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Bibliothek César Aira

Band 9

César Aira

Das Testament
des Zauberers Tenor

Aus dem Spanischen
von Christian Hansen

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Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel I

Einsam und verlassen starb in der Schweiz, seinem Ruhesitz seit vielen Jahren, der Zauberer Tenor. In dem Bett, an das er seit seinem letzten Anfall gefesselt war, erwartete er das Ende, ohne Hoffnung, ohne Furcht. Letztlich hatte sich alles in der gehörigen Ordnung vollzogen, und das Abtreten von der Bühne war nicht weniger Teil der Handlung als irgendeine der vorangegangenen Episoden. Den Blick ans Fenster verloren, die Gedanken leer. Die Stille staute sich in jenen langen, reglosen Tagen. Von der Dienerschaft war nur die Haushälterin geblieben. Ihre behutsamen Schritte, das Ticken einer Uhr und der verirrte Gesang eines Vogels draußen waren die einzigen Klänge, die bis ins Zimmer des Zauberers drangen. Der Weg aus Küche und Dienstbotentrakt bis zu ihm, die Treppe, die langen, geschwungenen Flure, einst elegant, jetzt bloße Gewohnheit, waren die einzigen Teile des Hauses, die noch betreten wurden. Alles Übrige lag verschlossen und sich selbst überlassen da, die dunklen Salons, Türen und Fenster, die seit Jahren nicht geöffnet wurden, der sich ansammelnde, schicksalslose Staub. Die goldgerahmten Gemälde an den Wänden der Salons tauchten ihre Figuren in ein sehr an sich selbst gewöhntes Halbdunkel. Hätte sie sich jemand angeschaut, wie das gegenwärtig nur ein Gespenst tun könnte, wären im Überleben jahrhundertealter Farbaufträge, im von der Zeit ausgedünnten Öl, das die Kehrseite der verborgenen Wesen für niemanden offenbarte, Szenen gestenreicher Dramen sichtbar geworden. Die Spiegel schauten trübe, die Teppiche wiederholten ihre müßigen Labyrinthe. Auf der Estrade des Musikzimmers hatte ein Flügel um sich herum eine Leere geschaffen, in der er die Taktschläge der Stille zählte. Die Kassettendecken darüber schienen wie würfelförmige Münder herabzustoßen. Die Sessel schrumpften, und Finsternis bemächtigte sich der Billardtische und Marmorskulpturen.

Unter Bäumen verborgen, lag das Haus inmitten eines ausgedehnten Parks von unregelmäßigen Umrissen, und die wenigen Autofahrer, die auf der unasphaltierten Kantonalstraße vorbeifuhren, mochten von seiner Existenz nichts wissen, denn nicht einmal das Eingangstor war zu sehen: Um es zu finden, musste man einen zwischen Büschen und umgestürzten Bäumen versteckten Abzweig nehmen. Nicht dass der Besitzer den ausdrücklichen Wunsch gehabt hätte, sich vor der Welt zu verbergen; es war lediglich eine Folge der Verwahrlosung, dieselbe, die auch im Park vorherrschte, dessen entlegenere Abschnitte, die weniger entlegenen auch, und eigentlich die gesamte Fläche, in eine Verwilderung wie am ersten Schöpfungstag zurückgefallen waren. Maulwürfe, Kaninchen, Schlangen, der eine oder andere scheue Fuchs teilten sich in diese pflanzlichen Wirrsale, die nie ein menschliches Wesen betrat. Legionen von Ameisen ohne Zahl, von Zweigen hängende Schmetterlingslarven, Schnecken, Motten, Baumspinnen, Wespen in ihren lehmigen Behausungen, Heere des Kleinen und Vielfältigen, Versteck spielend, ohne dass jemand sie suchte.

Die in Nebel gehüllten Bäume öffneten ihr Laubwerk nur gerade eben für eine hindurchschlüpfende Taube oder Katze. Kampferbäume, Pinien, Duft- und Schirmakazien gruppierten sich in asymmetrischer Eleganz, von einem Landschaftsarchitekten vorzeiten ersonnen, dessen Ideen durch das unkontrolliert wuchernde Unterholz unentzifferbar geworden waren. Die Beete waren versunken, und abgestorbenes Gewächs hielt sich aufrecht dank eines Panzers von einander überlagernden Schichten versteinerter Pilze. Hoch oben verflochten sich Geäst und Gezweig. Blätterpolster aus unvordenklichen Jahreswechseln, geheime unterirdische Paläste.

Es gab Stunden am Tag, in denen das Vogelparadies innerhalb dieser grünen Kammern widerhallte. Kaum ein Laut drang aus der Abgeschiedenheit: Nur wenn sich hin und wieder ein Pfeifen lang genug hinzog, gelangte es an das reglose Ohr des Zauberers. Die Amseln spazierten umher wie Wachsoldaten, hatten sich Schneisen ins hohe Gras gebahnt. Der hinreißende Gesang der Nachtigall verbarg sich am tiefsten Scheitelpunkt dieser Spirale der Einsamkeiten.

Auch die Steinbänke waren versunken. Ebenso der Sockel einer Sonnenuhr, deren Zifferblatt dadurch in Schieflage geraten war, die weiße Marmoroberfläche fleckig von den Rückständen welker Blätter, die sich ihr in allen Details von Umriss und Äderung eingeprägt hatten. Mit Fäulnis angefüllte Vogelbecken standen in violetter Pilzblüte. Eine Pergola war vollständig unter wildem Efeu verschwunden, das haltlose Linien in die Luft zeichnete. Die unteren Äste der Bäume schufen, faul zu Boden gesunken, dunkle Landschaften, die sich unterirdisch fortzusetzen schienen. Schamhaft verbargen die Statuen sich im üppigen Laub, eine Diana, ein Herkules, ein Jäger Hubertus, in einem Jahrzehnte währenden Schwanken, ohne dass jemand sie sah. Der große steinerne Brunnen mit seinen Delphinen in akrobatischen Bögen und den vervielfachten Neptunen, jeder mit seinem Gefolge von Nereiden, war von samtenem Moos, gelbzüngigen Flechten, Ranken und Sprösslingen überzogen. Eine Kröte herrschte unter diesen Baldachinen.

Der künstliche See hatte sich mit Tigerlotus überzogen, und darunter tummelte sich eine überbordende Aalpopulation. Sonnensegelbewehrte schwimmende Inseln, die einst elegante Feste und Kammerorchester getragen hatten, rotteten schiffbrüchig vor sich hin, und ihre aufgeweichten Bohlen krümmten sich wie kranke Glieder. Bötchen ohne Boden soffen sich in die grüne Grütze des Wassers.

Der Flügelschlag eines Vogels, ein Zwitschern, das Fallen eines Pinienzapfens interpunktierten die Stille des Parks. Wäre ein unwahrscheinlicher Besucher in ihm unterwegs gewesen und bis an seine Grenzen gelangt, hätte er allenfalls das dumpfe Ploppen einer Partie Tennis im benachbarten Park vernommen, sonst nichts. Und es war sogar ungewiss, ob es solche Nachbarn gab. Die schroffe Flanke eines Tals mit jähen Fernen vermittelte ein Gefühl von Einöde. Der Landstrich war Zufluchtsort für Menschen, die sich vor der Welt zurückzogen, um ihr Geld zu beschützen (ausgerechnet eines, das die Welt hätte kaufen können). Die exklusiven schweizerischen Aussichten lockten eine kosmopolitische Elite an, die einzig und allein durch das Brummen ihrer teuren Autos ungewollt auf sich aufmerksam machte. Heerscharen von Gärtnern stutzten und bewässerten die Parks, modellierten ihr pflanzliches Weichbild, sorgten vor allem aber für die Unsichtbarkeit der dort Anwesenden. Dieser Einrichtung wegen war das Haus des Zauberers Tenor ein Geheimnis geblieben, das wenige teilten, zumal diese wenigen sich schon nicht mehr dafür interessierten, was es insgeheim ausmachen mochte.

Über dieses Reich des Vergessens glitten die Tage und Nächte gleichgültig hinweg. Der Blick des Zauberers Tenor vom Sterbebett aus erfasste wegen seiner tiefen Perspektive nur die Kronen der Bäume und an ihnen die Bewegung, in die Wind und Regen sie versetzten. Und im Hintergrund die Farben des Himmels, das Weiß des grauenden Morgens, das Rosa der Dämmerung, zersplittert in den Nadeln einer Pinie. Nichts mehr davon bedeutete ihm etwas. Unmerklich entfernte er sich, vergaß sich zuletzt auch selbst. Nur des Nachts, wenn die alte Haushälterin es versäumt hatte, die Fensterläden zu schließen, setzten die über den Himmel verstreuten Sterne in seinem Kopf einen Gedanken in Gang, ohne dass er wusste, welchen.

Der letzte Besuch, den er bekam, war der von Gerichtspräsident Hoffmann vom Bundesgericht in Lausanne, der vor vielen Jahren sein Impresario gewesen war. Der Besuch entsprang keiner spontanen Initiative des alten Justizbeamten, vielmehr reagierte er auf ein vor wenigen Tagen erhaltenes Schreiben, eine in antiquierter Höflichkeit und zittriger Schrift abgefasste Bitte auf einer dieser alten Visitenkarten mit dem Emblem seines Berufsstands (Zylinder und Zauberstab), der vergilbte Karton eine echte Reliquie für Sammler von Varieté-Memorabilien. Auf der Fahrt im Wagen zeigte der Präsident sie seinem jungen Begleiter, dem Berner Rechtsanwalt Jean Ball, der ihm bei dieser Gelegenheit assistieren sollte. Er war für die Aufgabe kurzfristig zugezogen worden, und erst jetzt, auf dem Rücksitz des Wagens, wurde er durch die monotone Stimme des Präsidenten mit den Eigentümlichkeiten des Falls vertraut gemacht. Er sei, sagte Hoffmann, der Rechtsvertreter des Zauberers gewesen, der Einzige, der sich nach dessen Rückzug von der Bühne um seine Angelegenheiten gekümmert habe. Nicht dass er damit viel Arbeit gehabt hätte, fügte er hinzu, nicht mehr als ein geschäftlicher Vorgang alle fünf Jahre, immer derselbe übrigens, und auch diesmal werde es wohl wieder darum gehen. Ursprünglich, sagte er, habe er die Aufgabe aus Neugier übernommen, ihres exotischen Reizes wegen, und weil sie ihm Einblicke in eine Welt gewährte, die sich einem Juristen sonst nicht böten. Mit den Jahren, als seine Verpflichtungen bei Gericht stetig zunahmen, hätte er sie eigentlich abgeben müssen, es dann aber doch nicht getan, aus Loyalität und weil er zu faul war, einem Kollegen den Mechanismus seiner Aufgaben zu erklären, vor allem aber wegen der langen Zeiträume, die zwischen seinen Einsätzen lagen, und weil jeder der letzte zu sein schien. Diesmal war er von dem Gesuch überrascht worden, als hätte es ihn gleichsam aus einer anderen Welt erreicht, weil sein Klient sich seit Jahrzehnten nicht mehr gemeldet hatte. Er meinte sich zu erinnern, etwas von Krankheit oder Rückzug aus der Welt gehört zu haben, und etwas in den Tiefen seines Bewusstseins war zu dem Schluss gekommen, der alte Zauberer sei gestorben. Was offensichtlich nicht der Fall war. Selbst von den Jahren gebeugt, würde er die Reise nicht unternommen haben, wenn er nicht Grund zu der Annahme gehabt hätte, dass es um eine letzte Abwicklung, um Abschied ging. Hinzu kamen, wie schon zu Anfang, die Neugier und ein vages Interesse, von Pflichtgefühl ganz zu schweigen, das bei einem Calvinisten alter Schule zuletzt erlischt.

Er dachte zurück an vergangene Zeiten, als der Zauberer Tenor eine bescheidene Berühmtheit gewesen war, sehr bescheiden, aber auch wiederum nicht so sehr, dass er am beweglichen Firmament der eleganten Heilbäder und Kurorte Mitteleuropas nicht doch einen gewissen Bekanntheitsgrad besessen hätte. Dass sein junger Begleiter den Namen noch nie gehört hatte, wunderte ihn nicht. Berühmtheit war ein ephemeres Gut in diesem Beruf, der der Geschichtsschreiber entbehrte.

»Das müsste nicht so sein«, sagte Jean Ball. »Sie hätten eine hochinteressante Geschichte zu erzählen, wegen der vielen Reminiszenzen und Anekdoten. Es wäre auch ein beredtes Zeugnis der Zeit, ihrer tiefsten und markantesten Strömungen, ist es doch gerade das Ephemere, das sie offenbart.«

»Alles eine Frage der Faktenlage, der Dokumentation. Die Geschichtswissenschaft arbeitet mit Realitäten, und auf diesem Gebiet ist die Realität schlüpfrig oder schwer zu fassen oder abgekartet … ich finde nicht das richtige Wort.«

»Aber es war real. Auch wenn es keine materialen Spuren hinterlassen hat.«

»Eine Realität in Anführungszeichen«, sagte der Gerichtspräsident, der noch nach einer Definition suchte, die es vielleicht nicht gab.

Dann aber musste er sich darauf konzentrieren, dem Fahrer Anweisungen zu erteilen. In gewisser Weise begaben sie sich auf unbekanntes Terrain. Zeitweise glaubten sie, in einen urwüchsigen Wald vorzudringen, so sehr fehlte jedes Anzeichen von Zivilisation. Selbst das Licht änderte sich am Ende der schmalen Wege. Nieselregen begleitete sie auf der ganzen Fahrt. Endlich, nachdem sie einige Male falsch und in Sackgassen abgebogen waren, trafen sie auf das Tor. Der Wagen hielt davor, und sie betrachteten es einen Moment: Es wirkte so alt wie das Skelett eines Dinosauriers, nur dass es aus grauem, stellenweise grünfleckigem Schmiedeeisen bestand. Seine gewundenen Stäbe beschrieben unentzifferbare Figuren, die Mitte krönte ein gräfliches Wappen.

»Sicher, dass es hier ist?«, fragte Jean Ball.

Der alte Jurist nickte und bedeutete dem Fahrer, das Tor zu öffnen. Während der Mann der Aufforderung nachkam, setzte sich ein altertümlicher Überwachungsapparat ungesund röchelnd in Gang. Es war eine Kamera, die unsicher auf der Spitze des seitlichen Torpfostens balancierte; vor der Linse hing ein Spinnennetz, und als sie an ihr vorbeifuhren, schien es ihnen, als sähen sie am Grund der Linse kabbalistische Zeichen in den Farben von Rubin, Saphir und Smaragd; es mochte eine Laune des Lichts gewesen sein, das sich über eine aus der Mode gekommene Technologie mokierte.

Im Schneckentempo bahnte sich der Wagen seinen Weg durch hohes Gras, das die Zufahrtsstraßen ausgelöscht hatte, bis zur großen Esplanade vor dem Haus. Letzteres wirkte verschlossen, die Fassade schrundig, seine Atlanten müde, einige schwarze Schindeln des Vordachs lagen, wo sie herabgefallen waren, zerbrochen auf den Stufen. Eine alte Frau öffnete ihnen die Tür. Wortlos grüßte sie den Präsidenten Hoffmann und bedachte seinen jungen Begleiter mit einem misstrauischen Seitenblick. Auf die Frage nach dem Hausherrn antwortete sie mit genuschelter Einsilbigkeit.

Den Blicken der Besucher präsentierte sich das Haus dunkel und verstaubt. Es war unverkennbar, dass es schon seit geraumer Zeit nicht mehr in Schuss gehalten wurde, vielleicht aus der Einsicht in die Nutzlosigkeit eines solchen Unterfangens. Niemand setzte sich mehr in die Sessel oder benutzte die Rokokotischchen, um ein halb gelesenes Buch darauf abzulegen. Sie durchquerten den Salon und stiegen, in eisiges Zwielicht gehüllt, die Treppe hinauf. Der hohe Flur mit seiner Mahagonitäfelung führte sie, der Frau immer hinterher, zu einer großen weißen Tür. Jenseits von ihr starb der Zauberer. Erschwert durch eine Zunge, die sich klaren Äußerungen widersetzte, fand im Folgenden die letzte Verhandlung statt.

Nachdenklich verließ Jean Ball das Haus. Die Erklärungen des Präsidenten auf der Hinfahrt hatten es ihm erlaubt, die Transaktion in ihrem Kern zu verstehen. Sie hatte aber, verstanden, nichts von ihrer Seltsamkeit verloren, ohne darum ihren Wahrscheinlichkeitscharakter einzubüßen. Dem Präsidenten zufolge hatte sich der Zauberer Tenor in der langen Phase, die auf seinen Rückzug von der Bühne gefolgt war, dadurch über Wasser gehalten, dass er seine Zauberkunststücke sparsam eines nach dem anderen verkaufte. Diese bildeten eine endliche Menge; seine gesamte Laufbahn hatte er mit ihnen bestritten. Er hatte sie in seiner zutiefst kreativen Frühphase ersonnen und in seinen aktiven Jahren höchstens um das eine oder andere Detail ergänzt oder Kleinigkeiten an ihrer Darbietung verändert. Nachdem sein Bühnenprogramm aber einmal fixiert war, erfand er keine weiteren Finten mehr. Überflüssig zu sagen, dass er seit dem Rückzug in seine alpine Einsamkeit keinen Anlass (und womöglich auch nicht die erforderliche Energie) mehr gehabt hatte, sich seiner Erfindungsgabe zu bedienen.

In der Welt des Varietés besaß jeder Zauberer seinen Vorrat an möglichst originalen eigenen Tricks oder »Nummern« (das Wort »Trick« wurde in der Regel vermieden), die er mit Klassikern wie der zersägten Frau oder dem Verschwinden aus einer verschlossenen Kiste kombinierte. Diese Klassiker waren zwar erzbekannt, wurden üblicherweise aber genau darum am stürmischsten gefeiert; ein Publikum, das sich einem Zauberer gegenübersah, regredierte auf einen kindlichen Zustand, in welchem es schon wegen eines Kaninchens, das aus einem Zylinder kroch, mit offenen Mündern dasaß. Obwohl diese Dinge zum Einmaleins des Berufs gehörten, oder gerade deswegen, verlangten sie nach fehlerloser Präzision in der Ausführung; die Zuschauer kannten sie schon und konnten vergleichen. Dagegen gestatteten die originalen Nummern Ungenauigkeiten oder Unsauberkeiten, die von der Neuheit, dem nie Dagewesenen, kaschiert wurden. Ihre Schwierigkeit war früher, in der Erfindung.

Dieser Punkt führte zu einem gewissen Paradox. Das Erlernen des Berufs vollzog sich auf einer Stufenleiter vom Elementaren zum Hochkomplexen, aber noch auf dem Höhepunkt der Virtuosität übte sich der Schüler in dem, was bereits bekannt und im Lehrbuch geschrieben stand. Am Ende seiner Ausbildung, wenn er sein Zauberer-Diplom erhielt, war er noch kein Zauberer. Das Wesentliche des Berufs lag jenseits der Ausbildung. Um ein wahrer Zauberer zu sein, musste er seine eigenen Zauberkunststücke entwickeln und sie geheim halten. Alle Nummern, einschließlich der klassischsten und abgegriffensten, wurden vor dem Publikum geheim gehalten; die eigenen Originale wurden vor den anderen Zauberern geheim gehalten, und es war dieses Geheimnis, das einen Zauberer zu einem wahren Zauberer machte. Ein Profi mit Erfahrung und Hellsicht (Letzteres hatte er schon seiner Definition nach zu sein) konnte beim bloßen Zuschauen das Geheimnis durchschauen oder die Erfindung »zurückerfinden«. Aber es gab eine Berufsethik, die ihn davon abhielt. Die gleiche Ethik, die ihn trotz allem dazu anhielt, wenigstens eine Mindestmenge an originalen Nummern, eigenen Erfindungen im Repertoire zu haben.

Der Prozess der Erfindung ebenso wie dessen Ergebnis hingen von den individuellen Fähigkeiten des Aspiranten ab. Das Feld, auf dem er sein Talent entfalten konnte, war weit, vielleicht zu weit. Gab es etwas, worauf Zauberei oder die künstlerische Simulation der Zauberei, die der wahren definitionsgemäß täuschend ähnlich sieht, keine Anwendung fand? Die einzige Beschränkung war, dass sie für die Bühne taugte. Weshalb man aus einem unendlich breiten, universalen Spektrum auswählen musste. Kaninchen, Tücher, Tauben, schöne Assistentinnen, zersägt oder verschwunden, Karten, Blumensträuße bildeten nur erst den Beginn einer wahrhaft chaotischen Auflistung. Der angehende Schöpfer stand einem lebendigen Magma gegenüber, im dem alle Dinge und alle ihre Beziehungen sich um und um wälzten, als wäre ein Veitstanz der Verwandlungen in sie gefahren.

Man konnte niemals sicher sein, dass das Neue wirklich neu war. Es bestand immer die Möglichkeit, dass auf einem anderen Kontinent, in einer anderen Epoche ein anderer Zauberer das Gleiche erfunden hatte. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich so verhielt, war indes gering, tendierte angesichts der unüberschaubaren Fülle von kombinierbaren Elementen gegen null. Paradoxerweise führte die nämliche Fülle dazu, dass sich in gewisser Hinsicht alles ähnelte. Weshalb die Darbietung eines Zauberers auf der Bühne den Eindruck machte, man habe derlei schon früher gesehen, was wesentlich zu ihrem Reiz beitrug.

Diese Arbeit des Erschaffens oder Erfindens war Sache der Vergangenheit, einer so fernen Vergangenheit, dass man sie schon für legendär hielt, für ihrerseits erfunden. Denn es geschah, geschah seit unzähligen Generationen ständig, dass ein Zauberer, der sich zur Ruhe setzte, seine exklusiven Nummern verkaufte, an Nachwuchszauberer, die damit ihren Originalitätsvorrat aufstockten. Da über diese Transaktionen der Mantel strengster Diskretion gebreitet blieb, konnte niemand entscheiden, ob sich eine bestimmte Nummer, ungeteiltes Eigentum eines Zauberers, seiner Erfindung verdankte oder von ihm gekauft worden war. Ein mit elementarer Genauigkeit erstelltes historisches Verzeichnis hätte diesen Zweifel ausräumen können, aber da Letzterer allen zupasskam, blieb ein solches Verzeichnis Fantasie, und der Beruf, von Geschichtsschreibern verwaist, bewegte sich in einer ewigen Gegenwart.

Dem weiteren Bericht zufolge, den der Rechtsberater seinem jungen Begleiter gab, hatte der Zauberer Tenor mit diesen Verkäufen in dem Moment begonnen, als der Vorhang über seiner letzten Vorstellung fiel. Es war ein Weg, der auf Tod oder Auslöschung hinauslief. In seinem Fall war der verfügbare Vorrat nicht weltbewegend, doch seine sparsame Dosierung hatte ihm ein auskömmliches Leben ermöglicht. Präsident Hoffmann, in jenen ersten Jahren ein Rechtsanwalt maßvoller Honorare (später brachte er es zu Ansehen, erklomm am Bundesgericht die Karriereleiter und regelte nebenbei die Angelegenheiten von einer Handvoll ihrer Krone beraubter und in die Schweiz geflohener Häupter, die nach etlichen Stürmen und Wirren nur noch ihre ins Trockene gebrachten Schäfchen gut versorgt sehen wollten), war bei der Abwicklung unverzichtbar. Er hätte sich niemals für diese Aufgabe einspannen lassen, bei der sich das Geringfügige mit dem Komplizierten verband, wäre da nicht seine Neugier gewesen. Eine Aura von Intrige umgab den Zauberer Tenor, etwas, das über Geldfragen hinauszugehen schien. Im Laufe der Jahre gelangte er fast zu der Überzeugung, dass es überhaupt kein Geheimnis gab: Es war alles bloß Geschäft. Zudem eines mit ziemlich halbseidenen Künstlern; zu der Überzeugung kam er, wenn ihn einmal alle vier oder fünf Jahre der Zauberer Tenor wissen ließ, dass er eine weitere seiner »Nummern« zu verkaufen wünschte, und er Anzeigen in Fachzeitschriften schalten und den Besuch von Interessenten empfangen musste, die entgegen der landläufigen Vorstellung vom Zauberer als romantischer Figur unbedeutende Lebenskünstler aus aller Herren Länder waren. Der Vorgang gestaltete sich mühselig. Man kaufte blind ein Verfahren mit Beschreibung und Erläuterung in einem versiegelten Kuvert; nicht einmal der Anwalt wusste, was er verkaufte.