Werner J. Egli,
wurde in Luzern, Schweiz, geboren und lebt heute als freier Schriftsteller in Tucson (USA) und in Egg bei Zürich. Seine erfolgreichen und in viele Sprachen übersetzten Jugendbücher wurden unter anderem mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, mit dem Preis der Leseratten (ZDF) und mit dem Jugendbuchpreis der Ausländerbeauftragten des Senats Berlin ausgezeichnet. Egli wurde er für den Hans-Christian-Andersen-Preis nominiert, die international höchste Auszeichnung für Jugendliteratur.
Unter www.aravaipa.ch ist der Autor auch im Internet zu finden. Siehe auch Tunnel Kids Trailer auf YOUTUBE.
Von Werner J. Egli bei ARAVAIPA:
Der letzte Kampf des Tigers
Black Shark
Aus den Augen, voll im Sinn
Der erste Schuss
Bis ans Ende der Fährte (eBook)
Heul doch den Mond an (eBook)
Der Fremde im Sturm (eBook)
Tage im Leben eines Feiglings (eBook)
Blues für Lilly (eBook)
Tunnelkids (Englisch)
Roman
eISBN 978-3-03864-219-0
Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung,
Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form,
einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien,
der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung
und der Aufnahme in Datenbanken, ausdrücklich vorbehalten.
Lektorat: Horst u. Fritz Eibl (A)
Umschlaggestaltung: Agentur flin, unter Verwendung
einer Illustration von Bert Silberstein (A)
Copyright © 2017 by ARAVAIPA–Verlag,
Egg bei Zürich, Tucson
ARAVAIPA im Internet: www.aravaipa.ch
SAN CRISTÓBAL DE LAS CASAS, Mexiko (AP) – Indianische Rebellen zogen sich gestern in den Dschungel zurück und überließen drei Dörfer 12 000 Soldaten, die in dieses entlegene Gebiet von Mexiko einmarschierten, um einen blutigen Aufstand niederzuschlagen.
Aus dem Arizona Daily Star, im Januar 1994
Sie werden Tunnelratten genannt. Einer Gesellschaft, die ihre Kinder als Ungeziefer bezeichnet, fällt es auch leichter, sie als Ungeziefer zu behandeln.
Aus dem Arizona Daily Star, im Mai 1994
1. Santiago
2. Mendoza
3. Don Fernando
4. Silva
5. Captain Mendoza
6. Lucia
7. Flaco
8. Sombra
9. Lucia
Das Foto war von meiner Mutter und eigentlich war es gar kein Foto, sondern nur die Erinnerung an den Tag, als ein Touristenbus sich in unsern Ort verirrt hatte und der Weihnachtsmann aus der ‘American Bar’ torkelte, um zum Fußballplatz zu gehen, wo die Kinder alle Geschenke erhalten sollten. Der Weihnachtsmann war ein Gringo, den wir im Dorf Papa Biddle nannten. Schon seit vielen Jahren wohnte er in einem kleinen Haus hinter der Bar. Leute die ihn nicht mochten meinten, Papa Biddle sei zu uns gekommen, weil er dort, wo er herkam, nicht mehr erwünscht war, aber für viele im Dorf war er schon fast einer von uns, denn er ging großzügig mit seinem Geld um und half im Dorf wo er nur konnte, nicht nur an Weihnachten. Egal was in seiner Vergangenheit passiert war, für mich war Papa Biddle einfach nur Papa Biddle, bis zu jenem Tag, als er mir einmal einen Dollar Schweigegeld gab, damit ich Vater nicht verriet, dass ich ihn dabei überrascht hatte, wie er meiner Schwester mit seiner fleischigen Gringohand unter den Rock fasste, während er ihr eine kleine lustige Geschichte erzählte. Ich sagte es meinem Vater trotzdem, und mein Vater ging zu ihm und stellte ihn zur Rede, und als er nach Hause zurückkam, erklärte er mir, es sei nun alles in Ordnung und Papa Biddle würde es nie mehr wagen, meine Schwester oder sonst wen zu belästigen. Ich fragte meinen Vater, warum er sich dessen so sicher war, und er blickte mich an und sagte: »Vertraue mir, Santiago.«
Seit jener Zeit waren ein paar Jahre vergangen, aber ich erinnerte mich noch oft an diesen einen Weihnachtstag, der wegen all der Festlichkeiten überhaupt nicht richtig in mein Leben passte. Kurz vor zwölf Uhr mittags war Papa Biddle aus der ‘American Bar’ getreten und in ziemlicher Schräglage über die Straße und über den Fußballplatz gegangen, zu der Stelle hinter dem Tor, die im Waldschatten lag. Dort hatten wir uns alle versammelt, etwa zweihundert Kinder aus der ganzen Gegend, einige sogar von weit entfernt, etwa vom Rio Pequi und aus dem Dorf San Isidro. Und wir bekamen alle unser Geschenk vom Roten Kreuz aus der zitternden Gringohand von Papa Biddle, an der die Fingernägel vom Tabak der dicken Zigarren so braun waren wie seine ihm übrig gebliebenen Zähne.
Meine Mutter war da und meine Schwester Theresa und meine Brüder Miguelito und Francisco. Und meine Mutter hatte die Kleine auf dem Arm, Paolita. Und auf einmal hielt am Rand des Fußballplatzes, der gleichzeitig der Marktplatz und der Festplatz unseres Dorfes war, dieser kleine Touristenbus, und die Leute aus aller Welt, die hierher kamen, um uns, die Nachkommen des Mayareiches, zu sehen, liefen eilig über den holprigen Platz, auf dem das Gras so spärlich wuchs, dass nicht mal eine einzige Ziege davon fett werden konnte.
Einer der Touristen, ein Gringo mit einem Bocksbärtchen und einem Geldbeutel, der ihm schwer in der Gesäßtasche seiner schlottrigen Hose hing, machte eine Blitzlichtaufnahme von meiner Mutter, gerade als Papa Biddle sich mit wehendem Bart vorbeugte, um Paolita das Weihnachtsgeschenk zu übergeben. Die Kleine schrie wie am Spieß und Mutter sah irgendwie verstört aus, wahrscheinlich weil ihr Biddle gerade seine Whiskeywolke ins Gesicht hauchte, und genau in diesem Moment drückte der Gringo mit dem Spitzbärtchen auf den Auslöser und der Blitz erschreckte Mutter zu Tode. Von diesem Tag war mir später besonders dieses Foto in Erinnerung geblieben. Der Gringo hatte es mit einer Polaroidkamera gemacht und zeigte es in Sekundenschnelle stolz herum, bevor er es meiner Mutter aushändigte. Ein Wunder war das an einem Tag voller Wunder, die sich jedoch nur in meinem Kopf abspielten, während ich meine geheimsten Wünsche zum Himmel schickte, zusammen mit dem Qualm der rauchenden Männer aus unserem Dorf, die vor einer Bodega saßen und Bier tranken, während sie Papa Biddle beim Verteilen der Geschenke gelangweilt zusahen und meine Mutter betrachteten, die einmal das schönste aller schönen Mädchen unseres Dorfes gewesen war, schöner noch und begehrenswerter als meine Schwester Theresa.
Dieses Weihnachten lag jetzt vier Jahre zurück. Das Gesicht meiner Mutter in Biddles whiskeygetränktem Atem. Der Schreck in den weit aufgerissenen Augen der Kleinen und Papa Biddles zerfurchte Knollennase, rot wie eine reife, schon leicht angefaulte Erdbeere.
Es war nicht das Foto, das ich seither bei mir trug, sondern die Erinnerung an das Foto. Wer sich jetzt im Besitz des Fotos befand, falls es überhaupt noch existierte, wusste ich nicht. Eine Zeit lang hatte es Mutter in der Hütte in unserem Dorf Los Chorros aufgehängt. Dann, als Vater weggegangen war, um mit Comandante Marcos an der Revolution teilzunehmen und für Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie zu kämpfen, war es verschwunden, und ich glaube, Vater hatte es während jener Zeit in der Brusttasche seiner alten Jacke getragen, direkt über seinem Herzen. Später, als er zurückkehrte und alle glaubten, dass die Rebellion nun vorbei wäre und die Regierung uns wenigstens ein Stück unseres Landes zurückgeben würde, da hing es wieder in der Hütte. Als ich es mir das letzte Mal genau angeschaut hatte, waren dunkle Flecken darauf, und ich wusste, dass es das Blut meines Vaters war. Vielleicht hing es noch immer dort, mit einem Nagel an einem der Pfosten befestigt, die das Hüttendach trugen.
Biddle war inzwischen tot. Hatte sich in der ‘American Bar’ regelrecht zu Tode gesoffen. Einige Monate, zur Touristenzeit, wenn die Busse zu uns kamen und die Frauen und Mädchen auf dem Marktplatz ihre selbstgemachten Souvenirs verkauften, hatte Theresa in der ‘American Bar’ als Serviererin gearbeitet.
Als mein Vater ermordet wurde, lebte sie schon nicht mehr bei uns. Sie war mit einem jungen Mann zusammen, der Pedro hieß und in einer Sägerei in der Nähe von Acteal arbeitete, in der Bäume zu Brettern gesägt wurden. Sie hausten zusammen in einer Hütte, die ihnen von der Company, die das Sägewerk betrieb, zur Verfügung gestellt worden war. Theresa kam nie nach Hause. Nur einmal, da holte sie ihre Sachen, die noch unter ihrem Bett lagen, und ich fragte sie, ob sie diesen Pedro heiraten würde, und sie lachte und sagte, dass sie überhaupt noch nie daran gedacht hatte, jemanden zu heiraten. Aber schwanger war sie und ich hörte sie mit Mutter streiten und Mutter warf ihr vor, verantwortungslos zu handeln. Da lief Theresa aus dem Haus, und draußen wartete Pedro in einem Kleinlaster des Sägewerks auf sie. Bevor sie einstieg, blickte sie sich noch einmal um, ihr Bündel an sich gedrückt, als wäre es ein Baby.
Wo Paolita war, wusste ich nicht. Man hatte sie einige Wochen später weggeholt, weil Mutter sie zur Adoption freigegeben hatte, als unser Leben plötzlich kein Leben mehr war, sondern eine Qual. Damals begriff ich nicht, was das bedeutete. Adoption. Das war nur ein Wort für mich. Sonst nichts. Erst als irgendwelche Leute aus der Stadt herkamen und Paolita und Francisco holten, hatte ich begriffen, was los war. Ich konnte es in den Augen meiner Mutter sehen. Dunkle Augen. Wie Kohle. In ihnen konnte ich den Schmerz sehen. Das Leid. Ich lief in den Wald und weinte mir die Seele aus dem Leib, weil ich begriff, dass unsere Familie durch die Ermordung meines Vaters zu existieren aufgehört hatte. Unsere Familie war zerstört, unsere Blutbande zerrissen. Als ich nach Hause kam, war Mutter auf dem Feld. Miguelito saß in der Hütte und stierte in ein Loch. Ihn hatte Mutter nicht zur Adoption freigegeben. Niemand hätte ihn haben wollen. Irgendetwas mit seinem Kopf war nicht in Ordnung. Von Geburt an. Und da wollte ihn niemand haben. Außer Mutter. Sie liebte ihn. Mehr als Paolita oder Francisco. Vielleicht sogar mehr als mich.
Darüber hatte ich dann eine Zeit lang nachgedacht, aber ich verstand nie, warum Mutter nicht auch mich weggegeben hatte. Wochenlang dachte ich jeden Tag darüber nach und auch in der Nacht, wenn ich nicht schlafen konnte. Vielleicht war ich zu alt dazu. Zu rebellisch. Zu sehr davon überzeugt, dass ich meinen eigenen Weg gehen und mich niemals und von niemandem dabei aufhalten lassen würde.
»Dein Junge ist ein gefährlicher Junge«, hatten die Männer, die mich zu kennen glaubten, meine Mutter gewarnt.
»Du gibst diesen Jungen weg und es passiert ein Unglück«, sagten sie. »Er kann sich in sein Schicksal nicht fügen. Er nicht.«
Und so war es. Ich dachte, dass ich eine ganze Menge Menschen einfach umbringen würde, wenn man mich zur Adoption weggab. Ich war bereit. Der Tod bedeutete für mich nicht mehr viel. Der Tod war mein Freund. Ein Befreier von Qualen und Leid. Wer ihm sein Leben gab, der hatte Frieden.
Meine Mutter und ich, wir redeten kaum mehr miteinander.
Und dann, irgendwann als der lange Regen vorbei war, holte ich den Geldbeutel, den ich dem kleinen Gringo mit dem Spitzbärtchen unbemerkt aus der Gesäßtasche seiner schlottrigen Hose geklaut hatte und verließ unser Dorf.
Ich ging auf der alten Karrenstraße durch den Wald nach Norden, und zwei Tage lang versteckte ich mich jedes Mal im Gestrüpp, wenn mir jemand entgegenkam. Am dritten Tag kam ich in die Stadt Tuxtla Gutierrez. Ich ging in einen Laden und kaufte mir ein paar richtige Schuhe und eine Hose und ein Hemd. Ich kaufte mir auch eine Mütze, weil der Wald hier am Fluss aufhörte und dahinter das offene Land lag, auf das die Sonne niederbrannte. Ich verließ die Stadt in der Nacht und ging im Mondlicht auf das offene Land hinaus, bis ich müde war. Dann legte ich mich hin und schlief, mit dem Geldbeutel in der Hose und die Finger meiner rechten Hand fest um den Griff der Machete geschlossen, die ich von zu Hause mitgenommen hatte.
So war das jeden Tag und jede Nacht. Ich war ein Fremder in einer fremden Welt. Ein Indianer, der von den Maya abstammte. Meine Muttersprache war nicht die der Menschen, denen ich begegnete. Ich hatte zwar Spanisch in unserer Dorfschule gelernt, aber meine Muttersprache war Tzotzil, und für alle Leute, die nicht zu uns gehörten, war ich ein Tzotzil-Indianer, obwohl meine Mutter eigentlich eine Mexikanerin war, die mein Vater aus einem weit entfernten Dorf geholt hatte, wo es keine Tzotzil-Indianer gab, sondern nur Mexikaner.
Ich traute niemandem und niemand traute mir. So war das auf meinem Weg nach Norden.
Bis ich in die große Stadt kam. Die Hauptstadt unseres Landes. Zwanzig Millionen Menschen lebten da. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie das von hoch oben aussah. Ein Gewimmel von Millionen Ameisen auf einem Haufen. Und eine davon war ich. Die einzige, die keine Ahnung von nichts hatte und einfach herumlief. Mal dahin und mal dorthin. Bei Rot über die Straße. »He, bist du farbenblind, Junge?« Gegen den Strom. »Verdrück dich, Junge.« Und irgendwelchen Leuten über die Füße. »Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Pass besser auf, wo du hintrittst, du Dreckskerl!«
Eine Ameise ohne Volk und Familie. Äußerlich unterschied ich mich nicht von den anderen Ameisen. Aber ich gehörte nicht zu ihnen. Ich war ein Außenseiter. Eine gefährliche kleine Ameise, der niemand in die Quere kommen sollte.
Da stand einer an einer Bude, wo es eiskalte Limonade gab. Ein Junge, der kaum älter war als ich. Der stand da und grinste.
»Wo bist du her, Freund?«, fragte er, der nur eine Ameise war, jung wie ich und vielleicht ohne Volk und Familie, was man ihm jedoch nicht ansah.
»Chiapas., sagte ich und bezahlte den Becher mit der Limonade.
»Chiapas ist weit weg«, sagte er.
»Sehr.«
»Hast du auch einen Namen?«
»Santiago Molina.«
»Jesus.« Er streckte mir die Hand entgegen, an der zwei Finger fehlten. »Wie der, den sie für deine Sünden ans Kreuz genagelt haben.«
»Und wie ist es mit deinen Sünden?«, erwiderte ich misstrauisch.
»Du kannst mir vertrauen«, sagte er und lachte. »Ich bin einer wie du.«
Ich sah ihm in die Augen. Er war keiner wie ich. Er war wie Jesus. Sanft und ohne Hinterlist. Seine Augen waren die meiner Mutter, und die war wie Maria, bis Vaters Blut auf das Bild in meinem Kopf spritzte. Sie hieß Maria und so war sie auch.
»Wetten, dass du nach Amerika gehen willst«, sagte Jesus.
Er meinte die Vereinigten Staaten von Amerika. Das hatte ich noch in der Schule gelernt. Dass hier alles Amerika war. Von Feuerland bis Alaska. Amerika. Mein Land war es, Indianerland, das man uns gestohlen hatte und für das mein Vater an der Seite von Comandante Marcos gekämpft hatte. Aber wenn einer wie ich unterwegs war, war er unterwegs in die Fremde. Nach Amerika. Los Estados Unidos. Coca-Cola. Hollywood. Marilyn Monroe. Basketball und Disneyland. Das Land der Zombies, hatte es Papa Biddle genannt, obwohl er selbst ein Gringo war.
»Ich weiß nicht, wohin ich gehe«, sagte ich.
»Wetten, du gehst nach Amerika.«
Wir gaben uns die Hand, und er sagte, dass er wüsste, wo ich in dieser Nacht unterkommen könne.
»Meine Mutter wird dir ein Essen machen und du kannst in meinem Bett schlafen«, sagte er. »Bestimmt hast du seit vielen Tagen nicht mehr in einem richtigen Bett geschlafen.«
»Wochen«, sagte ich.
Ich ging mit ihm. Quer durch die Stadt. Er bahnte mir den Weg und benutzte dazu seine Ellbogen. Nein, er war nicht Jesus. Die Leute traten nicht ehrfürchtig vor ihm zurück. Er legte keinem der verkrüppelten Bettler, die vor den alten Kirchen und auf den marmornen Bänken hockten, die Hand auf den Kopf und erlöste sie von ihren Leiden und Sorgen. Er stieß Leute aus dem Weg, rempelte einen Mann an, der aus einem Laden trat. Er lief vor mir her über die Straße, zwischen den Autos hindurch, und er lachte, als einer ihn anschrie, und er schüttelte seine Faust und schlug sie auf einen verbeulten Kotflügel, und er spuckte einem gegen die dreckverschmierte Windschutzscheibe, und das Geheul ihrer Hupen verfolgte uns, als wären sie alle eine Meute angeketteter Tiere.«
»Diese Stadt ist die Hölle«, sagte er. »Man kriegt mehr Abgase als Luft in die Lungen. Das Wasser ist verseucht, und wenn du einen Platz findest, wo du dich zum Sterben hinlegen kannst, fressen dir die Ratten die Sandalen von den Füßen.«
»Warum lebst du nicht woanders?«
»Woanders will ich nicht leben.«
Ich ging blindlings mit ihm, bis wir zu einer Blechhütte kamen, wo seine Freunde auf ihn warteten. Es waren vier, und ein Mädchen war bei ihnen, das zerrissene Jeans trug und ein löchriges T-shirt.
»Das ist Santiago«, sagte er ihnen. »Er will nach Amerika.«
Sie musterten mich. So als hätte er ihnen gesagt, dass ich von einem anderen Stern käme. Das grüne Männchen aus dem All. Eine Ameise, die gar keine war. Nur das Mädchen lächelte mich an. Aus irgendeinem Grund machte mir das Angst.
»Wo hast du dein Geld versteckt?«, fragte mich einer.
»Ich habe kein Geld«, log ich ihn an.
»Du willst kein Geld haben?«
»Ich habe kein Geld.«
Er ging um mich herum. Hinter meinem Rücken blieb er stehen. Ich spürte ihn hinter mir, aber ich drehte mich nicht nach ihm um. Das Mädchen wagte ich nicht anzusehen. Ich sah Jesus an. Sah in seine Augen.
»Ich hab es dir gesagt«, sagte er. »Diese Stadt ist die Hölle und mein Name ist nur meine Tarnung.«
Der, der hinter mir stand, blies mir den Rauch einer Zigarette ins Genick.
»Ich frage dich noch einmal«, sagte er. »Wo hast du dein Geld versteckt?«
»Sag es ihm«, verlangte das Mädchen. »Sag ihm lieber, wo du das Geld versteckt hast.«
»Wenn ich Geld hätte, würde ich es euch geben.«
»Dann zieh die Hose aus!«
»Nein. Das werde ich nicht tun.«
»Du sollst dich ausziehen«, sagte das Mädchen.
»Tu, was er sagt«, sagte Jesus.
»Ich geh jetzt«, sagte ich, und ich ging auf die Tür zu, die nach draußen führte, raus aus dieser Blechhütte, wo der Fußboden schwarz war wie fest gestampfte Kohle und es nach Motorenöl stank. Ich wollte auf die Tür zugehen, auf die Lichtstreifen zwischen den Blechstücken, mit denen die Hüttenwände gebaut waren, aber sie stellten sich mir in den Weg, das Mädchen und die beiden anderen.
»Ihr könnt alles behalten, was in meinem Beutel ist«, sagte ich. Der Beutel lag am Boden. Sie hatten ihn durchsucht. Mein Zeug lag jetzt auf dem Boden verstreut. Sie wollten es nicht. Nur die Machete hatte einer von ihnen in der Hand. Er grinste mich an und zeigte mir meine eigene Machete.
Der, der hinter mir stand, drückte mir die Glut seiner Zigarette in den Nacken. Ich schrie auf, weil ich nicht darauf gefasst war. Der jähe Schmerz ließ mich aufschreien. Ein Schmerz, wie ich ihn noch nie gespürt hatte.
Er stand mit gespreizten Beinen über mir und er sah groß aus und stark. Ich sah ihn nur verschwommen in den dünnen Lichtstreifen, die zwischen dem Wellblechdach und den Hüttenwänden hereindrangen. Er rauchte eine Zigarette und die Asche fiel durch einen Streifen von Sonnenlicht, zerfiel in kleine Flocken, die leicht durch die Luft schwebten. Er hob den Fuß und trat mir in den Bauch.
»Du hast Glück«, sagte er. »Du hast Glück, dass wir dich nicht umbringen.«
Ich wollte ihm sagen, dass er mich umbringen soll, aber ich kriegte die Worte im Kopf nicht zusammen. Irgendetwas mit meinem Kopf stimmte nicht mehr. Er dachte alles Mögliche durcheinander. Er dachte, warum bringst du mich nicht endlich um, du Bastard! Und er dachte an das Foto. Das Gesicht meiner Mutter. Die angefaulte Erdbeere, die Papa Biddles Nase war. Paolitas Augen.
Und meine Augen sahen was anderes. Meine Augen sahen zurück nach Los Chorros und in unsere Hütte, wo mein Bruder Miguelito in ein Loch stierte, das er mit einem Stock in den Fußboden unserer Hütte gegraben hatte. Einfach in das Loch stierte er, in das ein kleiner Käfer hineingefallen war, der vergeblich versuchte herauszukriechen.
Blut riecht gut, dachte mein Kopf. Besser als Motorenöl. Ich fror, weil ich nackt war.
Das Mädchen schaute mich an. Es lächelte nicht mehr. Es hatte Angst. Jetzt war es das Mädchen, das Angst hatte. Nicht ich. Ich war zu Hause. Ich sah den Käfer aus dem Loch kriechen und ich sah Miguelito den Fuß heben und auf den Käfer treten.
Jesus stand bei der Tür.
»Okay?«, fragte ihn einer der anderen.
Jesus machte die Tür einen Spaltbreit auf. Gleißendes Sonnenlicht verwandelte ihn in einen Schatten. Er streckte den Kopf durch den Spalt.
»Okay«, sagte er.
Die anderen gingen hinaus. Nur er blieb stehen und blickte zu mir herüber.
»Tut mir Leid, dass ich dich enttäuschen musste«, sagte er. »Wir könnten Brüder sein.«
Jetzt ging auch er. Er ließ mich in der Hütte zurück und ich blieb liegen und machte die brennenden Augen zu. Mein Herz polterte, als wollte es explodieren. Ich hatte Blut im Mund und in der Nase. Sie hatten mit ihren Fäusten und mit einem Stück von einem Leitungsrohr so lange auf mich eingedroschen, bis ich in die Knie fiel. Und sie hatten mir einen Ziegelstein an den Kopf geworfen und mich mit der Glut ihrer Zigaretten verbrannt, als ich nackt am Boden lag.
Ich wollte sterben, aber ich konnte nicht. Dann wollte ich leben. Ich nahm all meine Kraft zusammen und zog meine Hose an und das Hemd. Die Schuhe hatten sie mitgenommen. Ich hob den Beutel vom Boden auf und tat das Zeug, das sie mir gelassen hatten, hinein. Es war dunkel, als ich die Hütte verließ.
Die Stadt rumorte in einer Nacht, die nicht mehr Nacht war. Lichter überall. Ein Meer von Lichtern. Licht und Lärm. Der Himmel war Licht. Keine Sterne. Kein Mond. Lärm überall. Und Licht, hell und strahlend und schmutzig wie die stickige Nachtluft.
Ich ging eine Straße entlang und fand im Licht einer Lampe einen Brunnen, der einem Engel gewidmet war. Ein Mann lag da am Boden, ein alter Mann, dem das Licht der Lampe in das zerfurchte Gesicht schien. Weiße Bartstoppeln glitzerten. Er hatte den Mund halb offen, aber er atmete nicht. Der Mann war tot. War hierhergekommen, um Wasser zu trinken, hatte es aber nicht mehr geschafft. Der steinerne Engel blickte mit einem Auge auf ihn nieder. Das andere Auge hatte ihm jemand ausgeschlagen. Ich trank das Wasser, das nicht nach Wasser schmeckte. Ich wusch mir das Blut vom Gesicht und von den Wunden und kühlte die schmerzenden Brandlöcher in meiner Haut.
In einem Park legte ich mich in den tiefen Schatten blühender Büsche. Ich dachte an die Ratten. Ich schlief ein und erwachte, als mir ein Hund das Gesicht leckte.
Der Hund war ein kleiner, struppiger Köter, der nach Abfall roch. Er trug ein rotes Halsband aus Leder und von seinem linken Schlappohr fehlte ein Stück. Ich mochte Hunde. Bei uns streunten immer welche herum, die meinten, sie gehörten zu uns. Mein Bruder Francisco war mal von einer Hündin gebissen worden. Javier Chavez, der Polizist von Los Chorros, hatte die Hündin danach mit einem Gewehrschuss getötet. Denn Hunde, sagte er, hatten kein Recht, Menschen zu beißen.
Dieser kleine, struppige Hund mit dem halben Ohr dachte wohl, ich bräuchte einen Freund. Als ich erwachte und ihn von mir stieß, begann er mich anzukläffen.
»Was willst du?«, fragte ich ihn.
Er raste im Kreis um mich herum und sprang dabei über meine ausgestreckten Beine. Das große Schlappohr flog neben seinem Kopf und das halbe Ohr war halb aufgerichtet. Als ob er vom Teufel besessen wäre, so raste er kläffend um mich herum. Ich versuchte, ihn zu packen, aber er wich meiner Hand geschickt aus.
»Hör auf«, rief ich ihm zu. »Mir ist schon ganz schwindelig.«
Er hörte auf und legte sich, ein paar Schritte entfernt, hechelnd ins Gras. Seine Augen halb geschlossen, tat er so, als blickte er an mir vorbei. Dabei wartete er nur darauf, dass ich versuchen würde, ihn zu packen. Wenn ich nur einen Finger rührte, hörte er auf zu hecheln. Er wollte mir zeigen, wie gewandt und schnell er war und dass es mir unmöglich gelingen würde, ihn zu greifen und festzuhalten.
»Du bist nicht so schlau, wie du denkst«, sagte ich.
Er grinste mich an. Die Zunge hing ihm seitlich aus dem Maul.
»Glaub nur nicht, dass ich einen Hund brauchen kann. Ich wüsste nicht mal, womit ich dich füttern soll.«
Ich war selbst hungrig. Das Letzte, was ich gegessen hatte, waren ein paar Tacos gewesen. Mit Hühnerfleisch und Bohnen.
»Komm her!«
Der Hund blieb liegen.
»Du sollst herkommen.«
Er gehorchte nicht. In meiner Hosentasche fand ich ein paar vertrocknete Tortillakrumen. Ich legte sie auf die Hand und streckte sie ihm entgegen. Er rührte sich nicht vom Fleck. Ich leckte mir die Krumen selbst von der Hand und legte mich wieder hin. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Uhr es war. Mitten in der Nacht. Vielleicht drei Uhr. Ich lag da und konnte nicht mehr einschlafen. Ich stand auf und ging durch den Park. Den Lampen wich ich aus. Der Hund folgte mir. Ich hob einen Stein auf und warf ihn nach ihm. Ich wollte ihn nicht treffen, aber ich traf ihn am Bein. Er sprang japsend hoch und schnappte nach dem schmerzenden Bein, als hätte ihn dort eine Wespe gestochen.
»Siehst du, es wäre besser für dich, wenn du abhaust.«
Ich ging weiter. Als ich mich nach ihm umdrehte, sah ich ihn auf dem Weg im Schatten eines riesigen Gebäudes, das ein Museum war. Er humpelte stark. Ich begann zu laufen, aber ich hörte bald wieder auf, weil mein ganzer Körper schmerzte. Schmerzte, dass ich die Zähne zusammenbeißen musste. Ich setzte mich auf die Treppe einer alten Kirche in die warme Morgensonne. Unten auf dem Platz schob einer seinen Handkarren zum Straßenrand. Dort klappte er den Kistendeckel hoch und es kamen drei oder vier Blechkübel zum Vorschein.
Aus dem Kistendeckel wurde ein Regal, auf das er Flaschen aufreihte. Der Inhalt jeder Flasche hatte eine andere Farbe. Verschiedene Grün. Verschiedene Rot und Gelb und Blau. Wie die leuchtenden Farben eines Regenbogens. Er spannte einen Sonnenschirm auf und hängte eine Tafel an den Ständer. Eiskalte Limonade für jeden Geschmack.
Zwei alte Frauen kamen die Treppe herauf und verschwanden in der Kirche. Eine Nonne kaufte einem kleinen Kind eine Limonade. Himbeere. Das Kind und die Nonne gingen Hand in Hand und teilten sich die Limonade. Ich grüßte die Nonne, als sie zu mir hochschaute, und sie nickte mir zu, als wüsste sie irgendetwas über mich, was sonst niemand wusste. Ich durchforschte mein Gewissen. Da war nichts. Kein Gewissen und nichts.
Ich stand auf und ging die Treppe hinauf. In der Kirche war es so kalt, dass ich zu frieren anfing. Ich setzte mich hinten auf eine Bank. Neben einer Nische, in der ein Heiliger aus Stein stand, mit einem Kreuz in den Händen und auf nackten Füßen. Auf dem Sockel vor seinen nackten Füßen lag ein kleiner Opferkorb mit ein paar Münzen drin. Leute, die Kerzen anzündeten, legten Geld in den Korb. Es brannten etwa drei oder vier Dutzend Kerzen, aber im Korb lagen nur ein paar Münzen, die im Kerzenlicht blinkten. Mein Kopf begann zu denken. Er dachte an meinen Vater, der im Himmel war, falls es einen Himmel gab. Vielleicht war er auch in der Hölle, dafür dass er meiner Mutter mal die Zähne eingeschlagen hatte, als er betrunken nach Hause kam. »Wo immer du bist, es soll dir gut gehen«, betete ich. Ich stand auf. Beim Hinausgehen langte ich schnell in den Korb und klaubte ein paar Münzen heraus. Ich tat sie in die Tasche und verließ eilig die Kirche und lief die Treppe hinunter. Unten wartete der Hund. Er blickte mich an, wie die Nonne es vorhin getan hatte. So, als wüsste er, dass ich den lieben Gott beklaut hatte. Da trat ich ihm in den Bauch, und es kam so überraschend für ihn, dass er dem Tritt nicht ausweichen konnte. Er jaulte und sprang zurück und dann folgte er mir in einigem Abstand.
Ich ging über den Platz und in eine schmale Seitenstraße hinein, in der noch die Nachtschatten nisteten. Von den rissigen Hauswänden floss warm das Licht der Morgensonne. In den Fensterscheiben spiegelte sich der wolkenlose Himmel. In einer Metzgerei kaufte ich ein Stück Wurst. Das teilten wir uns. »Mach das nie wieder«, sagte ich zu dem Hund, aber ich sah in seinen Augen, dass er nicht begriff, was ich meinte. Er war nur ein Hund, und er leckte mir meine Finger ab und schielte nach meinem Fuß, mit dem ich ihn getreten hatte. Der Fuß war für ihn die Gefahr. Nicht ich. Dem Fuß wollte er nicht mehr trauen. Dummer kleiner Köter. Ich mochte ihn, weil er mein Freund war. Der einzige Freund, den ich hatte.
Auf einem Platz war Markt. Ich ließ einen Poncho mitgehen, aber jemand bemerkte es und rief nach der Polizei.
»Haltet den Dieb!«, rief ein Mann. »Dort läuft er mit seinem verdammten Köter!«
Wir rannten zwischen den Marktständen hindurch, und ein paar Leute versuchten, mich aufzuhalten. Ich warf den Poncho weg und rannte eine Frau über den Haufen, die mich am Arm packen wollte. Die Frau stürzte und riss einen Tisch mit Gemüse um. Ich rannte wie ein Hase, und ich dachte schon, dass ich es geschafft hätte, als mir ein Polizist seinen Knüppel auf die Schulter schlug. Rechts vom Hals. Es geschah so plötzlich, dass ich dem Schlag nicht ausweichen konnte. Ich spürte, wie etwas in meiner Schulter entzweibrach, und der Schmerz jagte mir Tränen in die Augen. Ich ging in die Knie. Der Polizist trat hinter mich und drückte mir seinen Knüppel gegen die Kehle. Mit beiden Händen hielt er ihn fest, und während seine Knie in meinen Rücken drückten, würgte er mir mit dem Knüppel die Luft ab, bis mir beinahe schwarz vor den Augen wurde.
»Wenn du einen Muckser machst, brech ich dir das Genick, du Kröte!«
Ich gab keinen Muckser von mir. Konnte ich gar nicht. Ich konnte nicht mal mehr atmen vor Schmerzen. Ich sah den Mann vom Marktstand, wo ich den Poncho geklaut hatte, mit schwingenden Fäusten auf mich zukommen. Er war dunkelrot im Gesicht und schäumte vor Wut.
»Das ist er!«, brüllte er.
Meine Ohren vernahmen seine Stimme, aber ich wollte ihn nicht mehr hören. Das Licht erlosch und der Lärm wurde leiser und hörte auf.
Ich erwachte, weil ich pinkeln musste. Langsam, die Zähne vor Schmerz zusammenbeißend, richtete ich mich auf. Rechts von mir war eine Gittertür. Links eine doppelstöckige Pritsche. Auf der unteren Pritsche saß einer, der mich anstarrte. Er trug eine zerlöcherte Hose und ein schmutziges weißes Unterhemd, das nass war vom Schweiß. In seinem Mundwinkel hing eine Zigarette. Der Rauch kroch an seinem Gesicht hinauf zu einem kleinen Gitterfenster oben in der Wand. Der Rauch kräuselte sich blau im Licht, das durch das Gitterfenster fiel und einen hellen Balken an die Wand warf, schräg von oben nach unten und abgewinkelt über die Ecke.
Der Mann beobachtete mich mit dunklen, müden Augen. »Ich muss pinkeln«, sagte ich und versuchte aufzustehen.
»Du siehst aus, als hättest du mit Hunden gelebt«, sagte der Mann.
Ich verharrte auf allen vieren und würgte hervor, was ich im Magen hatte. Mein ganzer Körper zog sich wie im Krampf zusammen, und ich erbrach die Wurst und das Blut, das ich geschluckt hatte. Der Mann brüllte nach einem Mann, den er Capitan nannte. Capitan Mendoza.
»Ich versuche, diese Zelle sauber zu halten«, schimpfte der Mann. »Schau dich um. Alles ist sauber, verdammt noch mal!«
Ein Mann in einer khakifarbenen Uniform kam. Es war Capitan Mendoza, ein Polizist. Er hatte ein goldenes Abzeichen auf seinem Uniformhemd, einen Goldzahn im Mund und lauernde Augen, in denen ich nichts anderes sehen konnte als Bedrohung. Zuerst blickte er zwischen den Gitterstäben hindurch und sagte nichts.
»Was ist hier los?«, sagte er dann.
»Er versaut mir die ganze Zelle«, schimpfte der Mann auf der Pritsche.
Capitan Mendoza öffnete die Tür. Hinter ihm war ein anderer Mann, der einen Knüppel in den Händen hielt. Ihre Abzeichen blinkten wie Ornamente an einem Weihnachtsbaum. Das Foto fiel mir ein. Papa Biddle, der betrunken aus der ‘American Bar’ gekommen war, um den Kindern die kleinen Geschenke vom Roten Kreuz auszuhändigen und der große Weihnachtsbaum hinter dem Fußballtor, an dem bunte Ballons hingen und Girlanden und kleine Puppen aus Stroh. Und die Männer, die vor der Bodega saßen und meine Mutter beobachteten und meine Schwester Theresa.
»Was ist los?«, fragte der Capitan den Mann auf der Pritsche.
»Sieh nur, was er getan hat«, sagte der Mann. »Er hat gekotzt.«
»Er hat gekotzt?« Der Capitan lachte. »Du kannst froh sein, dass er nicht geschissen hat, du Wurm!«
Er kam zu mir und trat mir in den Bauch. Ich fiel vornüber und krümmte mich am Boden in meiner eigenen Kotze. Er stand vor mir. Breitbeinig. Die Daumen in den Gürtel gehakt. Als ich aufblickte, spuckte er mir ins Gesicht.
»Steh auf!«, sagte er.
Ich stand auf. Und wunderte mich, dass es mir überhaupt gelang, aufzustehen.
»Raus«, sagte er.
Ich ging hinaus. Der Mann draußen stieß mir den Knüppel in den Bauch.
»Warte«, sagte er. Ich blieb stehen.
Hinter mir machte Capitan Mendoza die Zellentür zu. Ich wartete und meine Beine wollten schlappmachen.
»Gehen wir!«, sagte der Capitan. »Vorwärts!«
Sie nahmen mich in die Mitte und brachten mich in einen Waschraum. Dort musste ich mich ausziehen, und sie schauten mir zu, wie ich mich unter die kalte Dusche stellte und das Wasser über meinen Kopf und meinen mageren Körper laufen ließ. Auch über die Schulter mit dem Bluterguss, dort, wo mich der Schlag getroffen hatte.
»Wasch deine Sachen!«, befahl mir der Capitan.
Ich wusch in einem Trog mein Hemd und die Hose.
Der Capitan trat hinter mich. Ich sah es am Schatten an der Wand. Ich spürte seine Hand auf meinem Rücken und ich spürte seinen Atem. Ich wusch die Hose mit Seife aus, versuchte, die Blutflecken aus dem Stoff zu reiben und nicht wahrzunehmen, was mein Rücken spürte. Seine Finger auf meiner nassen Haut. Sein Atem. Seine Stimme.
»Komm, Kleiner. Blas mir einen.«
Seine Hand kroch an meinem Nacken hoch. Er packte meinen Haarschopf und zerrte meinen Kopf in den Nacken. Ich stöhnte auf vor Schmerzen. Der Mann an der Tür lachte, während Capitan Mendozas Hand über meine Brust und meinen Bauch fuhr. Er packte mich zwischen den Beinen, packte meinen Penis und drückte die Hoden so fest, dass ich in die Knie ging. Er ging mit mir runter, bis ich am Boden kniete. Er richtete sich auf und zerrte mich am Haarschopf herum. Ich kniete vor ihm in einer Pfütze von Wasser und Seifenschaum. Es war still im Waschraum. Irgendwo fielen Tropfen auf ein Blech nieder. Der Mann bei der Tür hatte die Zähne gebleckt.
Sein Gesicht war wie eine hässliche Maske. Der Capitan ließ meinen Haarschopf los.
»Wenn du es gut machst, kannst du gehen«, sagte er.
Er begann, den Hosenladen aufzuknöpfen, und dabei lachte er ein heiseres Lachen.
»Junge«, sagte der Mann. »Was tust du denn hier?«
Ich lag in der Nacht auf der Straße und die Scheinwerfer eines Autos blendeten mich.
Der Mann half mir, mich aufzusetzen.
»Ist das dein Hund dort drüben?«, fragte er.
Ich blickte in die Richtung, in die er zeigte. Dort lag der Hund am Straßenrand und äugte herüber, das halbe Ohr aufgestellt.
»Kannst du überhaupt reden?«
Ich nickte.
»Und du hörst mich?«
»Ja.«
Der Mann lachte auf.
»Ich bin auf dem Weg nach Hause. Auf dieser Straße fährt sonst niemand. Nicht zu dieser Stunde.«