Der Autor
Gert Kowarowsky, geb. 1953 in Karlsruhe, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Lehrtherapeut und Supervisor für Verhaltenstherapie, arbeitete nach seinem Studienabschluss am Psychologischen Institut der Universität Heidelberg zunächst als klinischer Psychologe mit dem Schwerpunkt Verhaltensmedizin und insbesondere der Vermittlung von Stressbewältigungsstrategien. Seit 1999 tätig in eigener kassenzugelassener und als Lehrpraxis anerkannter Psychotherapiepraxis. Seit 2005 Fachbuchautor, Dozent, Selbsterfahrungsleiter und Supervisor an mehreren verhaltenstherapeutischen Ausbildungsinstituten zur Psychologischen Psychotherapeutin/zum Psychologischen Psychotherapeuten sowie Dozent bei zertifizierten verhaltenstherapeutischen Fortbildungsveranstaltungen für bereits approbierte Kolleginnen und Kollegen. Schwerpunkte seiner aktuellen Seminar- und Lehrtätigkeit:
• Die therapeutische Beziehung
• Das Konzept »Schwieriger Patient« überwinden durch gesteigerte Interaktionskompetenz in schwierigen Situationen im Klinik- und Praxisalltag
• Menschen mit Persönlichkeitsstörungen – bei klarem Störungsbildwissen auch keine schwierigen Patienten
• Grundlagen der Paartherapie bei Persönlichkeitsstörungen eines oder beider Partner
• Impact-Techniken sowie mehr Impact durch den Einsatz von kreativen Medien in der Verhaltenstherapie
• Individualisierte Burnout-Therapie im Einzel- und Gruppensetting erfolgreich durchführen können
Veröffentlichungen:
Der schwierige Patient: Kommunikation und Patienteninteraktion im Praxisalltag (3. Aufl., ISBN 978-3-17-033699-5)
Individualisierte Burnout-Therapie (IBT): Ein multimodaler Behandlungsleitfaden (ISBN 978-3-17-032341-4)
Für Fragen und Rückmeldungen an den Autor:
Praxis für Psychotherapie
Gert Kowarowsky
Wenzstr. 11
95138 Bad Steben
E-Mail: praxis@kowarowsky.de
Aktuelle Seminare des Autors unter:
www.kowarowsky.de/seminartermine
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3., erweiterte und aktualisierte Auflage 2019
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-033699-5
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-033700-8
epub: ISBN 978-3-17-033701-5
mobi: ISBN 978-3-17-033702-2
Elektronische Zusatzmaterialien (ContentPLUS):
Zum Buch gibt es zahlreiche Materialien (Arbeitsblätter, Übungen, Checklisten etc.), die kostenfrei im Internet heruntergeladen werden können (weitere Informationen hierzu finden Sie auf S. 230–232).
Es ist eine der anspruchsvollsten Aufgaben für einen Therapeuten, mit einem schwierigen Patienten erfolgreich zu arbeiten. Der Therapeut kommt meistens an die Grenzen seiner Fähigkeiten, seiner Techniken, seines Wissens, und häufig auch seiner persönlichen Geduld, seines Mitgefühls und seiner Integrität.
Wie viele von uns Helfern haben nur Schweigen gehört oder die Worte »Ja, aber …«, als sie versucht haben, gut zu beraten, und sich hilflos gefühlt beim Versuch, eine Verbindung zum Patienten herzustellen.
Der schwierige Patient stellt vielleicht die größte Herausforderung dar herauszufinden, wie man einen Menschen erreichen kann, der nicht zu reagieren scheint. Ist er vielleicht so stark verstrickt in seine inneren Konflikte, dass er nicht antworten kann? Oder ist es vielleicht so, dass wir nicht feinfühlig genug sind, um ihn zu hören? Viele Fragen stellen sich: Ist es der Patient, ist es der Helfer oder sind es die Umstände, die eine therapeutische Situation schwierig machen?
Ein Buch, das erklärt, was alles berücksichtigt werden muss, wenn man mit einem schwierigen Patienten arbeitet, und das gleichzeitig praktische und nützliche Hilfsmittel und Anregungen gibt, ist ein wahres Geschenk für die helfenden Berufe.
Dieses Buch gibt eine breitgefächerte und klare Übersicht über die Komplexität der verschiedenen Ebenen und ihre Wechselwirkung, die im therapeutischen Prozess wirksam sind. Es macht uns bewusst, dass diese Vielschichtigkeit ein kompliziertes Gefüge ist, das sowohl die vielen verschiedenen Ebenen innerhalb des Patienten, des Helfers und der Situation, als auch die Beziehungen zwischen dem Patienten, dem Helfer und der jeweiligen Situation umfasst.
Zu irgendeinem Zeitpunkt realisiert jeder Therapeut, dass es in der Therapie neben der Wahl der richtigen Methode vor allem darauf ankommt, den Patienten auf der Ebene von Mensch zu Mensch zu erreichen.
Dieses Buch über den schwierigen Patienten ist so wichtig, weil es ein Licht auf die Interaktion zwischen Patient und Helfer wirft. Es stellt die Frage, was Veränderung auslöst und was den Patienten unterstützt, sich so sicher zu fühlen, dass er den Mut zur Veränderung aufbringt. Und wir werden daran erinnert, dass der Wendepunkt in der Arbeit mit einem schwierigen Patienten oft darauf zurückzuführen ist, dass der Patient die Kongruenz des Helfers wahrzunehmen beginnt und deshalb wieder anfängt zu vertrauen.
Denny Yuson-Sánchez fasst die Essenz seiner Art mit Menschen zu arbeiten so zusammen: »Sei menschlich; das wichtigste Werkzeug, das Du hast, um mit Menschen zu arbeiten, ist Dein Mitgefühl.«
Was ich in meinem Leben gelernt habe, ist, dass schwierige Patienten vor allem Liebe, Fürsorglichkeit und Mitgefühl brauchen. In dieser Sicht wurde ich unlängst erneut bestärkt, als ich das Buch von Viktor E. Frankl »Men‘s Search for Meaning« wieder zur Hand nahm, in dem er feststellt, dass sich Liebe in extrem schwierigen Situationen wie im Konzentrationslager als die stärkste sinngebende Überlebenskraft zeigte.
Ich habe seit vielen Jahren das Vergnügen, Gert Kowarowsky zu kennen, erst als eifrigen Studenten, der alles in seine praktische Arbeit umzusetzen vermochte, was er mit Herz und Verstand aufgenommen hatte; später lernte ich ihn als treuen Freund schätzen, auf den ich zählen konnte und der mich unterstützte, wenn es nötig war. Seine Fähigkeit, hinter das Offensichtliche zu schauen, seine nie endende Leidenschaft, zum Wesentlichen vorzudringen, seine Entschlossenheit, weiter zu forschen und neue Wege zu finden, um ein Thema zu beleuchten, machen dieses Buch zu einer echten Bereicherung nicht nur für die helfenden Berufe, sondern auch für jeden Hilfesuchenden.
Es ist praxisorientiert und leicht verständlich geschrieben – in einer für dieses Feld auffallend unkomplizierten Ausdrucksweise.
Es hat mir Freude gemacht, dieses Buch zu lesen; öfters musste ich auch schmunzeln, weil ich mich darin wiederfinden konnte. Ich empfehle dieses Buch als nützliche und intelligente Fundgrube und bemerkenswerten Beitrag, diese Welt zu einer besseren Welt zu machen.
Egmond aan Zee, 8. Februar 2005, Prof. Chandrika U. Carrivick-Zimmermann, leitende Lehrtherapeutin Humaniversity
Wer kennt nicht den Ärger und die Aufregung mit ›schwierigen Patienten‹! Doch auch hier zeigt sich: Häufigkeit und Intensität von ›Wahr‹-nehmungen sind nicht notwendigerweise Belege für Tatsächlichkeit.
Der schwierige Patient – also nur ein Wahrnehmungsphänomen, eine optische Täuschung? Ja und nein; die Antwort: ein situationsabhängiges Interaktionsphänomen.
Der Autor führt Schritt für Schritt in die Relativität der ›Tatsachen‹ und damit des Erlebens. Dieser Weg ist sowohl diagnostisch hilfreich als auch entscheidend für die Vergrößerung des Handlungsspielraums bei den Helfenden; er führt außerdem aus emotionalen Sackgassen.
Ein Buch wie ein Brillenputztuch – es lässt klarer sehen, eröffnet neue Perspektiven, die sich zudem noch gut anfühlen. Und: Es macht bereits beim Lesen Spaß.
Frankfurt am Main, 11. März 2005, Prof. Norbert Lotz, Begründer und Leiter des FIRST, Frankfurter Institut für Rational Emotive und Kognitive Verhaltenstherapie
Der schwierige Patient wurde im letzten halben Jahrzehnt von vielen Lesern und in vielen Seminaren vielschichtig und konstruktiv reflektiert. Die 2. Auflage greift integrierend an vielen Stellen diese wertvollen Hinweise und Erweiterungen auf.
Es freut mich zu beobachten, dass schon die 1. Auflage dieses Buches ganz offensichtlich dazu beigetragen hat, dass viele Helfer und nachfolgende Autoren mehr und mehr von schwierigen Situationen im Klinik- und Praxisalltag sprechen, anstatt wie früher nur vom schwierigen Patienten. In dieser 2. Auflage wird die Landkarte, auf die die Leser sich in kritischen Situationen beziehen können, in vielen praktischen Details noch klarer dargestellt. Insbesondere die Details des interkulturellen Dialogs, des Dialogs, der schweigend Raum gibt, und des Dialogs unter aktuell geäußerter Kritik.
Wenn Karl Valentin meint: »Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit« antworte ich ihm: »Arbeit mit Patienten ist zwar manchmal schwierig und anstrengend – aber mit klarem Wissen um Kommunikation, Lösungswege und achtsame Selbstfürsorge auch nach 30 Jahren noch schön.«
Bad Steben, 12. Januar 2011, Gert Kowarowsky
Nach nunmehr weiteren sieben Jahren seit dem Erscheinen der zweiten Auflage dieses Buches hat sich zu einigen Ausführungen in den bereits vorliegenden Kapiteln die Notwendigkeit zu Aktualisierungen und Erweiterungen ergeben. Die eingegangenen Rückmeldungen und Nachfragen konnten berücksichtigt werden, was zu einigen wichtigen Präzisierungen und Formulierungsverbesserungen in dem nunmehr Ihnen hier vorliegenden Text geführt hat. Das Kapitel über die Persönlichkeitsstörungen wurde komplett neu bearbeitet. Der Begriff der Projektion wurde noch genauer beschrieben, die Kanfer‘schen Teufelchen hielten ihren Einzug in die vertiefte Analyse der Helfer-Motive. Das Kapitel über Patienten mit Migrationshintergrund – dauerhaft oder vorübergehend auf der Flucht hier bei uns – wurde im Rahmen der zunehmenden beruflichen Alltagsrelevanz besonders genau sowie kritisch überarbeitet und inklusive der statistischen Angaben aktualisiert. Das Gleiche gilt für das Kapitel 4.1.4.1 über die Grundlagen der Kommunikation und die noch differenziertere Darstellung der Kommunikationstechniken in Kapitel 4.1.4.2. Auch hier wurden wesentliche Erweiterungen und Präzisierungen vorgenommen. Insbesondere wurde die konstruktive Kritik an dem Modell von Schulz von Thun durch Storch und Tschacher aufgenommen. Die aktuellen Grundlagen der EC-Theorie (Embodied Communication) konnten in ihrer Essenz und ihrer Bedeutung im Dialog mit den Patienten dargestellt werden. Das kommunikativ-interaktive »Technikarsenal« wurde auf vielfachen Wunsch erweitert um Hinweise zum Umgang mit Patienten, die Sie nicht zu Wort kommen lassen, die schweigen oder die konstant Sie abwertenden sexualisierten Sprachgebrauch verwenden. Das Wissen um den noch bewussteren Umgang mit dem eigenen Sprachgebrauch wird in dieser dritten Auflage erweitert um die Informationen darüber, weshalb es so wichtig ist, von Personen zu sprechen, die eine Erkrankung haben, anstatt von kranken Personen. Mit dieser »Person-zuerst-Regel« verfügen Sie nunmehr hier in der dritten Auflage über die Strategie, die Erkenntnis praktisch anzuwenden, dass schwierige Krankheiten zu behandeln etwas anderes ist als Menschen zu behandeln, die schwierige Krankheitsbilder haben.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Lesen und viele positive Erfahrungen beim Anwenden dieses Wissens in Ihrem Praxis- oder Stationsalltag.
Ihnen das Beste
Bad Steben im September 2018, Gert Kowarowsky
Als Student in Heidelberg ärgerte ich mich immer über die 400 Seiten dicken Fachbücher, an deren Ende sich mir die Frage stellte: »Wieso hat der Autor1 nicht auf 40 Seiten gesagt, was er über 400 Seiten langatmig ausgebreitet hat?« Deshalb das Ergebnis dieser Analyse über den schwierigen Patienten gleich zu Beginn: Den schwierigen Patienten gibt es nicht. Der schwierige Patient wird erlebt in einem intensiven Interaktionsprozess.
Eine Ordensschwester drückte es treffend in einem Gespräch mit mir so aus: »Ein schwieriger Patient ist für mich ein Patient, der mir meine Grenzen aufzeigt, zu dem ich emotional keinen Zugang habe, bei dem ich keinen Erfolg habe, bei dem ich Frustration erlebe. Er stellt das Wertesystem des Pflegeberufs infrage. Das ›Helfen-Müssen‹ wird von ihm infrage gestellt. Ganz innen drin fühle ich ›das Gute‹, dies ist meine Autoritätsgrundlage. Wer sich mir widersetzt, widersetzt sich dem Guten. Wenn ich angespannt bin und mich gestresst fühle, denke ich oft: Wieso stellt er sich nur so an, ich will ihm doch nur Gutes. Wenn ich meine klaren Tage habe, weiß ich, dass ich ihm etwas anbiete und er das Recht hat, es anzunehmen oder nicht. In meinen 40 Jahren Arbeit habe ich gelernt:
Den schwierigen Patienten gibt es nicht. Es gehören immer zwei dazu.«
M. Horlacher aus Basel formulierte es 1999 in der Zusammenfassung mehrerer vorliegender Untersuchungen zum Thema so:
»Schwierige Patienten sind meistens Patienten, die bei den Helfern negative Gefühle auslösen, ihnen also Schwierigkeiten machen. Oft haben diese Patienten dicke Krankenblattakten, mehr Abklärungen als andere Patienten entwickelt und mehr konsiliarische Beurteilungen. Entwickelt sich die Beziehung zum Patienten zu einer schwierigen Beziehung, so sind immer beide Seiten daran beteiligt, der Helfer und der Patient. Aspekte der Persönlichkeit von Helfer und Patient beeinflussen diese Schwierigkeiten stark.« (Horlacher, 1999, S. 131)
Letztendlich wird der »schwierige Patient« also in einem Interaktionsprozess erlebt, an dem mindestens zwei Personen mit unterschiedlichen Rollen beteiligt sind. Auf der einen Seite beispielsweise Arzt oder Helfer, auf der anderen Seite der Patient.
Wenn es den schwierigen Patienten als solchen aber gar nicht gibt, dann stellt sich die Frage, was verbirgt sich hinter dem Begriff des »schwierigen Patienten«? Wirft man einen ersten spontanen Blick auf das Konstrukt vom schwierigen Patienten, so ergibt sich die Notwendigkeit, unsere Aufmerksamkeit nacheinander Folgendem zuzuwenden:
1. die Persönlichkeitsaspekte des Patienten, den wir als schwierig erleben,
2. die Verhaltensweisen, mit denen wir uns schwertun und die wir daher als schwierig erleben,
3. die Motive, die wir dem Patienten für seine Verhaltensweisen zu Recht oder zu Unrecht unterstellen,
4. die konkrete Situation, in der wir dem Patienten begegnen: den Ort, die Zeit, die Rahmenbedingungen der Behandlung ( Abb. 0.1).
Abb. 0.1: Der »schwierige Patient« ist ein komplexes Konstrukt aus Persönlichkeit, Motiven und Handlungen, eingebettet in unterschiedlichste Ausgangssituationen und spezifische Kontexte.
Sobald vom »schwierigen Patienten« die Rede ist, ist klar, dass immer mindestens zwei dazugehören. Es stellt sich also sofort die Frage nach der Interaktion zwischen den beteiligten Personen.
Der schwierige Patient wird zuallererst als schwieriger Patient aus der Sicht des Helfers erlebt:
• Der Helfer sieht beim Patienten schwierige, problematische Persönlichkeitsanteile.
• Der Helfer erlebt die Handlungsweisen des Patienten als schwierig.
• Der Helfer tut sich schwer mit den real oder vermeintlich schwierigen Motiven des Patienten in der vorliegenden aktuellen Begegnungssituation ( Abb. 0.2).
Der Helfer wiederum tritt in der aktuellen Situation mit seinen eigenen spezifischen Persönlichkeitsanteilen, mit seinen eigenen spezifischen Handlungen und Motiven dem schwierigen Patienten gegenüber. Die Situation erscheint sofort ganz anders, wenn wir den Blickwinkel verändern. Vom Patienten aus betrachtet ergibt sich die Perspektive: »Wer ist hier schwierig? Ich habe es mit einem schwierigen Helfer zu tun. Seine Persönlichkeitsanteile erscheinen mir schwierig. Seine Handlungen empfinde ich als schwierig. Seine Motive erlebe ich als problematisch.«
Abb. 0.2: Der Patient ist schwierig aus der Sicht des Helfers.
Somit steht hier also auch umgekehrt der »gesunde Patient« dem »schwierigen Helfer« gegenüber ( Abb. 0.3).
Abb. 0.3: Der Patient sieht sich einem schwierigen Helfer gegenüber.
Kehren wir jedoch in unserer Betrachtung wieder zur Ausgangssituation zurück: Der Helfer tritt einem Patienten gegenüber, der als schwierig erlebt wird – ganz gleich, ob nun der Helfer Arzt ist, Psychotherapeut, Kunsttherapeut, Physiotherapeut, Ergotherapeut, ob Sozialpädagoge, Logopäde, Diätassistent, medizinisch-technischer Assistent oder Angehöriger des Praxis- und Pflegepersonals. Lassen Sie uns die vier grundlegenden Ebenen detailliert betrachten, die wir in der Interaktion mit dem schwierigen Patienten für uns als Helfer erleben:
1. die Person des Patienten,
2. die Handlungen des Patienten,
3. die Motive des Patienten,
4. die aktuelle Situation, in der uns der Patient begegnet.
Bevor wir uns nun im ersten Kapitel der Person des Patienten zuwenden, noch eine wichtige Vorbemerkung zu den beiden Begriffen Patient und Helfer: Ich benutze diese Worte bei den weiteren Ausführungen nicht, um auf zwei völlig verschiedene Arten von Menschen hinzuweisen. Jeder Helfer kann jederzeit Patient werden. Sobald ich die Praxis eines Kollegen betrete, um ein persönliches Problem mit ihm zu bearbeiten, bin ich Patient. Wenn mir der Zahn weh tut und ich zum Zahnarzt gehe, bin ich Patient. Wenn der Zahnarzt sich beim Skifahren das Bein bricht, liegt er auf der chirurgischen Station und ist Patient. Der Arzt, der ihn dort behandelt, sitzt möglicherweise in drei Monaten bei einem Kollegen seines Patienten als Patient auf dem Behandlungsstuhl. Patient und Helfer sind austauschbare Rollenbegriffe. Viele Patienten sind professionelle Helfer und nahezu jeder Helfer befindet sich mehrmals in seinem Leben in der Rolle des Patienten.
Im antiken Griechenland hielten die Schauspieler Masken vors Gesicht, hinter denen sie sprachen. Der Begriff »Person« ist vom lateinischen Wortstamm »personare« abgeleitet. Personare – hindurchtönen durch die Maske.
Die Persönlichkeit ist also jene Person, die ihre immer gleiche Maske verlässlich vor sich herträgt. Ein erfolgreicher Maskenträger. Bis heute besteht unser allgemeines Konzept einer Person darin, die Person als Einheit, als Singularität wahrzunehmen. Viel angemessener jedoch erscheint die Sichtweise, die Persönlichkeit als eine Ansammlung vieler Teilpersönlichkeiten zu sehen. Der Begriff »Ego States«, den Paul Federn schon vor 1950 prägte, versuchte die Vielschichtigkeit einer jeden Person in wissenschaftlich und therapeutisch anwendbare Sprache zu bringen. Watkins und Watkins entwickelten daraus später die Ego-State-Therapie. In der Schema-Therapie von Young werden die unterschiedlichen Teilpersönlichkeiten als Modi bezeichnet und Therapeuten darin geschult, den Patienten in seinem jeweils unterschiedlichen Denk-, Fühl- und Handlungsmodus auf die jeweils angemessenste Art und Weise zu erreichen. Hal und Sidra Stone haben diese Ansicht personaler Vielfalt in ihrem Buch »Du bist viele« bereits im gewählten Titel sehr treffend beschrieben. Virginia Satir widmete sich ebenfalls dem Thema der persönlichen Vielschichtigkeit in ihrem Buch »Meine vielen Gesichter«. Denny Yuson-Sánchez wiederum stellt diesen Sachverhalt so kreativ dar, in seinem Basistext zur Steigerung der Selbstakzeptanz für Helfende und Patienten, dass er Ihnen im Download zur Verfügung steht. Der Titel »Auch« verweist bereits darauf, dass sowohl die eigene Person als auch die Person des Gegenübers immer mit grundlegender Akzeptanz betrachtet werden kann, da es niemals nur ein »Nur so und nicht anders« gibt. Friedemann Schulz von Thun erweitert seine Ausführungen über die Grundlagen der Kommunikation in Band 3 seiner Buchreihe »Miteinander reden« um das Konzept vom »Inneren Team«. Innerhalb jeder kommunizierenden Persönlichkeit ortet auch er eine Vielzahl von Teilpersönlichkeiten. Er zitiert Luise Rinser, die es so formulierte: »Manchmal habe ich das Bedürfnis etwas Schreckliches zu tun, ein Haus anzuzünden oder so etwas, aber das war nur der Eine in mir, der Andere wollte gut sein und helfen.«
Musikalisch ist die Botschaft »Wir sind viele« als Ohrwurm wohl durch Meredith Brooks 1997 in ihrem »Bitch-Song« bekannt geworden mit dem Refrain:
»I’m a bitch
I’m a lover
I’m a child
I’m a mother
I’m a sinner
I’m a saint
And I do not feel ashamed
I’m your hell
I’m your dream …«
Udo Lindenberg wiederum beschreibt die Vielschichtigkeit jeder Person in seiner eigenen unnachahmlichen Art 2008 auf seiner CD »Stark wie Zwei« in dem Lied »Ganz anders« so:
»Eigentlich bin ich ganz anders
ich komm’ nur viel zu selten dazu
Du machst hier grad’ mit einem Bekanntschaft
den ich genauso wenig kenne wie du
Ich hab’ so viel’ Termine
in der Disco, vor Gericht und bei der Bank
Da schick’ ich einfach meine Vize-Egos
und das wahre Ich bleibt lieber im Schrank«
Tatsache ist, nicht nur »zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust«, wie Doktor Faustus beklagt, sondern viele! ( Abb. 1.1).
Abb. 1.1: Wir sind viele2.
Wir sind tatsächlich viele. Jeder von uns hat sein kleines Teufelchen in sich. Jeder sein Engelchen. Der Wütende, der Traurige, der Sorgenvolle, der Clown, der Unbeschwerte, der entspannte Buddha in uns – dies sind ganz sicher nur einige wenige Teilaspekte unserer Gesamtpersönlichkeit.
Wir alle entsprechen einem ganzen Omnibus voller Teilpersönlichkeiten: Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder, von denen jeweils eine andere am Lenkrad sitzt. Das Wort Omnibus ist in diesem Zusammenhang wortwörtlich zu nehmen, so wie es schon die alten Römer benutzten: Omnibus – mit allen zusammen. Die Frage in jeder alltäglichen Begegnungssituation mit anderen ist nun diese: »Wer von meinen vielen Persönlichkeitsanteilen sitzt heute am Lenkrad? Wer hat in diesem Moment der Interaktion mit meinem Gegenüber das Steuer in der Hand?« ( Abb. 1.2)
Wer steuert unsere Gesamtpersönlichkeit in diesem Moment? Und wohin geht die Reise? Nach welchen Regeln entscheiden diese Vielen in mir, wer gerade am Lenkrad sitzen darf? Demokratisch? Diktatorisch? Gewohnheitsrechtsmäßig? Fährt jeweils derjenige Fahrer durch den entsprechenden Alltagsabschnitt des Lebens, der hierfür die höchste Kompetenz besitzt und sich am besten auskennt? Wer in mir bestimmt, wohin die Reise geht und was die angemessene Fahrweise ist?
Abb. 1.2: Wer sitzt im Moment am Lenkrad? Wohin geht die Reise?
Sind uns immer alle Insassen unseres Persönlichkeitsomnibusses bekannt? Gibt es »Schwarzfahrer«? »Blinde Passagiere«? »Saboteure«? Hal und Sidra Stone sprechen von »Disowned-Self«-Anteilen, den Anteilen unserer Persönlichkeit, die wir nicht in unseren »Besitz« genommen haben, von denen wir behaupten, dass sie nicht zu uns gehören. Noch eindrücklicher schilderte es Gunther Schmidt, der als einer der maßgeblichen Pioniere für die Integration systemischer Modelle und der Konzepte Erickson‘scher Hypnotherapie zu einem ganzheitlich-lösungsfokussierenden Konzept gilt. In einem seiner Seminare zur Vielschichtigkeit der Persönlichkeit erklärte er seinen Teilnehmern: »Es gibt Persönlichkeitsanteile in mir, die kenne ich nicht! Und wenn ich ihnen dennoch einmal aus Versehen begegnen sollte, würde ich sie ganz gewiss noch nicht einmal grüßen!«
Erleben wir einen Patienten als schwierigen Patienten, dann können wir realistischerweise höchstens sagen, dass ein Teil dieses Patienten – nennen wir ihn Teil-Persönlichkeit P1 – der schwierige Patient ist. Es gibt aber auch Teil-Persönlichkeit P2, den Patienten, der am Nachmittag auf dem Tennisplatz ein begehrter Tennispartner ist. Hier wird sich niemand über ihn als schwierig beklagen. Teil-Aspekt P3 ist vielleicht der Patient, der abends bei einem Konzert als kulturbeflissener Konzertbesucher erscheint, der in der Pause ein brillantes Feuerwerk von Hintergrundinformationen zu geben vermag.
Weitere Teilpersönlichkeiten sind beispielsweise: Teilpersönlichkeit P4 der erfahrene Gartenfreund, P5 der liebevolle Vater, P6 der unterstützende Bruder, P7 der freundliche Nachbar, P8 der exzellente PC-Experte, P9 der rücksichtsvolle Autofahrer, P10 der korrekte Bankkaufmann … und, und, und ( Abb. 1.3).
Abb. 1.3: Jeder – und somit auch jeder Patient – besteht aus vielen Teil-Persönlichkeiten.
Wer die Sprache der Mathematik liebt, kann sich jede Persönlichkeit P als Summe aller Teilpersönlichkeiten P1 bis P-unendlich zusammengefügt vorstellen ( Abb. 1.4).
Abb. 1.4: Jede Person besteht aus unendlich vielen Teilpersönlichkeiten.
Es stellt sich somit die Frage: Auf welche Teilpersönlichkeit beziehe ich mich, wenn ich den anderen als schwierigen Patienten bezeichne? Bin ich mir bewusst, dass der andere niemals in seiner Gesamtheit als Person schwierig ist?
Alfred Korzybski (1879–1950) gab hierzu einen bemerkenswerten Hinweis. In einem adligen Elternhaus in Polen geboren, lernte er mühelos, sich auf Polnisch, Deutsch, Russisch und Englisch mitzuteilen. Als später die amerikanische Staatsbürgerschaft besitzender Ingenieur, Militäroffizier und außerordentlich genauer Beobachter menschlichen Verhaltens führte er seit 1921 Analysen der im Alltag und Therapie verwendeten Sprachmuster durch. Seine bekanntesten Bücher »Manhood of Humanity« (1921) und »Science and Sanity« (1933) enthalten die Grundlagen der »General Semantics«, die bis heute im Institute of General Semantics in New York City gelehrt werden (http://www.generalsemantics.org/). Korzybski entwickelte als sprachsensitiver Mensch eine interessante Anleitung für den Umgang mit Sprache, um sich in der Begegnung mit der Welt und vor allem mit anderen Menschen deren persönlicher Wirklichkeit und Vielschichtigkeit bewusst zu bleiben. Sein wichtigstes Anliegen war, davor zu warnen, Worte, die als Landkarten über Dinge und Menschen gebraucht werden, niemals mit dem realen vielschichtigen Sein des Gegenübers zu verwechseln. Um zu verhindern, dass durch Worte falsche oder begrenzende Vorstellungen erzeugt werden, schlug er vor, jeweils Zeitindizes in Verbindung mit der Namensnennung zu bringen. In der Situation »Oh, hier kommt Herr Meyer!« stellt sich somit die sprachanalytisch berechtigte Frage: »Welcher Herr Meyer? Der Herr Meyer, den Sie vor 14 Tagen zum letzten Mal gesehen hatten, bevor seine Frau gestorben war? Der Herr Meyer, den Sie vor zehn Jahren zum letzten Mal auf einem Klassentreffen gesehen hatten? Der Herr Meyer, der gerade seine Beförderung bekommen hat?« Mit der Zeitindizierung: Herr Meyer, 02.09. 2018, 17.30 Uhr, wäre eine genauere Beschreibung des Herrn Meyer in der aktuellen Situation gegeben und könnte abgegrenzt werden von der Bezugnahme auf den Herrn Meyer mit der Indizierung 15.05.2018, 15.07 Uhr, oder auf Herrn Meyer mit der Indizierung 31.08.1983, 10.20 Uhr ( Abb. 1.5).
Abb. 1.5: Welcher Herr Meyer?
Anstatt schablonenhaft zu denken: »Ach ja, da kommt ja Gaby«, könnten wir uns angewöhnen, herzöffnender zu denken: »Aha, da kommt Gaby, jetzt um 12.35 Uhr«. Dann bliebe jedes Mal die interessante offene Frage: »Welche Gaby tritt jetzt gerade hier zur Tür ein?« ( Abb. 1.6)
In seiner Tagebuchskizze zu dem Stück »Andorra« mit der Überschrift »Du sollst Dir kein Bildnis machen« hat Max Frisch diesen Sachverhalt unserer Persönlichkeitsvielfaltebenfalls treffend zum Ausdruck gebracht. Er meint:
»Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. Wir wissen, dass jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet, und dass
Abb. 1.6: »Da kommt Gaby, 12.35 Uhr«.
auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus jeglichem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertig werden: Weil wir sie lieben; solang wir sie lieben. Man höre bloß die Dichter, wenn sie lieben; sie tappen nach Vergleichen, als wären sie betrunken, sie greifen nach allen Dingen im All, nach Blumen und Tieren, nach Wolken, nach Sternen und Meeren. Warum? So wie das All, wie Gottes unerschöpfliche Geräumigkeit, schrankenlos, alles Möglichen voll, aller Geheimnisse voll, unfassbar ist der Mensch, den man liebt – nur die Liebe erträgt ihn so.
Warum reisen wir?
Auch dies, damit wir Menschen begegnen, die nicht meinen, dass sie uns kennen ein für alle Mal; damit wir noch einmal erfahren, was uns in diesem Leben möglich sei – es ist ohnehin schon wenig genug.
Unsere Meinung, dass wir das Andere kennen, ist das Ende der Liebe, jedes Mal, aber Ursache und Wirkung liegen vielleicht anders, als wir anzunehmen versucht sind – nicht weil wir das Andere kennen, geht unsere Liebe zu Ende, sondern umgekehrt: weil unsere Liebe zu Ende geht, weil ihre Kraft sich erschöpft hat, darum ist der Mensch fertig für uns. Er muss es sein. Wir können nicht mehr! Wir kündigen ihm die Bereitschaft, auf weitere Verwandlungen einzugehen. Wir verweigern ihm den Anspruch alles Lebendigen, das unfassbar bleibt, und zugleich sind wir verwundert und enttäuscht, dass unser Verhältnis nicht mehr lebendig sei. ›Du bist nicht‹, sagt der Enttäuschte oder die Enttäuschte, ›wofür ich dich gehalten habe.‹
Und wofür hat man sich denn gehalten?
Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat.
Man hat darauf hingewiesen, das Wunder jeder Prophetie erkläre sich teilweise schon daraus, dass das Künftige, wie es in den Worten eines Propheten erahnt scheint und als Bildnis entworfen wird, am Ende durch eben dieses Bildnis verursacht, vorbereitet, ermöglicht oder mindestens befördert worden ist –
Unfug der Kartenleserei.
Urteile über unsere Handschrift.
Orakel bei den alten Griechen.
Wenn wir es so sehen, entkleiden wir die Prophetie wirklich ihres Wunders? Es bleibt immer noch das Wunder des Wortes, das Geschichte macht:
›Am Anfang war das Wort.‹
Kassandra, die Ahnungsvolle, die scheinbar Warnende und nutzlos Warnende, ist sie immer ganz unschuldig an dem Unheil, das sie vorausklagt?
Dessen Bildnis sie entwirft.
Irgendeine fixe Meinung unserer Freunde, unserer Eltern, unserer Erzieher, auch sie lastet auf manchem wie ein altes Orakel. Ein halbes Leben steht unter der heimlichen Frage: ›Erfüllt es sich oder erfüllt es sich nicht?‹ Mindestens die Frage ist uns auf die Stirn gebrannt, und man wird ein Orakel nicht los, bis man es zur Erfüllung bringt. Dabei muss es sich durchaus nicht im geraden Sinn erfüllen; auch im Widerspruch zeigt sich der Einfluss, darin, dass man so nicht sein will, wie der andere uns einschätzt. Man wird das Gegenteil, aber man wird es durch den anderen.
Eine Lehrerin sagte einmal zu meiner Mutter, niemals in ihrem Leben werde sie Stricken lernen. Meine Mutter erzählte uns jenen Ausspruch sehr oft; sie hat ihn nie vergessen, nie verziehen; sie ist eine leidenschaftliche und ungewöhnliche Strickerin geworden, und alle die Strümpfe und Mützen, die Handschuhe, die Pullover, die ich jemals bekommen habe, am Ende verdanke ich sie allein jenem ärgerlichen Orakel! …
In gewissem Grad sind wir wirklich das Wesen, das die anderen in uns hineinsehen, Freunde wie Feinde. Und umgekehrt: Auch wir sind die Verfasser der anderen; wir sind auf eine heimliche und unentrinnbare Weise verantwortlich für das Gesicht, das sie uns zeigen, verantwortlich nicht für ihre Anlage, aber für die Ausschöpfung dieser Anlage. Wir sind es, die dem Freunde, dessen Erstarrtsein uns bemüht, im Wege stehen und zwar dadurch, dass unsere Meinung, er sei erstarrt, ein weiteres Glied in jener Kette ist, die ihn fesselt und langsam erwürgt. Wir wünschen ihm, dass er sich wandle, oh ja, wir wünschen es ganzen Völkern!
Aber darum sind wir noch lange nicht bereit, unsere Vorstellung von ihnen aufzugeben. Wir selber sind die letzten, die sie verwandeln. Wir halten uns für den Spiegel und ahnen nur selten, wie sehr der andere seinerseits eben der Spiegel unseres erstarrten Menschenbildes ist, unser Erzeugnis, unser Opfer.«
(Textauszüge aus: Max Frisch, Tagebuch 1966–1971. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1972. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.)
Zum gleichen Sachverhalt zitieren 2016 Fiedler und Herpertz in ihrem Buch mit dem Titel »Persönlichkeitsstörungen« den Philosophen Karl Jaspers auf Seite 22 mit den von ihm bereits 1913 veröffentlichten Worten: »Menschlich aber bedeutet die klassifikatorische Feststellung des Wesens eines Menschen eine Erledigung, die bei näherer Besinnung beleidigend ist und die Kommunikation abbricht« (Fiedler & Herpertz, 2016, S. 22).
Seien Sie deshalb vorsichtig damit, den anderen als schwierigen Patienten zu bezeichnen oder ihm gar eine Persönlichkeitsstörungsdiagnose zuzuordnen.
Die Herausforderung, vor die Sie gestellt sind, ist hoch. Mehrere gut belegte Studien konfrontieren uns mit der Tatsache, dass mindestens jeder fünfte Mensch psychische Störungen aufweist. In der ambulanten medizinischen Grundversorgung kann davon ausgegangen werden, dass jeder vierte Patient psychisch auffällig ist. Ulrike Ehlert hat in ihrem Buch »Psychologie im Krankenhaus« 1998 sogar aufgezeigt, dass die Prävalenz psychischer Störungen bei internistischen und chirurgischen Patienten zwischen 30 und 50 Prozent variiert, ergo sogar jeder zweite bis dritte Patient neben seiner körperlichen, rein somatischen Erkrankung auch eine psychische Störung aufweist.
Bei ungefähr zehn Prozent aller Menschen – also sowohl bei allen Patienten insgesamt als auch bei allen Helfern insgesamt – werden Sie Merkmale beobachten können, die nach den bis Ende 2018 noch aktuellen Beschreibungen der ICD-10 und des DSM-5 als Persönlichkeitsstörungen zu diagnostizieren sind.
Bei Patienten mit internistischen oder chirurgischen Behandlungsnotwendigkeiten finden sich häufig deutlich höhere Prozentsätze als in der Normalbevölkerung. Insbesondere bei Patienten mit komorbid oder ausschließlichen depressiven Störungen finden sich regelhaft zusätzlich diagnostizierbare Persönlichkeitsstörungen. Verschiedene Untersucher kommen dabei zu verschiedenen Ergebnissen, die jedoch alle weit über zehn Prozent liegen und je nach Studie mit 50 bis 90 Prozent angegeben werden. Die entsprechenden Studien zu dieser hohen Gleichzeitigkeit des Auftretens von Depression und Persönlichkeitsstörungen wurden insbesondere durchgeführt und referiert von Farabaugh, Mischoulon, Fava, Guyker & Alpert, 2004, S. 217–224; Fava et al., 2002, S. 1049–1057; Friedman, Aronoff, Clarkin, Corn & Hurt, 1983, S. 226–235; Hardy et al., 1995, S. 997–1003; Pilkonis & Frank, 1988, S. 435–441; und Zimmermann, Pfohl, Coryell, Corenthal & Stangl, 1991.
Es ist somit nicht verwunderlich, dass S. Hahn in seiner Untersuchung 2001 darüber berichtete, dass Ärzte, bei allem Wohlwollen, im Praxisalltag jeden sechsten Patienten als schwierigen Patienten erleben.
Sie kennen sie alle, die im Praxis- oder Stationsalltag achtlos geäußerten Bemerkungen über Patienten wie: »Der hat doch einen Schuss – wie der hier auf Station rumläuft …« Oder: »Draußen steht schon wieder die Patientin, die erst gestern hier war, Sie wissen schon, die mit der Macke …«
Die Verlockung, jemanden abzustempeln, ihn als gestört, ja persönlichkeitsgestört zu bezeichnen, ist im täglichen Kontakt mit Patienten, die wir als schwierig empfinden, äußerst hoch. Dennoch sollten wir der wissenschaftlichen Exaktheit verbunden bleiben, wonach meist stigmatisierend gemeinte Persönlichkeitsstörungsdiagnosen nur vergeben werden dürfen, wenn mindestens eines der nachfolgenden Kriterien erfüllt ist:
• Die betreffende Person leidet selbst unter ihrer Persönlichkeit.
• Die Persönlichkeitsstörung beinhaltet das Risiko der Entwicklung einer psychischen Störung oder verschlimmert eine bereits bestehende psychische Störung.
• Das psychosoziale Funktionsniveau ist so verändert, dass Konflikte mit Ethik, Recht oder Gesetz entstanden sind (nach Fiedler, 2007, S. 34).
Insbesondere weisen Fiedler und Herpertz (2016, S. 42) darauf hin, dass auch im Sinne der aktuellen Diagnosesysteme die Diagnose »Persönlichkeitsstörung« nicht vergeben werden darf, selbst wenn zum Beispiel andere Menschen unter einem Patienten leiden. Die Ausnahme bestünde lediglich darin, dass das Leiden anderer Personen auf unmoralische oder strafbare Handlungen infolge der Persönlichkeitseigenarten zurückgeführt werden könnte.
Es gibt zwei große Klassifikationssysteme zur Einordnung psychischer Störungen. Das eine ist das internationale Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen: Die internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), ICD. Die derzeit aktuelle in Deutschland gültige Ausgabe heißt noch ICD-10, bis spätestens Ende 2019 soll die ICD-11 fertiggestellt sein. Das andere Klassifikationssystem ist das Diagnostische und Statistische Handbuch Psychischer Störungen (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), DSM. Es ist das Klassifikationssystem der American Psychiatric Association (Amerikanische Psychiatrische Vereinigung), das diese zum ersten Mal 1952 in den USA herausgegeben hat. Die aktualisierte seit 2013 gültige und seit 2015 in deutscher Übersetzung vorliegende Version heißt DSM-5.
Wird von Persönlichkeitsstörungen im engeren klinischen Sinne gesprochen, findet sich auch bei den wissenschaftlichen Experten immer wieder eine große Bandbreite oft sich widersprechender Betrachtungsweisen. Dies wurde auch wieder in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion um die ICD-11 und das DSM-5 offensichtlich. Über die neuen Kriterien geplanter zukünftiger Persönlichkeitsstörungs-Klassifikationen entbrannte zum Teil ein so heftiger Streit, dass einige Kommissionsmitglieder, erzürnt über ihre Kollegen, die DSM-5-Taskforce verließen. Ob wir uns nur auf drei Persönlichkeitsstörungen wie z. B. bei Sigmund Freud oder auf 246 Persönlichkeitsstörungen einigen, macht doch wohl einen nicht geringen Unterschied. Die Dreiteilung der »Charakterstörungen« von Freud ist bekannt: Der erotische, der zwanghafte und der narzisstische Charakter. Die von Prof. Peter Fiedler zusammengestellte Liste von ihm inzwischen vorliegenden insgesamt 246 beschriebenen Persönlichkeitsstörungen ist über eine Durchsicht der Stichwortverzeichnisse der inzwischen vorliegenden Auflagen seines Standardwerkes »Persönlichkeitsstörungen« nachvollziehbar (aktuell: Fiedler & Herpertz, 2016). Die Mitglieder der Taskforce zu den Persönlichkeitsstörungskriterien in der ICD-11 bemühen sich zurzeit um eine Reduktion auf fünf Persönlichkeitsdomänen:
die ungesellig-schizoide Domäne
die dissoziale Domäne
die ängstlich-abhängige Domäne
die emotional-instabile Domäne
die zwanghaft-anankastische Domäne
In der täglichen Arbeit mit Patienten werden Ihnen immer wieder Menschen begegnen, die, im Bild des Omnibusses gesprochen, nur einen einzigen oder sehr wenige Fahrer ans Interaktionssteuer ihres Persönlichkeitsomnibusses lassen.
Dies scheint eines der zentralen Themen zu sein, wenn wir über Patienten sprechen, die uns als Persönlichkeiten schwierig erscheinen: ihre Interaktionsverhaltensrigidität. Prof. Sulz aus München formulierte es in einem seiner Seminare über Menschen mit Persönlichkeitsstörungen treffend folgendermaßen:
»Menschen mit Persönlichkeitsstörungen haben einfach nur ›DRIBS‹ –
Dysfunktionale,
Repetitive
Interaktions- und
Beziehungs-
Stereotypien«,
d. h. wie verschieden auch das Gelände sein mag, durch das der Einzelne seinen Persönlichkeitsomnibus gerade fährt, es sitzt immer der gleiche Fahrer am Steuer.
Im Bild bleibend ist damit klar, dass es zu Schwierigkeiten kommen muss, wenn auf enger, geschwindigkeitsbegrenzter Gebirgsstraße der Rennfahrer hartnäckig das Steuer festhält oder auf der Autobahn der übervorsichtige jeden Moment mit Schlaglöchern rechnende Querfeldeinfahrer mit geringster Geschwindigkeit dahinzuckelt.
»Dysfunktional«, also der gegebenen Situation nicht angemessen, »Repetitiv« sich immer wieder wiederholende »Interaktions- und Beziehungs-Stereotypien«, also sich auf die gleiche Art und Weise verhaltend innerhalb beruflicher und privater Beziehungen und Begegnungssituationen.
Wichtig ist, sich als Helfer bewusst zu sein, dass das Gegenüber sich nicht so verhält, um uns zu ärgern, sondern weil ihm häufig einfach kein anderes, konstruktiv alternatives Verhalten zur Verfügung steht. Viele Menschen mit eingeschränkter Verhaltensflexibilität – und dies wäre die angemessenere Bezeichnung für Menschen mit Persönlichkeitsstörungen – haben im Rahmen ihrer Biographie einfach bisher noch kein anderes Verhaltensrepertoire erworben.
Im Einzelfall lässt sich nachvollziehen, dass das für den späteren Erwachsenen oftmals sehr dysfunktionale stereotype Verhalten zu einem bestimmten Zeitpunkt des Heranwachsens die intelligenteste Verhaltensweise dargestellt hat, um in einer problematischen Lebenssituation oder lang andauernden traumatisierenden Erziehungsumwelt emotional (und im Extremfall physisch) zu überleben.
Die komplexen Störungen im zwischenmenschlichen Beziehungsverhalten bei Menschen, für die die Diagnose Persönlichkeitsstörungen zutrifft, gehen nach Fiedler und Herpertz (2016) häufig auch einher mit und zurück auf Störungen im emotionalen Erleben und/oder werden durch diese verstärkt: übermäßige Ängstlichkeit, stark wechselnde Emotionen, Gefühlsarmut oder Überemotionalität, die das interaktionelle Verhalten deutlich belasten.
Haben sich in der Biographie besondere dysfunktionale Grundüberzeugungen herausgebildet, kann dies auch zu einer Störung der Realitätswahrnehmung führen: extremes Misstrauen, innere Gezwungenheit, sich an bestimmte moralische, logische oder soziale Regeln »immer« halten zu »müssen« oder die Unfähigkeit, sich mit anderen bei Sport, Spiel und Freizeitgestaltung ohne leistungsbezogene Wahrnehmungen und daraus resultierende Kränkungs- und Neidgefühle wohlfühlen zu können.
Störungen der Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung beeinflussen soziale Interaktionen dabei ebenso ungünstig wie Störungen der Impuls- und Selbstkontrolle, die oftmals zu massiven sozialen Problemen bis hin zu juristischen Konsequenzen führen können.
Haben sich persönliche ungünstige, dysfunktionale soziale Interaktionsstile repetitiv verfestigt und bestehen immer weniger Möglichkeiten zu situationsangemessenem, flexiblem Verhalten, dann sprechen wir vom Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung.
Diese tiefsitzenden, meist in der frühen Biographie erworbenen und persistierenden Störungen des Beziehungsverhaltens gilt es im Blick zu haben, wenn Patienten sich stereotyp auf schwierige Art und Weise verhalten, und zwar sowohl uns als auch den allermeisten anderen gegenüber.
Hilfreich dabei, diesen Patienten gegenüber ganz besonders achtsam und empathisch zu begegnen, ist das Wissen um die besonders hohe Vulnerabilität von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen. Ihre Verletzlichkeit und Sensibilität in sozialen Stress-Situationen ist uns oftmals durch das eigene Genervtsein über ihre unangemessenen Verhaltensweisen überhaupt nicht bewusst.
Fiedler und Herpertz (2016) beschreiben in der Darstellung einer Metaanalyse mehrerer Studien beeindruckend die psychisch und physisch erhöhte Vulnerabilität, die bei nahezu allen Betroffenen vorliegt, die nach den Kriterien der ICD-10 bzw. des DSM-5 eine diagnostizierte Persönlichkeitsstörung aufweisen: »Eines der bemerkenswertesten Ergebnisse dieser Studien ist, dass ein Mensch, auf den die Diagnose ›Persönlichkeitsstörung‹ zutrifft (d. h., wenn man über die Persönlichkeitsstörungen hinweg generalisiert), offensichtlich ›neurotische‹ Eigenarten besitzt. Im Sinne der ›Big-Five‹-Konstruktionen meint dies, dass er
• sehr verletzbar ist,
• überempfindlich auf Anforderungen und Stress reagiert,
• in sozialen Kontexten Angst empfindet
• und sich schnell hilflos fühlt.« (Fiedler & Herpertz, 2016, S. 143)
Ferner führen Fiedler und Herpertz (2016) aus, dass das individuelle interaktionelle problematische Verhalten dieser für Stress deutlich anfälligeren Mitmenschen je nach zutreffendem Störungsbild natürlich sehr unterschiedlich ausfällt.
Introvertierte Menschen wie schizoide, selbstunsichere und zwanghafte Personen werden sich vorhersagbar eher belastet fühlen bei Kontaktreizüberflutung. Extravertiert histrionische Menschen werden sich vorhersagbar eher belastet fühlen bei mangelnder sozialer Beachtung. Bei Menschen mit antisozialer, paranoider, schizotypischer, zwanghafter und Borderline-Persönlichkeitsstörung werden sowohl in privaten als auch in beruflichen Interaktionen vorhersagbar soziale Konflikte auftreten.