Dževad Karahasan
Ein Haus für die Müden
Fünf Geschichten
Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber
Suhrkamp Verlag
Ein Haus für die Müden
Et in Arcadia ego.
Bartolomeo Schedoni (1578-1615)
Aufschrift auf einem Gemälde
Der Bund der geheimen Briefträger
Prolog
Argumentum
Historia
2
3
4
Feuergeburt
Aufzählung von Wundern
Das Abheben der Gleise
Samtblumen an ihrer statt
Das Sarajevoer Blatt Hrvatski dnevnik brachte in der Nummer 216, in der Beilage der Vijesti, etwa zehn Artikel auf der Titelseite. Über die Bedeutung, die die Redaktion den einzelnen Artikeln beimaß, lassen sich schwerlich irgendwelche Schlüsse ziehen, weil kein einziger durch einen Rahmen, ein Foto, das ihn dokumentieren oder kommentieren würde, eine Überschrift, die durch die Größe der Buchstaben, die Farbe oder auf irgendeine andere Art ins Auge fiele, hervorsticht. Sie reihen sich nebeneinander und untereinander an, sind gleichmäßig in Spalten eingeteilt, mit gleichen Lettern gedruckt, mit immer den gleichen Überschriften versehen, die sich vom eigentlichen Text nur wenig durch größere und fett gedruckte Buchstaben abheben. Will man eine Hierarchie der veröffentlichten Artikel aufstellen, wird einem diese ausgesprochen diskret suggeriert, etwa durch die Reihenfolge und den Platz, den jeder Artikel auf der Seite einnimmt. In diesem Fall wäre der wichtigste Artikel wahrscheinlich der in der Ecke links oben auf der Seite, also der erste in der Folge, weil sich der Blick des europäischen Lesers schlicht auf diesen als den ersten richten muss. Wäre der zweitwichtigste der darunter oder der mitten auf der Seite? Der in der Folge zweite wäre es sicher nicht, die Haupteigenschaft des zweiten ist, dass er im Schatten des ersten steht, das wissen alle, die auch nur zweimal eine gut redigierte Zeitung durchgeblättert haben. Gute Zeitungen verstecken auf der zweiten Seite Texte, die sie am liebsten nicht veröffentlichen würden, aber aus irgendeinem Grund müssen, es ist logisch anzunehmen, dass es sich so auch mit dem zweiten Text auf einer Seite verhält. An die zweite Stelle setzt man einen Text, den man nicht zu sehen und zu lesen braucht, deshalb bringt man nach dem ersten Artikel in der Folge immer den, von dem man Unsichtbarkeit erwartet und wünscht.
Den zweitwichtigsten Artikel muss man also in den geometrischen Mittelpunkt der Seite stellen, dorthin, wo sich die gedachten Diagonalen schneiden, weil der Blick des Betrachters schlicht dorthin fallen muss. Auf der Seite der Vijesti im Hrvatski dnevnik fiel dieser Platz dem Artikel »Wahl des neuen Papstes« zu, der folgendermaßen lautet:
WAHL DES NEUEN PAPSTES
Rom, den 30. August
Die hiesige Tribuna schreibt:
Mit den Kardinälen, die heute in Rom eingetroffen sind, ist das heilige Kollegium komplett. Von denen, die am Konklave teilnehmen (der Wahl des neuen Papstes), fehlen nur noch zwei, und zwar die amerikanischen Kardinäle Gibbons und O'Connel. Von 65 Kardinälen werden 60 an der Wahl des neuen Papstes teilnehmen, und zwar 32 italienische und 28 ausländische Kardinäle. Von den ausländischen sind 6 Franzosen, 1 Engländer, 1 Brasilianer, 3 Amerikaner, 1 Ire, 1 Belgier, 1 Niederländer, 2 Deutsche, 3 Österreicher, 5 Spanier, 2 Portugiesen, 2 Ungarn.
Das Konklave wird am 31. August um 5 Uhr nachmittags eröffnet.
Aber in der linken oberen Ecke der Seite steht als der wahrscheinlich wichtigste Artikel oder wenigstens als der Artikel, dem die Redaktion am meisten Wichtigkeit beimisst: »Tagesbefehl des G. d. K. Dankl«
Der Text lautet:
TAGESBEFEHL DES G. D. K. DANKL – 6000 RUSSEN GEFANGEN
Wien, 30. August.
Aus dem Kriegspressequartier wird amtlich gemeldet: Der Armeekommandant G. d. K. Dankl hat am 26. August folgenden Armeekommandobefehl an seine unterstehenden Truppen erlassen:
Die Armee hat am 23. und 24. August in der Schlacht von Krasnik, Polichna und Goraj ihre Feuertaufe glänzend bestanden. Alle Korps haben dank dem todesmutigen Verhalten der Truppen den Feind zu einem fluchtartigen Rückzug gezwungen. Soweit bisher bekannt, sind 3 Fahnen, 28 Geschütze und viele Maschinengewehre erbeutet und über 6000 Gefangene gemacht worden. Aus ganzem Herzen danke ich allen Angehörigen der Armee für die unserem Allerhöchsten heißgeliebten Obersten Kriegsherrn und dem Vaterlande geleisteten Dienste. Aber auch Wehmut erfüllt unser Herz: viele Kameraden haben den Tod auf dem Felde der Ehre gefunden. Ihrer gedenken wir in dieser erhabenen Stunde. Noch stehen uns schwere Kämpfe und viele Mühsale bevor. Die brave Armee – ich bin dessen sicher – wird sie alle überwinden.
Dankl, General der Kavallerie.
Diese Anordnung beweist, denke ich, dass der Hrvatski dnevnik ein gut redigiertes Blatt war. Die Wahl eines neuen Papstes ist unter allen Bedingungen und zu allen Zeiten eine wichtige Nachricht, der man die entsprechende Aufmerksamkeit schenken muss, deshalb wurde sie in die Mitte der Seite gestellt. Aber an die erste Stelle in der Ecke links oben muss der Tagesbefehl eines bedeutenden Generals kommen, vor allem wenn in ihm große Erfolge und Siege vermeldet werden. Denn es war Krieg, es geht um den August 1914, und der Papst verfügte zu dieser Zeit nicht über viele Divisionen, demnach konnte er im Krieg keine Rolle spielen, die der der großen Generäle gleichgekommen wäre.
Eine kurze Analyse dieser Seite, die auch berücksichtigen würde, was nicht auf ihr veröffentlicht ist, würde selbst einen halsstarrigen Skeptiker davon überzeugen, dass der Hrvatski dnevnik ein gut redigiertes Blatt war. In keiner einzigen Nachricht wird nämlich der Kriegsschauplatz erwähnt, der für die Sarajevoer Bürger naturgemäß am interessantesten wäre, schon deshalb, weil er in ihrer nächsten Nähe liegt. Es ist der an der Grenze zu Serbien, der, auf dem wahrscheinlich ihre Mitbürger kämpften. Zu dieser Zeit gab es auf diesem Kriegsschauplatz keine Siege und Erfolge, die man in einem Tagesbefehl eines Generals hätte vermelden können, daher war es am besten, ihn schlicht zu verschweigen. Außerdem war er nahe und betraf jeden Leser direkt, weil jeder von ihnen einen Verwandten, Freund oder wenigstens Bekannten hatte, der dort tötete oder fiel. Schon deshalb würden eine gute Zeitung und anständige Menschen das Schweigen über diesen Kriegsschauplatz und jeden ähnlichen Gegenstand wählen, weil über Dinge, die unmittelbar gegenwärtig sind und wirklich schmerzen, nur widerliche Typen sprechen, die sich für weise halten und in jedes Gespräch Seufzer und Bemerkungen dazu einwerfen, dass es schlecht um uns stehe, und den Gesprächspartner am Ende mit der Enthüllung schockieren, dass wir schließlich alle sterben müssen, obwohl man bis dahin angenehm über die gesenkten Schuhpreise geplaudert hat.
Der nahe Kriegsschauplatz an der Grenze zu Serbien wird auf den anderen Seiten erwähnt, aber auch da nur indirekt, zum Beispiel in der großen Bekanntmachung der Bosnisch-Herzegowinischen Landesgesellschaft für Hilfe und freiwillige Sanitätspflege mit der Bemerkung, »es werden vielleicht kaum einige Tage vergehen, und schon werden Züge die ersten Verletzten vom Schlachtfeld transportieren«. Diese Bemerkung bringt den, der die Zeitung durchblättert, kaum aus der Fassung, weil sie auf der fünften Seite abgedruckt ist, zwei nach der, auf welcher der Auszug aus der Verlustliste Nummer 11 mit Hunderten Namen verletzter und gefallener Bürger Bosniens und der Herzegowina steht. Zwischen der Bekanntmachung, die mit Zügen voller Verletzter droht, und dem Auszug aus der Verlustliste Nummer 11, also auf Seite vier, ist eine Anzeige veröffentlicht, mit der Osmanaga Nuri Prcić für »Die erste elektrische Mühle aus Tuzla zum Mahlen alla turca gerösteten Kaffees« wirbt. Die Anzeige ist reich verziert mit zwei Vignetten und einem Bild, das einen bärtigen Orientalen zeigt, der sich in seinem Sitz bequem zurücklehnt, und über dem Bild steht die Anmerkung, es handle sich um die »Schutzmarke der großen Genießer«. Die ganze Anzeige ist reich mit Versen versehen, unter denen die über der rechten Vignette hervorstechen:
Ich trinke trinke schwarzen Kaffee
Ich trinke ihn weil er mir schmeckt
Und unwiderstehliche Gelüste weckt
Ich trinke Kaffee, doch nur frisch
Kommt er Genießern auf den Tisch
Warum weist man auf der fünften Seite darauf hin, dass uns Züge mit Verletzten drohen, wenn auf der dritten die Namen verletzter und gefallener Bekannter abgedruckt sind? Einige Bürger von Sarajevo bemerkten zum Beispiel am Ende der zweiten Spalte unter den Gefallenen den Namen Bego Lisić, ohne Anmerkung, Kommentar und selbst ohne Herkunftsort, zwischen dem Zugführer Suljo Kukić aus Bosanski Šamac und dem Gefreiten Mijo Lovrić aus Brčko. Einer der Sarajevoer, denen der Namen von Bego Lisić aufgefallen war, versuchte zu scherzen, indem er bemerkte: »Bei Bego scheint es im Jenseits endlich zu laufen, er hat sich zwischen zwei mit Rang gedrängt, obwohl er ein gemeiner Soldat war, und sicher einer von den schlechteren.« Die Leute, die mit ihm am Tisch saßen, maßen ihn nur mit Blicken, so wurde auch ihm schnell klar, dass sein Scherz missglückt war.
Theophrast dachte, der Mensch sei die Summe dessen, was er bei der Geburt in sich getragen hat, und dessen, was er in jedem beliebigen Augenblick seines Lebens gewesen ist (getan, gedacht, gefühlt hat). Daher ist jetzt jeder von uns (welch schrecklicher Segen!) alles, was er je gewesen ist, sogar vor der Geburt, als das Verhältnis seiner Körpersäfte hergestellt und die Schnelligkeit bestimmt wurde, mit der diese Säfte im Körper zirkulieren. Ein Mensch hat einmal, sagen wir, in einem Moment, kürzer als ein Augenblinzeln, begriffen, wie viel besser ein Ölbaum ist als er, und sich gewünscht, ein Ölbaum zu sein, oder ist es im Geiste auch gewesen. Kurz danach ist er in den Norden gezogen und mit der Zeit in der Baumaschinenindustrie reich geworden, einen Ölbaum hat er nie wieder gesehen, auch nicht an einen gedacht, und wird dennoch bis zu seinem Tod (vielleicht auch darüber hinaus?) unter anderem der bleiben, der sich einmal in der Jugend gewünscht hat, ein Ölbaum zu sein. Wenn er lobende Worte des Verwaltungsausschusses seiner Gesellschaft hört, wenn er auf Skiern einen Hang in den Schweizer Alpen hinunterfährt, wenn er seinem Arzt gesteht, wo es ihm wehtut, und er sich vor dem Schlafengehen selbst beichtet – in jedem dieser Zustände und in jedem Augenblick des Lebens ist er auch der, welcher ein Ölbaum sein wollte. Es ist kein richtiger Gedanke gewesen, es ist etwas zwischen Gefühl, Wunsch und Vorstellung gewesen, hat kürzer gedauert als alles, was man sich vorstellen kann, und doch ist es in allem, was er jetzt tut, gegenwärtig. Die Art, wie er die lobenden Worte des Verwaltungssauschusses erlebt, und die Verhaltensweisen, mit der er einer jungen Mitarbeiterin imponiert, die Wahl der Speisen im Restaurant und alles andere, buchstäblich alles, was er macht und ist, hat auch mit dem Moment zu tun, in dem er ein Ölbaum war oder nur sein wollte, und ist irgendwie dadurch bestimmt.
John Stuart Mill, vielleicht geleitet vom Gefühl, dass die Welt nur ein großer Mensch sei, also ein Makrokosmos, hat den Gedanken von Theophrast auf das Universum übertragen und ist zu dem logisch unbestreitbaren Schluss gelangt, dass ein großer Geist, der alles über die Welt jetzt wüsste, den Zustand der Welt, jede Kleinigkeit und jedes Ereignis, in jedem Augenblick von ihrer Entstehung an zuverlässig und vollständig erkennen und rekonstruieren könnte. Weil die Gegenwart ein Produkt der Vergangenheit ist und sie aus einander hervorgehen, gedeutet und erzeugt werden wie Käse aus Milch, Lab, Wärme und Rühren.
Die Welt und das Leben, zu dem ich verurteilt bin, haben also etwas zu tun mit den glänzenden Siegen des Generals Dankl und der Papstwahl, die am 31. August 1914 um fünf Uhr nachmittags begonnen hat, sowie mit der Entscheidung von Osmanaga Nuri Prcić aus Tuzla, Werbung für seine elektrische Mühle zu machen, und mit dem Tod des gemeinen Soldaten Bego Lisić aus dem Sarajevoer Stadtviertel Sedrenik. Was haben sie damit zu tun? Es ist logisch unbestreitbar, dass sie ein Produkt und eine Folge der in der 216. Nummer des Hrvatski dnevnik veröffentlichten Artikel und der Ereignisse sind, von denen diese handeln, also auch von Begos Namen im Auszug der Verlustliste. Würde ich meine Welt und mich selbst besser verstehen, wenn ich entdecken würde, in welchem Maße und auf welche Weise Bego, Dankl, die Verluste und Osmanaga Nuri Prcić in sie verwickelt sind? Inwieweit sind die Artikel, die ich zitiert habe, und die Ereignisse, die sie melden, in meiner Welt und mir gegenwärtig? Wird sich an meinem traurigen Zustand irgendetwas bessern, wenn ich wenigstens ein paar unbestreitbare Folgen jener Artikel in dieser Zeit, meiner Stadt, unter den Menschen, mit denen ich Umgang pflege oder die ich zumindest kenne, entdecke und begreife?
Eine Reihe von Tatsachen, die meine Zeit mit jenen Texten verbinden, also eine Reihe ihrer Folgen, konnte ich in erlaubten und verbotenen Büchern, vor allem historiographischen, aber auch philosophischen, erzählerischen, kulturwissenschaftlichen lesen. Einige dieser Tatsachen, die offensichtlich unmittelbare Folgen der zitierten Artikel sind, wären in rein zufälliger Auswahl: Das Sterben der Monarchien (vier an der Zahl, in Ziffern: 4) und eine wahre Invasion von Republiken auf dem europäischen Kontinent (eine unbekannte Zahl). Das Ende des literarischen Wirkens von Georg Trakl. Die radikale Kürzung von Rock und Haar in der Damenmode. Die Entstehung des heute weitverbreiteten Vorurteils, dass Informiertheit über äußere Tatsachen dem Menschen Wissen über das Leben, die Menschen und die Ereignisse verleihe. Eine Flut von Dissertationen und allgemeinverständlichen Büchern, die die im 20. Jahrhundert entstandenen totalitären Systeme deuten. Die Kündigung der Wohnung in der Spiegelgasse 14 in Zürich, aus der der bisherige Mieter Vladimir Iljič Uljanov genannt Lenin unerwartet ausgezogen ist, der allerdings bis Ende Mai 1917 korrekt seine Miete bezahlt hat. Die Isonzoschlachten. Der systematische Einsatz von Kampfgiften, Panzern, Flugzeugen und Unterseebooten als unbestreitbare Beweise des wissenschaftlichen Fortschritts. Eine Reihe von Nationalstaaten slawischer Völker. Die skeptische Medientheorie, breit akzeptiert in Sarajevo, die der legendäre Barbier Mujić äußerst präzis formuliert hat, indem er sagte: Die Zeitungen könnten ja vielleicht einen Nutzen haben, wenn man in ihnen lesen könnte, was sie absichtlich verschweigen und was sie nicht bemerkt haben. Henry Millers Fortgang aus Paris und sein Weltruhm. Die Umbenennung unzähliger Straßen und vieler Städte. Und so weiter und so weiter, diese Aufzählung könnte fortgesetzt, aber nicht beendet werden.
Andere Folgen der veröffentlichten und hier zitierten Texte bilden keine Reihe, sondern ein Netz, weil sie nicht Geschichte, sondern Leben sind, aber auch diese Reihe, die eigentlich ein Netz ist, verbindet mich mit unseren Texten. Diese Folgen lassen sich nicht in Büchern finden, sie sind verborgen beziehungsweise unsichtbar, weil sie mit dem Leben verschmolzen sind und sich in Dutzende von Schicksalen, Erinnerungen, Ereignissen und Wünschen, menschlichen Absichten, Beziehungen und Missverständnissen, Fehlurteilen und absichtlichen Lügen aufgelöst haben. Sie lassen sich weder in erlaubten noch verbotenen Geschichtsbüchern finden, weil sie keine (vollendbaren und vollendeten, in einen Rahmen eingeschlossenen) Ideologeme sind, sondern fluide Substanz des Lebens, die sich nicht einschließen, vollenden, in eine historiographische Studie schreiben lässt. Daher kann man sie nicht lesen, sondern man erfährt sie am eigenen Leib, sie werden nicht durch Bücher bewahrt und weitergegeben, sondern durch das Leben selbst, wie Erbkrankheiten. Aber ein neugieriger Mensch kann sie ziemlich genau erfahren und rekonstruieren, wenn er lange genug mit Menschen spricht, die diese Folgen leben, mit ihnen am Feierabend zusammensitzt und Tavla spielt, sich das Geplapper Betrunkener und Witze merkt, beim Barbier sitzt und sich die Gespräche der Kunden anhört. Wenn er genügend Erinnerungen, Tratschereien, Zeugnisse von realen Schicksalen und eigene Erlebnisse mit Menschen, die diese Schicksale erleiden, beisammenhat, bleibt ihm nur, das, was er gesammelt hat, in ein ruhiges Wasser zu werfen und geduldig zu warten. Die Elemente des Gesammelten werden sich auf der Oberfläche des Wassers nach ihrer inneren Verwandtschaft von allein zu Einheiten anordnen, indem sie sich vereinigen und gegenseitig im Einklang mit ihrer Natur anziehen. Falls der Sammler die Form, die diese Einheiten zusammen bilden, wiedererkennt oder wenigstens erahnt, wird er vielleicht auch verstehen, wie jene Artikel in seinem Leben heute wirken. Und wie sie nicht wirken, weil sie sich im Leben anderer verloren haben, aber er möchte, dass sie wirken oder sich wenigstens hin und wieder kundtun.
Herr Joseph Purgheimer, Hauptgeschäftsführer der Bosnischen Post, gab sich noch immer mit Genuss den Ritualen hin, mit denen er den Arbeitstag begann, obwohl es schon der siebte Monat war, seit er aus der Redaktion, von der Stelle eines Journalisten, in die Leitung, auf die Stelle des Geschäftsführers oder Direktors, wie man ihn hier nannte, gewechselt hatte. Der Bedienstete Ibro Tuco pflegte, kurz nachdem sich der Direktor an den großen Schreibtisch gesetzt hatte, lautlos in sein Büro zu kommen und ihm einen heißen starken türkischen Kaffee hinzustellen, den er genauso zubereitet hatte, wie der Herr Direktor es liebte (Ibro hielt die Wünsche des Herrn Direktor so hoch, dass er sogar das kleine runde Tässchen, genannt Findžan, das hier für den Kaffeegenuss ebenso obligatorisch war wie gemahlene Kaffeebohnen oder das Wasser, in dem der Kaffee gekocht wurde, durch eine große Tasse ersetzt hatte, weil der Herr Direktor es so wünschte). Dann verschwand Ibro, wieder lautlos, aus dem Büro, um genau drei Minuten später mit den Briefen zu erscheinen, die an dem Tag gekommen waren. In den drei Minuten holte Herr Purgheimer zuerst zufrieden Atem, nahm einen Findžan voll heißen Wassers und ein Löffelchen vom Tablett, mit dem Löffelchen schöpfte er ein paarmal heißes Wasser aus dem Findžan und goss es über den Schaum und das Kaffeepulver oben in einem Kupferkännchen, der Džezva, rührte die Mischung oben in der Džezva ein paarmal vorsichtig um, zuerst mit Bewegungen, die die Mischung vertikal, von unten nach oben, umwälzten, und dann mit Kreisbewegungen, die einen horizontalen Wirbel erzeugten, immer mit dem bis auf den Boden der Džezva eingetauchten Löffelchen, lange und langsam, und wartete, dass sich das Kaffeepulver am Boden absetzte. Schließlich gab er noch einige Tropfen heißen Wassers aus dem Findžan in die Džezva, wartete, bis alles zur Ruhe kam, und goss dann den Inhalt der Džezva mit einem neuen Seufzer der Zufriedenheit in eine weiße Porzellantasse. Mit dem Löffelchen schnitt er ein Stückchen Rahatlokum ab, serviert auf einem kleinen Porzellanteller (die Gewohnheit der Einheimischen, eigentlich ihr tiefer Glaube, Rahatlokum bereite wirklichen Genuss nur, wenn man es mit der Hand esse, hielt er für asiatisch, also barbarisch, und lehnte sie daher strikt ab). Er ließ das Rahatlokum im Mund zergehen, dann schlürfte er einen Schluck von dem heißen bitteren Getränk, der mit dem klebrig-süßen Geschmack des Rahatlokums in eine geradezu himmlische Harmonie zusammenfloss, die einen neuen Seufzer hervorrief. In diesem Augenblick kam Ibro Tuco mit der Post herein, dieses Mal ganz offiziell, will sagen, ohne Lärm, aber durchaus hörbar.
Diskret einen halben Schritt hinter dem Stuhl des Direktors stehend, stellte Ibro rechts vom Tablett mit dem Kaffee ein großes Tablett mit der heutigen Post ab, nahm ein Papiermesser und den obersten Brief und öffnete dann eine Sendung nach der anderen. Aus dem aufgeschnittenen Couvert nahm er den Brief heraus, behielt ihn in der linken Hand, mit der rechten legte er das Couvert und das Messer auf den Tisch, faltete den Brief auf und hielt ihn so aufgefaltet in der ausgestreckten linken Hand, bis der Direktor nach ihm griff. Danach nahm Ibro das Messer vom Tisch, vom Tablett ein neues Couvert und die Prozedur wiederholte sich. Und der Geschäftsführer Purgheimer las oder, viel häufiger, überflog die Briefe diagonal, schrieb bei Bedarf etwas in sein Notizbuch oder auf den Brief selbst und legte dann den durchgesehenen Brief links von sich hin, schnitt ein Stückchen Rahatlokum ab, begoss es mit Kaffee, wartete mit zurückgeworfenem Kopf und geschlossenen Augen, dass sich die zwei Geschmäcke vereinigten, wie sie es immer taten, und griff dann nach einem neuen Brief, den Ibro geduldig in seiner ausgestreckten linken Hand hielt.
Am 17. September 1914 genoss er diese Rituale wie bis dahin jedes Mal. Ihm behagte der langsame Rhythmus der Prozedur, ihm behagte, dass sich weder bei den Handlungen noch bei ihrer Reihenfolge auch nur das winzigste Detail änderte, und ihm behagte die diskrete Achtung, die einem die Stelle eines Geschäftsführers bescherte. Die ruhige Wiederholung der ewig gleichen Handlungen in einer unveränderlichen Reihenfolge behagte ihm gewiss wegen des Sicherheitsgefühls, das einem die Wiederholung fast regelmäßig vermittelt, aber noch viel mehr bedeutete sie ihm als ruhige Einführung in den Arbeitstag, der auch unangenehme Überraschungen mit sich zu bringen wusste. Unsicherheit und Überraschung können einem kraftvollen Menschen, der sicher an seinem Platz steht und gute Aussichten hat, mit ihnen fertigzuwerden, sogar behagen, aber es ist schwer zu glauben, dass jemand, der schwimmt oder einen Abhang hinunterrollt, Überraschungen liebt – mit diesen Worten pflegte Joseph Purgheimer den Genuss seiner morgendlichen Rituale und sein Bedürfnis danach zu erklären. An diesem Tag erwartete ihn gegen Ende seines Rituals, das ihm von Tag zu Tag die Stabilität der Welt bestätigte, eine Überraschung: Er bekam einen Brief, abgeschickt vor 19 Monaten in Baden bei Wien. Vor beinahe zwei Jahren hatte er sich auf eine Stelle bei der Stadtverwaltung Baden beworben, aber keine Antwort bekommen und daraus geschlossen, dass man ihn nicht genommen habe. Nun bekam er die Antwort, die seine Schlussfolgerung bestätigte, aber gleichzeitig die Frage aufdrängte, wie es möglich war, dass der Brief von Baden nach Sarajevo so lange unterwegs war.
Er erzählte es Eduard Pivnička, dem verantwortlichen Redakteur der Bosnischen Post, in einem Gespräch, um das Pivnička gebeten hatte, weil er ihm anbieten wollte, wieder für die Zeitung zu schreiben, denn in der Redaktion fehlten wegen des Krieges ein paar wichtige Leute. Der Krieg hat alles Mögliche durcheinandergebracht, sogar die kaiserlich-königliche Post, bemerkte Joseph Purgheimer und legte das mit dem Wappen der Stadt Baden verzierte Couvert auf den Tisch. Gestern hätte ich geschworen, dass unsere Post auch Sendungen ins Jenseits mit höchstens einem halben Tag Verspätung zustellt, und das nur im Fall von Unwettern, doch heute habe ich hier diesen Brief bekommen, der anderthalb Jahre zu mir unterwegs war. Im weiteren Gespräch bewiesen er und Pivnička einander, dass sie echte Wiener waren, sie führten nämlich immer offensichtlichere Beweise dafür an, dass die Welt zum Teufel ging, und immer gewichtigere Gründe zur Besorgnis, dann machten sie Witze über diese Gründe, lachten über die Welt und den Teufel, der sie schon in den Händen hielt, und waren stolz auf sich. Irgendwann fiel Pivnička ein, dass ihm Nikola Berković, der Direktor der Landesbank, unlängst von einem Brief erzählt hatte, den er mit geradezu kosmischer Verspätung erhalten hatte, und rief ihn an, um zu prüfen, was gewesen war. Ja, es habe sich um einen vor mehr als zwei Jahren abgeschickten Brief gehandelt, um einen dienstlichen Brief, obwohl er an seine Privatadresse gerichtet gewesen sei, aber er habe wegen dieser Verspätung zum Glück keine Probleme gehabt. Er schlug vor, den Brief am Abend mitzubringen und ihm zu zeigen, sie sollten sich auf der Abschiedsfeier des Ehepaars Preindlsberger sehen, das in den Krieg ging.
Auf der Abschiedsfeier hatte sich halb Sarajevo versammelt, sozusagen alle, deren Wort in dieser Stadt etwas galt. Der Anlass verdiente das im Übrigen auch, Doktor Preindlsberger hatte als Sanitätschef Grund und Verpflichtung, wenigstens zeitweise an die Front zu gehen, aber die gnädige Frau hatte beschlossen, freiwillig mit ihrem Gatten mitzugehen und im Krieg als gewöhnliche Krankenschwester zu dienen. Ihre Entscheidung ließ viele patriotische Herzen höherschlagen, aber gleichzeitig löste sie in der Stadt bissige Diskussionen und manch boshaften Kommentar aus. Diese Diskussionen entbrannten natürlich auch an diesem Abend bei der Abschiedsfeier. Ist der Platz einer Frau im Krieg, auch wenn ihr Mann Sanitätschef ist und sie selbst Journalistin und Literatin? Ist es heroischer, ein Kind zu gebären oder Verletzte an der Front zu pflegen? Wäre es nicht sogar besser, wenn auch der Herr Doktor hierbliebe, sozusagen in der Zentrale, von wo aus er den Überblick über den Sanitätsdienst in seiner Gesamtheit hätte und bei Bedarf schnell und gezielt eingreifen könnte? Der Möbelfabrikant Venturini erklärte sehr überzeugend, im eigentlichen Kampfgebiet, in der sogenannten vordersten Front, seien nur Leute notwendig, die erste Hilfe leisteten, sagen wir Krankenpfleger und Sanitäter, die Blutungen stillen, den Verletzten in die für ihn angenehmste Lage bringen und den Transport beaufsichtigen könnten. Selbst ein gewöhnlicher Assistenzarzt sei in der vordersten Front überflüssig, und sein wahrer Platz sei im Lazarett, das etwas tiefer im Hinterland liegen müsse, und erst recht der Sanitätschef. Seiner Meinung nach gehe es bei dieser Entscheidung etwas mehr um die Zurschaustellung von Patriotismus und Romantik als um wirkliche Notwendigkeit und militärische Vernunft. Diese Meinung veranlasste natürlich einige Leute, eine gegensätzliche Meinung zu äußern, die bewies, dass gerade romantische Unterfangen das Herz erregten und im Krieg das Herz doch von entscheidender Wichtigkeit sei. Einen Krieg könne man ohne Helden nicht gewinnen, aber Helden gebe es nicht ohne Vorbild und Opferbereitschaft, und sei es auch gegen jede Vernunft und Notwendigkeit.
Venturinis Kompagnon Buttazzoni war, vielleicht auch unter dem Einfluss des schweren hiesigen Weines, schon in eine hitzige Diskussion mit einem alten Oberst verwickelt, den weder der Geschäftsführer Purgheimer noch der Redakteur Pivnička kannten. Sie konnten nicht wissen, was Herr Buttazzoni zu Beginn des Gesprächs gesagt hatte, aber sie sahen deutlich, dass er mit dem, was er gesagt hatte, den Oberst erzürnt hatte, der so laut, dass ihn alle hörten, und mit ziemlich viel Wut in der Stimme ausrief: »My country, right or wrong! Right or wrong, mein Herr! Ich muss mit meinem Vaterland sein, auch wenn es einen Fehler macht, ich gehöre ihm, auch wenn es Verbrechen begeht. Die Engländer wissen das, für sie ist nichts ein Verbrechen, wenn es für das Vaterland ist, deshalb sind sie die erste Macht.« Buttazzoni antwortete höflich leise, aber viel lauter als im ersten Teil des Gesprächs, so dass man ihn gut hören konnte. Er behauptete, es gebe Dinge, die tiefer, wichtiger und älter als das Vaterland seien, er erinnerte an Antigone, die gewusst habe, dass die Gesetze der Götter, des Todes und der Familie älter sind als die staatlichen, sie habe ihren Bruder beerdigt, obwohl das staatliche Gesetz es verbot, und verdiene dadurch die Bewunderung aller Menschen bis zum heutigen Tag. »Aber Kreon hat gesiegt, mein Herr«, trompetete der Oberst zur Antwort. »Ihre Antigone hat sich erhängt wie jeder defätistische Narr, während Kreon weiterherrschte und bis heute herrscht. Von Antigone und ihren Göttern fehlt schon seit Jahrhunderten jede Spur, aber Kreon und seine Gesetze sind noch heute in Kraft.«
In das Gespräch mischte sich, scheinbar auf der Seite des Obersts, ein junger Jurist aus der Nationalversammlung ein, der daran erinnerte, dass der Mensch ein Wesen des Gesetzes sei, das heißt das einzige Tier, das Gesetze erlasse und achte. Es sei der Staat, der die Gesetze erlasse und sich um ihre Einhaltung kümmere, sie bezögen sich nur auf die Gemeinschaft und gälten für die ganze Gemeinschaft, deshalb sei es falsch zu behaupten, der einzelne Mensch sei älter als der Staat. Vielleicht haben wir ja physisch existiert, bevor wir ein Teil der Gemeinschaft und Untertanen eines Staates geworden sind, aber damals sind wir noch keine Menschen gewesen. Seit wir Menschen sind, kennen wir Gesetze und den Staat, weil wir Menschen geworden sind, als sich uns die Gesetze offenbart haben, sagte der junge Jurist. »Aber der Tod, mein Herr, der Tod ist wenigstens eine Minute älter als die Gesetze und der Staat!«, rief Buttazzoni flehentlich. »Natürlich, Sie haben recht, wir sind im Tod allein, aber solange wir leben – gehören wir einer Gemeinschaft an, also dem Staat, sonst sind wir keine Menschen«, schloss der Jurist, sich ebenso an Buttazzoni wie an den alten Oberst wendend, von dem er, nach allem zu urteilen, Unterstützung erwartete. Bevor der Oberst zustimmen konnte, mischte sich Dr. Viktor Jankjevič, Rechtsanwalt und Abgeordneter der Nationalversammlung, ins Gespräch ein, der den jungen Kollegen daran erinnern wollte, dass Gesetze nur so lange gut seien, wie sich der Mensch als Einzelner in ihnen wiedererkennen und in ihrer Einhaltung sein eigenes Interesse sehen könne, andernfalls seien die Gesetze despotisch.
Die beiden hatten keinen Grund, sich dieses Gespräch weiter anzuhören, vor allem weil auch sie am Ende aneinandergeraten wären. Sie wussten nämlich, dass Pivnička ein begeisterter Verfechter des Krieges, ein sogenannter Bellizist, war, und Purgheimer ein ausgesprochener Skeptiker und Kriegsgegner. In einem anderen Zimmer stießen sie beinahe mit Nikola Berković zusammen, der etwas später gekommen war, als er erwartet hatte, und sie praktisch seither suchte. Er müsse sich entschuldigen, begann Berković, sein Brief sei nicht über zwei Jahre unterwegs gewesen, wie er am Telefon behauptet habe, sondern ein paar Monate weniger. Es handle sich um ein Schreiben der Versicherungsgesellschaft Danubius, bei der Berković eine Lebensversicherung für alle Familienmitglieder abgeschlossen hatte. Der Brief, den er bekommen habe, sei gleichzeitig ein Glückwunschschreiben zu seinem Geburtstag und zum Jahrestag des Versicherungsabschlusses gewesen, weil die beiden Daten praktisch übereinstimmten, sie lägen nur zwei Tage auseinander. Wahrscheinlich deshalb habe der Brief in einem wunderschönen, geradezu prachtvollen Couvert gesteckt, auf das eine Schleife in königsblauer Farbe gemalt sei, aber so, dass das Couvert aussehe, als wäre es mit einer blauen Seidenschleife zugebunden. »Nichts von Bedeutung, ich habe weder Probleme noch Verluste gehabt, aber es ist dumm«, schloss Berković und bemerkte, noch ein paar Leute hätten ihm erzählt, sie hätten in letzter Zeit Sendungen erhalten, die Gott weiß wann abgeschickt worden waren. Er könne sich nicht erinnern, wer es gewesen sei, aber es seien sicher zwei, vielleicht auch drei gewesen.
»Ja, ich fürchte, unsere liebe Post geht unter dem Einfluss des Krieges zugrunde«, äußerte Purgheimer besorgt, der in den Händen noch immer den Brief der Danubius-Versicherung drehte und wendete und ihn mit seinem Brief von der Stadt Baden verglich.
»Ich bringe Sie vors Kriegsgericht, falls mir zu Ohren kommt, dass Sie das vor Zeugen, besonders vor Leuten außerhalb unseres engen Kreises, wiederholt haben«, sagte ihm eine ruhige, angenehme Stimme fast ins Ohr. Es war Emil Gaberle, der Leiter der Kriegspost und Telegraphie. »Was Sie machen, nennt sich Propaganda, junger Mann, und zwar, unangenehm für Sie, feindliche Propaganda mitten im Kriegszustand.«
»Entschuldigen Sie bitte, ich bin übrigens gar nicht zur Propaganda imstande, der Kollege wird das bezeugen«, entgegnete Purgheimer und zeigte auf Pivnička, »das, was ich sage, hat nicht das Geringste damit zu tun.«
»Es ist feindliche Propaganda, wie wenig es auch immer ›damit zu tun‹ hat. Zu behaupten, ein Dienst, der tadellos funktioniert, gehe zugrunde, ist unter normalen Umständen eine Lüge, aber unter den Bedingungen des Krieges feindliche Propaganda.«
»Aber ich halte gerade zwei Briefe in den Händen, die meine Behauptung, das heißt meine patriotische Besorgtheit, bestätigen oder zumindest rechtfertigen. Das ist sozusagen das Corpus Delicti, Herr Vorsitzender«, verteidigte sich Purgheimer.
»Erlauben Sie, dass ich mir das ansehe.«
»Bitte schön, beide auf einmal«, reichte ihm Purgheimer seinen und Berkovićs Brief. »Und der Herr Direktor hat gerade zwei oder drei Leute erwähnt, die wie wir Postsendungen mit astronomischer Verspätung erhalten haben.«
»Ist das wahr?«, fragte Emil Gaberle den Direktor Berković.
»Ja, das könnte ich bezeugen, wenn Sie mich nicht vor Gericht bringen«, versuchte Direktor Berković zu scherzen.
»Das werde ich nicht, weil ich bezeuge, dass unsere Post geradezu perfekt funktioniert. Zu mir kommen täglich Tausende, Zehntausende von Nachrichten, Telegrammen, Botschaften, Briefen, Paketen aus aller Welt, mit einer geradezu beeindruckenden Pünktlichkeit.«
»Aber es ist Krieg, Herr Vorsitzender, niemand kritisiert gelegentliche Versäumnisse unter Kriegsbedingungen«, bemerkte Pivnička versöhnlich. »Wenn wir es erwähnen, dann nur, weil es uns leidtut oder weil wir besorgt sind.«
»Im Krieg muss die Post noch besser funktionieren, weil sie dann von entscheidender Wichtigkeit ist«, antwortete Gaberle, die verspäteten Briefe, die ihm Purgheimer gegeben hatte, in seinen Händen hin und her drehend. Er betrachtete die Couverts, nahm die Briefe heraus, studierte sie und steckte sie zurück, lange prüfte er mit den Fingern die Couverts und betrachtete die Stellen, an denen sie zusammengefügt waren.
»Ich weiß nicht, ob Ihnen aufgefallen ist, meine Herren, dass vor zwei Jahren und auch vor einem Jahr gar kein Krieg war.«
»Wie sollen wir das verstehen?«, fragte Pivnička.
»Als Behauptung, dass diese Briefe, das heißt ihre Verspätung, nichts mit dem Krieg zu tun haben. Sie wurden vor ein, zwei Jahren abgeschickt und sind irgendwo abhandengekommen, zufällig oder absichtlich, waren also bis jetzt verschwunden und wurden nun den Empfängern ausgehändigt.«
»Interessant!«, wunderte sich Purgheimer. »Das ist mir gar nicht aufgefallen, könnte aber sehr gut stimmen. Verzeihen Sie, wenn ich Sie durch meine Bemerkung verärgert oder beleidigt habe, Herr Vorsitzender.«
»Unter der Bedingung, dass Sie eine Sache zur Kenntnis nehmen.«
»Und die wäre?«
»Wenn man nach diesen Briefen urteilen würde, müsste man schließen, dass die Post jetzt im Krieg besser funktioniert, als sie es im Frieden getan hat. Ihre Briefe sind verlorengegangen und lange in der Welt umhergeirrt, wurden aber jetzt ausgehändigt, während des Krieges«, scherzte Gaberle und rief ein zustimmendes Lachen hervor. »Kann ich die Briefe ein paar Tage behalten?«
»Natürlich«, antworteten alle drei einstimmig, dann lachten sie erneut, weil alle Pivnička anschauten, der erlaubt hatte, fremde Briefe zu behalten.
»Einer meiner Leute wird sich bei Ihnen melden, meine Herren Journalisten, ich glaube, schon morgen oder übermorgen, hier ist eine kleine Untersuchung notwendig, nur so, für alle Fälle. Können Sie mir die Namen der anderen Leute nennen, die verspätete Briefe bekommen haben?«, fragte Gaberle am Ende Nikola Berković. Und da sich dieser nicht erinnern konnte, bat er ihn, er möge ihn anrufen, wenn es ihm einfalle oder er etwas Neues entdecke, und verabschiedete sich.
Drei, vier Tage später bekam Purgheimer einen Anruf von Kalikst Petrović, der sich als »eine Art Sekretär« von Herrn Emil Gaberle vorstellte. Er erklärte, er rufe im Zusammenhang mit den verspäteten Briefen an, und schlug vor, sich so bald wie möglich zu treffen. »Kommen Sie hierher«, antwortete Purgheimer, »wir sind in der Čuković-Straße, das ist ein Katzensprung für Sie.«
»Sie wissen doch gar nicht, von wo aus ich anrufe, vielleicht habe ich es ja gar nicht so nah, wie Sie denken«, lachte Kalikst Petrović. »Mein Chef hat mich vorgewarnt, dass Sie zuerst Schlüsse ziehen und dann die Voraussetzungen suchen. Er hat Sie richtig eingeschätzt, nicht wahr. Und das auf der Grundlage eines beiläufigen Gesprächs, eine wirklich seltene Fähigkeit, nicht wahr.«
Er schlug vor, sich um vier Uhr nachmittags im Café Marienhof zu treffen.