Titel der 2003 bei Basic Books, New York,
erschienenen Originalausgabe: „Kafka’s last love“
Copyright © 2003 by Kathi Diamant
Umschlagfoto von Dora Diamant. © Sammlung Lask
Umschlagfoto von Franz Kafka. © Archiv Klaus Wagenbach
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2014 onomato Verlag
www.onomato.de
Lektorat, Korrektorat: Christian Consten-Vits
Lektorat und Satzgestaltung: Hanna Koch
weitere Mitwirkende: Leonie Karremann, Silke Kramer
Joëlle Murray, Maren Poppe
ISBN 978-3-944891-18-7
Gefördert als Crowdfunding-Projekt bei Startnext.
Sinnesfreudig wie ein Tier (oder wie ein Kind).
Woher bloß die Vermutung von Franz als Asket herkommt!?
Dora Diamant, Tagebuch
Ein Mensch allein kann nicht Franz „erklären“.
Es müssen viele Menschen daran „arbeiten“.
Dora Diamant, Tagebuch
An alle Diamants dieser Welt
Editorische Vorbemerkung
Danksagung und Vorworte
Vorwort zur ersten Ausgabe
Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe
Vorwort von Reiner Stach
Die Schwelle des Glücks
Kierling, Österreich, 3. Juni 1924
Müritz, Ostseeküste, 13. Juli 1923
Ein dunkles Geschöpf aus dem Osten
Müritz, Anfang August 1923
Pabianice, Polen, 1898
Ein freies Leben in Berlin
Berlin, September 1923
Prag, 21. September 1923
Berlin, Oktober 1923
Das Idyll in Berlin
Berlin, November 1923
Der Bau
Berlin, 15. November 1923
Berlin, 20. November 1923
Berlin-Steglitz, 25. November 1923
Berlin, 18. Dezember 1923
Bildteil 1
Der tödliche Winter
Berlin-Steglitz, Januar 1924
Berlin-Zehlendorf, 1. Februar 1924
Berlin-Zehlendorf, 21. Februar 1924
Berlin-Zehlendorf, 4. März 1924
Berlin-Zehlendorf, 17. März 1924
Fürchterlichster Unglückstag
Berlin, Frühling 1924
Sanatorium Wienerwald, Österreich, 5. April 1924
Sanatorium Wienerwald, 10. April 1924
Wien, 11. April 1924
Kierling, Niederösterreich, 19. April 1924
In den besten Anfängen
Sanatorium Hoffmann, Kierling, 19. April 1924
Kierling, Ostersonntag, 20. April 1924
Kierling, 12. Mai 1924
Kierling, Montag, 2. Juni 1924
Beerdigung in Prag
Kierling, Österreich, 3. Juni 1924
Kierling, 4. Juni 1924
Prag, Juni 1924
Bildteil 2
In Memoriam
Prag, 19. Juni 1924
Prag, 3. Juli 1924
Prag, Mitte Juli 1924
Prag, August 1924
Das Leben nach Kafka
Berlin, Sommer 1924
Berlin, Oktober 1924
Berlin, Januar 1925
Zwischen zwei Welten
Brzeziny, Polen, 1925
Tomaszóv Lubelski, polnisch-russische Grenze, 1925
Das Naturtheater von Oklahoma
Berlin-Charlottenburg, Anfang 1926
Berlin, Frühjahr 1926
Düsseldorf, November 1926
Düsseldorf, Anfang 1928
Bildteil 3
Beschreibung eines Kampfes
Berlin, Frühling 1929
Berlin, Januar 1930
Berlin-Zehlendorf, Februar 1931
Berlin-Lichterfelde, Frühling 1932
Exodus aus Berlin
Berlin, 1933
Berlin, 1934
Berlin, 10. Februar 1936
Bildteil 4
Das Arbeiterparadies
Sowjetunion, Winter 1936
Moskau, März 1936
Sewastopol, Frühling 1936
Moskau, August 1936
Moskau, Dezember 1936
Sewastopol, Frühling 1937
Sewastopol, Sommer 1937
Moskau, März 1938
Zweite Flucht (Die große Flucht)
En route durch Europa, Oktober 1938
Den Haag, Winter 1938
Prag, März 1939
Den Haag, 1939
Będzin, September 1939
London, Winter 1940
Die Isle of Man
Port Erin, Isle of Man, Juni 1940
Port Erin, Isle of Man, November 1940
Bildteil 5
Freunde des Jiddischen
Northenden, Manchester, August 1941
Yealand Manor, North Lancashire, 1942
London, 1942–1944
London, 1945
Etwas Unzerstörbares in sich
London, Januar 1947
London, Frühjahr 1948
Das Gelobte Land
Tel Aviv, Mai 1948
London, Mai 1948
London, 1949
Israel, Oktober/November 1949
En Harod, Jesreelebene, Israel, Januar 1950
Bildteil 6
Ein lebendig gewordenes Gedächtnis
Paris, Februar 1950
London, 1950
Plaistow Hospital, Januar 1951
Plaistow Hospital, März 1951
„Mach, was du kannst“
London, Juli 1951
London, Januar 1952
London, März 1952
Plaistow Hospital, 15. August 1952
Kafkas Tochter / Ludwig Lask
East Ham, London, 18. August 1952
London, 15. August 1953
Ostberlin, 15. August 1953
Ostberlin, 1956
London, 1963–1973
London, 1980
London, 1982
Bildteil 7
Epilog
Dora Diamants Aufzeichnungen
Vorbemerkung und editorische Notiz
Tagebuch - Bildteil 1
Dora Diamants Aufzeichnungen (Forts.)
Die Aufzeichnungen des Quartheftes. Erster Teil
Einschaltung
Aus Franz’ Quartheften. 3.10.1911. Letzte Zeilen der Eintragung:
London März, 1950
Fragmente (Hospital-Tagebuch)
Kurze Notizen für Eintragung
Chronologische Initialien
Tagebuch - Bildteil 2
Über die Autorin
Der Text entspricht der neuesten Rechtschreibung. Um jedoch den besonderen Charakter von Auszügen aus literarischen Texten, Briefen etc. zu bewahren, wurden Passagen aus den verfügbaren deutschsprachigen Quellen grundsätzlich in der jeweiligen Schreibung belassen.
Unterschiedliche Weisen der Anführung in diesem Buch dienen der Differenzierung zwischen wörtlicher Wiedergabe von Ausdrücken und deren bloß zusätzlich nuancierender Hervorhebung.
Folgt eine Reihe von Zitaten aus derselben Quelle, so wird nur ein Mal mittels Endnote auf diese verwiesen, und zwar nach dem letzten Zitat dieser Reihe.
Besonders dankt der Verlag Hans-Gerd Koch und Reiner Stach für die wissenschaftliche Begleitung der Arbeit an dieser Ausgabe.
Düsseldorf, im September 2013
Axel Grube und Christian Consten-Vits
Dieses Buch wäre nicht möglich gewesen ohne die Liebe, Ermutigung und materielle Hilfe einer Vielzahl von Personen, allen voran meines Ehemanns Byron LaDue. Doras erste Biografie setzt sich zusammen aus Interviews, die ich mit Doras Familienangehörigen und Freunden und mit Experten für die geschichtlichen und politischen Bereiche, die ihr Leben betreffen, geführt habe und durch die ich Informationen aus erster Hand gewinnen konnte. Für ihre Teilnahme, ihre Erinnerungen und ihr Fachwissen danke ich zutiefst Leon Askin, Bernd-Rainer Barth, Zelig Besserglick, Majer Bogdanski, Niels Bokhove, Etty Diamant, Dorothy Emmett, John Erpenbeck, Ora Fein, Colette Faus, Miron Grindea, Michael Hamburger, Betty Kuttner, Dina Lask, Noga Maletz, Ottilie McCrea, Ilse Muenz, Ruth Pawel, Bracha Plotkin, Leonard Prager, Luise Rainer, Uziel Raviv, Dasha Rittenberg-Werdygier, Irene Runge, Carol Shaw und Anthony Wilson. Außerdem danke ich Eva Bloch Turner für ihre Hilfe und Unterstützung bei Übersetzungen.
Zu einem großen Teil verdanke ich dieses Buch Johanna (Hanny) Metzger-Lichtenstern und Kafkas Nichte, Marianne Steiner, zwei der engsten Freunde Doras und ihrer Tochter in London. Hannys Beitrag war, zusätzlich zu der Sammlung persönlicher Briefe und Papiere, in die sie mir Einblick gewährte, enorm. Sie übersetzte für mich Doras auf Jiddisch verfasste Artikel, ihre Briefe und Tagebücher und die Briefe von Robert Klopstock und Ester Hoffe ins Englische, die in dieser Ausgabe in ihrer Originalsprache, auf Deutsch, wiedergegeben sind. Marianne Steiner, die an Doras Bett stand, als sie starb, vertraute mir Doras letzte Worte an und unterstützte das Kafka Projekt bei der Suche nach Kafkas Notizbüchern und Briefen, die 1933 von der Gestapo beschlagnahmt wurden. Frau Steiner starb 2000 im Alter von 88 Jahren und Hanny starb 2012 im Alter von 95 Jahren. Ihre Erinnerungen werden mit großer Wertschätzung bewahrt werden.
In Deutschland habe ich sehr viel Hans-Gerd Koch, dem Leiter der Kafka-Forschungsstelle an der Bergischen Universität Wuppertal, zu verdanken. Er steuerte entscheidende Informationen bei und leistete die Beratung, die für ein solches Buch unverzichtbar ist. Der Kafka-Biograf Reiner Stach hat großzügig sein breites Wissen eingebracht, und zwar nicht nur durch sein Vorwort, sondern auch bei der Erarbeitung einer genauen und ansprechenden Übersetzung. Klaus Wagenbach bin ich sehr dankbar dafür, dass er mich an den Ergebnissen seiner in den 1950er-Jahren mit Max Brod betriebenen Nachforschungen nach Kafkas verloren gegangenen Briefen an Dora teilhaben ließ sowie an der Sammlung von Doras Papieren aus seinem Archiv. Die Kafka-Forscherin Maja Rehbein half mir, Doras Familie in Israel ausfindig zu machen, und Stefanie Groenke, die 1998 als Forschungs-Assistentin zum Kafka Projekt kam, widmete sich hunderte Stunden der Übersetzungsarbeit an Doras Papieren und deutschen Texten und unterstützte die Nachforschungen in den darauffolgenden Jahren. Auch Johanna Hoornweg, ebenfalls Assistentin beim Kafka Projekt, war eine große Hilfe. Ich danke auch Ruth Kessentini und der Familie Lask, den Nachkommen von Doras angeheirateten Verwandten in Berlin, dafür, dass sie mir ihre Familienaufzeichnungen zugänglich gemacht (und mich mit offenen Armen empfangen) und mir großzügigerweise die Fotografien der Sammlung Lask für diese Ausgabe zur Verfügung gestellt haben.
Für Hilfe bei der Arbeit in Archiven danke ich Yoram Mayorek für Nachforschungen in Russland, Israel und Polen, Robert Adamek und Aneta Zapa vom Muzeum Miasta Pabianic, Tim Rogers, dem ehemaligen stellvertretenden Leiter des Bereichs Western Manuscripts der Bodleian Library an der Oxford University, Gisela Erler vom Landesarchiv Berlin und Michael Matzigkeit vom Theatermuseum Düsseldorf. Ich danke auch Seymour Barofsky, Bernhard Echte, Remigiusz Grzela und Heather Valencia für ihre Nachforschungen über Stencl. Für seine Anleitung bei Nachforschungen in Polen danke ich Zdzislaw Les, Jaroslaw Krajniewski und Jeffrey Cymbler. In Tschechien danke ich Judita Matyasova, für ihre Liebe zu Kafka, ihre außerordentlichen Fähigkeiten im Vertrieb und den Hinweis auf den onomato Verlag.
Mein Dank geht auch an Michael Steiner und den Kafka Estate für die Erlaubnis, die Briefe an Kafkas Familie aus der Bodleian Library abzudrucken, Yosl Bergner vom Jewish Chronicle Israel and Clive Sinclair vom Jewish Chronicle London für die Erlaubnis, Melech Rawitschs Geschichte seiner Begegnung mit Dora abzudrucken, Carol Shaw, die mir die Aufzeichnungen ihrer Mutter über die Yealand Manor School zur Verfügung stellte, und David Mazower, der Doras jiddische Artikel sammelte. Ich danke Michel de M’Uzan, Marthe Roberts Witwer, von dem ich Doras Tagebuch und die Korrespondenz erhielt.
Ich war neunzehn, als ich zum erstenmal von Dora Diamant hörte. Es war im Frühjahr 1971 in einem Kurs für deutsche Literatur an der Universität Georgia. Wir arbeiteten an einer Übersetzung von Kafkas Erzählung Die Verwandlung, als der Dozent den Unterricht unterbrach und mich fragte: „Sind Sie verwandt mit Dora Diamant?“ Ich hatte damals, wie gesagt, noch nie von ihr gehört. „Sie war Kafkas letzte Geliebte“, erklärte er mir. „Sie waren sehr verliebt. Er starb in ihren Armen, und sie verbrannte einige seiner Arbeiten.“ Ich versprach ihm, es herauszufinden und ihn wissen zu lassen, ob ich mit ihr verwandt war.
Nach dem Kurs lief ich sofort zur Bibliothek. Aus Max Brods Biografie über Franz Kafka erfuhr ich, dass Dora neunzehn gewesen sein soll, als sie Kafka traf – genauso alt wie ich damals. Später sollte sich herausstellen, dass ihr Alter und auch einige andere Dinge nicht korrekt überliefert waren, aber damals war ich fasziniert von dem, was ich dort las: Dora war eine leidenschaftliche, lebendige und intelligente junge osteuropäische jüdische Frau gewesen, die einem der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts zum glücklichsten Jahr seines Lebens verholfen hatte. Ich wollte mehr über sie erfahren, konnte aber nichts darüber finden, was nach Kafkas Tod aus ihr geworden war. Ich war scheinbar in eine Sackgasse gelangt.
1984 erschien dann eine Kafka-Biografie mit spannenden neuen Informationen über Dora, The Nightmare of Reason: A Life of Franz Kafka von Ernst Pawel. Das Buch beleuchtete die atemberaubende Geschichte von Doras Leben nach Kafkas Tod, angefangen von der Flucht vor der Gestapo aus Berlin nach Russland über die erneute Flucht vor Stalins Säuberungen bis hin zum Erleben der letzten Kriegsjahre in London unter massiver Bombardierung durch die Deutschen. Dora hatte nach Kafkas Tod einen idealistischen deutschen Kommunisten geheiratet, mit dem sie eine Tochter hatte, die laut Pawel noch in England lebte. Und die Frage, die mich nun schon seit Jahren beschäftigte – lebt Dora noch? – wurde auch endlich beantwortet. Sie starb am 15. August 1952, genau drei Monate bevor ich geboren wurde.
Inspiriert von Doras Abenteuerlust und von den merkwürdigen Zufällen, die uns verbanden, begab ich mich auf die Suche, um Doras Lebenslauf zu vervollständigen. Auf meiner ersten „Mission, Dora zu finden“, im Jahr 1985 reiste ich nach Prag, Wien und Jerusalem. Auf dieser Reise lernte ich mehr über mich selbst als über Dora, aber seitdem hat mich meine Recherche auf Doras Spuren an viele weitere Orte gebracht, nach Polen, Deutschland, Frankreich, England, zur Isle of Man und auch mehrere Male wieder nach Tschechien und Israel.
1996 gründete ich das Kafka Projekt an der Universität San Diego mit einem internationalen Beratungskomitee, bestehend aus Kafka-Experten und -Forschern, mit dem Ziel, die verlorenen Schriften Kafkas, die 1933 von der Gestapo in Doras Wohnung beschlagnahmt worden waren, ausfindig zu machen. Die vorliegende Biografie wurde letztlich erst durch den Fund von Dokumenten und Fotos während einer viermonatigen Recherchereise für das Kafka Projekt zu deutschen Archiven in Berlin im Jahr 1998 sowie durch die Entdeckung von Doras Tagebuch 2000 in Paris ermöglicht.
Doras Sichtweise eröffnete mir einen Weg, Franz Kafka, den wohl am häufigsten missverstandenen Schriftsteller des letzten Jahrhunderts, begreifen und schätzen zu lernen. Im Gegenzug leiteten mich Kafkas Worte und Aphorismen bei meiner Suche nach Dora, gaben mir Mut, Humor, Einsicht und Kraft, die ich brauchte, um ihre Geschichte nachzuvollziehen und aufzuschreiben. Zu Beginn folgte ich einzig und allein meiner Intuition, dem Gefühl, es wäre im Sinne Doras, diese Geschichte zu erzählen. Dann, als ich ihre Briefe, ihre veröffentlichten jiddischen Texte, ihre unveröffentlichten Notizen über Kafka und die aufschlussreichen Dokumente über sie selbst aus den Gestapo- und Komintern-Akten fand, ergriff Dora selbst das Wort und wurde meine bedeutendste Mitarbeiterin und Vertraute bei der Arbeit an diesem Buch, mit ihrem durch ihre Worte und Handlungen vermittelten Wesen und ihrem Vermächtnis: der großzügig ausströmenden Liebe und Unterstützung durch ihre Freunde, Familie und diejenigen, die, wie mich, ihr unzerstörbarer Geist unaufhörlich berührt.
Auf die erste aller Fragen konnte ich, trotz aller gelüfteten Geheimnisse in und um Doras Leben, ironischerweise noch keine Antwort finden. Ihre Familie in Israel hat mich und meine Familie herzlich aufgenommen in die „Mischpoke“, doch ich weiß immer noch nicht, ob Dora und ich nun verwandt sind oder nicht. Ich bezweifle jedoch nicht, dass zwischen uns eine Verbindung besteht. Dora hat meine Sicht auf die Welt verändert, und ihr Leben hat mich inspiriert, mein eigenes zu verändern. Bevor Dora sich 1948 erstmals über Kafka interviewen ließ, gab sie eine Erklärung ab, die ich gerne in eigener Sache hier wiederholen möchte: „Ich bin nicht objektiv und kann es auch nicht sein. […] Dabei sind meist nicht die Tatsachen ausschlaggebend, es ist vielmehr eine reine Frage der Atmosphäre. Was ich erzähle, hat eine innere Wahrheit, und dazu gehört auch [Subjektivität].“ 1
Kathi Diamant, San Diego, Kalifornien, Dezember 2002
Die deutsche Ausgabe von Kafkas letzte Liebe ist schon lange überfällig. Erstmals erschien das Buch in den USA und Großbritannien. Die Rechte für eine deutsche Ausgabe wurden im Jahr 2000 vom Ullstein Verlag gekauft, doch während in den folgenden Jahren Übersetzungen ins Spanische, Französische, Chinesische, Russische und ins Portugiesische erschienen, blieb eine deutsche Fassung aufgrund von Übernahmen und eines Gerichtsverfahrens vorerst aus. Die Übertragung ins Deutsche wurde jedoch mit Spannung erwartet, und für weitere Übersetzungen ist sie sicherlich auch am wichtigsten, wurde doch das ausführlich zitierte Quellenmaterial ursprünglich meist in deutscher Sprache verfasst, darunter natürlich die Schriften Kafkas sowie Doras Briefe und Tagebücher, aber auch die Korrespondenz ihrer Freunde und Familie, Archivdokumente und Hintergrundmaterialien, deren Feinheiten und tiefere Bedeutungen bei der Übertragung ins Englische leider oftmals schwanden oder sogar verloren gingen. Während diese Gefahr nun wiederum bei der Übersetzung des englischen Textes ins Deutsche besteht, erscheinen Primärquellen jetzt in der Regel in ihrer Originalfassung, was, vor allem angesichts der Originalität von Kafkas Sprache, sicherlich wünschenswert ist.
Des Weiteren ist dieser Ausgabe zum ersten Mal das ursprüngliche Tagebuch von Dora Diamant beigefügt, welches sie, schon schwer krank, ein Jahr vor ihrem Tod zu schreiben begann. Es waren ihre ersten Aufzeichnungen über Kafka, sicherlich auch im Hinblick auf ihren möglichen Tod begonnen, „um einmal das zu sagen, was in Zusammenhang mit Kafka zu sagen nötig ist. Alles. Ohne Rückhalt“. So beschrieb Dora ihr Vorhaben in einem Brief an Marthe Robert, Kafkas Biografin und Übersetzerin ins Französische, mit der sie in den letzten Jahren in engem Kontakt stand. In einem früheren Brief hieß es: „Will mal sehen wie ich jetzt ,Franz Kafka‘ aufschreiben kann. Armer Junge!“
Auf dem roten Kartoneinband des Tagebuchs hatte Dora die Anweisung „Max Brod zu übergeben“ vermerkt, ihre Tochter gab das Tagebuch nach Doras Tod jedoch Marthe Robert, die in einer Pariser Zeitschrift darüber berichtete.
Ausschnitte aus dem Tagebuch werden schon im Buch zitiert, im Anhang dieser Ausgabe kann der Leser nun aber den ganzen Text nachlesen und sich selbst ein Bild davon machen. Dora Diamant ist es nicht leichtgefallen, ihre Sicht auf Kafka zu formulieren, auch angesichts der damals schon existierenden Fülle an Interpretationen zu Kafkas Person.
Zusätzlich zum Tagebuch erscheinen hier Fragmente eines zweiten Tagebuchs, von ihr „Hospital-Tagebuch“ genannt, sowie die „Chronologischen Initialien“ und „Kurze Notizen für Eintragung“. Die Tagebücher und Notizen wurden damals von ihrer Tochter und wahrscheinlich auch von Marthe Robert transkribiert und teilweise neu geordnet. Diese Abschriften waren Teil eines Pakets mit ausgewählten Materialien, das mir Klaus Wagenbach für mein Dora-Diamant-Archiv im Oktober 2002 übergab. Die Materialen von Klaus Wagenbach umfassen mehr als sechzig Seiten an Briefentwürfen sowie eine Neuordnung des ersten Tagebuchs mit zusätzlichen Texten und anderen, ursprünglich auch handschriftlichen Dokumenten. Einige dieser Dokumente zeigen auf drastische Weise Doras Armut und den Mangel an Schreibpapier nach dem Krieg. So sind wichtige Bemerkungen teilweise auf Schmierpapier, Kontoauszügen oder der Rückseite von Einkaufszetteln notiert. Ich hoffe, dass auch diese Notizen einmal veröffentlicht werden können, vielleicht zusammen mit den siebzig Briefen Doras an Max Brod aus den Jahren 1925 bis 1952, die aufgrund des Gerichtsverfahrens um das Brod-Archiv in Israel noch nicht öffentlich zugänglich sind.
Zu guter Letzt möchte ich noch Axel Grube, Hanna Koch und dem ganzen Team von onomato dafür danken, dass sie sich entschieden haben, Kafkas letzte Liebe zu veröffentlichen und sich der Aufgabe anzunehmen, den Wortlaut von Passagen aus ursprünglich deutschsprachigen Quellen wiederherzustellen, und für ihre Liebe und Hingabe an die Schriften und die Welt Franz Kafkas.
Kathi Diamant, San Diego, CA 3. Juni 2013
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Fußnoten
1 - J. P. Hodin: Erinnerungen an Franz Kafka, Der Monat, Juni 1949, S. 90 f.
›Das Genie und seine Muse‹ ist ein Topos der neueren europäischen Kulturgeschichte, und einer der ideologisch hartnäckigsten: Selbst noch im 20. Jahrhundert, als der Geniebegriff längst obsolet geworden war und an die Stelle von Musen profanere Figuren wie ›Süße Mädel‹, Groupies oder zum Diktat eilende Ehefrauen getreten waren, blieb die Vorstellung wirksam, es sei eine ehrenvolle Aufgabe der Frau, den männlichen Geist zu entzünden und für sinnlichen Brennstoff zu sorgen. Bei Karl Kraus, dem Unbestechlichen, ist das wörtlich so nachzulesen. Und noch immer fällt es manchem schwer, sich von diesem Wunschbild zu verabschieden, obwohl es auf nichts anderes hinausläuft als auf die Verklärung einer sekundären, abhängigen Existenzweise.
Dieses Beharren hängt zusammen mit der Art und Weise, wie wir auf Prominente schauen. Wer sich beispielsweise für Leben und Werk eines einflussreichen Schriftstellers interessiert, wird dazu tendieren, auf diesen Menschen einen Lichtkegel der Erkenntnis zu richten, der an den Rändern immer schwächer wird. Personen also, die dem Dichter nahekamen, interessieren ihn von vornherein mehr als Personen, die scheinbar nur beiläufig das Umfeld kreuzten. Und alle Personen interessieren ihn in Bezug auf den Dichter, während ihr Leben davor und danach oft nur noch lexikalisch registriert wird. So entsteht die naive Vorstellung eines Planetensystems, in dessen Mitte die kreative Persönlichkeit thront, umgeben von mehr oder minder treuen, mehr oder minder bedeutsamen Trabanten.
Gestützt wird diese Vorstellung häufig durch eine biografisch unbefriedigende, nämlich asymmetrische Quellenlage. Tagebücher und Briefe des Berühmten wurden aufbewahrt und publiziert, während die Notate aus seiner Umgebung oft nur fragmentarisch erhalten blieben. Goethe ist ein paradigmatischer Fall: Seine Briefe an Charlotte von Stein waren bereits eine Generation nach seinem Tod der Öffentlichkeit zugänglich, die Gegenbriefe sind verschwunden. Und im 20. Jahrhundert ist es Kafka, der das Dilemma in seiner wohl reinsten Form verkörpert.
Felice, Milena, Dora: Wir kennen diese Namen. Es sind die Vornamen von ›Geliebten‹, von Frauen also, zu denen Kafka in einer bedeutsamen erotischen Beziehung stand und von denen wir wissen, dass sie seine schriftstellerische Arbeit beeinflussten und ihn zu bewegenden Briefen veranlassten. ›Briefe an Dora‹ allerdings besitzen wir nicht, sie gingen ein Jahrzehnt nach seinem Tod verloren, als die Gestapo Doras Wohnung durchsuchte. Hingegen gibt es ein riesiges Bündel von Briefen an Felice, heute eine der bedeutsamsten biografischen Quellen, sowie die in ihrer Intensität unvergleichlichen Briefe an Milena. Von den Antworten der drei Frauen ist uns nichts als ein paar Zeilen geblieben, den weitaus größten Teil hat Kafka selbst vernichtet, höflichkeitshalber.
Die Nachnamen dieser Frauen werden viel seltener erwähnt, dem ungeschriebenen Gesetz folgend, dass der alleingestellte Vorname Intimität signalisiert. Schon auf dem Buchcover also beginnt, in Form unschuldiger Rollenprosa, eine Art Parteinahme. Doch genügend Beispiele belegen, dass diese Konvention ziemlich flexibel ist. Jean-Paul Sartre, ›Briefe an Simone‹, würden wir als ziemlich unpassenden Titel empfinden, während Kafkas Briefe an Milena beinahe wie der Titel eines literarischen Werks anmutet, ebenso auratisch wie unveränderlich. Er gibt unterschwellig zu verstehen, dass die sprachliche Produktivität des Autors hier ganz im Vordergrund steht und dass ›Milena‹ lediglich den Anlass bot. Sie ist die Adressatin, und sie bleibt es.
Solche Titel konnten sich auch deshalb einbürgern, weil man über Kafkas Frauen nichts wusste. Das verführte dazu, sie als bloße Projektionsflächen zu sehen – eine optische Täuschung, der in krassester Form Elias Canetti aufgesessen ist, dessen biografische Studie Der andere Prozeß die Figur Felice Bauers tatsächlich ohne Gesicht zeigt. Im Fall Milena Jesenskás waren es vor allem sprachliche Barrieren, die es dem westlichen Publikum schwer machten, hinter der Adressatin eine Frau mit eigenem Schicksal wahrzunehmen. Und von Dora Diamant hatte man überhaupt keine Vorstellung, außer dass sie für den schwerkranken Kafka ein ganz außergewöhnliches Glück gewesen sein muss.
Erst gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts kam sowohl in der Forschung als auch beim Publikum spürbare Frustration darüber auf, dass man es noch immer mit gesichtslosen Musen zu tun hatte. Es gab nun ein geschärfteres Bewusstsein dafür, dass dies Kafka unmöglich angemessen sein konnte. Denn es ist biografisch durchaus von Belang, wer die Menschen waren, denen er sich nahe fühlte, die er in gewissem Sinne gewählt hatte – ganz zu schweigen davon, dass diese Frauen nun auch um ihrer selbst willen interessant wurden. Das galt vor allem für Milena Jesenská, deren journalistische Arbeiten neben einigen Briefen nach und nach übersetzt wurden und die Sicht auf ein erstaunliches Leben freigaben, in dessen Zentrum keineswegs Kafka stand. Dann folgten Dokumente und Informationen aus dem Umfeld Felice Bauers, welche nicht nur den sozialen Typus, den sie verkörperte, plastisch hervortreten ließen, sondern die auch das Scheitern der Beziehung zu Kafka weit verständlicher machten, als es dessen notorische Selbstanklagen je vermochten.
Schließlich, als Schlussstein dieser biografischen Neuorientierung, die außerordentlich ertragreichen Recherchen zum Leben Dora Diamants, die der Initiative ihrer kalifornischen Namensvetterin zu verdanken sind. Kathi Diamant forschte in deutschen, englischen, polnischen, russischen und israelischen Archiven, machte Familienangehörige auf mehreren Kontinenten ausfindig. Plötzlich entstand vor den Augen des Lesers eine lebendige, differenzierte, widerspruchsvolle Figur mit farbigem Hintergrund, wo es zuvor nur eine Skizze, ja beinahe nur ein Gerücht gegeben hatte. Und nun erst zeigte sich, wie unzulänglich, ja irreführend alle bisherigen Vorstellungen über Kafkas letzte Lebenszeit gewesen waren. Kafka hatte keine Muse getroffen, alles andere als das. Er war einer jungen Frau begegnet, die schon seit ihrer Kindheit ebenjenen Zwiespalt gleichsam körperlich durchlebte und durchlitt, der für ihn selbst ein ethisches und intellektuelles Problem war: den Zwiespalt zwischen einer jüdischen Tradition, deren Vitalität mit Unwissen und Unfreiheit erkauft war, und dem Reichtum westlicher Bildung, der nur um den Preis von Individualismus, Abstraktion und sozialer Kälte zu haben war.
Diese Grenzzone zwischen Tradition und Moderne betraten Franz Kafka und Dora Diamant gleichsam von entgegengesetzten Seiten und fast zur selben Zeit. Sie hatte sich aus einer jüdisch-orthodox geprägten Umgebung freigekämpft, ihren Hunger nach Bildung und Freiheit auf eigene Rechnung gestillt und dafür in Kauf genommen, dass die familiären Bande rissen – ein ungeheures Opfer. Kafka hingegen war aufgewachsen in einer weitgehend assimilierten Familie, und seine Erziehung folgte den Maximen des Liberalismus und des bildungsbürgerlichen Humanismus. Erst nach und nach verstand er, dass damit das Problem der jüdischen Identität nicht einfach verschwunden war – nicht in einer Gesellschaft, in der Juden noch immer, oder wieder, als ›Gastvolk‹ betrachtet wurden. Kafka streckte die Fühler aus: Er sah jiddisches Theater, las über die Geschichte des Judentums, beschäftigte sich mit chassidischen Legenden und versuchte, ein wenig Hebräisch zu lernen. Als er Dora Diamant kennenlernte, begriff er sofort, dass sie eine Art Koexistenz von östlicher und westlicher Lebensweise verkörperte, die auch er sich als Lösung durchaus vorstellen konnte, obgleich das weder in ihrem noch in seinem Lebensplan vorgesehen war: eine Komplizin also. Ob er auch im herkömmlichen Sinn ›verliebt‹ war, wissen wir gar nicht. Wichtiger für ihn war, dass das scheinbar Unmögliche doch noch eingetroffen war: die Begegnung mit einer Frau, mit der ein gemeinsames Leben nicht bloß in der Imagination möglich war. Er kannte sie erst seit zwei Wochen, und der Beschluss war bereits gefasst: Er würde zu ihr nach Berlin kommen. Es ist nicht das geringste Verdienst der ersten Biografie über Dora Diamant, dass uns diese Entscheidung in ihrer Plötzlichkeit und Festigkeit zum ersten Mal als etwas völlig Plausibles erscheint, plausibel von beiden Seiten.
Über unerfüllbare symbiotische Wünsche, die noch seine Beziehung zu Felice Bauer so qualvoll unterminiert hatten, war der 40-jährige Kafka hinaus. Ihm war sicherlich bewusst, dass die privilegierte Bedeutung, die sein ›Schreiben‹ lebenslang für ihn gehabt hatte, für Dora nur schwer zu verstehen war. Sie erlebte ihn als einen Menschen von erstaunlicher Tiefe, dessen mündliche und schriftliche Äußerungen gleichberechtigt waren, und an literarischen Werken hatte sie – nach allen Zeugnissen, die wir jetzt über sie besitzen – ein durchweg inhaltliches, persönliches Interesse. Dass solche Werke auch der Selbstverständigung einer ganzen Epoche dienen, dass daher Kafka zu einer öffentlichen Figur werden und andere, Fremde ihn eines Tages ›interpretieren‹ würden, war für sie kaum vorstellbar, geschweige denn akzeptabel. Die Notizhefte, die er in Berlin benutzte, behielt sie für sich, als enthielten sie Mitteilungen ›an Dora‹ – daher gingen auch diese Texte verloren.
Dora Diamant hat später geheiratet, sie hatte ein Tochter. Als Jüdin, als Frau, als Sympathisantin der politischen Linken erlebte sie Unterdrückung, Verfolgung, gewaltsame Trennung und das Elend des Exils. Was Kafka zu alldem wohl gesagt und geschrieben hätte, überlegte sie gewiss mehr als einmal in ihrem Leben. Und seit wir sie nun kennen, denken auch wir daran.
Reiner Stach, Berlin, Juli 2013