

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe
Copyright © Egmont UK Ltd 2016
Originaltitel: The Witches of Fairhollow High – The New Girl
Die Originalausgabe ist 2016 im Verlag Egmont UK Ltd, London, erschienen.
© 2019 arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, 80801 München
Alle Rechte vorbehalten
Text: Ariana Chambers
Übersetzung: Doris Attwood
Cover: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung von Illustrationen von
Susana Diaz und von Bildmaterial von Shpak Anton, losw, Sonja illustration,
Forest Foxy, Sloth Astronaut / Shutterstock.com
Innenillustrationen: Susana Diaz
ISBN eBook 978-3-8458-3257-9
ISBN Print 978-3-8458-2838-1
www.arsedition.de
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden
Cover
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Weitere Titel
Leseprobe zu "Sprichst du Schokolade"

Eine meiner absoluten Lieblingswohlfühlfilmszenen überhaupt stammt aus dem Film Winterferien. Die Hauptfigur, Lola, fliegt in den Weihnachtsferien vom College nach Hause. Sie trottet total geknickt durch das Flughafenterminal, weil sie glaubt, dass ihr Freund Josh zu seinem Dad gefahren ist und sie ihn die ganzen Ferien über nicht sehen wird.
Aber als sie die Ankunftshalle betritt, wartet Josh doch auf sie, mit breitem und ein bisschen feuchtem Grinsen im Gesicht. Er hat ein kleines Pappschild in der Hand, auf dem ihr Name und Ich liebe dich, Peanut steht. »Peanut« – Erdnuss! – ist sein Kosename für sie, aber das ist eine vollkommen andere Geschichte.
Wie dem auch sei, als Lola Josh sieht, schwingt sie sich über die Absperrung und wirft sich in seine Arme. Jedes Mal, wenn meine beste Freundin Ellie und ich diese Szene sehen – selbst nach dem fünfhundertsten Mal noch –, müssen wir heulen. Jedes Mal, ohne Ausnahme.
Als ich die Ankunftshalle des Flughafens von Newbridge betrete und versuche, die Räder des Gepäckwagens gerade zu halten und zu verhindern, dass meine Gitarre von dem wackligen Kofferturm rutscht, kann ich nicht anders: Ich lasse den Blick hoffnungsvoll über die Reihe der Wartenden hinter der Absperrung schweifen, obwohl ich weiß, dass Tante Clara nicht hier sein kann, weil sie in ihrem Laden eine Lieferung entgegennehmen muss – und obwohl es sonst überhaupt niemanden gibt, der mich abholen könnte, weil ich
a) keinen Freund wie Josh habe,
b) keinen Freund habe, Punkt, und
c) außer Tante Clara hier niemanden kenne.
Trotzdem suchen meine Augen weiter nach einem Stück Pappe mit meinem Namen darauf. In der ganzen Halle hält allerdings überhaupt nur eine einzige Person ein Schild hoch: ein rundlicher Mann mit rotem Gesicht, der einen zu engen Anzug trägt. Auf seinem Schild steht MR BAILEY. Definitiv nicht Nessa Reid.
Ich seufze, schiebe den Gepäckwagen an der Menschenreihe vorbei und versuche, möglichst cool und gleichgültig auszusehen, so als wäre es mir völlig egal, dass man mich in diese dämliche Stadt mitten im Nirgendwo geschickt hat, ohne Freunde, wo mich noch nicht mal jemand vom Flughafen abholt.
Als meine Gitarre schon wieder beinahe vom Wagen rutscht, muss ich an meinen Dad denken und spüre ein wütendes Stechen in meinem Bauch. Die Gitarre war ein Abschiedsgeschenk von ihm – als könnte er damit wiedergutmachen, dass er mich hier alleinlässt und wegen seiner Arbeit nach Dubai geht, in den Nahen Osten. Na ja, ich schätze, so habe ich wenigstens etwas, um wütende Songs über miese Eltern zu schreiben.
Ich blicke mich in der Ankunftshalle um. Dad hatte mir erklärt, der Taxistand wäre gleich rechts von mir. Mir war allerdings nicht klar, dass er das absolut wörtlich gemeint hat. Der Flughafen ist so winzig, dass ich tatsächlich sehen kann, wie die Taxis auf der anderen Seite der Glaswand in einer Reihe warten.
Ich schiebe den Gepäckwagen in Richtung der Türen. Sie öffnen sich automatisch und mir schlägt ein kalter Windstoß entgegen. Als ich in London losgeflogen bin, war das Wetter freundlich und sonnig, aber hier in Schottland ist der Dezemberhimmel dumpf, schwer und weiß, wie eine dicke Schicht aus Watte.
Der Gepäckwagen rattert klappernd über die Pflastersteine, als ich ihn zum ersten Taxi in der Reihe hinüberschiebe. Ich krame in meiner Hosentasche nach dem Stück Papier mit Tante Claras Adresse drauf, das Dad mir mitgegeben hat. Mir ist so unbehaglich zumute, dass es in meinem Bauch ganz furchtbar grummelt.
»Ich möchte bitte zum Paper Soul in der Hauptstraße in Fairhollow«, teile ich dem Fahrer mit, als er aus dem Taxi steigt und den Kofferraum öffnet. Er hat kurzes silbergraues Haar und eine leicht platte Nase, so als hätte er sie sich irgendwann mal bei einem Boxkampf gebrochen.
»Paper was?«, fragt er und greift nach einem meiner Koffer.
»Paper Soul. Das ist ein Buchladen, mit Café.« Das ist das einzig Gute daran, dass Dad mich zu Tante Clara geschickt hat: Ich werde über einem Café und Buchladen wohnen – zwei meiner Lieblingsdinge in einem Gebäude. »Er ist neben der Drogerie«, füge ich hinzu und werfe einen erneuten Blick auf Dads Wegbeschreibung.
»Ah«, erwidert der Fahrer wissend, »den Laden meinst du.«
Er klingt nicht besonders beeindruckt. Ich setze mich auf die Rückbank des Taxis und versuche, mir nicht zu viele Gedanken darüber zu machen. Als ich den Zettel wieder in die Hosentasche stecke, streifen meine Finger das Medaillon meiner Mum und ich fühle mich sofort ein bisschen besser.
Meine Mum ist gestorben, als ich noch ganz klein war, kurz nachdem ich als Baby krank wurde und selbst ins Krankenhaus musste. Ich kann mich nicht mehr wirklich an sie erinnern und Dad spricht auch nicht viel über sie. Aber als ich letzte Nacht gepackt habe, hat er mir dieses Medaillon gegeben.
»Es hat ihr gehört, und sie hätte bestimmt gewollt, dass du es bekommst«, meinte er. Es ist wunderschön, klein und silbern, und auf der Vorderseite ist ein filigraner fünfzackiger Stern eingraviert. Es fühlt sich ganz wundervoll in meiner Hand an.
Das Taxi rollt vom Flughafengelände. Ich schließe die Augen und spiele Schlimmer dran als Du. Das Spiel habe ich mir während eines besonders trostlosen Tests in Naturwissenschaften ausgedacht, in dem es um das Periodensystem ging. Die Idee dahinter ist folgende: Wenn du dich wegen irgendetwas richtig gestresst fühlst, musst du dir einfach eine Situation ausdenken, die noch viel schlimmer wäre, dann kommt dir dein Problem sofort viel kleiner vor.
Ich stelle mir ein Mädchen vor, das genauso alt ist wie ich – dreizehn – und mitten in der Sahara gestrandet ist. Sie hat schon seit Tagen nichts getrunken und eine Herde schnaubender Kamele wird gleich in einer Stampede über sie hinweggaloppieren. Ich öffne die Augen wieder und schaue aus dem Fenster.
Wir fahren auf einer schmalen Landstraße, umgeben von kargen Stoppelfeldern. Die Gegend sieht zwar ziemlich öde aus, aber wenigstens gibt’s hier keine panische Kamelherde, und eine Flasche Wasser habe ich auch in der Tasche. Ich hole sie heraus und trinke einen Schluck. Es gibt wirklich eine Menge Leute, die entschieden schlimmer dran sind als ich. Das hier ist wirklich nicht das Ende der Welt … es fühlt sich nur so an.
Irgendwann lassen wir die kurvenreiche Strecke hinter uns und biegen auf eine etwas breitere Straße ab. Wir sind noch immer von Feldern umgeben, aber hin und wieder fährt ein anderes Auto an uns vorbei, deshalb nehme ich an, dass wir uns Fairhollow allmählich nähern.
Ich presse das Gesicht gegen die kalte Fensterscheibe. Der Himmel verdunkelt sich von Weiß zu Grau, so als würde ihn jemand mit einem Bleistift schraffieren. Ich spüre, wie es in meinem Magen vor Aufregung flattert. Ich habe Tante Clara nicht mehr gesehen, seit sie Dad und mich das letzte Mal besucht hat. Damals war ich ungefähr sechs. Ich frage mich, ob sie sich wohl sehr verändert hat.
Ich krame eine Erinnerung an sie von jenem Tag hervor, die ich wie ein altes Foto in meinem Kopf abgeheftet habe. Sie steht im Garten hinter unserem Haus und starrt ins Leere, während ihr langes goldenes Haar im Wind weht. Ich glaube, sie und Dad hatten sich gerade gestritten. Ich kann mich noch daran erinnern, wie Dad ins Haus gestürmt ist und die Tür hinter sich zugeknallt hat.
Und ich kann mich noch daran erinnern, wie Tante Clara mich in den Arm genommen hat, als sie wieder abgereist ist. Sie roch nach Rosenblättern. Hoffentlich wird es schön, bei Mums Schwester zu wohnen – und hoffentlich werde ich in der Zeit bei ihr mehr über Mum erfahren.
Die Straße schlängelt sich inzwischen einen ziemlich steilen Berg hinauf.
»Sind bald da«, verkündet der Fahrer und blickt mich im Rückspiegel an.
Ich nicke ihm zu. »Danke.«

Als wir endlich oben auf dem Hügel ankommen, gibt es tatsächlich etwas anderes zu sehen als endlose Felder. Tief unter uns erstreckt sich eine Stadt auf dem Grund eines riesigen Tals, das auf beiden Seiten von dicht bewaldeten Hügeln gesäumt ist.
»Kommst du aus Fairhollow?«, erkundigt sich der Fahrer, als die Straße wieder bergab führt und sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelt.
Ich schüttle den Kopf. »Nein. Aber meine Mum ist … war von dort. Ich werde bei meiner Tante wohnen.«
»Interessantes Städtchen«, sagt der Fahrer.
Leider klingt es so, wie er es sagt, nicht unbedingt so, als sei das etwas Gutes.
»Was meinen Sie damit?«
»Das wirst du schon sehen.« Unsere Blicke treffen sich im Rückspiegel und das nervöse Rumoren in meiner Magengrube meldet sich erneut. Ich schaue wieder aus dem Fenster. Die Äste der Bäume breiten sich wie ein Dach über uns aus und filtern das blasse Winterlicht. Es wäre richtig hübsch hier, wenn die Sonne scheinen würde.
Schließlich tauchen wir wieder aus dem Wald auf und ich entdecke am Straßenrand ein Schild mit der Aufschrift WILLKOMMEN IN FAIRHOLLOW. Irgendjemand hat in Rot etwas daruntergekritzelt, aber es ist so klein, dass ich es nicht lesen kann.
Die Straße, auf der wir uns befinden, führt direkt zur Hauptstraße von Fairhollow. Wir rollen an einer Reihe großer, imposanter Häuser vorbei, die jedoch alle ein wenig verblasst und verwittert aussehen, mit abblätternder Farbe und schmutzigen Fenstern. Als der Fahrer an einer Kreuzung anhält und eine Gruppe von Kindern, alle ungefähr in meinem Alter, die Straße überquert, kribbelt meine Haut richtig vor Angst.
Morgen ist mein erster Tag in meiner neuen Schule. Ich muss wieder an meine beste Freundin Ellie denken und spüre ein bekümmertes Stechen. Ellie und ich gehen schon immer zusammen zur Schule. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, ohne sie im Unterricht zu sitzen. Das alles hier fühlt sich einfach nicht richtig an.
Ich schaue den Kindern nach, die ein Café mit dem Namen Zimt & Zucker betreten. Sie lachen, albern herum und sind in ihre Gespräche vertieft. Dann schaltet die Ampel auf Grün und der Fahrer fährt weiter die Hauptstraße hinunter. Alles hier sieht unglaublich altmodisch aus. Ich kann noch nicht mal ein Anzeichen für irgendeinen Supermarkt entdecken.
Dann sehe ich plötzlich das Paper Soul, ganz am Ende der Straße. Es ist ein langes, schmales Gebäude, drei Stockwerke hoch. Das Ladenschild ist handgemalt: rote Buchstaben auf schwarzem Grund, mit einem silbernen Halbmond in der Ecke. Der Fahrer kommt direkt vor dem Haus zum Stehen und ich kann ein paar Bücher in dem spärlich beleuchteten Schaufenster erkennen.
»Alles in Ordnung, Kleine?« Der Fahrer blickt mich über seine Schulter hinweg an.
Ich nicke, obwohl ich mich alles andere als in Ordnung fühle, als ich nach ihm aus dem Taxi steige. In meinem Kopf wimmelt es nur so von Was, wenn. Was, wenn Tante Clara und ich nicht miteinander auskommen? Was, wenn sie mich eigentlich gar nicht hier haben will? Was, wenn ich es hier hasse? Was, wenn ich keine neuen Freunde finde?
Der Fahrer lädt meine Koffer aus, und ich bezahle ihn mit einem Teil des Geldes, das Dad mir heute Morgen mitgegeben hat.
Ich warte, bis er wieder davongefahren ist, bevor ich die Ladentür öffne. Eine Glocke über mir klingelt so laut, dass ich richtig erschrecke.
»Hallo?«, sage ich nervös und trete ein.
Im Laden riecht es nach einer eigenartigen Mischung aus Räucherstäbchen und frisch gebackenem Brot. Meine Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, trotzdem kann ich auf beiden Seiten neben mir hohe, mit Büchern gesäumte Nischen erkennen. Direkt vor mir steht ein separater Aufsteller. Ich lasse den Blick kurz über die Titel schweifen: Geisterjagd für Anfänger, Spukschlösser, Gespenster und Phantome. Ich runzle die Stirn.
Warum hat Tante Clara denn solche Bücher im Laden? Mein Dad sagt immer, man müsste all diesen übernatürlichen Kram eher als überdämlichen Kram bezeichnen.
Vielleicht hat Tante Clara die Bücher ja für eine Halloween-Aktion geordert und sich nur noch nicht die Mühe gemacht, sie wieder wegzuräumen. Ich lasse den Blick auf der Suche nach einer Abteilung mit Jugendbüchern durch den Laden schweifen. Doch ganz egal, wo ich hinschaue, es scheint überall das Gleiche zu sein: Astrologie, Spiritualität, New Age, Heilkräfte. Ich spüre ein Stechen der Enttäuschung. In meiner Vorstellung war Tante Claras Laden gemütlich und hell, und es wimmelte darin nur so von anderen Teenagern, die sich über Bücher unterhielten. Das hier erinnert mich eher an eine uralte Bibliothek. Hoffentlich ist wenigstens das Café ein bisschen freundlicher.
Ich schleppe meine Koffer an zwei weiteren Büchernischen vorbei. Dahinter öffnet sich der Laden zum Cafébereich, der vollkommen menschenleer ist. An der hinteren Wand erstreckt sich die Theke, davor sind eine Handvoll runder Tische aufgestellt. In der Mitte jedes Tischs stehen dicke rote Kerzen, an denen seitlich Wachsspuren wie hervortretende Adern herunterlaufen.
»Tante Clara!«, rufe ich, diesmal ziemlich laut. Dieser Laden wird mir allmählich unheimlich.
Ich höre, wie im Hinterzimmer eine Tür zuknallt, gefolgt von trappelnden Schritten. Dann taucht Tante Clara im Türrahmen hinter der Theke auf.
Oder zumindest glaube ich, dass es Tante Clara ist – sie sieht ganz anders aus, als ich sie in Erinnerung habe. Ihr langes Haar ist zu einem kurzen Pagenkopf geschnitten, der ihre Schultern kaum noch streift und noch dazu feuerrot gefärbt ist. Sie trägt ein langes schwarzes Kleid, und der einzige Farbtupfer an ihr – abgesehen von ihren Haaren – ist der leuchtend türkisfarbene Anhänger, der an einer langen silbernen Kette um ihren Hals hängt. Sie sieht mich an und schnappt erst mal nach Luft.
»Ich bin Nessa«, sage ich und mein Gesicht fängt sofort an zu glühen. Ich habe die ausgesprochen nervige Angewohnheit, knallrot anzulaufen, wenn ich nervös bin.
»Ja, ich weiß«, erwidert Tante Clara und starrt mich dabei immer noch an. »Du siehst so …«
Sie kommt hinter der Theke hervor und bleibt direkt vor mir stehen. Ihre eisblauen Augen sind mit schwarzem Eyeliner umrandet und stechen dadurch noch eindrucksvoller hervor. Sie streckt eine Hand aus und greift nach einer Locke meines Haars. Es ist wahrscheinlich zu lang – inzwischen reicht es mir fast bis zu den Ellenbogen. Dank des einzigen Fotos, das Dad mir von ihr gegeben hat, weiß ich, dass ich aussehe wie meine Mum. Ich spüre dasselbe nervöse Grummeln im Magen, das ich schon im Taxi gespürt habe, aber diesmal ist es viel stärker. So stark, dass mir die Knie ganz weich werden.
»Du siehst Celeste so unglaublich ähnlich«, flüstert Tante Clara, aber sie lächelt dabei nicht.
»Kann ich … Ist es okay, wenn ich mich setze?« Ich zeige auf einen der Tische.
»Natürlich. Klar. Tu das. Du musst ja furchtbar müde sein. Und hungrig. Hast du Hunger? Ich hole dir was zu essen.« Auch Tante Clara wirkt nervös. Zum ersten Mal wird mir bewusst, dass das Ganze auch für sie eine ziemlich große Sache ist. Sie ist nicht verheiratet und hat keine Kinder, und jetzt hat sie plötzlich eine Dreizehnjährige am Hals, die sie kaum kennt – und die noch dazu genauso aussieht wie ihre tote Schwester.
Obwohl ich keinen Hunger habe, nicke ich, weil ich sie nicht noch nervöser machen will. Sie huscht hinter die Theke und kommt mit einem Glas sehr orangem Orangensaft und einem Schoko-Brownie wieder zurück. Ich lächle erleichtert. Wenn es eine Sache gibt, durch die ich mich garantiert gleich wieder besser fühle, dann ist es ein Schoko-Brownie.
Ich nehme einen riesigen Bissen. Igitt! Ich muss all meine Willenskraft aufbringen, um ihn nicht sofort wieder auszuspucken. Er schmeckt einfach widerlich.
»Ah, du bist ganz offensichtlich nicht an Rote-Bete-Brownies gewöhnt«, bemerkt Tante Clara.
Ich starre sie verdutzt an. »Rote Bete?« Wer mischt bitte Rote Bete in einen Brownie?!
»Ja. Das ist ein veganes Rezept. Das hier ist ein veganes Café«, erklärt mir Tante Clara und deutet auf eine Schiefertafel an der Wand, auf der mit Kreide Tagessuppe: Kürbiskern und Kartoffel geschrieben steht.
Es gelingt mir, den Mundvoll Brownie hinunterzuschlucken, ohne zu würgen. Dann greife ich nach dem Orangensaft, um den fiesen Geschmack hinunterzuspülen – aber der ist sogar noch ekelhafter.
»Das ist Karottensaft«, sagt Tante Clara.
»Lecker«, lüge ich.
Tante Clara zieht die Augenbrauen hoch. »Mach dir keine Sorgen. Viele Leute hassen veganes Essen am Anfang. Aber ich verspreche dir, dass du dich ganz schnell daran gewöhnen wirst.«
Ich runzle die Stirn. Sie hat mich durchschaut.
Tante Clara schwankt unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. An jedem ihrer Finger steckt ein Silberring, sogar an ihren Daumen. Mein Blick bleibt an dem Ring an ihrem kleinen Finger hängen: ein Katzenkopf mit Smaragdaugen.
»Wenn du dich erst mal an zuckerfreies Bio-Essen gewöhnt hast, willst du nie wieder etwas anderes«, versichert sie mir. »Es ist einfach so geschmacksintensiv.«
Ich beiße erneut von meinem Rote-Bete-Brownie ab und zwinge mich, den Bissen hinunterzuschlucken. Tante Clara schaut mich an, als wollte sie etwas sagen, bleibt jedoch stumm. Ich lächle sie an und mir tut dabei richtig das Gesicht weh.
Eins steht jedenfalls fest: Wenn ich hier wohnen will, ohne Tante Claras Gefühle zu verletzen, dann muss ich dringend an meinen Fähigkeiten als Lügnerin arbeiten.

Ich habe mal in einer Zeitschrift gelesen, dass der allererste Gedanke, den man morgens nach dem Aufwachen hat, der wichtigste Gedanke des Tages ist. Angeblich bestimmt dieser erste Gedanke die Stimmung für den ganzen Rest des Tages. Deshalb sollte man alles dafür tun, dass es ein froher Gedanke ist.
Mein allererster Gedanke, als ich am nächsten Morgen aufwache, ist: Oh nein! Dicht gefolgt von: Ich bin immer noch in Fairhollow und muss hier zur Schule gehen! Ich hoffe wirklich, dass der Autor dieses Artikels falschlag, sonst ist der heutige Tag schon jetzt dem Untergang geweiht.
Ich schalte die Nachttischlampe an und schnappe mir mein Handy. Ich habe zwei neue Nachrichten, eine von Dad und eine von Ellie. Ich lese Ellies zuerst, weil ich offiziell immer noch sauer auf Dad bin.
Wie hast du geschlafen? xxx
Ich tippe schnell eine Antwort.
Nicht gut. Mein Magen hat die ganze Zeit echt seltsame Geräusche gemacht. Keine Ahnung, ob das Hunger oder Angst war. xoxo
Zum Abendessen gab es gestern etwas namens Quinoa. Es fühlte sich an, als würde man aufgeweichte Körner essen – noch schlimmer als der Rote-Bete-Brownie. Irgendwann habe ich zu Tante Clara gesagt, dass ich sehr müde bin, und bin schon um acht Uhr ins Bett gegangen.
An viel Schlaf war allerdings nicht zu denken. Ich habe bis nach Mitternacht mit Ellie gechattet und Gitarre gespielt. Mein neuer Song ist auch schon fast fertig: »Dad, Dad, You Make Me Mad.«
Ich klicke auf Dads Nachricht.
Ich vermisse Dich. lol x
LOL! Warum schreibt er LOL? Findet er es lustig, mich alleine hierher zu schicken?
Doch dann fällt mir wieder ein, dass Dad glaubt, LOL stünde für »lots of love«. Ich seufze tief und drücke auf Antworten.
Vermisse dich auch. xxx
Und das tue ich wirklich, auch wenn ich immer noch wütend auf ihn bin. Ich vermisse seine doofen Witze und wie sich Falten um seine Augen bilden, wenn er lächelt. Ich vermisse sein Essen – und wie!
Aber am meisten vermisse ich, dass er mir das Gefühl gibt, in Sicherheit zu sein. Mein Handy piepst, als eine weitere Nachricht von ihm ankommt.
Vergiss nicht, das hier ist nicht für immer – nur bis ich genügend Geld habe, damit wir wieder auf die Beine kommen. lol x
Bohrende Schuldgefühle melden sich, weil ich die ganze Zeit so wütend auf ihn war. Wenn er den Job in Dubai nicht angenommen hätte, hätten wir unser Haus verloren.
Ich weiß. Mach dir keine Sorgen. Ich komm schon klar. lol xxx
Ich kann nicht fassen, dass ich LOL jetzt schon genauso verwende wie er.
Mein Handy piepst sofort mit der nächsten Nachricht, aber diesmal ist sie von Ellie.
Wahrscheinlich der Hunger. Ich frage mich, was sie dir wohl zum Frühstück serviert!! xxxxx
Ich schreibe schnell zurück:
Ich hab so ’nen Verdacht, dass es kein Speck ist. xoxo
Ich setze mich auf und blicke mich um. Mein Zimmer ist im Dachboden, mit schräger Decke auf beiden Seiten. Es sieht richtig altmodisch und gemütlich aus, bräuchte aber unbedingt ein Warnschild mit einem großen roten Kreuz darauf – und einem Bild von jemandem, der sich den Kopf reibt. Allein gestern Abend habe ich mir ungefähr zwanzig Mal den Kopf an der Decke gestoßen, als ich mich bettfertig gemacht habe!
Die Wände sind cremeweiß, genau wie der Teppich, die Bettwäsche und die Kommode. Dieses Zimmer braucht dringend ein bisschen Farbe. Ich muss unbedingt ein paar von meinen Fotos aufhängen, wenn ich später aus der Schule komme. Schule. Mein Herz fängt wieder wie wild an zu klopfen.
Alles wird gut, muntere ich mich selbst auf. Manchmal, wenn meine innere Stimme wie jetzt etwas Kluges oder Tröstliches sagt, tue ich so, als wäre es Mum, die mit mir spricht. Ich stelle mir vor, wie sie auf mich herunterschaut, während ihr langes blondes Haar über ihre Schultern fällt, genau wie bei Rapunzel. Alles wird gut.
Ich betrachte die Schuluniform, die auf einem Stuhl neben dem Fenster liegt. Die Schuluniform mit Schottenkaro. Wie kann alles gut werden, wenn ich Schottenkaro tragen muss?!
»Nessa, bist du wach?«, höre ich Tante Clara vom Treppenabsatz rufen. »Frühstück ist fertig.«

Das Frühstück besteht aus einem Glas grüner Farbe und einer Schüssel Hamsterstreu. Tante Clara nennt es allerdings »Grüner Smoothie« und »glutenfreies Müsli«.
Ich hebe das Glas an die Lippen und trinke einen winzigen Schluck. Der Saft schmeckt nach abgestandenem Tümpel – oder zumindest so, wie ich mir den Geschmack von einem abgestandenen Tümpel vorstelle. Ich zwinge mich trotzdem, es hinunterzuschlucken. Langsam bin ich darin richtig gut.
»Das ist ein Smoothie mit Spirulina«, erklärt Tante Clara und blickt mich über den Tisch hinweg an. Sie trägt immer noch ihren Morgenmantel und ihr Make-up-freies Gesicht glänzt vor Feuchtigkeitscreme. »An den Geschmack muss man sich definitiv erst gewöhnen.«
Ich hatte mir eigentlich eingebildet, mein Stirnrunzeln gut versteckt zu haben. Offensichtlich nicht.
»Und was ist Spirulina?«, frage ich, obwohl ich mir nicht sicher bin, dass ich es wirklich wissen will.
»Algenpulver«, antwortet Tante Clara mit einem Lächeln, als wäre es das Schönste auf der Welt, pulverisierte Algen zu trinken. »Das ist sehr gesund, aber am Anfang schmeckt es ein bisschen eigenartig.«
»Verstehe.« Am liebsten würde ich losheulen. Warum zwingt sie mich, Algenpulver zu trinken? Kein Wunder, dass gestern niemand in ihrem Café war, wenn bei ihr solches Zeug auf der Karte steht.
Tante Clara stellt ihr Glas ab und schaut mich besorgt an. »Geht’s dir gut? Möchtest du vielleicht was anderes?«
Mein Magen rumort vor Nervosität und Angst, und einen Moment lang habe ich das Gefühl, ich würde in Ohnmacht fallen. Ich kralle mich am Tisch fest und versuche, tief Luft zu holen.
»Nein … ich … schon okay. Ich glaube, ich mache mich lieber für die Schule fertig.«

Ich hatte gehofft, keinen anderen Schülern zu begegnen, wenn ich mich möglichst früh zur Fairhollow High School aufmache, aber es sind bereits ein paar in Schottenkaros gehüllte Grüppchen unterwegs.
Ich halte den Kopf gesenkt, so als wäre ich mit einem Mal vollkommen fasziniert von den Gehwegplatten. Ich muss an Ellie denken, die unendlich weit weg in London ist, und spüre ein schmerzhaftes Stechen in der Magengegend. Ich krame in der Tasche meines Blazers nach Mums Medaillon und halte es fest umklammert. Ich wusste, dass es schwer sein würde, hierher zu ziehen. Ich habe allerdings nicht damit gerechnet, dass das Ganze so emotional für mich wird.
Ich atme die kalte Luft ganz tief ein und langsam wieder aus. Auch wenn ich natürlich weiß, dass Dad recht hat und übernatürlicher Kram überdämlich ist, hoffe ich insgeheim, dass Mum doch irgendwie bei mir ist, und folge tapfer weiter der Hauptstraße. Als ich den Eingang der Fairhollow High erreiche, muss ich zweimal hinschauen. Das Gebäude sieht eher aus wie ein Landsitz als eine Schule.
Es steht inmitten eines wunderschönen Anwesens, und die kurvige Straße, die hierher führt, ist von einer dichten Wand aus Bäumen gesäumt. Es gibt sogar eine Kapelle.
Ich bleibe einen Moment lang stehen, um den Anblick auf mich wirken zu lassen, bevor ich den Schildern zum Sekretariat folge.
Das Innere der Schule ist genauso altmodisch und elegant wie das Äußere: Die Wände sind mit Eichenholz verkleidet und die dunklen, polierten Fußböden glänzen wie Kastanien. Ich steuere auf das Sekretariat zu und mein Herz klopft wie verrückt.
»Hi. Ich bin Nessa Reid«, stelle ich mich der Frau vor, die hinter dem Schreibtisch sitzt. Sie hat ihr hellgraues Haar zu einem Dutt zusammengesteckt und trägt eine Halbmondbrille mit goldenem Gestell. Sie starrt mich eine Sekunde lang über die Brille hinweg an, bevor ein Ausdruck der Erkenntnis über ihr Gesicht huscht.
»Ah ja! Die neue Schülerin. Clara Hamiltons Nichte.« Sie betrachtet mich von oben bis unten, als wollte sie abschätzen, was sie von mir halten soll. Dann lächelt sie. »Gut, in welcher Klasse haben wir dich denn untergebracht?« Sie blättert durch ein riesiges in Leder eingebundenes Buch, das vor ihr auf dem Schreibtisch liegt. »Ah ja. Mr Matthews, achte Klasse.«
Sie hat den Satz gerade ausgesprochen, als zwei Mädchen und ein Junge laut lachend durch die Tür poltern. Ich muss sie nur kurz ansehen und weiß sofort, dass sie zu den beliebten Schülern gehören.
Eins der Mädchen hat strohblondes Haar, das in weichen Wellen über seine Schultern fällt. Das andere hat superglattes braunes Haar. Es ist zu einem modischen Pferdeschwanz zusammengebunden. Die beiden sehen aus, als seien sie vom Laufsteg direkt hierher stolziert. Sie schaffen es sogar, ihre Kilts cool aussehen zu lassen.
Schneewittchen