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Jens Kersten | Claudia Neu | Berthold Vogel

Politik des
Zusammenhalts

Über Demokratie und Bürokratie

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

© der E-Book-Ausgabe 2018 by Hamburger Edition

© 2019 by Hamburger Edition

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

Inhalt

Einleitung – Demokratie und Bürokratie

Kritik der Bürokratie – Zwischen Notwendigkeit und Verständnislosigkeit

Idee der Bürokratie – Zwischen Max-Weber-Welt und sozialer Demokratie

Reform der Bürokratie – Zwischen Bürokratieabbaubürokratie und Marktfixierung

Personal der Bürokratie – Zwischen Entprofessionalisierung und Nachwuchsmangel

Streik der Bürokratie – Zwischen Tarifautonomie und Daseinsvorsorge

Publikum der Bürokratie – Zwischen Opposition und Partizipation

Fazit – Lob der Bürokratie

Bibliografie

Zu den Autor_innen

Einleitung – Demokratie und Bürokratie

Die demokratischen Gesellschaften Europas und Nordamerikas polarisieren sich. Soziale Unterschiede zwischen »oben« und »unten« nehmen zu. Vermögen wachsen, Kinderarmut verstetigt sich. Die Mittelschicht fürchtet Statusverluste und fühlt sich zwischen immer neuen zeitlichen und finanziellen Anforderungen zerrieben. Mehr und mehr Bürgerinnen und Bürger fürchten um ihren Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand. Infrastrukturen bröckeln. Daseinsvorsorge verfällt. Regierungen stellen die Produktion öffentlicher Güter zurück. Kleinstädte, Dörfer, ja ganze Regionen sehen sich abgehängt, während die soziale, wirtschaftliche und ethnische Segregation die Großstädte spaltet. Hass und Rassismus beherrschen die sozialen Medien. Gewaltexzesse gegenüber Minderheiten, Flüchtlingen und Obdachlosen schockieren und verstören die Öffentlichkeit. Dieser gesellschaftliche Wandel schlägt sich auch im politischen System der westlichen Demokratien nieder: So setzen in zahlreichen europäischen Ländern Parteien und »Bewegungen« auf nationalistische Identität und ziehen in Parlamente ein. Milliardäre und Oligarchen versprechen wirtschaftliche Protektion und werden zu Regierungs- und Staatsoberhäuptern gewählt. Politischer Regionalismus propagiert homogene Gemeinschaften und ethnischen Separatismus. Der neue Autoritarismus verspricht seiner Klientel einerseits mehr soziale Sicherheit, polemisiert aber andererseits gegen den Sozial- und Wohlfahrtsstaat. Besonders prominent und erfolgreich agitiert die Administration Trump gegen den »Administrative State« und seine »Eliten«:1 »Alles zusammenkrachen lassen!« – propagierte Trumps ehemaliger Chefideologe Stephen Bannon;2 und Trump und seine Regierung folgen bis heute diesem Credo.3 Die Administration Trump scheint allerdings unter dem Administrative State, den sie unbedingt zerstören will, ausschließlich die Sozial- und Infrastrukturverwaltung zu verstehen. Demgegenüber bleiben die Sicherheitsbehörden nicht nur unangetastet, sondern werden bürokratisch vergrößert, mit mehr Kompetenzen versehen und technisch aufgerüstet. So erhebt sich eine neue bürokratische Sicherheitsarchitektur über einer sozialpolitisch verwaisten Landschaft.

Die politische Situation und wirtschaftliche Lage in der Bundesrepublik ist deutlich anders. Gleichwohl prägen auch die bundesrepublikanische Gesellschaft soziale, wirtschaftliche, räumliche, infrastrukturelle, öffentliche und politische Polarisierungen. Die Ergebnisse der letzten Landtagswahlen und der Bundestagswahl 2017 haben gezeigt:4 Die beiden großen Volksparteien, die seit 1949 für die demokratische und soziale Integration der Bundesrepublik stehen, verlieren bei den Bürgerinnen und Bürgern an Zustimmung. Im gleichen Zuge ist die Neue Rechte in Landesparlamente und den Bundestag eingezogen. Sie versucht, die soziale Polarisierung für eine politische Neudefinition der Bundesrepublik zu nutzen: Nicht Bürgerschaft und Citizenship einer liberalen und pluralistischen Verfassungsordnung, sondern ein imaginiertes »Deutsch-Sein« soll politische Zugehörigkeit begründen. Die demokratischen Parteien reagieren bisher zwar ablehnend, aber doch auch ambivalent auf diese Entwicklung: Soll eine sachliche Auseinandersetzung mit autoritären Parteien oder Bewegungen innerhalb und außerhalb der Parlamente gesucht werden, damit sich diese nicht in einer selbstgefälligen Opferrolle stilisieren können? Oder gilt umgekehrt: Die neuen Parteien und Bewegungen sind an einer sachlichen Auseinandersetzung überhaupt nicht interessiert, gerade weil sie dann ihre selbstgefällige Opferrolle aufgeben müssten, die ihnen offenbar die meisten Wählerstimmen einbringt. Doch obwohl diese sicherlich wichtige Strategiefrage aktuell im Mittelpunkt parteipolitischer und publizistischer Debatten steht,5 trifft sie (noch) nicht den inhaltlichen Kern des Problems: die Polarisierung unserer Gesellschaft. Wie auf die sozialpolitische Spaltung der Bundesrepublik reagiert werden kann und soll, ist vor allem und in erster Linie eine gesamtgesellschaftliche Frage. Wir müssen sie mit Blick auf das Gemeinwohl beantworten, nicht aber mit einer politischen Fixierung auf neue autoritäre Gruppen und Parteien, die auf diese Weise den demokratischen Diskurs (auf sich) fokussieren können. Die Bürgerinnen und Bürger, die demokratischen Parteien und die politisch Verantwortlichen in Bund, Länder und Gemeinden müssen eine selbstbewusste Politik des Zusammenhalts im Allgemeininteresse dagegensetzen.

Die Politik des Zusammenhalts beginnt also mit der Einsicht, dass es trotz des Aufkommens und der Erfolge autoritärer Parteien und Bewegungen für Demokraten keinen Grund gibt, politisch defensiv oder sogar pessimistisch zu reagieren: Die Demokratie ist eine optimistische Staatsform.6 Rücken wir also zunächst das verfassungspolitische und verfassungsrechtliche Bild zurecht: Nicht der neue Autoritarismus repräsentiert – wie von ihm immer wieder gern behauptet – das »Volk«, sondern die demokratischen Parteien die übergroße Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland. Demokratinnen und Demokraten tragen die Verantwortung in den (meisten) Gemeinden, in den Regionen und Ländern sowie im Bund. Deshalb können sie auch auf kommunaler und regionaler sowie auf Landes- und Bundesebene eine aktive Politik des Zusammenhalts im Allgemeininteresse konzipieren, diskutieren und umsetzen. In diesen Prozess bringen die Bürgerinnen und Bürger, die politischen Parteien und Mandats- und Verantwortungsträgerinnen und -träger in Parlamenten und Verwaltungen ihre unterschiedlichen Vorstellungen von Freiheit, Gleichheit und Allgemeinwohl ein, die in einer liberalen und pluralistischen Verfassungsordnung selbstverständlich sind. Bürgerinnen und Bürger gestalten so den sozialen Zusammenhalt jeden Tag in Vereinen, Kirchen und auf Demonstrationen. Dabei muss eine demokratische Politik des Zusammenhalts keine inhaltlichen Zugeständnisse an die Neue Rechte machen. So besteht beispielsweise kein Anlass, sich auf eine deutsche Leitkulturdebatte oder Leitkulturgesetzgebung einzulassen. Vor allem seit der Flüchtlingskrise 2015 flackert zwar eine nervöse Leitkulturdebatte auch in demokratischen Parteien immer wieder auf: Eine Liste mit Kriterien »deutscher Identität« soll kollektive Zugehörigkeit in der Bundesrepublik begründen. Doch damit setzt man sich nur in eine (un)gewollte Nähe zur exkludierenden Identitätspolitik des »Deutsch-Seins«, mit der die Neue Rechte messerscharf zwischen den »Gleichen« und den »Anderen«, zwischen Freund und Feind unterscheidet. In der liberalen und pluralistischen Gesellschaft des Grundgesetzes richten solche Identitätslisten mehr Schaden an, als dass sie nutzen könnten: Sie fördern Lippenbekenntnisse, lösen aber kein einziges praktisches Problem.7 Vor allem aber verfügt die demokratische Politik des sozialen Zusammenhalts mit Bürgerschaft und Citizenship bereits über ein verfassungsrechtlich begründetes Konzept der politischen Zugehörigkeit, das durch nationalistische Identitätspolitiken schlicht konterkariert würde: Im Mittelpunkt der Politik des sozialen Zusammenhalts stehen alle Bürgerinnen und Bürger, die gemeinsam als Volk den Legitimationsmittelpunkt unserer Demokratie bilden (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG). Bürgerinnen und Bürger erkennen sich gegenseitig als frei und gleich an. Dies findet seinen verfassungsrechtlichen Ausdruck in ihrer individuellen Würde (Art. 1 Abs. 1 GG) sowie ihren Freiheits- und Gleichheitsrechten. Damit setzt die demokratische Politik des sozialen Zusammenhalts auf ein inklusives Verständnis von freiheitlicher Bürgerschaft und Citizenship, das durch absolute Diskriminierungsverbote (Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG, § 1 AGG) sowie den strikten demokratischen Gleichheitssatz (Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 2 S. 1, Art. 38 Abs. 1 GG) verfassungsrechtlich abgesichert ist und damit zugleich die Grundlage für die Unionsbürgerschaft bildet (Art. 18ff. AEUV).

Die Bürgerinnen und Bürger, die demokratischen Parteien und politische Verantwortungsträger in Gemeinden, Regionen, Ländern und im Bund finden in unserer Verfassung jedoch nicht nur mit dem politischen Konzept von Bürgerschaft bzw. Citizenship die Grundlage für eine Politik des Zusammenhalts, die dem Prinzip des Gemeinwohls verpflichtet ist. Das Grundgesetz zeichnet auch die inhaltliche Verfassung des Zusammenhalts vor: Als liberale Verfassungsordnung stellt das Grundgesetz das Individuum in den Mittelpunkt, ohne darüber jedoch Gleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit als Maßstäbe unserer demokratischen Sozialordnung zu übergehen. Mit Grundrechten, Verfassungsgütern und Staatszielbestimmungen setzt das Grundgesetz einen verfassungsrechtlichen Rahmen, innerhalb dessen eine Politik des Zusammenhalts konzeptionell entworfen, kritisch diskutiert und effektiv umgesetzt werden kann.8 Die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger sind der Motor des Zusammenhalts. Dies mag auf den ersten Blick überraschen, schützen doch die Berufs- und die Eigentumsfreiheit das wirtschaftliche Gewinnstreben, das in sozialer Ungleichheit resultieren kann und auch resultiert. Doch gerade das Eigentum ist nicht nur ein Freiheitsrecht für die Gestaltung der individuellen Lebensund Wirtschaftssphäre: Eigentum verpflichtet (Art. 14 Abs. 2 S. 1 GG). Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen (Art. 14 Abs. 2 S. 2 GG). Darüber hinaus fördern Bürgerinnen und Bürger den sozialen Zusammenhalt, wenn sie in Ausübung ihrer Religions-, Kommunikations-, Familien-, Bildungs-, Versammlungs-, Vereinigungs-, Berufsund Eigentumsfreiheit gemeinsam handeln. Kollektive und gemeinwohlbildende Funktionen erfüllen auch Religionsgemeinschaften, Familien und Schulen, Vereine und Genossenschaften, Unternehmen und Stiftungen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sowie Sozialpartnerschaft und Tarifautonomie. Des Weiteren sind Grundrechte nicht nur Freiheitsrechte. Sie begründen auch verfassungsrechtliche Schutzpflichten, die der Staat durch die Gewährleistung von Daseinsvorsorge, Infrastrukturen und öffentlichen Güter erfüllt, wie etwa durch ein flächendeckendes Gesundheitssystem zum Schutz des Grundrechts auf Leben und Gesundheit.9 Dabei haben alle Bürgerinnen und Bürger einen Anspruch auf gleiche Teilhabe an und diskriminierungsfreien Zugang zu Daseinsvorsorge, Infrastrukturen und öffentlichen Gütern, was die kollektive Dimension des sozialen Zusammenhalts zusätzlich verstärkt. Auch Verfassungsgüter zielen auf die Stärkung des Zusammenhalts: Gemeinden und Staat werden vom Grundgesetz als menschliche Gemeinschaften verstanden (Art. 1 Abs. 2, Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG). Das bundesstaatliche Rechtsgut der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse (Art. 72 Abs. 2 GG) fordert den Zusammenhalt des gesamten Sozialraums der Bundesrepublik, also von Gemeinden, Regionen, Ländern und des Bundes insgesamt. Die allgemeinen Verkehrsbedürfnisse werden vom Grundgesetz ebenso als ein soziales Kohäsionsgut anerkannt (Art. 87e Abs. 4 S. 1 GG) wie die flächendeckende Grundversorgung mit Post- und Telekommunikationsdienstleistungen (Art. 87 Abs. 1 GG). Schließlich zielen auch die Staatsfundamentalnormen auf die Sicherung des Zusammenhalts der Bundesrepublik und die Kompensation sozialer Ungleichheit. Dies gilt vor allem für das Bundesstaats-, Republik-, Sozialstaats- und Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG). Das Bundesstaatsprinzip garantiert zwar grundsätzlich die föderal differenzierte Entwicklung in der Bundesrepublik, begrenzt sich jedoch zugleich selbst durch das föderale Kohäsionsgut der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Das Republikprinzip versteht die Länder und den Bund als Gemeinwesen, die auf das allgemeine Wohl aller Bürgerinnen und Bürger verpflichtet sind und deshalb auf den Zusammenhalt und den Ausgleich sozialer Ungleichheit zielen: Dieses republikanische Verfassungsversprechen lösen Daseinsvorsorge, Infrastrukturen und öffentliche Güter ein. Aber insbesondere das Sozialstaatsprinzip gewährleistet die Kohäsion der Bundesrepublik und wendet sich gegen soziale Polarisierung und Ungleichheit: Das soziale Staatsziel verpflichtet die Bundesrepublik, erstens »für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen«10, zweitens für die »Herstellung erträglicher Lebensbedingungen für alle«11 einzutreten und drittens eine »annähernd gleichmäßige Förderung des Wohles aller Bürgerinnen und Bürger und annähernd gleichmäßige Verteilung der Lasten«12 anzustreben. Das Demokratieprinzip ist für die Gewährleistung und Gestaltung des Zusammenhalts ebenfalls von zentraler Bedeutung: Eine lebendige Demokratie kann sich nur auf der Grundlage einer kohäsiven Gesellschaft entfalten, die sie selbst demokratisch gestaltet.

Doch das Grundgesetz gibt – wie gesagt – nur den verfassungsrechtlichen Rahmen des Zusammenhalts vor, der politisch konkretisiert und vor Ort ausgestaltet und gelebt werden muss, um so die Basis für gedeihliche soziale Beziehungen, Verbundenheit mit den öffentlichen Institutionen und einer ausgeprägten Gemeinwohlorientierung, die sich in gesellschaftlicher Teilhabe, bürgerschaftlichem Engagement und Solidarität mit den Notleidenden zeigen, bieten zu können.13 Die Politik des Zusammenhalts ist also kein verfassungsrechtliches Malen nach Zahlen, sondern erfordert eine sozialpolitische Gestaltung gesellschaftlicher Kohäsion. Dabei trifft der Gesetzgeber viele zentrale Entscheidungen durch abstrakte Normsetzung. Dies gilt vor allem hinsichtlich der sozialen, wirtschaftlichen und finanziellen Prioritätensetzung, die parlamentarisch verantwortet werden muss. Der entscheidende Punkt ist an dieser Stelle jedoch, dass die konkrete Gestaltung der Politik des Zusammenhalts im Lebensalltag der Bürgerinnen und Bürger die Verwaltungen übernehmen. Die öffentliche Verwaltung und die Verwaltung des Öffentlichen sind hier zentrale Faktoren – gerade weil sie im Hintergrund wirken und im gesellschaftlichen Alltag wenig Aufsehen erregen. Sie stellen soziale Daseinsvorsorge, technische Infrastrukturen und öffentliche Güter zur Verfügung. Bürokratie mag auch in aufgeklärten und gesellschaftswissenschaftlich gut informierten Kreisen eine schlechte Presse haben. Doch Bürokratie gewährleistet rechtsstaatliche Freiheit, soziale Gleichheit und die gesellschaftliche Integration aller Bürgerinnen und Bürger, auch und gerade wenn sich die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ändern. Damit ist die Bürokratie selbst die demokratische Infrastruktur, die unsere Gesellschaft zusammenhält.

Wie stark und praktisch die Rolle der Verwaltungen bei der Gewährleistung des Zusammenhalts für eine lebendige Demokratie ist, lässt sich wiederum am Beispiel der gesellschaftlichen Integration von Migrantinnen und Migranten veranschaulichen: Nicht die Anpassung an eine identitäre Leitkultur entscheidet über den Erfolg oder Misserfolg der gesellschaftlicher Integration, sondern – neben der Arbeitswelt und der Sozialordnung14 – vor allem Schule und Polizei sind dafür ausschlaggebend, wie Migrantinnen und Migranten sich in unserem Land sozial zurecht- und gesellschaftlich einfinden.15 Diese Integrationsleistung können Schulen und Polizei erbringen, weil sie als demokratische Verwaltungen im Verfassungsstaat des Grundgesetzes gerade nicht wertneutral sind. Die Schulen werden durch den verfassungsrechtlichen Erziehungsauftrag bestimmt (Art. 7 Abs. 1 GG).16 Dieser stellt im Gegensatz zu einer identitären Leitkultur nicht einseitig Forderungen an Migrantinnen und Migranten. Vielmehr prägt er mittels der Verfassungswerte der Würde, Freiheit, Gleichheit, Toleranz und des Gemeinwohls das gemeinsame Lernen von Kindern unabhängig davon, ob diese hier geboren oder gerade in die Bundesrepublik gekommen sind. Ähnlich steht es um die Polizei, die ohne Ansehen der Person die öffentliche Sicherheit und Ordnung gewährleistet, Gefahren abwehrt und strafrechtliche Verbote alltäglich durchsetzt – also allgemein geltende Rechtsnormen, die ebenfalls durch unsere Verfassungsordnung und die soeben genannten Verfassungswerte geprägt sind, ohne sich deshalb gleich paternalistisch alteingesessenen und neuen Bürgerinnen und Bürgern aufdrängen zu wollen oder zu müssen. Die Leistungen, die Schulen und Polizei angesichts der sozialpolitischen Polarisierung der Bundesrepublik heute erbringen, dürfen nicht idealisiert werden. Der Alltag von Lehrerinnen und Lehrern und von Polizistinnen und Polizisten ist in Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung immer rau. Schulen und Dienststellen sind personell unterbesetzt. Sie sind finanziell und sachlich schlecht ausgestattet. Dafür sind die Erwartungen an die Funktions-, Leistungs- und Integrationskraft der Verwaltung seitens der Bürgerinnen und Bürger einerseits und der Politik andererseits in Zeiten sozialer Polarisierung immer besonders hoch. Doch anstatt hier sofort mit Enttäuschung, Ärger und Wut über »diese Bürokraten« zu reagieren, könnte die Bürgerschaft auch einmal versuchen, die zentrale Bedeutung der Bürokratie für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und unserer lebendigen Demokratie zu verstehen. Und die Politik könnte diese soziale und demokratische Funktion unserer Verwaltungen durch eine angemessene sachliche, finanzielle und personelle Behördenausstattung würdigen. Mit Blick auf das Beispiel der Integration von Migrantinnen und Migranten ist dies bestimmt finanziell teurer, als eine kostenlose Liste mit deutschen Identitätsmerkmalen zu verfassen, aber hinsichtlich des Zusammenhalts unserer Gesellschaft und der Gegenwart und Zukunft unserer Demokratie sicherlich sehr viel erfolgversprechender.

Deshalb ist die zentrale Bedeutung der Bürokratie für eine lebendige Demokratie unsere zentrale These: Bürokratie ist in den westlichen Verfassungsordnungen eine demokratische Infrastruktur, die den sozialen Zusammenhalt gewährleistet. Deshalb haben die Bürgerinnen und Bürger ein Recht auf eine gute Verwaltung, das von Art. 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auch ausdrücklich als ein Bürgerrecht anerkannt ist und ausgestaltet wird. Schon aus diesem Grund müssen die Bürgerinnen und Bürger gute und schlechte Verwaltung unterscheiden können. Es kommt darauf an, Verwaltung zu verstehen,17 um unsere Gesellschaft und Demokratie zu begreifen. Darauf zielt unser Beitrag, der ganz bewusst die Ambivalenzen einrechnet, mit der wir der Bürokratie und mit der die Bürokratie uns begegnet. Dies beginnt im ersten Kapitel mit der Beschreibung des Grundproblems, dass die Bürgerinnen und Bürger die Verwaltung einerseits für absolut notwendig erachten, ihr aber andererseits vollkommen fremd gegenüberstehen. Angesichts dieser kritischen Ambivalenz wird im zweiten Kapitel die Idee der Bürokratie entfaltet, die sich aus der Verbindung der Max-WeberWelt mit dem Begriff der sozialen Demokratie ergibt. Das dritte Kapitel nimmt sich der Entwicklung dieser Idee in den Verwaltungsreformen der letzten drei Jahrzehnte im Spannungsverhältnis zwischen Bürokratieabbaubürokratie und wettbewerblicher Marktfixierung an. Im Mittelpunkt des vierten Kapitels steht das Verwaltungspersonal, das angesichts der hohen professionellen Anforderungen, auch in Zeiten der sozialen Polarisierung hochwertige öffentliche Güter zu produzieren, mit normativer Entprofessionalisierung und strukturellem Nachwuchsmangel zu kämpfen hat. Das fünfte Kapitel geht auf den Kulturwandel des Streiks der Bürokratie ein, für den es zwischen der Gewährleistung von Tarifautonomie und Daseinsvorsorge eine tragfähige Lösung zu finden gilt. Das sechste Kapitel diskutiert unter dem Stichwort des Publikums der Bürokratie den Wandel des Verhältnisses der Bürgerinnen und Bürger zu den Verwaltungen, der zwischen Opposition und Partizipation changiert. Auf dieser Grundlage mögen sodann die Bürgerinnen und Bürger darüber entscheiden, wann neben aller notwendigen Kritik auch einmal ein Lob für die Verwaltungen in Bund, Ländern und Gemeinden angebracht ist, gerade weil sie einen zentralen Beitrag zum Zusammenhalt der demokratischen Gesellschaftsordnung leisten: Demokratie und Bürokratie stehen – gegen alle Ressentiments gedacht – nicht gegeneinander, sondern in einem spannungsreichen, produktiven Komplementaritätsverhältnis.

1Ross, Mehr Munition, weniger Diplomatie.

2Siemons, Alles zusammenkrachen lassen.

3Johnston, It’s Even Worse Than You Think.

4Kersten, Parlamentarismus und Populismus.

5Leo/Steinbeis/Zorn, Mit Rechten reden; Lessenich, Mit der Kraft des besseren Arguments?

6Becker/Kersten, Demokratie als optimistische Staatsform, S. 584.

7Ebd., S. 583.

8Kersten/Neu/Vogel, Das Soziale-Orte-Konzept, S. 51f.

9BVerfG, Deutsches Verwaltungsblatt 18/2004, S. 1161 (1162).

10BVerfGE 22, 180 (204); 69, 272 (314).

11BVerfGE 1, 97 (105).

12BVerfGE 5, 85 (198).

13Arant/Larsen/Boehnke, Sozialer Zusammenhalt in Bremen.

14Giesen, Migration und ihre Folgen.

15Schlink, Alltagskultur als Leitkultur.

16BVerfGE 34, 165 (182); 47, 46 (71f.); 52, 223 (236); 93, 1 (21); 98, 218 (244f.).

17Seibel, Verwaltung verstehen; Meinel, Unterschätzt die Bürokraten nicht.

Kritik der Bürokratie – Zwischen Notwendigkeit und Verständnislosigkeit

Von der Wiege bis zur Bahre – Formulare, Formulare. Lakonischer lässt sich die Kritik an der Bürokratie kaum zusammenfassen. Bürokratie begleitet und dokumentiert unser ganzes Leben, bereits pränatal und noch post mortem. Wir können uns sicher sein: Jedenfalls amtliche Urkunden werden von uns übrigbleiben – Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden, Personalausweise und Reisepässe, Zeugnisse und Zertifikate, Melde- und Einbürgerungsbescheinigungen, Arbeitsverträge und Versicherungsnachweise, Führerscheine und Führungszeugnisse. So erzählt sich die moderne Gesellschaft unsere Lebensgeschichte, merkt sich, wer wir sind und waren. Selbst wenn sich niemand mehr an uns persönlich erinnern sollte, können Verwaltungen unsere Akten hervorholen oder unsere Personaldatei aufrufen.