Ingrid Zellner wurde 1962 in Dachau geboren. Nach ihrem Theaterwissenschafts-, Literatur- und Geschichtsstudium in München war sie am Stadttheater Hildesheim und zwölf Jahre an der Bayerischen Staatsoper München Dramaturgin. Heute ist sie Übersetzerin (Schwedisch) und Autorin. Sie hat bereits Krimis, Romane, ein Kinderbuch, Kurzgeschichten, CD-Booklet-Texte, Artikel und Theaterstücke veröffentlicht. Daneben ist sie Regisseurin und Theaterschauspielerin.
www.ingrid-zellner.de
Ein Baden-Württemberg-Krimi
Sollte dieses Werk Links auf Webseiten Dritter enthalten, so machen wir uns die Inhalte nicht zu eigen und übernehmen für die Inhalte keine Haftung.
1. Auflage 2018
© 2018 by Silberburg-Verlag GmbH,
Schweickhardtstraße 5a, D-72072 Tübingen
Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.
Umschlaggestaltung:
Christoph Wöhler, Tübingen.
Coverfoto: © technotr – iStockphoto.
Druck: Gulde-Druck, Tübingen.
Printed in Germany.
ISBN 978-3-8425-2088-2
eISBN 978-3-8425-1798-1
Besuchen Sie uns im Internet und entdecken Sie die Vielfalt unseres Verlagsprogramms:
www.silberburg.de
Es gibt keine Höhen, wenn
dazwischen nicht auch Täler liegen.
Zitat von Manfred Kerler
auf der Informationstafel »Wo die Adler fliegen«
im Adler-Skistadion Hinterzarten
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Nachsatz und Dank
Es war nur ein einfacher kleiner Verkaufsstand. Eine simple, grauschwarze Bretterbude. Und doch war es für ihn etwas Besonderes. Es war wie ein Schrein. Ein Schrein, vor dem er jedes Mal stehenblieb, wenn er zum Adler-Skistadion kam.
Natürlich nicht, um zu beten. Die Männer, die man in hellen Pastellfarben auf diese Bretterbude gemalt hatte, waren schließlich keine Heiligen. Sie waren Legenden. Zu Legenden betete man nicht. Man verehrte sie.
Georg Thoma, Olympiasieger und Weltmeister. Dieter Thoma, Olympiasieger und Weltmeister. Sven Hannawald, Olympiasieger und Weltmeister, erster Sieger aller Vierschanzentournee-Wettbewerbe.
Eine Weile betrachtete er die drei großen Sportidole, die hier in Hinterzarten jedes Kind kannte. Dann ging er um die Bude herum zu der Seitenwand, auf der ein weiteres Pastellgemälde Werbung für den FIS-Sommer-Grand-Prix machte – für das Sommerskispringen des Internationalen Skiverbandes, das alljährlich hier auf der Adlerschanze stattfand.
Adlerschanze. Er schnaubte leise. Rothaus-Schanze hieß sie heute ja offiziell. Gut, von irgendwoher musste das Geld ja kommen, von selbst finanzierte sich eine solche Anlage nicht. Und so ein kühles Tannenzäpfle-Bier war an sich nichts Verkehrtes. Trotzdem. Für ihn würde es immer die Adlerschanze bleiben. Schließlich waren es ja auch die Schwarzwald-Adler, die hier flogen.
Ein Gefühl von Stolz durchflutete ihn. Adler. Das Sinnbild für Mut, Weitblick und Kraft. Der König der Lüfte, der Bote der Götter, das Symbol für Unsterblichkeit. Als Adler hatte man per se das Zeug zur Legende. Man musste nur mit ganzem Einsatz darauf hinarbeiten und durfte sich durch nichts beirren lassen. Dann gab es auf dem Weg zum großen Ziel auch keine Hindernisse.
Und wenn doch, dann wurden sie eben beseitigt.
Er legte eine Hand auf die hölzerne Eingangstür der Verkaufsbude. Hier würde eines Tages ein weiterer Champion verewigt werden. In Lebensgröße. Er wusste es. Man würde ihn feiern, ihm zujubeln. Man würde ihn in einem Atemzug nennen mit den drei Olympiasiegern und Weltmeistern, die hier bereits ihren Platz gefunden hatten.
Und er würde alles tun, was dazu notwendig war. Alles.
Blau und wolkenlos wölbte sich der Himmel über dem Hochschwarzwald. Ganz Hinterzarten summte wie ein Bienenstock; an diesem Wochenende fand auf der Adlerschanze das große Sommerskispringen der FIS statt, und neben den ohnehin schon zahlreich angereisten Touristen, die mit Wanderschuhen und Trekkingstöcken bewaffnet die herrliche Naturlandschaft rund um den beschaulichen Luftkurort erkundeten, sorgten zusätzlich auch noch unzählige Skisprung-Freunde aus aller Welt dafür, dass in den Hotels und Ferienwohnungen des Ortes nicht einmal mehr eine Hängematte auf dem Dachboden frei war.
Auf der sonnenüberfluteten Terrasse des Café Diva saß Kriminalkommissar Surendra Sinha und genoss neben dem Blick auf den idyllischen Adlerweiher auch das äußerst befriedigende Bewusstsein, dass er seine To-Do-Liste für diesen Freitag abgearbeitet hatte und den Rest des Tages einfach entspannen konnte. Dienstlich hatte er ohnehin nichts zu tun; sein Revier war die Kriminalinspektion 1 Friedrichshafen, und er war lediglich zu Besuch hier im Schwarzwald. Seine Mutter unterzog sich seit zwei Wochen in der Földiklinik einer Lymphtherapie, und als gut erzogener Sohn hatte er sich selbstverständlich ein paar Tage freigenommen, um seiner maaji zwischenzeitlich seelischen Beistand zu leisten. Auch wenn er von Anfang an geahnt hatte, dass den Beistand in diesem Fall wohl eher das Klinikpersonal nötig haben würde als die Patientin selbst.
Diese Vorahnung hatte sich bereits bei seinem ersten Besuch in der Klinik bestätigt. Zenobia Sinha war eine kleine, energische Frau aus dem indischen Punjab, temperamentvoll, nicht auf den Mund gefallen und eine wandelnde Reklame für ihre in der ganzen Familie legendären Kochkünste. Auch wenn sie seit gut fünfunddreißig Jahren in Deutschland lebte (ihr Mann hatte kurz vor Surendras Geburt einen Job in Stuttgart bekommen) und sich hier alles in allem durchaus wohlfühlte – mit der deutschen Küche hatte sie sich niemals angefreundet. Was Surendra nur recht sein konnte; er liebte die Punjabi-Gerichte seiner Mutter, und zum Glück war er mit den Genen seines Vaters gesegnet, die ihnen beiden übermäßige Gewichtsprobleme ersparten. Im Gegensatz zu Zenobia, die so lange immer mehr in die Breite ging, bis ihr Arzt ihr vor einigen Monaten dringend empfohlen hatte, den Lymphstau in ihren Beinen in der Hinterzartener Földiklinik behandeln zu lassen. Natürlich hatte es erst noch eines entschiedenen Machtworts ihres Ehemanns Praveer bedurft, damit sie sich dazu bereit erklärt hatte – wobei die Vorstellung, sich fünf Wochen lang täglich die Beine mit Lymphdrainagen und Bandagen behandeln zu lassen und womöglich zu langen Spaziergängen und Sport angehalten zu werden, Zenobia wohl weniger Albträume bereitete als die Aussicht, sich in dieser Zeit ausschließlich von deutscher Klinik-Kost ernähren zu müssen.
Surendra Sinha seufzte. Bloß gut, dass er seinen obligatorischen täglichen Klinikbesuch bei maaji, deren Laune von Tag zu Tag mehr in den Keller sank, heute bereits hinter sich hatte. Auf dem Heimweg hatte er gleich auch noch Lebensmittel für das Wochenende eingekauft und in der Küche seiner Ferienwohnung verstaut. Jetzt hatte er sich eine kleine Stärkung verdient, und zwar redlich. Das nicht weit von seinem Domizil entfernt gelegene Wiener Kaffeehaus namens Diva mit seiner eleganten, sehr ansprechenden Jugendstil-Einrichtung hatte er bereits an seinem ersten Tag in Hinterzarten entdeckt und besuchte es seitdem täglich, um sich durch das verführerische Sortiment an Kaffee- und Teespezialitäten, Kuchen und feinsten Trüffeln durchzuprobieren.
»Hello, Mr Sinha – how do you do?«
Sinha blickte auf. Neben ihm waren auf dem Weg, der an dem Café vorbei in Richtung Adlerweiher führte, zwei Damen stehengeblieben und lachten ihn fröhlich an. Er kannte sie; sie residierten im gleichen Ferienhaus wie er und hatten sich ihm am Tag seiner Ankunft als Kim-Celine und Kim-Marie Walker aus London vorgestellt. Er hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, sich zu merken, welcher Name zu welcher der beiden englischen Ladys gehörte, denn er sah sich mit einem der krassesten Fälle von eineiigen Zwillingen konfrontiert, die er je erlebt hatte. Die »Walker-Twins«, wie er sie im Geiste kurzerhand nannte, waren nach seiner Schätzung etwa dreißig Jahre alt und erwiesen sich schnell als ausgemachte Skisprung-Fans; schon seit einer Woche waren sie hier und besuchten täglich das Adler-Skistadion, um dort den Springern beim Training zuzusehen.
»How do you do?«, grüßte er freundlich zurück.
»Lovely day, isn’t it?« Walker-Twin Nummer eins strich sich eine hellblonde Haarsträhne aus dem Gesicht. »Perfect for ski jumping. Die Eagles, sie werden weit fliegen, heute und morgen.«
»Werden Sie auch zusehen bei die Grand-Prix-Springen, Mr Sinha?«, fragte Walker-Twin Nummer zwei.
»Nein«, antwortete Sinha. »Ich gebe zu, ich interessiere mich nicht sehr für Wintersport. Erst recht nicht im Hochsommer.«
»Weil Sie sind from good old India«, stellte Walker-Twin Nummer eins mit einem breiten Grinsen fest. »Dort Sie haben keine Eagles, so wie wir unsere Eddie. Eddie the Eagle, he’s the best!«
»Das wird’s wahrscheinlich sein«, erwiderte Sinha lächelnd. Er verzichtete wohlweislich auf den Hinweis, dass er in Deutschland geboren worden war, um nicht zu riskieren, als nächstes ausführlich über sämtliche großen deutschen Skispringer der vergangenen Jahre und Jahrzehnte aufgeklärt zu werden – was für die skisprungbegeisterten Walker-Twins vermutlich keine größere Herausforderung darstellte. Die Lebensgeschichte des britischen Kult-Skispringers Michael Edwards hatten sie ihm am Vortag jedenfalls aus dem Stand heraus in allen Einzelheiten erzählen können, so dass Sinha jetzt zumindest mit Eddie the Eagle etwas anzufangen wusste.
»Aber waren Sie gestern nicht wenigstens bei die große Opening Party in die Stadion?«, hakte Walker-Twin Nummer zwei nach.
»Nein.« Sinha schüttelte den Kopf.
»Oh, dann Sie haben aber etwas versäumt«, versicherte Walker-Twin Nummer eins eifrig. »The DJ, he was fabulous, die Stimmung war top of the world. Und wir haben viel getanzt. Warum Sie sind nicht gekommen … die Inder, sie lieben zu singen und tanzen, they say.«
»Nicht alle«, entgegnete Sinha diplomatisch. »Und ganz ehrlich, ich habe beruflich zuletzt so viel um die Ohren gehabt, dass ich es sehr genieße, zur Abwechslung mal ein paar Tage lang gar nichts tun zu müssen. Nicht mal singen und tanzen.« Er zwinkerte den beiden englischen Ladys verschmitzt zu.
»Oh yes, Sie mussen ja ständig jagen die bad boys.« Walker-Twin Nummer eins riss fasziniert die Augen auf. »Sie sind ja … detective superintendent, wie war doch die deutsche Wort dafur?«
»Kriminalkommissar«, lächelte Sinha.
»Jesus, I’ll never get that.« Walker-Twin Nummer eins verdrehte die Augen. »Can’t we just say KK? Das ganze Wort, ich merke mir nie.«
»Oh, that’s perfect, Celine!«, stellte Walker-Twin Nummer zwei fest und wandte sich grinsend an Sinha. »You see, wir sind auch KK – Kim and Kim. So wir passen zusammen sehr gut, wir drei.«
»Zweifellos.« Sinha konnte nicht anders, er musste lachen. Die Vorstellung, sich bei seinem nächsten Einsatz als Kay-Kay Surendra Sinha zu präsentieren, machte ihm Spaß.
»Well then, enjoy your time, Kay-Kay«, sagte Walker-Twin Nummer zwei. »Und kommen Sie unbedingt morgen zu die Grand Prix in die Stadion. Sie können nicht verlassen Hinterzarten ohne zu haben gesehen die Adler fliegen.«
»Da haben Sie wahrscheinlich recht.« Erneut musste Sinha seine gesamte Diplomatie mobilisieren. Er verspürte nicht das geringste Bedürfnis, sich bei dem Sommerskispringen unter die Zuschauermenge zu mischen, wollte aber den beiden redseligen Engländerinnen nicht wirklich Gelegenheit geben, sich wortreich darüber auszulassen, was für ein sportlicher Blindgänger er doch war. From good old India noch dazu.
»Of course wir haben recht!«, gab Walker-Twin Nummer eins im Brustton der Überzeugung zurück. »See you in die Stadion, Kay-Kay!«
Die beiden Damen setzten sich in Bewegung und schlenderten gemütlich in Richtung Adlerweiher davon. Sinha sah ihnen nach, und ein Schmunzeln umspielte seine Lippen. Er mochte diese beiden englischen Ladys, auch wenn er ihre Sportbegeisterung nicht teilte. Aber zumindest brachten sie ihn jedes Mal zum Lachen, und das war viel und kostbar für jemanden, der einen Beruf ausübte, in dem es eher selten etwas zu lachen gab.
Was nichts an der Tatsache änderte, dass er seinen Beruf liebte und sich jederzeit wieder dafür entscheiden würde. Auch wenn er diese kleine Auszeit hier zugegebenermaßen sehr genoss.
Wie aufs Stichwort wurden in diesem Moment eine Tasse Kaffee und ein Teller mit einem großen Stück Schwarzwälder Kirschtorte vor ihn hingestellt. Er bedankte sich bei der jungen Bedienung, sog den aromatischen Kaffeeduft ein und trank einen Schluck. Dann kostete er die Torte und erinnerte sich dabei an die Bemerkung einer Kripo-Kollegin in Friedrichshafen, die in ihrer Freizeit leidenschaftliche Tortenbäckerin war. Schwarzwälder Kirschtorte darf beschwipst sein, aber nicht sturzbesoffen, hatte sie einmal gesagt. Er stellte fest, dass sie in diesem Fall wohl nichts zu beanstanden gehabt hätte: Eine feine, aber nicht aufdringliche Kirschwassernote durchzog das köstliche Backwerk aus fluffigem Biskuit, knackig-fruchtigen Kirschen, feinster Sahne und zarter dunkler Schokolade. Er dachte an seine Mutter, die sich vorhin einmal mehr höchst indigniert über die in ihren Augen unterirdische Klinik-Verpflegung ausgelassen hatte, und dankte dem Himmel dafür, dass sie ihn in diesem Moment nicht sehen konnte.
Er ließ sich einen weiteren Tortenbissen auf der Zunge zergehen und griff nach der Kaffeetasse.
»Oh my God – Help!«
Sinha fuhr zusammen.
»Somebody help us please! She’s dead, she’s dead! Help!!!«
Seine Augen schweiften über den Adlerweiher und erspähten am anderen Ufer die Walker-Twins, die dort wild gestikulierten und nun auch gezielt in seine Richtung winkten.
»Kay-Kay! Kay-Kay, come here, quick!«
Sinha seufzte leise. So viel zum Thema Erholungsurlaub. Was immer dort drüben auch passiert war, es klang nach Arbeit. Und auch wenn er in diesem Bezirk an sich nicht zuständig war – er war Kommissar, und er konnte nicht einfach so tun, als ginge ihn das alles nichts an.
Er warf einen bedauernden Blick auf den Rest seiner Kirschtorte, zog seinen Geldbeutel hervor, legte einen Zehn-Euro-Schein auf den Tisch und sprintete los.
Es dauerte nicht lange, bis er den kleinen See umrundet und die Walker-Twins erreicht hatte, aber bis dahin hatten sich bereits die ersten Passanten neugierig am Ufer versammelt, und einige von ihnen filmten ungeniert mit ihren Smartphones drauflos. Sinha arbeitete sich mit seinem Dienstausweis in der Hand durch die Menge – und dann sah auch er, was die beiden Damen verständlicherweise so in Aufregung versetzt hatte: Direkt an einer mit Schilf bewachsenen Uferstelle des Adlerweihers lag regungslos der triefnasse, bleiche Körper einer jungen Frau, und die tiefe, blutrote Wunde in ihrem Kopf war unübersehbar.
»Treten Sie zurück!«, herrschte er die Umstehenden an. »Und hören Sie auf zu filmen, verdammt noch mal! Hat wenigstens einer von Ihnen mit seinem Handy auch schon etwas Sinnvolles gemacht und die Polizei verständigt?«
Zwei der Passanten meldeten sich zustimmend. Immerhin etwas, dachte Sinha.
»Gut. Dann treten Sie jetzt bitte alle zurück, damit der Spurensicherung nachher noch etwas zu tun übrigbleibt. Seien Sie doch vernünftig, bitte!«
Aus leidvoller Erfahrung wusste er nur zu gut, dass derartige Appelle an die menschliche Vernunft gerade in solchen Situationen meist vergebliche Liebesmüh waren, und er segnete die Tatsache, dass nur wenig später erste Streifenbeamte eintrafen und ihm beim Sichern des Fundorts halfen. Erst jetzt konnte er sich in Ruhe den Walker-Twins zuwenden, die sich mittlerweile zwar ein wenig beruhigt hatten, jedoch immer noch blass und verstört waren und ihre Deutschkenntnisse fürs Erste völlig vergessen zu haben schienen.
»We came down here to feed the sweet little duckies and then I saw … oh my God, this is awful! Poor little girl … what has happened to her? Who can do such a heinous thing?«
»Wir werden alles tun, um das herauszufinden«, erwiderte Sinha in dem sanftesten Tonfall, den er zustande brachte. »Haben Sie die Frau genau so vorgefunden, wie sie jetzt hier liegt?«
»No, she … sie lag in die Wasser, da zwischen die Pflanzen, und wir haben versucht, sie zu ziehen heraus, aber dann wir haben gemerkt, dass sie … she didn’t move, und dann wir sahen die Loch in die Kopf, und da wir wussten, she’s dead.«
»Gut, dass Sie das sagen«, versetzte Sinha. »Erzählen Sie das unbedingt den Kollegen, wenn die Sie nachher befragen, und zeigen Sie ihnen, wo und wie genau Sie das Mädchen gefunden haben. Das ist sehr wichtig für die Ermittlungen.«
»Oh, you mean, wir haben jetzt zerstört die Spuren? I’m so sorry, Kay-Kay …«
»Schon okay«, beruhigte Sinha die sichtlich zerknirschte englische Lady. »Ich hätte mit Sicherheit auch als Erstes versucht, die Frau an Land zu ziehen, zumal wenn ich mir nicht sicher gewesen wäre, ob sie bereits tot war oder womöglich noch lebt. Alles andere wäre unterlassene Hilfeleistung gewesen. Sie haben keinen Fehler gemacht.«
»Thank God!« Ein Aufatmen begleitete diesen Stoßseufzer. »Und wir werden die Kollegen alles sagen, promise. If necessary, ich lege mir genauso in die Wasser, wie die poor little girl gelegen hat.«
»Ich bin sicher, Sie werden den Kollegen eine unschätzbare Hilfe sein.« Sinha rang sich ein aufmunterndes Lächeln ab und wandte sich an einen der Streifenpolizisten. »Wie lange wird es noch dauern, bis sie eintreffen?«
Der Mann warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »In gut fünfzehn Minuten sollten sie da sein können. Ich habe die Kripo in Freiburg angerufen, gleich nachdem wir den Tod der jungen Frau festgestellt hatten, und sie haben versprochen, sofort ein Team herzuschicken.«
»Alles klar, danke«, sagte Sinha und wandte sich wieder dem leblosen Körper am Weiherufer zu. Nachdenklich betrachtete er das junge, bleiche Gesicht mit den geschlossenen Augen, die langen, nassen Haarsträhnen, die zerschlagene Schädeldecke. Er schätzte das tote Mädchen auf siebzehn, vielleicht achtzehn Jahre. Ihre Kleidung – Sieben-Achtel-Jeans, Plateausandalen und ein glitzerndes Paillettentop – ließ ihn spontan vermuten, dass sie möglicherweise auf dem Weg zu oder zurück von einer Party gewesen war, als der Tod sie ereilt hatte.
Wer bist du, Kleines? Was ist dir widerfahren? Wer hat dir das angetan?
Er ertappte sich dabei, dass er im Geiste bereits anfing, den Fall zu übernehmen, und schlug sich ebenso geistig auf die Finger. Nein. Das hier war nicht seine Baustelle. In einer Viertelstunde würden die Kollegen von der Kriminalpolizei Freiburg hier sein, und die würden sich vermutlich schönstens bedanken, wenn da ein wildfremder Bodensee-Kollege in ihrem Schwarzwald-Revier wilderte und sich in ihre Angelegenheiten einmischte. Er würde ihnen Bericht erstatten darüber, wie er bis zum Eintreffen der Polizeistreife, so gut es ging, den Fundort gesichert hatte, und ihnen dann ganz klar das Feld überlassen.
Er wandte sich ab, ging über die Uferwiese hinauf in Richtung Bahnhofweg, setzte sich auf eine Bank und wartete.
Gut zwanzig Minuten später traf das Kripo-Team aus Freiburg in voller Einsatzstärke ein. Während Spurensicherung und Gerichtsmediziner sich an die Arbeit machten, sah Surendra Sinha sich nach jemandem um, bei dem er sich vorstellen und seine Aussage machen konnte. Sein Blick fiel auf eine mittelgroße, etwas stämmige Frau Anfang dreißig, die sich offenbar gerade von den Walker-Twins die Personalien geben ließ und diese in ein Notizbuch eintrug. Kurz entschlossen ging er zu den drei Damen hinüber.
»Oh, da kommt Kay-Kay!« Eine der Walker-Twins winkte ihm zu. »Ma’am, look, this is Kay-Kay Sinha, your colleague; er war hier, gleich nachdem wir haben gefunden die poor little girl.«
»Und ich bin auch wirklich erst gekommen, nachdem die beiden Damen hier um Hilfe gerufen haben«, fügte Sinha mit dem Ansatz eines Augenzwinkerns hinzu. »Nicht dass ich als Erstes gleich mal auf Ihrer Verdächtigenliste lande. Guten Tag, mein Name ist Surendra Sinha, Kriminalkommissar aus Friedrichshafen und hier nur vorübergehend auf Besuch.«
»Angenehm; Kriminalkommissarin Michaela Lux, Kripo Freiburg«, erwiderte die Frau. Die graublauen Augen hinter ihrer dicken Nerdbrille musterten ihn prüfend. »Das heißt also, Sie waren vor Ort, als die Leiche gefunden wurde.«
»Ja, ich saß dort drüben auf der Terrasse des Cafés«, antwortete Sinha. »Als ich mitbekommen habe, dass hier etwas passiert ist, bin ich sofort rübergelaufen und habe geholfen, den Fundort zu sichern, damit die Gaffer möglichst wenig Spuren zertrampeln. Aber ich habe die Leiche nicht berührt und auch sonst nichts angefasst oder verändert. Großes Kollegenehrenwort!«
Eine Augenbraue wanderte über den oberen Rand der Nerdbrille. »Alles andere hätte auch nicht wirklich ein gutes Licht auf die Arbeitsmethoden der Bodensee-Kollegen geworfen.«
Irrte er sich oder klang ihre Stimme noch spitzer, als diese Bemerkung sowieso schon war?
»Keine Sorge«, entgegnete er knapp. »Ich denke, wir wissen ganz gut, wie unser Job funktioniert. Nichtsdestotrotz empfehle ich mich hiermit – es sei denn, Sie brauchen noch etwas von mir.«
»Nur Ihre Personalien«, erwiderte Michaela Lux. »Falls wir später noch irgendwelche Fragen an Sie haben sollten.«
Sinha zückte eine Visitenkarte. »Bitte schön. Und bis Mitte nächster Woche bin ich noch hier im Ferienhaus Sonnenblume zu erreichen.«
Erneut wanderte die Augenbraue nach oben. »Sonnenblume?« Michaela Lux warf einen Blick in ihr Notizbuch. »Wohnen da nicht auch die beiden Zeuginnen, die die Leiche gefunden haben?«
Sinha konnte der Versuchung nicht widerstehen.
»Richtig«, antwortete er. »Die Sonnenblume ist derzeit sozusagen die Kay-Kay-Zone von Hinterzarten.«
Prompt hörte er hinter sich ein zweistimmiges Glucksen aus der Richtung der englischen Ladys.
»Kay-Kay?«, fragte Lux sichtlich verwirrt.
»Yeah.« Sinha grinste breit. »Kim-Kim und der Kriminal-Kommissar. So gesehen sind Sie übrigens auch eine Kay-Kay, Kollegin Lux.«
Zu seiner positiven Überraschung erschien zum ersten Mal ein kleines Lächeln in dem runden Gesicht der Freiburger Kommissarin. Ehe sie jedoch etwas erwidern konnte, trat ein hochgewachsener Mann in einem eleganten, tadellos sitzenden Anzug auf sie zu.
»Wie weit sind Sie hier, Lux?«
»Alles klar so weit«, antwortete Michaela Lux. »Ich habe die Personalien und die ersten Aussagen der Zeugen aufgenommen. Darf ich übrigens vorstellen« – sie warf einen schnellen Blick auf die Visitenkarte, die Sinha ihr gegeben hatte – »Kriminalkommissar Surendra Sinha, ein Kollege vom Bodensee. Er war zufällig vor Ort, als die Leiche gefunden wurde.«
»Wie praktisch.« In den Augen des Mannes blitzte ein humorvolles Funkeln auf. »Haben Sie uns dann gleich die Arbeit abgenommen, Herr Kollege?«
»So wenig wie möglich«, versetzte Sinha höflich. »Ich möchte mich schließlich nicht in Ihre Kompetenzen einmischen, Herr …«
»Verzeihung.« Ein schuldbewusstes Lächeln huschte über das Gesicht des Mannes. »Kriminalhauptkommissar Peter Schobinger, Kripo Freiburg. Nett, Sie kennenzulernen. Sie machen Urlaub hier?«
»Ja«, nickte Sinha und beschloss, auf eine Erklärung des Anlasses für seinen Hinterzarten-Aufenthalt zu verzichten.
»Dann genießen Sie ihn weiterhin«, sagte Schobinger freundlich. »Wir nehmen den Fall in die Hand.«
»Wissen wir schon, wer das Mädchen ist?«, erkundigte sich Michaela Lux. »Hatte sie Papiere bei sich?«
Schlagartig verdüsterte sich Schobingers Gesicht.
»Nicht nötig«, antwortete er. »Ich kenne sie. Es ist Moira Kerber. Die Freundin von meinem Sohn Daniel.«
»Oh mein Gott!« Michaela Lux schlug sich die Hand vor den Mund. »Das tut mir leid. Weiß Daniel es schon?«
»Ich hab ihn gerade angerufen«, entgegnete Schobinger. »Er ist ja ohnehin derzeit hier, wegen des Sommerskispringens. Mein Sohn gehört nämlich zu den Schwarzwald-Adlern«, fügte er zu Sinha gewandt hinzu, und in seiner Stimme schwang unüberhörbarer Stolz mit. »Er ist das größte Talent seines Jahrgangs.«
»Oh, eine junge Schwarzwald-Eagle? How lovely! Werden wir sehen Ihren Sohn springen morgen bei die Summer Grand Prix?«
Unwillkürlich schmunzelte Sinha in sich hinein. Die Walker-Twins hatten die Unterhaltung bislang wortlos mitverfolgt, aber bei diesem Stichwort ging ihr Skisprung-Enthusiasmus einmal mehr mit ihnen durch.
Schobinger musterte die beiden Ladys verwundert. Dann bewegten sich seine Mundwinkel nach oben, und seine ohnehin schon stattliche Gestalt schien noch einmal um ein paar Zentimeter zu wachsen.
»Er wird einer der Vorspringer sein«, verkündete er feierlich.
»Wonderful! We’ll cheer for him, wir werden rufen ganz laut ›Ziiieeeeeeeh!‹, bis dass er landet auf die Schanzenrekord!«
»Dann sollten wir ihm aber vorher noch ein wenig Ruhe gönnen«, warf Sinha vorsichtig ein; er sah im Geiste bereits vor sich, wie die Walker-Twins sich bei der erstbesten Gelegenheit begeistert auf den Sohn des Kommissars stürzten und dabei völlig vergaßen, dass der junge Mann gerade seine Freundin verloren hatte. »Erst recht nach dem, was hier geschehen ist. Wenn die Kollegen vorerst nichts mehr von Ihnen brauchen, dann würde ich vorschlagen, wir ziehen uns zurück und lassen den jungen Mann in Frieden, falls er hierherkommt.« Bei den letzten Worten bedachte er Schobinger mit einem fragenden Seitenblick.
»Sehr aufmerksam von Ihnen, Herr Kollege«, sagte Schobinger. »Wie schaut’s aus, Lux – Sie haben alles von den Damen, was Sie brauchen?«
Michaela Lux nickte. »Ich habe ihre Personalien. Und sie sind noch eine gute Woche hier in Hinterzarten und stehen jederzeit für weitere Befragungen zur Verfügung.«
»Außer während des Springens morgen Abend, vermute ich.« Peter Schobinger zwinkerte den Walker-Twins zu. »Gut, dann erst mal vielen Dank, und wir melden uns, ja?«
»Of course. Good-bye, and good luck!«
Die englischen Ladys grüßten in die Runde und zogen davon. Sinha zögerte. Eigentlich wollte er ja ebenfalls gehen, aber sich mehr oder weniger tatenlos von einem Leichenfundort zu entfernen widersprach einfach allem, was ihm während jahrelanger Tätigkeit bei der Polizei in Fleisch und Blut übergegangen war.
Er beobachtete eine Weile, wie die beiden Freiburger Kommissare ein paar Worte mit den Kollegen von der Spurensicherung wechselten und sich die schilfbewachsene Stelle am Ufer des Adlerweihers noch einmal ganz genau ansahen. Peter Schobinger schien bei diesem Duo eindeutig der Wortführer zu sein, und das nicht nur, weil er der Ältere war (Sinha schätzte ihn auf etwa fünfzig). Seine ganze Erscheinung strahlte eine ruhige, sichere Autorität und Routine aus, ganz zu schweigen davon, dass Sinha sich nicht erinnern konnte, jemals einem gepflegteren Kripo-Kollegen begegnet zu sein als diesem Mann mit dem glattrasierten Gesicht und dem tadellos sitzenden Anzug. Verlegen schielte er an sich herab. Jeans und ein schlichtes T-Shirt. Mehr trug er auch in seinem Arbeitsalltag eher selten.
»Verzeihung – wissen Sie, wo mein Vater ist?«
Sinha wandte sich um. Vor ihm stand ein junger Mann, sehr schmal, ausgesprochen gutaussehend und mit sichtlich verstörter Miene. Sinha hatte ihn noch nie gesehen, und doch hätte er in diesem Moment zehn zu eins gewettet, dass es sich bei dem Jungen um den Sohn von Peter Schobinger handelte. Vorspringer beim Sommer-Grand-Prix. Freund der toten Moira Kerber. Er kramte kurz in seinem Gedächtnis, dann hatte er auch den Namen wiedergefunden.
»Daniel Schobinger?«
»Ja, ich …« Der junge Mann stutzte, dann färbte sich das blasse Gesicht knallrot. »Entschuldigung, gehören Sie nicht zum Team von Papa?«
»Nein.« Sinha lächelte, bemüht, der Verlegenheit des Jungen die Spitze zu nehmen. »Nur ein Kollege aus einem anderen Revier. Surendra Sinha ist mein Name.«
»Verstehe. Tut mir leid, ich dachte, hier seien nur Papas Mitarbeiter zugange. Die kennen mich alle. Ah, jetzt sehe ich ihn, da drüben am Ufer … vielen Dank, und noch mal: Sorry.«
»Keine Ursache.« Sinha runzelte die Stirn. »Aber wollen Sie nicht besser … ich meine, Sie wissen, dort unten liegt …«
»Ja, ich weiß.« Die Blässe auf den Wangen kehrte zurück. »Papa hat es mir am Telefon gesagt. Und ich will sie sehen. Unbedingt.«
Er nickte ihm zu und entfernte sich. Sinha sah ihm nach und seufzte leise.
Er sollte jetzt allmählich wirklich von hier verschwinden. Das alles ging ihn nichts mehr an, verflixt noch mal.
Gut eine halbe Stunde später befand sich Sinha immer noch am Fundort der Leiche von Moira Kerber, die inzwischen abtransportiert worden war. Zum Glück – denn längst hatten sich neben den Schaulustigen und Handyfilmern auch zahlreiche Medienvertreter rund um den Adlerweiher versammelt, die das Flatterband, mit dem die Polizei den Ort abgesperrt hatte, entweder schlichtweg ignorierten oder die Einstellung vertraten, dass eine solche Absperrung für alle galt, nur nicht für sie. Unter diesen Umständen hatte Sinha kurzerhand beschlossen zu bleiben und seine Kollegen zu unterstützen, und bemühte sich nun nach Kräften, die Pressemeute in Schach zu halten.
Aus den Augenwinkeln heraus sah er Daniel, der ein wenig abseits im Gras saß und auf das Wasser hinausstarrte, das im Licht der Nachmittagssonne glitzerte. Der junge Mann hatte ihn vorhin ziemlich beeindruckt; er war die meiste Zeit über ruhig und gefasst geblieben, auch als er die Möglichkeit erhielt, sich noch kurz von seiner toten Freundin zu verabschieden. Danach hatte er Schobinger und Lux erzählt, dass er am Vorabend zusammen mit Moira auf die Eröffnungsparty des Sommer-Grand-Prix ins Skistadion gegangen war; dort waren sie jedoch wegen einer Nichtigkeit in Streit geraten, woraufhin Moira wütend die Party verlassen hatte. Und dann muss sie ihrem Mörder begegnet sein, hatte er leise hinzugefügt. Wäre ich doch nur mit ihr gegangen, oder hätte ich mich nicht so mit ihr gestritten … dann wäre sie jetzt noch am Leben. Für einen Moment hatte er an dieser Stelle um Fassung ringen müssen, aber dann hatte sein Vater ihm die Hand auf die Schulter gelegt, und der Junge hatte sich aufgerichtet und tief durchgeatmet. Danach hatte er gebeten, eine Weile allein sein zu dürfen, und seitdem saß er nun dort drüben im Schatten eines Baumes, regungslos und stumm.
Sinha, der seinen Bericht aus einiger Entfernung mit angehört hatte, empfand großes Mitgefühl für ihn. Und fragte sich zugleich reflexartig, ob es wohl auch denkbar war, dass Daniel seiner Freundin nach dem Streit und ihrem wütenden Abgang gefolgt war und womöglich sehr viel mehr darüber wusste, wie sie zu Tode gekommen war, als er zu wissen vorgab. Und mehr, als es seinem Vater, einem Kriminalhauptkommissar, lieb sein konnte. Auszuschließen war ja bekanntermaßen grundsätzlich erst mal nichts.
Er schüttelte sich leicht, unwillig, diese Möglichkeit ernsthaft in Erwägung zu ziehen, und sah sich um. Ein Großteil der Pressemeute war mittlerweile abgezogen. Er beschloss, sich von Schobinger und Lux zu verabschieden und endlich zurück in seine Ferienwohnung zu gehen, um dort die Füße hochzulegen und möglichst nicht mehr an diesen Fall zu denken.
»Wo ist mein Kind? Wo ist mein Kind??«
Sinha fuhr zusammen und wandte den Kopf. Hinter dem Absperrband stand eine Frau in einem eleganten, gutsitzenden Kostüm und redete laut auf die Polizisten ein, die versuchten, sie zurückzuhalten.
»Ich bin Carolin Kerber. Bitte lassen Sie mich durch! Ich will zu meinem Kind!«
Auch Schobinger und Lux waren nun auf die Frau aufmerksam geworden. Sinha sah, dass Schobinger ärgerlich die Stirn runzelte.
»Was zum Teufel …«
Den Rest des Satzes zerbiss der Freiburger Kommissar zwischen den Zähnen. Mit entschlossenen Schritten ging er auf die Absperrung zu.
»Schon gut, Müller, lassen Sie die Frau durch, ich kenne sie.«
»Herr Schobinger!« Schon stürzte die Frau auf ihn zu. »Wo ist Moira? Lassen Sie mich zu ihr, bitte!«
»Wir haben sie bereits von hier fortgebracht.« Schobingers tiefe Stimme klang ruhig und weich. »Aber ich verspreche Ihnen, ich fahre Sie nachher zu ihr. Mein aufrichtiges Mitgefühl, Frau Kerber. Darf ich fragen, wer Sie verständigt hat? Eigentlich wollten Lux und ich nachher in Freiburg zu Ihnen kommen und es Ihnen persönlich mitteilen.«
»Daniel hat mich angerufen«, erklärte die Frau. »Und da bin ich natürlich sofort ins Auto gestiegen.«
»Daniel?« Ruckartig drehte sich Schobingers Kopf in die Richtung der Baumgruppe, unter der sein Sohn sich vorhin niedergelassen hatte. »Daniel – komm mal her, Junge!«
Sinha sah, wie der junge Mann sich langsam von seinem Platz unter dem Baum erhob. Er kam näher und blieb, immer noch in einiger Entfernung, stehen. Seine Blicke schweiften verunsichert zwischen seinem Vater und Moiras Mutter hin und her.
»Du hast Frau Kerber angerufen? Wann?«
Die tiefe Stimme war noch immer ruhig, aber nicht mehr ganz so weich.
»Vorhin – gleich nachdem du mich angerufen hast«, antwortete Daniel leise. »Ich dachte … sie ist ihre Mutter, sie muss das doch wissen!«
»Aber doch nicht so!« Jetzt klang Schobinger eindeutig verärgert. »Das solltest du mittlerweile eigentlich gelernt haben, dass wir in solchen Situationen immer entweder selbst zu den Angehörigen fahren oder jemanden schicken, der ihnen die Nachricht persönlich und schonend beibringt! Stell dir vor, Frau Kerber hätte einen Schock bekommen oder auf dem Weg hierher einen Unfall gebaut, was dann?«
»Bitte schimpfen Sie nicht mit ihm«, bat Carolin Kerber. »Er hat es doch nur gut gemeint! Und ich bin ihm dankbar, ganz ehrlich. Wissen Sie denn schon, wie es passiert ist? War es ein Unfall?«
»Die Spurensicherung arbeitet noch«, versetzte Schobinger. »Ich kann Ihnen im Moment nur so viel sagen …«
»Ich glaub’s ja nicht – was machen Sie denn hier?«
Eine schneidend scharfe, wütende Männerstimme ließ Schobinger mitten im Satz innehalten. Ein hochgewachsener, kräftiger Mann schwang seine langen Beine mit spielerischer Leichtigkeit über das Absperrband, stieß einen herbeigeeilten Polizisten beiseite und ging mit schnellen, harten Schritten auf die kleine Gruppe am Weiherufer zu. Sein Gesicht war zornrot, und das Objekt seines Wutausbruchs war sehr offensichtlich Moiras Mutter.
»Sie haben uns gerade noch gefehlt«, bellte er sie an. »Na, wen wollen Sie diesmal fertigmachen?«
»Entschuldigen Sie mal, was soll denn das?«, ging Schobinger dazwischen. »Sie haben hier nichts zu suchen, die Absperrungen sind ja wohl deutlich zu sehen.«
»Mir doch egal!«, röhrte der Hüne. »Ich will wissen, wieso diese Schmiermamsell hier ist! Die will doch bestimmt bloß wieder dreckige Lügen über uns verbreiten, aber nicht mit mir, dass das …«
»Jetzt kommen Sie erst mal wieder runter«, schnitt Schobinger ihm das Wort ab. »Ich weiß ja nicht, was für einen Ärger Sie mit Frau Kerber haben, und es ist mir ehrlich gesagt auch ziemlich gleichgültig. Aber hier haben Sie im Moment nichts verloren. Hier wurde vor kurzem eine Leiche gefunden, und wir haben keine Lust, uns eventuell noch vorhandene Spuren von Unbeteiligten wie Ihnen zertrampeln zu lassen.«
»Ach ja? Und wieso darf die dann hier sein?«, fragte der Hüne inquisitorisch und bedachte Carolin Kerber mit einem giftigen Blick.
»Vielleicht, weil es sich bei der Leiche um ihre Tochter Moira handelt?«, schoss Schobinger zurück.
Sinha beschlich das Gefühl, dass sein Kollege in diesem Moment gerne richtig ausfallend geworden wäre und sich nur mühsam beherrschte.
»Ich denke, in dem Fall hat sie durchaus das Recht, hier zu sein«, fügte Schobinger hinzu. »Und da können nicht einmal Sie etwas dagegen haben.«
Für einen Augenblick schien der Hüne ernsthaft betroffen zu sein. »Das … das tut mir natürlich leid«, presste er hervor. »Nichtsdestotrotz kann ich dieses Weibsstück nicht ausstehen, das weiß sie sehr gut – und halten zu Gnaden, ihre Tochter hat uns auch nichts als Ärger gemacht; ich meine …«
»Jetzt reicht’s!« Bei Schobinger riss nun sichtlich der Geduldsfaden. »Sie verlassen augenblicklich das Gelände, Herr Wegener! Wie kommen Sie mir eigentlich vor? Da stirbt ein junges Mädchen, wird möglicherweise Opfer eines Gewaltverbrechens, und Sie haben nichts Besseres zu tun, als über sie herzuziehen und auf ihre Mutter loszugehen? Das glaub ich ja wohl nicht! Los jetzt, verschwinden Sie – ade!«
Der Hüne hatte dem Wutausbruch des Freiburger Kommissars mit steigender Zornesröte im Gesicht zugehört, doch bevor er nun zu einer Erwiderung ansetzen konnte, ging Michaela Lux sehr bestimmt dazwischen.
»Sie haben es gehört«, sagte sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. »Kommen Sie.«
Der Hüne betrachtete sie einen Moment lang unschlüssig, dann schien er den Entschluss zu fassen, fürs Erste den würdevollen Rückzug anzutreten, und ließ sich ohne Widerstand von der Kommissarin zurück auf den Bahnhofweg lotsen. Dort drehte er sich noch einmal um und warf Carolin Kerber und Peter Schobinger einen finsteren Blick zu. Dann verschwand er in der Menge der Passanten.
»Was war das denn für ein Auftritt?«, fragte Michaela Lux, als sie zu den beiden zurückkehrte. »Wer war das überhaupt?«
Peter Schobinger gab ein verächtliches Schnauben von sich. »Karsten Wegener«, antwortete er. »Besitzer des Sporthotels Schanzenberg hier in Hinterzarten. Und ziemlich aktiv in der Skisprungszene, daher kenne ich ihn. Aber was hat er denn mit Ihnen für eine Fehde, Frau Kerber? Ich dachte schon, er will Sie auffressen!«
Bei diesen Worten flutete ein wenig Farbe in Carolin Kerbers Gesicht zurück.
»Nun, herzinnig lieben wird er mich in diesem Leben wohl nicht mehr«, meinte sie. »Sie wissen ja, ich arbeite als Journalistin und Hoteltesterin für das Magazin Reiseglück. Vor gut einem Jahr habe ich einen Artikel über das Sporthotel Schanzenberg geschrieben, und der ist leider nicht ganz so ausgefallen, wie Herr Wegener sich das wohl gewünscht hätte. Aber es gab eben doch das eine oder andere zu bemängeln – ganz davon abgesehen, dass einer von seinen Söhnen meine Moira bedrängt und sexuell belästigt hat. Und das geht ja wohl gar nicht.«
»War das erwiesen?«, fragte Michaela Lux. »Das mit der sexuellen Belästigung, meine ich.«
»Meine Tochter lügt nicht!«, erwiderte Carolin Kerber scharf. Im nächsten Moment biss sie sich auf die Lippen. »Ich meine … sie hat mich nie angelogen. Stefan Wegener hat damals natürlich alles bestritten, und sein Vater hat ihm blind geglaubt und nicht mal ansatzweise die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass Moira die Wahrheit gesagt hat. Damit hat er sie als Lügnerin hingestellt … und so etwas lass ich nicht durchgehen. Niemals. Meine Moira, sie … sie war ein so wunderbares Kind, und jetzt … jetzt ist sie …«
Ihre Stimme brach, sie schlug sich eine Hand vor den Mund, und Michaela Lux konnte gerade noch fürsorglich einen Arm um sie legen, bevor sie in Tränen ausbrach. Lux wechselte einen schnellen Blick mit Schobinger, nickte ihm zu und führte Carolin Kerber dann zu einem der Streifenwagen, während sie sanft und leise auf sie einredete.
Peter Schobinger sah ihnen hinterher. Dann wandte er sich nachdenklich ab, und sein Gesicht verzog sich zu einer schrägen Grimasse, als er Surendra Sinha bemerkte.
»Immer noch da, Herr Kollege? Aber warum soll man auch gehen, wenn’s spannend wird? Hier haben Sie doch heute Nachmittag glatt was geboten bekommen für Ihre Kurtaxe.«
Er wehrte mit einem leichten Lächeln ab, als Sinha etwas erwidern wollte.
»War nur ein Scherz. Ich würd wahrscheinlich auch bleiben, wenn ich am Bodensee zufällig in so eine Spurensicherung reinplatzen würde. Das haben wir nun mal so im Blut, nicht wahr? Aber jetzt entschuldigen Sie mich, ich hab noch zwei, drei Dinge zu erledigen, und dann sind wir hier fürs Erste fertig. Und, kommen Sie morgen auch zum großen Skispringen?«
Bevor Sinha verneinen konnte, erinnerte er sich im letzten Moment daran, dass Schobingers Sohn bei dem Wettkampf als Vorspringer fungieren würde – und mit welch unverhohlenem Vaterstolz Schobinger vorhin davon berichtet hatte. Ein wahrheitsgemäßes Nein wäre für seinen Freiburger Kollegen wohl eine ziemliche Enttäuschung, wenn nicht gar eine Beleidigung.
»Selbstverständlich«, antwortete er deshalb lächelnd. »Das lasse ich mir doch nicht entgehen!«
Schobinger strahlte, schüttelte Sinha zum Abschied kräftig die Hand und ging zu den Streifenwagen. Sinha massierte sich die schmerzenden Fingerknöchel und schnaubte leise. Natürlich hatte er keineswegs ernsthaft vor, zu dem Spektakel ins Stadion zu gehen. Aber das brauchte Kollege Schobinger ja nicht zu erfahren.
Das Haus Sonnenblume lag ein wenig abseits, am Rande von Hinterzarten. Die Besitzer hatten das Gebäude wenige Jahre zuvor geerbt, und da sie bereits über ein eigenes Domizil mitten im Ort verfügten, hatten sie beschlossen, das Erbhaus zu sanieren und drei Ferienwohnungen darin einzurichten. Das alte Mobiliar des Vorbesitzers hatten sie dabei samt und sonders entsorgt und die Wohnungen mit wenigen, aber ausgesucht hochwertigen hellen Massivholzmöbeln eingerichtet. Auch sonst hatten sie bei der Renovierung an nichts gespart; vermutlich waren sie davon ausgegangen, dass sich diese Ausgaben bei dem sommers wie winters boomenden Schwarzwald-Tourismus relativ schnell amortisieren würden. Und an Gästen fehlte es ihnen offenbar in der Tat nicht; als Surendra Sinha, nachdem er und sein Vater seine Mutter mit mehr oder weniger sanfter Gewalt zu ihrer Földiklinik-Kur verdonnert hatten, nach einer Unterkunft für seinen Kurzbesuch gesucht hatte, war die Sonnenblume ausgebucht gewesen. Es war purer Zufall gewesen, dass den Besitzern wenig später eine Stornierung ins Haus geflattert war, so dass sie Sinha doch noch unterbringen konnten. Seitdem hatte er sich bereits mehrfach zu seinem Glück gratuliert – nicht nur, weil er schon befürchtet hatte, so kurzfristig gar nichts mehr zu finden, sondern auch, weil er sich in dieser hellen, freundlichen Souterrain-Wohnung wirklich wohlfühlte.
Er atmete tief durch, als er nach seiner Rückkehr von dem Leichenfundort die Eingangstür hinter sich schloss und die Schuhe von den Füßen streifte. Es war sehr still im Haus; die Walker-Twins, die in der Wohnung neben der seinen logierten, waren offenbar noch nicht wieder zurück, und die vierköpfige Familie aus Bremen, die im ersten Stock die größte der drei Ferienwohnungen gemietet hatte, war an diesem Morgen mit vollgepackten Rucksäcken losgezogen und wohl immer noch irgendwo in den umliegenden Bergen unterwegs. Er setzte die Kaffeemaschine in Betrieb, steckte im Wohnzimmer sein Smartphone in das mobile Lautsprecherdock, das er auf Reisen immer mit sich führte, und aktivierte eine seiner Lieblingsplaylists mit Songs aus neueren Hindi-Filmen. Das war genau die Ablenkung, die er jetzt brauchte.
Auf dem Weg zurück in die Küche nahm er aus den Augenwinkeln heraus plötzlich eine Bewegung vor dem Wohnzimmerfenster wahr; er wandte sich um, und ein Lächeln umspielte seine Lippen.
»Hallo, Billi!«
Draußen auf dem Fensterbrett saß eine kleine, getigerte Katze mit weißen Pfoten und einem weißen Gesicht. Als er nun auf das Fenster zuging, hob sie eine ihrer Vorderpfoten und kratzte sehr energisch an der Scheibe.
»Ja, ich bin ja schon da – so, rein mit dir!«