Kirche war perfekt für solche Anlässe, ebenso wie das pittoreske Dorf um sie herum mit seinen Antiquitätenläden, Pubs und der entzückenden Dorfschule. Die Schule, die Amy besucht hatte. Sie hatte dort so viele Freunde; Charlie fragte sich, wo die anderen Kinder jetzt wohl waren.
Amy war auch in St. Peter getauft worden. Sie hatte nicht geweint, als der kurzsichtige Pfarrer das Weihwasser über ihren Kopf und in ihren Mund gespritzt hatte, sondern zufrieden gegurgelt und gekräht. Dieser Moment war eine von Charlies schönsten Erinnerungen.
Doch die Kirche rief ihr auch kaum zu ertragende Bilder ins Gedächtnis: der kleine weiße Sarg auf dem von Pferden gezogenen schwarzen Glaswagen. Die Kränze und Blumen, die den Weg zum Kirchenportal säumten. Ein Dorf in Trauer, alle in Schwarz gekleidet, mit ernstem Gesichtsausdruck. Charlie sah alles so deutlich vor sich, als wäre es erst vor wenigen Wochen geschehen.
Sie kam oft am Wochenende und manchmal auch unter der Woche hierher, um bei ihrer Tochter zu sein oder sich um das Grab zu kümmern. Sie achtete darauf, dass die kleine Vase auf dem Grab immer frische Blumen enthielt. Der Friedhof war idyllisch und gut gepflegt. Im Frühling blühten überall strahlend gelbe Narzissen. Heute an diesem grauen Nachmittag leuchtete eine weihnachtliche Lichterkette in der großen Kiefer am Eingang des Friedhofs.
Charlie stieg aus dem Wagen und ging den Weg entlang am Kirchenportal nach hinten zu den Gräbern, wobei sie einen kleinen rosafarbenen Porzellanteddy fest umklammert hielt. Gavin wartete am Grab auf sie, einen Strauß Freesien in der Hand. Er trug einen langen schwarzen Mantel und einen gestreiften Schal. Charlie bemerkte graue Strähnen in seinem Haar. Er wirkte müde, sah aber immer noch so gut aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Der Verlust hatte ihnen beiden viel abverlangt. Gavin zog sie in eine enge Umarmung, als sie neben ihm stand. Sie waren zwar geschieden, doch keiner gab dem anderen die Schuld. Es war einfach passiert. Zwei Menschen hatten sich geliebt, einen Verlust erlitten und sich voneinander entfernt. Doch sie wusste, dass es tatsächlich zu einem großen Teil ihre Schuld gewesen war. Schließlich hatte sie sich zurückgezogen und zugelassen, dass alles auseinanderzubrechen begann. Gavin war mittlerweile mit Tessa verheiratet, einer Lehrerin. Er hatte sich ein neues Leben aufgebaut. Charlie beneidete ihn um diese Fähigkeit.
Schweigend standen sie nebeneinander, versunken in die Erinnerungen an ihr kostbares Kind. Nach einer Weile kniete sich Gavin hin und steckte die süßlich riechenden Blumen in die Vase vor dem Grabstein.
Charlie bückte sich und stellte den Bären neben den Grabstein. »Alles Gute zum Geburtstag, mein Schatz«, flüsterte sie ergriffen. Dann ließ sie den Kopf in die Hände sinken und schluchzte laut auf.
Gavin hielt sie fest, während sie weinte. Als ihre Schluchzer langsam versiegten, blickte sie mit rot unterlaufenen Augen zu ihm auf. Auch ihm liefen die Tränen über die Wangen. »Wenn wir ihren achtzehnten Geburtstag doch nur richtig hätten feiern können«, sagte sie.
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»Also, was hast du so getrieben?«, fragte Gavin, als sie im Pub gegenüber der Kirche saßen.
Charlie sah aus dem Fenster. »Ach, du weißt schon. Hatte viel zu tun. Ich arbeite fünf Tage die Woche im Café, außerdem habe ich noch jeden Abend und am Sonntagnachmittag meine Sendung im Krankenhaus. Ich habe überlegt, ehrenamtlich im Wohltätigkeitsladen für das St. Chad’s Hospiz zu arbeiten. Alle Einkünfte gehen an das Hospiz.« Sie blickte auf ihren Orangensaft und zögerte kurz, bevor sie wieder aufsah und gezwungen lächelte. »Es geht mir gut, Gavin. Wirklich. Alles ist in Ordnung. Was ist mit dir? Genießt du das Leben in Devon?«
»Es ist auf jeden Fall anders«, antwortete er. »Ich habe mit dem Surfen angefangen. Kannst du dir das vorstellen? Ein vierzigjähriger Surfer? Immerhin sage ich noch nicht ›Kumpel‹ zu jedem.«
Charlie lachte. »Ich kann mir dich nicht so recht in einem Surfanzug oder Shorts vorstellen. Der Umzug hat wohl deine rebellische Seite hervorgebracht.«
»Der Umzug war definitiv sinnvoll. Tessas Familie lebt in Bideford, was praktisch ist, wenn …« Er unterbrach sich errötend und holte tief Luft. »Hör mal, jetzt ist weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, aber …«
Charlie sah ihm in die Augen. Sie wusste, was er ihr gleich erzählen würde. Alle Kraft verließ sie.
»Tessa und ich, wir … bekommen ein Baby. Es ist völlig ungeplant und ein Schock, aber …« Er verstummte.
Charlie kniff fest die Augen zusammen und holte tief Luft. »Herzlichen Glückwunsch«, sagte sie und drückte seine Hand. »Das meine ich ernst. Ich wünsche euch alles Gute und viel Freude. Es ist eine ziemliche Überraschung. Doch ich freue mich wirklich für euch.«
Danach wussten sie nicht mehr, über was sie noch sprechen sollten. Sie hatten sich zu sehr voneinander entfernt. Amy hatte ihre Ehe zusammengehalten, und jetzt war nur noch diffuse Zuneigung und Trauer übrig.
»Das Dorf hat sich ganz schön verändert, nicht wahr?«, meinte Gavin nach einer Weile. »Sie haben die alte Autowerkstatt abgerissen und Häuser gebaut. Der Supermarkt ist auch weg. Was wohl mit Mrs Pepper passiert ist, der Besitzerin?«
»Sie ist nach Schottland zu ihrer Tochter gezogen, was man so hört. Vor einem halben Jahr etwa habe ich unseren alten Nachbarn Ted gesehen. Er hat einen Freund im Krankenhaus besucht und kurz bei mir im Studio vorbeigeschaut. Dolly, den Terrier, hat er immer noch.«
»Was? Dolly muss doch mindestens fünfzehn Jahre alt sein.«
»Ja. Weißt du noch, Amy hat Dolly geliebt …« Charlie unterbrach sich. Sie wollte Amy nicht aus ihrem Herzen oder Kopf verbannen, doch es hatte keinen Sinn, Gavin ständig an ihren Verlust zu erinnern. Es war nicht seine Schuld, dass er in dieser schrecklichen Nacht am Steuer gesessen hatte. Doch der Gedanke ließ sie nicht los, dass der Unfall vielleicht nicht passiert wäre, wenn sie Amy von ihrer Freundin abgeholt hätte. Sie hätte sich bestimmt länger mit Sarahs Mutter unterhalten, und infolgedessen wären sie in dem schicksalshaften Moment nicht auf der Straße gewesen.
Sie warf Gavin einen Blick zu. Er dachte dasselbe. Gedanken, die sie viel zu viele Jahre geteilt hatten. Die Narbe unter seinem linken Auge, die an jene Nacht erinnerte, war verblasst, aber noch zu sehen. Die Narben auf seiner Seele waren jedoch viel tiefer. Er würde sich den Unfall nie verzeihen. Der Reifen eines Lastwagens platzte genau in dem Moment, in dem Gavin ihn überholte. Der Lkw scherte aus und kollidierte mit dem Wagen. In den ersten Monaten nach dem Unfall steckten sie alle Energie in den Wunsch, Amy möge aus dem Koma erwachen und ins Leben zurückfinden. Als sie jedoch starb, verwandelte sich Charlies Schmerz in Wut, und selbst sie gab Gavin für eine Weile die Schuld an ihrem Verlust. Erst stritten sie die ganze Zeit, dann mieden sie einander und trennten sich schließlich, beide gebrochen, voller Trauer und des Streitens müde.
Charlie sah die Trauer in Gavins Augen, sein Schmerz war geradezu greifbar. Er verdiente es, endlich wieder glücklich zu sein und nicht unter der ständigen Schuld zu leiden. Wenigstens einer von ihnen musste nach vorne blicken können.
Sie tätschelte seine Hand. »Gib mir bitte Bescheid, wenn das Baby da ist, und schick ein paar Fotos. Wisst ihr schon das Geschlecht?«
Gavin nickte, und seine Augen leuchteten. »Es wird ein Junge.«
Charlie war insgeheim ein wenig erleichtert. »Das ist großartig. Du wolltest doch schon immer einen kleinen Jungen. Dann kannst du ihm beibringen, wie man ein echter Surfer wird!«
Gavin lachte. »Danke, Charlie. Ich wusste nicht, wie du es aufnehmen würdest, und ich wollte nicht schreiben oder anrufen. Ich hoffe, du findest auch wieder jemanden. Das hoffe ich wirklich. Du verdienst es, wieder glücklich zu sein.«
Sie verabschiedeten sich mit dem Versprechen, in Kontakt zu bleiben, auch wenn Charlie wusste, dass das unwahrscheinlich war. Gavin würde die Vergangenheit hinter sich lassen wollen. Er hatte ein neues Leben in einer neuen Gegend mit einer neuen Familie.
Charlie war auch weggezogen, in eine Stadt, doch ihr Leben war immer noch ohne Sinn und Zweck. Zum Glück hatte sie ihre Freunde. Zumindest würde sie heute Abend nicht in Trauer versinken.
»Du siehst hinreißend aus!«, sagte Ryan und wischte sich die Hände an seiner Schürze mit der Aufschrift Achtung – Mann kocht ab. Er bat Charlie ins Wohnzimmer und umarmte sie fest. Ein kleiner schwarzbrauner Schnauzer mit einer blauen Samtfliege sprang an Charlies Bein empor und hoffte mit wildem Schwanzwedeln auf ihre Aufmerksamkeit.
»Lass sie los, Ryan. Du musst dich ums Essen kümmern, und Charlie braucht einen Drink!«, rief Mercedes aus dem Nebenraum.
Ryan zwinkerte Charlie zu. »Zu Befehl, Chef!«, antwortete er und verschwand im Haus.
Mercedes fuhr zu ihrer Freundin und begrüßte sie. Charlie gab ihr die gekühlte Flasche Pinot Grigio und bückte sich dann zu dem kleinen Hund.
»Hallo, Bentley. Schick siehst du aus mit deiner Fliege.«
Der Hund legte sich auf den Rücken und bettelte darum, am Bauch gekrault zu werden. Sie gehorchte.
»Ryan hat recht. Du siehst toll aus. Du solltest in einem Nachtclub sein, umgeben von Männern, die sich nach dir verzehren, und nicht bei uns alten Knackern«, sagte Mercedes. Charlie verdrehte die Augen. »Möchtest du Wein oder lieber ein extrastarkes Bier? Ryan hat einen großen Kasten gekauft, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er den allein trinkt.«
Ryan erschien wie aufs Stichwort, Gläser und einen Korkenzieher in den Händen. »Oh, und wie ich das alles trinken werde. Meine Frau ist schuld, sie treibt mich dazu.«
Mercedes packte ein Kissen und warf es nach ihrem Mann. Er duckte sich in letzter Sekunde, sodass es den Vorhang hinter ihm traf. Er lachte und ging wieder in die Küche. Bentley rannte ihm nach.
»Ich frage lieber nicht. An deinem Gesicht sehe ich, dass es schrecklich war«, sagte Mercedes, entkorkte die Weinflasche und füllte die drei Gläser großzügig.
»Jeder Geburtstag seit ihrem Tod war grausam, doch dieser war der schrecklichste. Heute wäre sie erwachsen gewesen, und ich frage mich, wie sie jetzt wohl gewesen wäre. Ich stelle mir ständig das Leben mit ihr vor.« Charlie verstummte, bevor ihre Gefühle sie zu überwältigen drohten und sie die Partystimmung zerstörte. »Egal, jetzt geht es nicht um mich, sondern um Silvester und Neuanfänge. Ich wette, ihr freut euch über Ryans Beförderung.«
»Wenn es nach meiner Frau geht, soll ich meine neue Dienstmütze sogar im Bett tragen«, witzelte Ryan, der mit einer Schale Chips und ein paar Nüssen zurückkehrte, Bentley im Schlepptau, der einen Kauknochen im Maul hielt. Er verzog sich damit in sein Körbchen, von wo aus er die drei beobachtete.
»Die Handschellen reichen, Ryan«, meinte Mercedes kichernd und hob ihr Glas. »Auf Ryan – meinen wundervollen Mann – und seinen neuen Posten als Inspector.«
»Prost!«
»Inspector Ryan Thomson. Klingt gut, nicht wahr?«, bemerkte Ryan und trank sein Weinglas leer. »Oh, es läutet. Das werden Debbie und Colin sein. Ich habe sie ein wenig früher als die anderen eingeladen. Ähm, ich glaube, sie bringen Colins Freund Rob mit. Ich hoffe, das ist in Ordnung. Er ist zu Besuch aus Thailand hier, und sie wollten ihn heute Abend nicht sich selbst überlassen. Ich habe gesagt, dass er gerne mitkommen kann.« Er eilte davon, Bentley folgte ihm aufgeregt.
Mercedes verdrehte hinter dem Rücken ihres Mannes genervt die Augen. Charlie unterdrückte ein Lachen.
»Ernsthaft, er wird es nie kapieren. Es tut mir leid, Charlie. Ich hoffe, dieser Rob ist kein furchtbarer Langweiler.«
Es stellte sich heraus, dass Rob ein angenehmer und aufmerksamer Gast war, der sie alle mit Geschichten von seinem Leben in Thailand unterhielt. Sie lachten viel, und die Stimmung war entspannt. Sie spielten lustige Spiele; zum Beispiel mussten alle Ballons durch die Öffnungen ihrer Kleidung bugsieren. Außerdem tranken alle zu viel, tanzten zu lauter Achtzigerjahremusik und wichen einem enthusiastischen Bentley aus, der zwischen ihren Beinen herumsprang, bis er müde wurde. Schließlich baten Ryan und Mercedes ihre Gäste, am Tisch Platz zu nehmen.
»Los geht’s«, sagte Mercedes und überreichte jedem eine kleine Schachtel.
»Was ist da drin?«, fragte Charlie und schüttelte das Behältnis.
»Warum öffnest du sie nicht und findest es heraus, Miss Marple?«
Charlie fiel ein blauer Gegenstand in ihren Schoß. Sie drehte ihn in der Hand hin und her, die Augenbrauen ratlos zusammengezogen.
»Es sieht aus wie ein Membranofon.«
Sie warf einen ratlosen Blick in die Runde und sah, dass alle anderen ebenfalls Kazoos in verschiedenen Farben bekommen hatten.
»Und warum ist meins rosa?«, fragte Rob »Blau wäre besser. Ich bin schließlich ein Junge.«
Charlie schnalzte mit der Zunge. »Gib her, wir tauschen.«
Colin blies mit aller Kraft in sein grünes Kazoo, bis seine Wangen sich röteten. »Meins ist kaputt, es funktioniert nicht«, beschwerte er sich.
»Man muss das große Ende in den Mund stecken«, erklärte Mercedes unter dem Kichern ihrer Freunde. Als alle sich wieder beruhigt hatten, fuhr sie fort: »Ihr benehmt euch wie Kinder. Habt Geduld. Es bedarf ein bisschen Übung, bis man darauf spielen kann.«
Debbie murmelte verwirrt: »Warum müssen wir darauf spielen? Das ist doch ein Kinderspielzeug.«
»Ah, hier liegst du falsch«, antwortete Ryan. »Auch Erwachsene verwenden es, und es hat eine faszinierende Geschichte. Also, sie ist zumindest einigermaßen faszinierend, denn niemand weiß so genau, wie Kazoos eigentlich entstanden sind. Vielleicht haben schon die Höhlenmenschen damit am Lagerfeuer gespielt, abends hatten sie ja viel Zeit.«
Rob lachte. »Ich könnte mir sehr viele interessante Spiele vorstellen.«
»Ich auch!«, stimmte Colin ein.
»Ja, aber das dauert dann nur fünf Minuten!«, konterte Debbie, und alle lachten.
Mercedes brachte wieder Ruhe in die Runde. »Soweit ich es verstehe, gibt es das Kazoo in der einen oder anderen Form schon lange. Auf der ganzen Welt haben Menschen mittels Röhren Geräusche erzeugt. Sie ließen Bambus vibrieren, Knochen und ausgehöhlte Kürbisse, um verschiedene Töne zu erzeugen«, erklärte sie. »Ich habe gelesen, dass man irgendwo in Afrika sogar getrocknete Spinnenkokons benutzt hat. Da ich das alles nicht gefunden habe, erspare ich euch das Vergnügen. Man nennt diese Instrumente Mirlitone, und es gibt sie in Europa mindestens seit dem siebzehnten Jahrhundert, wenn nicht sogar noch länger.«
Colin steckte sich sein Kazoo wie eine Zigarette in den Mund, doch als keiner auf ihn achtete, nahm er es wieder heraus und hörte Mercedes weiter zu.
»Um 1840 herum trug Alabama Vest die Idee einem deutschen Uhrmacher namens Thaddeus von Clegg vor, und die beiden erschufen das Kazoo. Ein Handlungsreisender mit dem Namen Emil Sorg dachte, dass es sich leicht verkaufen ließe. Er schloss sich mit einem Metallarbeiter namens Michael McIntyre zusammen, und die beiden produzierten 1912 das erste Metallkazoo. Man nutzt es wie ein echtes Musikinstrument, es wurde in der Klassik und später auch in der Folkmusik verwendet. Heutzutage kann man es in einigen berühmten Liedern hören.
Doch jetzt reicht es mit der Geschichtsstunde. Ihr habt ein paar Minuten, um es euch beizubringen, und dann … gibt es Kazoo-Karaoke! Ryan bereitet die Karaoke-DVD vor, und Debbie fängt an. Sie sieht aus, als könne sie wie der Henker pfeifen.«
Nachdem Charlie einmal entdeckt hatte, dass sie nicht summen oder in das Instrument blasen, sondern Worte formen musste, um dem Kazoo Geräusche zu entlocken, war es kein Problem mehr. Es war tatsächlich melodisch und seltsam suchterzeugend.
Schon nach kurzer Zeit tröteten alle fröhlich Lieder, und dazwischen sorgte Ryan dafür, dass ihre Gläser stets gefüllt waren. Kazoo spielen machte durstig.
Euphorisch zählten schließlich alle den Countdown bis Mitternacht und sangen »Auld Lang Syne«. Rob sorgte dafür, dass Charlies neues Jahr mit einem leidenschaftlichen Kuss begann, den sie zwar genoss, der aber offensichtlich eher auf Robs Bierkonsum beruhte als auf seiner starken Zuneigung ihr gegenüber.
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Es war beinahe zwei Uhr morgens, als sich alle verabschiedet hatten und Charlie sich auf das Sofa sinken ließ, eine Tasse Kaffee auf dem Arm balancierend. Bentley schlief neben ihr, die Fliege immer noch um den Hals. Ryan war nach zu vielen Bieren in einem Sessel ihr gegenüber zusammengesunken; auf dem Kopf trug er seine neue Dienstmütze. Mercedes saß neben ihm, eine Hand auf seinem Knie, und nippte an einem Glas Wasser.
»Du bist eine entzückende Frau, Charlie«, lallte Ryan und schüttelte den Kopf, als wolle er seine Gedanken sortieren. »Es ist eine solche Schande, dass du bisher keinen anderen Mann gefunden hast. Rob ist ein netter Kerl. Ich glaube, er hat ein Auge auf dich geworfen.«
»Tatsächlich hat er mich nach meiner Nummer gefragt«, antwortete sie. »Ich bin mir allerdings nicht ganz sicher bei ihm. Er ist lustig, aber ich fürchte, dass er sich ein bisschen zu gut mit den Frauen versteht. Meine Mandeln kribbeln immer noch von seinem Kuss.«
»Er hat jede Frau auf der Party geküsst und hätte beinahe auch Colin abgeknutscht! Der Arme. Es war ein ganz schöner Schock für ihn«, sagte Mercedes.
»Colin hätte nicht dieses Blumenhemd anziehen sollen«, kicherte Ryan. »Findest du nicht, du solltest es mal mit Rob versuchen? Es ist fünf Jahre her, dass du mit einem Mann ausgegangen bist.«
»Ich habe mich mit Perry getroffen«, protestierte Charlie.
Mercedes unterdrückte schnaubend ein Lachen. »Schwester Perry Farquharson spielt, wie wir alle wissen, im anderen Team, meine Liebe. Ihr seid zusammen ins Musical gegangen und danach shoppen. Wenn ich mich richtig erinnere, seid ihr schließlich im MAC gelandet und habt euch beide schminken lassen. Perry hat darauf bestanden, einen entsetzlichen gelben Nagellack zu kaufen, der zu seiner neuen Krawatte passt. Das gilt definitiv nicht als Date.«
Charlie lachte und hickste. »Verdammter Schluckauf. Das passiert immer, wenn ich zu viel trinke. Okay, Perry ist raus. Aber vergesst nicht Harrison Matthews, der im Krankenhaus gearbeitet hat. Mit ihm habe ich mich auch getroffen. Großer Fehler.«
»Oh ja, Harrison war ganz schön anstrengend, nicht wahr?«, meinte Mercedes.
»Er war echt seltsam. Auch nachdem ich mich von ihm getrennt hatte, konnte er mich nicht in Ruhe lassen.«
»Wochenlang hat er Blumen ins Studio geschickt. Da drin sah es aus wie in einem Blumenladen. Die Art, wie er im Studio zu dir durch die Glasscheibe gestarrt hat, hat mir überhaupt nicht gefallen. Gut, dass er gekündigt hat. Der Typ war wirklich verrückt.«
»Ja, er hat mir direkt Angst gemacht, doch seit seiner Kündigung habe ich zum Glück nichts mehr von ihm gehört. Es gibt da draußen nicht viele geeignete Single-Männer. Außerdem bin ich mittlerweile zu alt. Ich werde dieses Jahr vierzig. Bäh! Ich werde langweilig und alt.«
»Unsinn. Du bist immer noch jung genug, um Spaß zu haben und jemand Neuen kennenzulernen. Schau dir nur Gavin und Tessa an. Wer hätte gedacht, dass sie noch ein Kind bekommen würden? Tessa ist vierundvierzig.«
»Ryan«, schaltete sich Mercedes warnend ein.
»Schon gut«, erwiderte Charlie. »Irgendwie freue ich mich auch für sie. Nein, ich freue mich wirklich für sie. Es war nur ein kurzer Schock. Gavin scheint sich sein Leben zurückerobert zu haben, ich hingegen trete immer noch auf der Stelle. Ich bin so ein Versager. Veränderungen sollten mir keine solche Angst bereiten, oder? Ich liebe die Arbeit im Radiosender, ich mag mein Haus, ich arbeite gern im Garten und koche gern. Doch in den letzten paar Jahren habe ich nichts Spannendes unternommen. Ich war nicht einmal im Ausland im Urlaub.
Schaut euch Gavin und Rob an. Der eine hat seinen Job als Anwalt an den Nagel gehängt, um in Devon Segel- und Surflehrer zu werden, und der andere hat seinen kleinen Baubetrieb verkauft, um Fotograf in Thailand zu werden! Und ich? Ich hänge seit fünf Jahren in meiner Blase fest, schaffe es gerade mal bis zum Lake District und komme sogar drei Tage früher aus dem Urlaub zurück, weil es regnet und ich mich einsam fühle.
Ich hätte mir wieder eine Stelle im Marketing suchen und an meiner Karriere arbeiten sollen, statt immer nur durchzuhängen. Mums Haus und ihr Geld zu erben hat mich faul werden lassen. Alles ist zur falschen Zeit passiert. Nachdem ich erst Amy, dann Gavin und schließlich Mum verloren hatte, wollte ich überhaupt nichts mehr tun. Ich habe viel zu viel Zeit verstreichen lassen. Selbst jetzt noch sage ich mir an manchen Tagen, ich sollte mir einen vernünftigen Job suchen, doch dann meldet sich diese dumme Stimme in meinem Kopf und erinnert mich daran, dass ich zu alt bin. Man würde mich gar nicht zu Bewerbungsgesprächen einladen, geschweige denn mich nehmen.«
»Du bist zu hart zu dir«, tadelte Mercedes. »Du tust so viele gute Dinge. Art hätte gewaltige Probleme, wenn du nicht die tollen Kuchen für sein Café backen würdest. Die halten den Laden wahrscheinlich überhaupt erst am Laufen, seine Kunsthandwerksachen verkaufen sich sicher nicht so gut. Dann hilfst du unzähligen Menschen im Krankenhaus und nicht nur durch die Radiosendung. Du besuchst einsame Patienten und kümmerst dich um besorgte Angehörige. Du bist ein positiver, herzensguter Mensch. Du bist beliebt.
Dein Problem ist nur, dass du diesen guten Taten zu viel Zeit widmest und dir selbst zu wenig. Wie viel Geld hast du für das kleine Mädchen gesammelt, das wegen einer Knochenmarktransplantation nach Amerika gereist ist? Was ist mit Tommy Atkinson? Du hast Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, damit er seinen Blindenhund bekommt. Ganz zu schweigen von der Jahresfeier, die du für den Rainbow Trust organisierst. Du bist wirklich alles andere als faul.«
»Aber es bewirkt trotzdem so wenig. Von außen betrachtet, bin ich eine alleinstehende Frau, die in Teilzeit und ehrenamtlich arbeitet. Ich habe nichts erreicht. Ich werde bald vierzig. Das ist gruselig alt. Gestern habe ich das erste graue Haar entdeckt. Außerdem habe ich keinen Mann, keine Eltern und keine Kinder. Du dagegen hast deine Familie im Norden. Hast Bentley und Ryan, der nicht nur ein wundervoller Mann ist, sondern jetzt auch noch ein wichtiger Inspector.«
»Inspector Clueless, der Ahnungslose!«, kicherte Mercedes mit Blick auf Ryan, der gerade einzuschlafen begann.
»Das habe ich gehört«, murmelte er.
»Ich bin bald vierzig, Herrgott noch mal«, stöhnte Charlie. »Ich sollte mehr aus meinem Leben machen. Doch was nur?«
Mercedes stieß Ryan in die Rippen. »Wach auf, Schlafmütze. Wir brauchen deine Hilfe. Ich habe eine Idee!«
»Oh nein! Bitte lass es kein echter Mercedes-Geistesblitz sein!«, stöhnte er.
»Wir werden beide eine Liste schreiben mit den Dingen, die wir in diesem Jahr tun, sehen oder erreichen wollen. Eine kurze Bucket-List. Oder nennen wir sie besser Carpe-diem-Liste, das klingt doch gleich viel positiver! Noch will ja keiner von uns den Löffel abgeben. Lass uns ein paar Ziele für das neue Jahr festhalten. Du kannst dich in Projekte verbeißen und Dinge angehen, die du machen möchtest, bevor du alt und grau bist. Außerdem musst du endlich wieder glücklich werden! Und ich versuche mich an einigen aufregenden Aktivitäten, die meinem Abenteuergeist entsprechen, auch wenn ich im Rollstuhl sitze. Ryan, könntest du uns Stift und Papier bringen? Nein, hol doch zuerst noch etwas Wein. Das muss ordentlich durchdacht werden.«
»Gib her, Charlie. Du hattest genug Zeit. Um Himmels willen, es ist fast halb vier Uhr morgens.«
»Nein, mir sind erst so wenige Sachen eingefallen.«
»Du hast die ganze Zeit damit verbracht, Wein zu schlürfen. Gib her, los jetzt!«
Charlie überreichte Mercedes zögernd ihre Liste, die diese sofort zur Seite legte, ohne sie zu lesen. Dann räusperte sie sich. »Also, vertraust du mir?«
Charlie nickte. »Natürlich. Du bist meine beste Freundin«, sagte sie mit schwerer Zunge. »Ich liebe dich. Ich liebe auch Ryan. Ihr seid meine allerbesten Freunde, und ich liebe euch über alles.«
»Wir lieben dich auch, Charlie, weshalb wir dir heute Abend helfen werden, wieder Schwung in dein Leben zu bringen.«
»Das klingt gut«, kicherte Charlie.
»Hör zu, liebe Freundin«, fuhr Mercedes fort. »Ich bin wirklich mutig, und ich kann vieles von dem tun, was körperlich Unversehrten möglich ist, aber manches kann ich einfach nicht. Weshalb ich möchte, dass du, meine Liebe, das für mich tust. Ich werde dabei sein und dich filmen oder fotografieren, damit ich das Gefühl habe, diese Dinge fast selbst zu erleben. Du musst mir versprechen, dass du das für mich tust.«
Charlie trank ihr Glas aus. »Für dich würde ich alles tun«, sang sie und lachte. »Hoppla. Ich glaube, ich bin ein klein wenig betrunken.«
»Ryan, du bist unser Zeuge. Charlie, ich habe mir deine Liste nicht angesehen, und du weißt nicht, was auf meiner steht. Doch ich möchte, dass du alle Punkte auf meiner Liste abarbeitest und ich die auf deiner, solange es meine körperlichen Möglichkeiten zulassen. Doch so wie ich dich kenne, brauche ich mir da keine Sorgen zu machen.«
Charlie lächelte geheimnisvoll und streckte Mercedes dann die Zunge heraus.
»Ryan, film das, damit sie hinterher nicht kneift«, befahl Mercedes.
Ryan stolperte aus seinem Stuhl und nahm sein Smartphone. Nachdem er eine Weile daran herumgefingert hatte, richtete er es auf die beiden Frauen. »Ich bin bereit!«
»Ich bin Mercedes Thomson, und das ist meine beste Freundin Charlie Blundell, die mir durch einige harte Zeiten in meinem Leben geholfen hat und durch die ich sogar meinen Traummann kennengelernt habe.«
»Wer war das denn?«, fragte Ryan. »Den schlage ich sofort zu Brei.«
»Halt die Klappe, du Idiot. Du weißt doch, dass das du bist. Charlie war für mich da, als ich dringend einen Freund brauchte, und seither ist sie mein Fels in der Brandung.«
Charlie wollte protestieren, doch Mercedes brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. »Wir haben einen Vorsatz fürs neue Jahr gefasst, den wir tatsächlich einhalten wollen.«
»Ein Vorsatz fürs neue Jahr ist etwas, das im alten Jahr noch gilt und im neuen schon abgelaufen ist«, kicherte Charlie, was ihr einen weiteren bösen Blick von Mercedes einbrachte.
»Tut mir leid«, formte sie mit den Lippen.
»Wir haben beide Carpe-diem-Listen geschrieben mit Dingen, die wir in diesem Jahr unternehmen wollen. Charlie wird allerdings die Punkte auf meiner Liste abarbeiten, und ich werde mich an ihren Zielen versuchen. Die Listen verwahre ich in meiner Schreibtischschublade, und nur ich werde wissen, was beide enthalten. Das ist eine offizielle Vereinbarung.« Leicht schwankend hielt sie ein drittes Blatt Papier in die Höhe, das sie beschrieben hatte, während Charlie noch über ihrer Liste brütete.
»Halt still, Baby, du wirst unscharf«, sagte Ryan.
Charlie kicherte und winkte mit einem Stift in seine Richtung.
»Na los, Charlie«, forderte er sie auf.
Charlie musterte blinzelnd das Papier, legte es auf den Tisch und kritzelte ihre Unterschrift darauf. Mercedes tat es ihr nach, dann hoben die beiden ihre Gläser in Richtung Kamera.
»Also, wirst du wirklich Mercedes’ Carpe-Di-Di-Diddledum-Liste abarbeiten?«, fragte Ryan, während er sich an der Wand abstützte.
Charlie trank ihr Glas in einem Schluck aus. »Das werde ich. Großes Pfadfinderehrenwort«, murmelte sie, bevor sie sich auf dem Sofa einrollte und wenige Minuten später einschlief.
Charlie saß auf einem Küchenstuhl, den Kopf in die Hände gestützt, und stöhnte laut. Mercedes ließ sich davon nicht beirren und suchte weiter in den Schränken nach einer Pfanne. Sie blickte erst auf, als Ryan aschfahl in der Küchentür auftauchte.
»Wie viele Flaschen Bier habe ich eigentlich getrunken?«, fragte er und musterte das Chaos in der Küche. Bentley stolperte über seine Füße, eine Socke im Maul, die er von der Heizung gestohlen hatte, ohne den Kater seines Herrchens zu bemerken.
»In Hundebieren waren es fünf«, erwiderte Mercedes fröhlich. Bentley ließ seinen Schatz zu Ryans Füßen fallen und wartete, dass sein Herrchen mit ihm spielte. Als Ryan den Hund ignorierte, trottete dieser mit der Socke zurück zu seinem Körbchen und kaute auf seiner Beute.
»Das ist ungerecht. Warum hast du heute kein Kopfweh?«
»Weil ich literweise Wasser getrunken habe, bevor ich ins Bett gegangen bin, während du noch sabbernd in dem Sessel lagst. Funktioniert immer. Man muss zwar nachts oft aufs Klo, aber das ist besser als die Kopfschmerzen am nächsten Tag. Möchtest du Spiegeleier? Es ist ein wenig spät fürs Frühstück, eher eine Mischung aus Mittag- und Abendessen.«
Ryan wurde noch bleicher. »Nein danke, ich verzichte lieber. Guten Morgen, ich meine Nachmittag, Charlie. Geht’s dir gut?«
Charlie hob den Kopf und starrte ihn aus blutunterlaufenen Augen an. »Hallo und nein. Mir geht es miserabel. Was für eine Nacht! Mir tut alles weh, weil ich auf dem Sofa eingeschlafen bin. So betrunken war ich seit Jahren nicht mehr. Ich kann mich noch erinnern, dass jemand versucht hat, einen Ballon unter mein Top zu schieben, und dass wir Kazoo-Karaoke gespielt haben, aber ab da ist alles verschwommen. Ich kann mich an nichts erinnern, nachdem ich mich von dem Typen aus Thailand verabschiedet habe. An wirklich überhaupt nichts. Habe ich irgendetwas Dummes angestellt?«
Mercedes wischte sich Toastkrümel von den Lippen und antwortete: »Nein, abgesehen davon, dass du dir die Kleider vom Leib gerissen hast und dann ›The Streak‹ singend über die Straße gehüpft bist. Sonst warst du aber ganz brav. Oh, an das hier erinnerst du dich wahrscheinlich nicht.« Sie hielt Ryans Handy in die Höhe und drückte auf den Play-Button.
»Habe ich mich wirklich ausgezogen?«, fragte Charlie und nahm Mercedes das Handy ab. Doch die Frage war sofort vergessen, als sie den kurzen Videoclip abspielte.
»Nein, daran erinnere ich mich wirklich nicht«, sagte sie, nachdem sie sich die Sequenz zweimal angesehen hatte. »Ist das echt?«
Mercedes nickte. »Auf jeden Fall. Wir haben die Carpe-diem-Listen geschrieben und dann getauscht.«
»Und was steht auf meiner Liste?«, fragte Charlie.
»Nun, das weiß ich allein, und du musst es herausfinden. Ich werde immer nur einen Punkt nach dem anderen preisgeben. Du und ich müssen jede Unternehmung erst vollenden, bevor wir uns der nächsten widmen können, und am Ende wird es dir viel besser gehen, Charlie. Also, möchte jemand Eier?«