Florian Meinel
Vertrauensfrage
— Zur Krise des heutigen
Parlamentarismus —
C.H.Beck
Keine Institution wurde in Deutschland so oft totgesagt wie das Parlament. Populisten verachten es und träumen von einer plebiszitären Demokratie. Ist parlamentarische Politik nur noch dazu da, Entscheidungen der Bundesregierung nachträglich zu legalisieren? Der Jurist Florian Meinel analysiert messerscharf, wie das deutsche Regierungssystem wurde, was es ist, und welche Stürme es heute überstehen muss.
Der Erfolg der AfD stellt die politischen Gewissheiten der Bundesrepublik in Frage. Das Ende des alten Wettbewerbs der Volksparteien hat alle Verfassungsorgane erfasst. Disruptive Politik geht heute scheinbar ohne Parlament: Abschaffung der Wehrpflicht, Euro-Rettung, Flüchtlingskrise, Ehe für alle. Was oft dem Regierungsstil Angela Merkels zugeschrieben wird, hat viel tiefere Ursachen. Der missverstandene Parlamentarismus ist die verletzlichste Errungenschaft der alten Bundesrepublik. Wie lässt er sich heute fortentwickeln? Welche politische Chance läge in Minderheitenregierungen? Oder müssen wir das Zweikammersystem grundsätzlich umbauen, damit Deutschland regierbar bleibt? Meinels Buch ist eine Verteidigung des Parlamentarismus und zugleich eine Verlustbilanz der Großen Koalition.
Florian Meinel ist Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Würzburg.
Vorbemerkung
I. Das unbekannte Zentrum der deutschen Verfassung
Was ist das parlamentarische Regierungssystem?
Gewaltenmonismus und institutionelle Unterscheidungen
Vorbehalte gegen die parlamentarische Herrschaft
Vertrauensfragen
Die asymmetrische Verrechtlichung des Regierungssystems
Die dualistische Struktur der deutschen Verfassung
Die Abkoppelung der Verwaltung vom parlamentarischen System
Kontinuität als Prinzip
Die Verfassung als Errungenschaft
Die Republik der Außenseiterin
Technokratie oder Moral?
Die Schwäche parlamentarischer Machtinstrumente
Das Drama der SPD
Das Erbe Merkels und das Menetekel der Großen Koalition
Arbeitsprinzip Supermajorität
Die demokratischen Kosten des Vielparteiensystems
Die Zukunft der Verfassung
Das Leben des Parlamentarismus mit der Parlamentarismuskritik
II. Jahrgang 1919: Eine verfassungsgeschichtliche Skizze des parlamentarischen Regierungssystems
Verfassung und Verfassungswirklichkeit
Eine Verfassung ohne Theorie
Die Verknüpfung von Parlament und Regierung
Weimar: Die halbe Parlamentarisierung der Bürokratie
Das ganz andere Vorbild England
Das deutsche Problem
Die Organisierung von Verantwortlichkeit
Zerrbilder der Parlamentarismustheorie – ein Erbe Weimars
Der Parlamentarismus und das Grundgesetz
Ausgangsbedingungen
Abkehr vom parlamentarischen Regierungssystem?
Adenauers Werk – und der Beitrag der SPD
Das Bundeskanzleramt als parlamentarische Regierungszentrale
Das faktische Parlamentsauflösungsrecht des Bundeskanzlers
Die Normalität des parlamentarischen Machtwechsels und die Volksparteien als Vermittlungsinstitutionen
Sinn und Unsinn der Parlamentarischen Staatssekretäre
Lob der Parteipatronage
Die rechtliche Verknüpfung von Parlament und Regierung durch das Bundesverfassungsgericht
Ausgangsbedingungen der Verfassungsgerichtsbarkeit im parlamentarischen Regierungssystem
Ein politisches Gericht
Die verfassungsrechtliche Aktivierung der parlamentarischen Minderheiten und der Parteien
Die demokratische Umdeutung des Gesetzesvorbehalts
Das Parlament als Legalisierungsagentur und Legitimationsmaschine
III. Volksvertretung im Arbeitsparlament
Was ist parlamentarische Repräsentation?
Das theoretische Dilemma eines verfassungsstaatlichen Repräsentationsbegriffs
Repräsentation ohne Entscheidung?
Verfassungsrechtliche Aporien des Repräsentationsbegriffs
Die verfassungsrechtliche Bedeutung des Wahlrechts
Demokratischer Vorrang des Verhältniswahlrechts?
Die politischen Folgen
Die ewige Frage der Wahlrechtsreform
Aufgaben der politischen Theorie
Die Repräsentativität der Repräsentation
Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus
IV. Die Krise der Vermittlungsinstitutionen
Die bleibende Besonderheit des deutschen parlamentarischen Regierungssystems
Der schleichende Verfall des Verfassungsfaktors Volkspartei
Die Grenze kulturalistischer Erklärungen
Lob des Lobbyismus oder das Ende des westdeutschen Korporatismus
Es gibt keine Kleinen mehr
An den Grenzen von Regierung und Opposition
Regierungsbildung I: Warum dauern Koalitionsverhandlungen immer länger?
Regierungsbildung II: Pausen des parlamentarischen Systems
Regierungsbildung III: Die Latenz des präsidentiellen Faktors
Das Dilemma des Bundesverfassungsgerichts
Versuchungen durch die Große Koalition
Die Schwäche der indirekten Parlamentarisierung im Mehrebenensystem
Die Formalisierung des Informellen – ein Dilemma der Rechtsprechung
Die Entgrenzung des Bundeskanzleramts
Die Sache mit den Chefsachen
Die schleichende Unitarisierung der Exekutive
V. Leistungen und Schwächen der parlamentarischen Regierungskontrolle im Deutschen Bundestag
Was ist parlamentarische Kontrolle?
Vertrauen und Kontrolle
Die Dialektik der Ministerverantwortlichkeit
Das Objekt der Kontrolle oder Wer ist die Bundesregierung?
Funktionen und Grenzen der Plenarkontrolle
Stilfragen und Geschäftsordnungsfragen
Unkulturen der Rede
Die Komplizenschaft der Opposition
Der Maschinenraum der Verantwortlichkeit: Die Ausschüsse
Ein Coup der Parlamentsreform von 1969
Politik und Bürokratie im Ausschuss
Mehrebenensystem, information overkill und neue Verwaltungsmodelle – Aspekte entgrenzter Kontrollaufgaben
Wie kontrolliert man «Europa»?
Kontrolle oder Selbstkontrolle? Das passive Parlament
Der Aufstieg der Agenturen und die Grenzen von Enquête-Rechten
Regierungskontrolle durch corporate governance – ein verfassungswidriger Irrweg
Zukunftsszenarien des deutschen Parlamentarismus
Welche Chancen haben Minderheitsregierungen?
Renaissance des Parlamentarismus?
Einige verfassungsrechtliche Folgefragen
Legalitätsreserven in der Verhandlungsdemokratie und der Rückfall in die Beamtenherrschaft
Institutionelle Alternativen
Nachwort
Anhang
Anmerkungen
Vorbemerkung
I. Das unbekannte Zentrum der deutschen Verfassung
II. Jahrgang 1919: Eine verfassungsgeschichtliche Skizze des parlamentarischen Regierungssystems
III. Volksvertretung im Arbeitsparlament
IV. Die Krise der Vermittlungsinstitutionen
V. Leistungen und Schwächen der parlamentarischen Regierungskontrolle im Deutschen Bundestag
Zukunftsszenarien des deutschen Parlamentarismus
Register
Zur Erinnerung an meine Großeltern
Dr. Werner und Edeltraut Meinel,
die am 1. Mai 1960 mit ihren vier Söhnen
die Dresdener Heimat verließen, um in
der Bundesrepublik ein neues Leben zu beginnen
Bonn war nicht Weimar, aber Berlin ist nicht Bonn. Das Auftreten einer rechten Anti-System-Opposition im Deutschen Bundestag markiert eine Zäsur und zugleich den Abschluss jener großen Verwandlung, in der die Verfassung der Bundesrepublik seit der Wiedervereinigung begriffen ist. Wie stark sich die geteilte Erfahrung von Niederlage und Wiederaufbau von der Gründergeneration auf die Enkel vererbt hatte, erwies sich erst, als jene in ihnen zum zweiten Mal abtrat. Inzwischen hat die politische Polarisierung der deutschen Gesellschaft die Sprache des Verfassungsrechts eingeholt. Die Opposition gegen das Bestehende artikuliert sich in Versuchen, den zivilen Kodex der Bundesrepublik praktisch und semantisch zu zerstören. Die Verteidiger des Status quo glauben, die Verfassung zu bewahren, indem sie deren «Werte» als Abwehrzauber gegen links und rechts aufrufen. Verfassungsfreunde gegen Verfassungsfeinde, Demokraten gegen Antidemokraten, die Insider gegen die Populisten, die Institutionen gegen ihre Verächter, Verteidiger der Demokratie gegen Elitenherrschaft. So bleibt sich das Land aber erst einmal auch dort treu, wo seine verfassungsrechtlichen Gewissheiten zunehmend in Frage stehen: Einer ist des anderen Verfassungsfeind.
Stets hat die Bundesrepublik ihren «Verfassungspatriotismus» weniger auf die staatliche Organisation und die Spielregeln der Politik bezogen als auf das Ideale, auf materiell verstandene Grundrechte und andere Verfassungsgrundsätze. Die Neigung des deutschen Verfassungsdenkens zum Prinzipiellen birgt aber zwei gegensätzliche Gefahren. Gefährlich ist das aus der Endphase Weimars bekannte Versäumnis, den wirklichen Verfassungsfeind auch als solchen zu benennen und entschieden zu bekämpfen. Gefährlich ist aber auch die Strategie, unliebsame Gegner allzu umstandslos als Verfassungsfeinde abzuqualifizieren und sich auf diese Weise der schwierigen politischen Auseinandersetzung mit ihnen zu entziehen. Der Möglichkeitsraum der Politik engt sich dann zunehmend ein, alle politischen Alternativen schrumpfen zusammen auf die eine Frage: Wer ist loyal, wer illoyal? Die Veränderungsbereitschaft geht verloren, und die wohlmeinenden Verteidiger der vermeintlichen Alternativlosigkeit werden zu Hauptdarstellern einer «Krise ohne Alternative» (Christian Meier), zu Beschleunigern wider Willen – res publica amissa, das ist auch das Vexierbild der deutschen Republik.[1]
Wenn inzwischen alltäglich von einer Krise der Demokratie wie von einer Krankheit gesprochen wird, ist die Konstitution des Patienten, seine Verfassung, zu klären. Was sind die verfassungsrechtlichen Besonderheiten der parlamentarischen Demokratie? In welche Richtung entwickelt sie sich? Was sind ihre politischen Stärken und Schwächen? An welchen Stellen ist sie verletzlich?
Je selbstverständlicher die Rede von der Krise der Demokratie wird, desto mehr nimmt der Demokratiebegriff die Züge eines prekären und diffusen Kampfbegriffs an. Demokratie erscheint in der öffentlichen Debatte in Deutschland oft als etwas, das früher mal selbstverständlich war und mit hohen Wahlbeteiligungen, gemäßigten Volksparteien, intaktem Wohlfahrtsstaat, staatsmännischer Vernunft, dem Westen, objektiv berichtenden Medien und der Abwesenheit von Facebook und Twitter zu tun hatte. Von den demokratischen Institutionen der Verfassung, ihrer politischen Funktionsweise, ihren wechselseitigen Verbindungen und ihrer Entwicklung ist dabei selten die Rede. Das deutsche Verfassungsrecht interessiert sich traditionell stark für die Grundrechte und die materiellen Verfassungsprinzipien und weniger für die Institutionen und die Spielregeln, nach denen Politik gemacht wird. Auch in der Verteidigung der deutschen Verfassung als «Verfassung der Mitte», die der Präsident des Bundesverfassungsgerichts vor kurzem vorgelegt hat, kommt das Parlament, kommen überhaupt die Verfassungsinstitutionen nur ganz am Rande vor.[2] Eine Mitte ohne institutionelles Zentrum? Die Erinnerung an das unbegreiflich gewordene Stabilitätsgefühl einer just vergangenen Zeit ersetzt keine politische Analyse.
Wer heute ein Lehrbuch des deutschen Verfassungsrechts aufschlägt, dem bietet sich das Bild eines in sich geschlossenen Verfassungsgefüges: abgestufte demokratische Legitimation der Bundesorgane, Subsidiarität durch Föderalismus, Einbindung in die supranationale Föderation der Europäischen Union, umfassender und ausdifferenzierter Grundrechtsschutz, rechtsstaatliche Gesetzesbindung, Verwirklichung der Prinzipien von Demokratie, Sozial- und Bundesstaat; Ausgleich zwischen den Prinzipien im Wege der Güterabwägung; institutionelle Sicherung durch das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Verfassung. – Von den inneren Widersprüchen dieses Verfassungssystems, von seiner unabsehbar schnellen Veränderung, von den wiederkehrenden Geistern der Vergangenheit, von nagenden Zweifeln an der Verfassungsfähigkeit einer Gesellschaft, die so ganz anders ist als die alte Bundesrepublik, kurz: von den Kräften, die an ihren Institutionen zehren, ist darin nicht die Rede. Um sie geht es in diesem Buch. Es stellt die Frage, wie Deutschland heute regiert wird und wie es künftig regiert werden will.
* * *
Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes gilt durch die «geglückte Demokratie» (Edgar Wolfrum) der Bonner Republik als historisch beglaubigt. Nach den Meistererzählungen haben Väter und Mütter des Grundgesetzes nicht noch einmal den Fehler gemacht, neben das parlamentarische System einen Reservediktator mit außerordentlichen Vollmachten zu stellen. Stattdessen hielten sie die Parteien in ihrer Verantwortung für die Regierungsbildung fest. Doch wer wagt es zu beurteilen, wie groß der Beitrag einer Verfassung oder eines Verfassungsgerichts zur Stabilisierung politischer Ordnung am Ende ist? Hätte ein Staat in der sozialen, wirtschaftlichen und vor allem außenpolitischen Situation der alten Bundesrepublik nicht auch mit der Weimarer oder einer beliebigen anderen Verfassung reüssiert? Die Beseitigung illoyaler Parteien stieß in der Nachkriegszeit auf wenig Widerstand; die heutige Auseinandersetzung mit ihnen hat erst begonnen. Und auch das Amt des Reichspräsidenten wurde bekanntlich erst zum Problem, als die Wähler es einem charismatischen Generalfeldmarschall übertrugen, der mit ostentativer Verachtung von Parlament, Parteien und ziviler Politik eine stupende politische Karriere in zwei Regimen gemacht hatte.[3]
Mit ihrem überwiegend taktischen Verhältnis zu den Regeln des parlamentarischen Lebens stellt die AfD der Bundesrepublik die Verfassungsfrage: Wie viel von ihrer Stabilität verdankt dieser Staat einer einmaligen geschichtlichen Konstellation, inwiefern zehrt er von dieser Substanz? Und: Was ist diese Substanz? Wir wissen aus der historischen Parlamentarismusforschung inzwischen recht gut, dass ein gemeinsames Umfeld des politischen Personals die Fähigkeit des Parlaments erhöht, stabile Regierungen zu bilden: Ständiger Umgang und Vertrautheit miteinander schaffen Verlässlichkeit, begünstigen die Kompromissbildung.[4] Ein solches Gefühl politischer Zugehörigkeit konnte sich in der viel belächelten Bonner Provinz naturgemäß sehr viel leichter entwickeln als in der Weite Berlins. Die räumliche Kompaktheit der Parlaments- und Regierungsfunktionen war in Bonn – bei allen Unterschieden zur Metropole London – ähnlich dicht wie im klassischen britischen Arrangement zwischen Westminster, Whitehall und Downing Street.[5] Die soziale Lebenswelt der Berufspolitik war überschaubarer, selbst das Vergnügungsangebot begrenzter, und darüber, wer es wie nutzte, wussten alle Beteiligten sehr gut Bescheid. Die Kenntnisse, die Helmut Kohl, der Meister informeller Macht, von den Lebensumständen derer hatte, denen er das Vertrauen schenkte oder entzog, sind legendär. Wie wenig die Beteiligten selbst an diese soziokulturellen Bedingtheiten des parlamentarischen Regierungssystems dachten, zeigt eine der verfassungspolitisch seltsamsten Entscheidungen aus der Zeit der Wiedervereinigung: der 1991 in das Bonn-Berlin-Gesetz gegossene und bis heute nicht völlig revidierte Beschluss des Bundestags, von Berlin aus eine zu weiten Teilen in Bonn bleibende Regierung kontrollieren zu wollen.
Selbst manche ihrer politischen Gegner haben sich vom Erfolg einer Partei rechts von der Union eine Belebung des Parlamentarismus versprochen, war die AfD doch angetreten, eine schweigende, politisch ortlos gewordene Mehrheit zu repräsentieren. Und tatsächlich hat der Einzug der AfD die Plenarsitzungen auch auf eine oberflächliche Weise lebendiger gemacht. Die Medien sind dankbare Abnehmer jener Strategie der inszenierten Provokation, auf die sich die AfD seit dem Sieg des Höcke-Flügels über den Petry-Flügel im Sommer 2017 verlegt hat. Dieses Verhalten ist aus den Landtagen gut bekannt. Dort nutzt die AfD das Plenum ausgiebig für publikumswirksame Skandalauftritte, während sich ihre Abgeordneten bei der Ausschussarbeit und Regierungskontrolle merklich zurückhalten, wenn man einmal von monothematischen kleinen Anfragen zu Migration und innerer Sicherheit absieht.[6] Noch träumt das konservative Lager davon, die AfD zu spalten, den radikalen Flügel zu isolieren und einen halbwegs loyalen Flügel in sogenannte bürgerliche Koalitionen einzubinden. Doch alle bisherigen Erfahrungen mit der Entwicklungslogik rechter Protestparteien sprechen dafür, dass die Union selbst das erste Opfer dieser Strategie wäre. Die von der AfD ausgehende Belebung des Parlamentarismus wird folglich entweder kurzfristig oder fatal sein.
Fatal hieße: Weimarer Zustände. Erstarkende Ränder, Zusammenrücken der Parteien der Mitte. Die Unterscheidung von Regierung und Opposition würde sukzessive überlagert durch jene von Gegnern und Verteidigern der Verfassung. Während die Mitteparteien unter der gemeinsamen defensiven Handlungsmaxime des Standhaltens zusammenrücken, droht der weitgehende Verlust politischer und institutioneller Innovationsimpulse. Im Ernstfall bliebe dann nur die vage Hoffnung auf das Bundesverfassungsgericht. Ob sie trägt, kann heute niemand sagen. Die Begründung, mit der das Gericht im Januar 2017 die NPD einerseits als verfassungsfeindlich, andererseits aber noch nicht als konkrete Gefahr einstufte und deshalb von einem Verbot absah, ist der Versuch, die moralische Autorität eines letzten Hüters der Verfassung zu reklamieren, sich ihre Ausübung aber für den wirklichen Ernstfall vorzubehalten.[7]
Kurzfristig hieße: Die als Alt-Parteien geschmähten Kräfte raufen sich zu einer Verfassungsreform zusammen, die gerade auch eine Reform der parlamentarischen Demokratie sein müsste. Wie sie aussehen könnte, ist freilich einigermaßen unklar. Die Mängellisten und Reformvorschläge gleichen sich seit Jahrzehnten.[8] Der Wunsch nach einem «lebendigeren» Parlamentarismus gehört ja seit der Adenauer-Ära immer dann zu den politischen Lieblingsthemen öffentlicher Intellektueller, wenn größere Missstände gerade nicht zu beklagen sind. Mit schöner Regelmäßigkeit werden die immer gleichen Vorschläge gemacht: weniger Fraktionsdisziplin, kürzere und dafür bessere Reden, mehr direkte Konfrontation von Regierung und Opposition, weniger Talkshows, mehr direkte Bürgerbeteiligung. Neuerdings wird sogar die Abschaffung des Rednerpultes erwogen, das die zur deutschen Parlamentstradition gehörende bürgerliche Form der geschlossenen Rede vor Publikum symbolisiert. Norbert Lammert hat sich diese Idee bis nach Ende seiner Amtszeit als Bundestagspräsident aufgehoben.[9] Seit langem herrscht auch weitgehend Konsens darüber, dass der Bundestag viel zu groß ist. Ein Parlament von 700 Abgeordneten ist als Betätigungsraum für politische Begabungen zweifellos unattraktiver als eines von vielleicht 400. Verschärft wird das Problem durch den riesigen Berliner Plenarsaal,[10] dessen schiere Dimensionen eine intensive persönliche Auseinandersetzung erschweren. Vielleicht ist es aber auch an der Zeit, noch einmal grundsätzlicher und größer zu denken und das Wahlrecht, die Regierungsorganisation sowie das Zweikammersystem in Frage zu stellen.
* * *
Wenig hat die Funktionsweise der demokratischen Institutionen in der Moderne so grundlegend verändert wie Fernsehen und Rundfunk. Der Totalitarismus war auch ein Medienereignis. In seinem bekannten Aufsatz über das «Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit» diagnostizierte Walter Benjamin 1937: «Es veröden die Parlamente gleichzeitig mit den Theatern. Das ergibt eine neue Auslese, aus der der Star und der Diktator als Sieger hervorgehen.»[11] Benjamin wusste, dass der Parlamentarismus alten Stils dem plebiszitären Gebrauch von Rundfunk und Fernsehen in der Zwischenkriegszeit wenig entgegenzusetzen hatte. Denn die technische Dauerpräsenz der Exekutive sprengte die Zusammenfassung von Herrschaftsfunktionen in einer geschlossenen, repräsentativen Versammlung.
Doch nach dem Zweiten Weltkrieg erfanden sich die verödeten Parlamente neu und stellten ihre Geschäftsordnung, ihre Zeitpläne, ihre Sprache und Sitzordnung im Großen und Ganzen erfolgreich auf die Logik der Fernsehübertragung um. Vielleicht hängt die Renaissance des Parlamentarismus nach 1945 sogar entscheidend mit der Zentralperspektive des Fernsehzuschauers zusammen, die die sogenannten sozialen Medien sich heute anschicken abzuschaffen. So ist vielleicht noch nicht einmal ansatzweise bedacht, wie sehr sich alle parlamentarischen Institutionen als Folge der Dezentralisierung und Enthierarchisierung der politischen Rede verändern werden. Auch digitale Schwärme schaffen eine «neue Auslese», und wer aus ihr als Sieger hervorgehen kann, weiß die Welt seit November 2016. Die demokratischen Institutionen werden sich ein weiteres Mal neu erfinden müssen. Wie diese institutionelle Erneuerung heute gelingen kann, weiß noch niemand. Sicher aber ist, dass die Zukunftsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie weniger von loyaler Gesinnung als vom vernünftigen Aufbau der Verfassungsinstitutionen abhängt.
Dazu soll dieses Buch einen Beitrag leisten, indem es die verfassungsrechtlichen Besonderheiten dieses Regierungssystems, seine politischen Stärken und Schwächen und seine gegenwärtige Entwicklungstendenz zu verstehen versucht.
Was aber heißt eigentlich: parlamentarische Demokratie? Gewöhnlich unterscheidet man das parlamentarische schematisch von einem präsidentiellen Regierungssystem. Doch darin liegt gerade für die Bundesrepublik nur ein Teil der Wahrheit. Die große Besonderheit besteht vielmehr in einem eigentümlichen Dualismus des gesamten Verfassungsaufbaus der Bundesrepublik: Das parlamentarische System ist gleichsam nur die eine Schicht dieser Verfassung, der mit einem administrativ-föderalen Komplex – dem halb verfassungsrechtlichen, halb politischen Arrangement aus Landesexekutiven, Bundesrat und Länderkoordinierung – eine zweite, ältere und politisch ganz anders funktionierende Verfassungsschicht gegenübersteht (→ I. Kapitel). Warum man die Bundesrepublik dennoch bisher mit Recht als parlamentarische Demokratie verstehen konnte, lässt sich darum nur historisch beantworten: Die drei originär bundesrepublikanischen Institutionen, die Volksparteien, das Bundeskanzleramt und das Bundesverfassungsgericht, haben es als Vermittlungsinstitutionen vermocht, beide Verfassungsschichten miteinander zu verknüpfen (→ II. Kapitel). Da die Entwicklung der Bundesrepublik zum parlamentarischen Regierungssystem aber auf diese Weise zu einem guten Teil gleichsam unterhalb der formellen Verfassungsinstitutionen vonstattenging, ist die normative Grundfrage dieser Herrschaftsform, die Frage nach dem politischen Repräsentationsprinzip des Deutschen Bundestages, bemerkenswert unklar geblieben, was nicht zuletzt an den Merkwürdigkeiten des Wahlrechts liegt (→ III. Kapitel). Nun sind aber alle drei Vermittlungsinstitutionen seit einiger Zeit in einen Prozess fundamentaler Veränderung eingetreten: Die Volksparteien fallen als verfassungstragende Kräfte zusehends aus; Bundesverfassungsgericht und Bundeskanzleramt sind hingegen in eine Phase der Entgrenzung eingetreten. Für das parlamentarische Regierungssystem ist dieser Zustand fundamental kritisch, weil die Vermittlungsinstitutionen ihre Funktion in immer geringerem Maße erfüllen (→ IV. Kapitel). Das betrifft insbesondere auch die Frage nach der Leistungsfähigkeit und Funktionsweise parlamentarischer Regierungskontrolle, die durch veränderte Paradigmen des Regierungshandelns ohnehin vor großen Problemen steht (→ V. Kapitel). Technische Fragen der Organisation des politischen Lebens werden so unvermittelt zu Grundfragen nach dem verfassungsrechtlichen Selbstverständnis der Bundesrepublik. Doch nur, wer den Blick auf die Arbeitsebene der deutschen Demokratie nicht scheut, kann es wagen, ihr eine Diagnose zu stellen.
Die deutsche Demokratie ist eine parlamentarische Demokratie. Das deutsche Regierungssystem ist ein parlamentarisches Regierungssystem.[1] Hinter dieser Bezeichnung verbirgt sich etwas sehr viel Prägnanteres als hinter der verbreiteten Sammelbezeichnung Parlamentarismus. Das parlamentarische Regierungssystem ist eine höchst konkrete Sache, eine durch bestimmte Merkmale definierte verfassungsrechtliche Organisations- und Zuordnungsform von Parlament und Regierung. Es bezeichnet einen Verfassungstyp, in dem die höchste Machtbefugnis unter den politischen Institutionen gleichsam zwischen der parlamentarischen Mehrheit und ihrer Regierung angesiedelt ist. Auch das lässt noch vieles offen. Während die englische Variante des parlamentarischen Regierungssystems auf der Vorstellung beruht, dass das Parlament selbst der Sitz der Souveränität ist (parliamentary sovereignty), sind Parlament und Regierung nach kontinentalem Denken verfasste, das heißt von der Volkssouveränität abgeleitete Institutionen.
Das parlamentarische unterscheidet sich vom präsidentiellen System dadurch, dass die Regierung nicht aus einer unmittelbaren Personenwahl hervorgeht, sondern mittelbar aus dem gewählten Parlament. Das heißt nicht notwendigerweise, dass die Regierung auch vom Parlament gewählt wird. So ist es in Großbritannien formell immer noch der Monarch, der den Premierminister bestimmt. Auch die Bundesminister werden nicht vom Bundestag gewählt. Es kommt nur darauf an, dass die Regierungsbildung von der Mehrheit im Parlament abhängig ist. Eine Regierung kommt mit einer parlamentarischen Mehrheit ins Amt, und gegen den Willen einer Mehrheit im Parlament kann keine Regierung im Amt bleiben. Legislative und Exekutive sind dadurch nicht, wie in allen Präsidentialsystemen, voneinander als unabhängige Gewalten getrennt und je für sich demokratisch legitimiert, sondern politisch und verfassungsrechtlich auf das engste miteinander verbunden. Deswegen ist die parlamentarische Regierung dem Parlament auch für ihre Amtsführung verantwortlich.
Walter Bagehot, der Autor eines 1867 erschienenen Klassikers über die englische Verfassung, hat das parlamentarische Regierungssystem darum mit Recht als Gewaltenfusion (fusion of powers) von der Doktrin der Gewaltenteilung (separation of powers) unterschieden.[2] Richard Thoma, der hervorragende Interpret der Weimarer Verfassung, hat dies mit dem Begriff des «Gewaltenmonismus» zu übersetzen versucht.[3] Das war richtig, aber missverständlich, weil es abschreckend nach illegitimer Machtkonzentration klingt. Auch ist der Monismus für das britische Regierungssystem eine viel einleuchtendere Bezeichnung, wo das Kabinett auf der vorderen Bank der Regierungsseite im Unterhaus schon räumlich mit der Mehrheitsfraktion zu einer Einheit verschmilzt. In Deutschland und allen kontinentalen Staaten hat sich das parlamentarische Regierungssystem hingegen ganz anders, nämlich aus einer Trennung zwischen den absolutistischen Staaten und den Parlamenten entwickelt. Nichts anderes als die fusion of powers meint aber auch der in der Politikwissenschaft übliche Begriff des «Handlungsverbunds»[4], der die strategische Einheit von parlamentarischer Mehrheit und Regierung beschreibt.
Parlamentarisches Regierungssystem bedeutet also: Quer zur institutionellen Verknüpfung von Parlament und Regierung verläuft der politische Gegensatz von Regierung und Opposition. Parlamentsmehrheit und Regierung arbeiten zusammen und verfolgen gemeinsame politische Ziele. Die Parteiführung liegt zudem typischerweise in den Händen der Regierungsspitze, weshalb auch die Regierungsparteien kein Gegengewicht zur Regierung bilden. Gleichzeitig arbeitet die parlamentarische Opposition nicht nur gegen die jeweilige Regierung, sondern auch gegen die Agenda der Regierungsmehrheit im Parlament. Das Parlament eines parlamentarischen Regierungssystems ist daher nicht einfach, ja nicht einmal vorrangig «Gesetzgeber». Vielmehr üben Regierung und Parlament die Kontrolle über den Gesetzgebungsprozess ebenfalls gemeinsam aus. Das Parlament ist auch kein externer demokratischer Kontrolleur der Regierungspolitik, keine bloße Interessensvertretung des Volkes gegenüber der Regierung. Es fungiert vielmehr selbst als Träger und Inbegriff politischer Herrschaft, die es gemeinsam mit der Regierung ausübt. Bei dieser Form des Parlamentarismus handelt es sich folglich um die explizite Herrschaft einer demokratisch gewählten Körperschaft, die die Regierung hervorbringt und stützt – bis sie ihr gegebenenfalls das Vertrauen entzieht.
Über den politischen Sinn und die institutionelle Logik des parlamentarischen Regierungssystems herrschen in der deutschen Öffentlichkeit bis heute die erstaunlichsten Fehlvorstellungen. Besonders die einfache Tatsache, dass es sich beim Parlamentarismus um eine Form der Organisation demokratischer Herrschaft handelt, ist immer noch mit großen Vorbehalten behaftet. Carl Schmitt und Jürgen Habermas, in deren Theorie des Parlamentarismus jeweils das Moment öffentlicher rationaler Diskussion im Zentrum steht, sind nur die bekanntesten Vertreter einer Auffassung, die die eigentliche Aufgabe des Parlaments – die Herstellung demokratischer Entscheidungen – latent bezweifelt oder offen bestreitet. Nach einer alten Sprechweise bezeichnet man das Parlament in Deutschland als Volksvertretung und tradiert damit die Gedankenwelt jenes Parlamentarismus des 19. Jahrhunderts, der noch kein Träger einer verantwortlichen Regierung war. Die Abgeordneten, so sagen es die Verfassungen in Deutschland seit 1871, sind «Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen» (Art. 38 GG).[5] Dass dieser Satz seine Bedeutung von Grund auf ändert, wenn das Parlament nicht als Absicherung bestimmter Rechte des Volkes die Herrschaft einer monarchischen Bürokratie begrenzt, sondern selbst herrscht, wird allzu leicht vergessen.
Demokratische Herrschaft ist ein komplexer und arbeitsintensiver Vorgang; die freie Debatte im Plenum, die am Parlament schon etymologisch angeblich das Wichtigste ist,[6] ist sein Ausnahmefall, nicht sein Normalzustand. Trotzdem verfangen die Bilder des oft leeren Plenarsaals noch immer als Klischee einer Parlamentarismuskritik, in der Hinterzimmer, Absprachen, Lobbyismus und Fraktionszwang als begriffliche Gegensätze dessen firmieren, worum es eigentlich ginge, nämlich: Volksvertretung. Dieser Vorstellung entspricht heute nur das parlamentarische Verhalten der AfD, deren Abgeordnete nur im Plenum viel und laut reden. Regieren müssen die anderen. «Hat man vergessen», fragte Hans Maier die deutsche Öffentlichkeit schon vor fünfzig Jahren, «daß nur in Diktaturen Parlamente gefüllt sind und daß die Plenumspräsenz mit steigender Machtfülle des Parlaments, also je weniger dieses nur ein dekorativer ‹Gesangverein› ist, nicht zunimmt, sondern abnimmt?»[7]
Im Zentrum des parlamentarischen Regierungssystems als Form der Herrschaftsorganisation steht jenes informelle Prinzip, das die Verfassung als «Vertrauen» bezeichnet. Jeder Bundeskanzler muss das Vertrauen einer sogenannten Kanzlermehrheit gewinnen, um ins Amt zu kommen (Art. 63 Abs. 1 GG). Er kann sich das Vertrauen aussprechen lassen, indem er die Vertrauensfrage stellt (Art. 68 GG). Eine neue parlamentarische Mehrheit kann der Regierung das Vertrauen entziehen, indem sie durch das sogenannte konstruktive Misstrauensvotum einen anderen Kanzler wählt (Art. 67 GG). Die so gebildete Regierung ist nicht weniger legitimiert als eine andere. Die politischen Spitzen der DDR wussten das, als sie 1972 Rainer Barzels Misstrauensvotum gegen Willy Brandt durch die Bestechung einiger Bundestagsabgeordneter hintertrieben. Und vor allem wusste es Helmut Kohl, dessen sechzehnjährige Kanzlerschaft im Oktober 1982 auf diese Weise begann.
Das Vertrauen ist nun allerdings keine moralische oder rechtliche, sondern eine politische Kategorie, die darum auch im Englischen confidence und nicht trust heißt. «Die Vertrauensfrage», hat die Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff 2005 in einer berühmten abweichenden Meinung zum Urteil über die von Gerhard Schröder angestrebte Auflösung des Bundestages geschrieben, «ist, wie die Frage vor dem Traualtar, keine Wissensfrage, auf die ebensogut wie der Gefragte oder besser ein Anderer antworten könnte. Der Bundeskanzler, der die Vertrauensfrage stellt, fragt nicht nach einem Wissen, sondern nach dem Willen des Parlaments und der Abgeordneten, an die die Frage nach Art. 68 GG zu richten ist: nach ihrem Willen, ihn und sein politisches Programm mit ihrem künftigen Abstimmungsverhalten zu unterstützen.»[8] Über jede Kanzlerschaft der Geschichte der Bundesrepublik ist bekannt, dass der schwindende Rückhalt in der eigenen Fraktion einen großen Anteil am Machtverlust hatte.
Das Geschäftsordnungsrecht enthält gerade hier, in seinen wichtigsten institutionellen Regeln, einen frappierenden Widerspruch:[9] Während der Bundeskanzler in geheimer Abstimmung mit verdeckten Stimmzetteln gewählt wird (§§ 4, 97 GOBT), wird über die Vertrauensfrage in öffentlicher namentlicher Abstimmung entschieden. Konsequent ist nur Letzteres. Der politisch bedeutsamste Vorgang des ganzen Regierungssystems hat nichts mit dem Schutz der privaten Gefühle der Abgeordneten für den Regierungschef zu tun, sondern mit der öffentlichen Demonstration vorhandenen oder fehlenden Unterstützungswillens für eine bestimmte Regierung.
Die Verfassung regelt also die Grenzfälle des Vertrauens: seine Manifestation, seine Wiederherstellung in ernster Lage und seinen Entzug. Wie das politische Vertrauen hergestellt und aufrechterhalten wird, ist rechtlich nicht zu bestimmen. Wie die parlamentarische Unterstützung der Regierungspolitik in den Regierungsfraktionen gesichert und die Regierungsmitglieder umgekehrt auf eine innerhalb der Regierungsfraktionen mehrheitsfähige Linie verpflichtet werden können, sind Fragen des politischen Instinkts und der Regierungskunst. «Erfahrungsgemäß gelingt das am besten, wenn man eine solche Truppe in heftige parlamentarische Feldschlachten hineinführt, auf die sie sich sorgfältig vorbereiten muß und bei denen sich die Führungspersönlichkeiten herausbilden», hat der Politikwissenschaftler und Kohl-Biograf Hans-Peter Schwarz, ein intimer Kenner des Regierungssystems der Bonner Republik, einmal bemerkt.[10]
Die verfassungsrechtliche Analyse wird durch diese politische Logik erschwert, denn das parlamentarische Regierungssystem beruht auf einer gleichsam asymmetrischen Verrechtlichung. Die Interaktion zwischen Opposition und Regierungsmehrheit muss dem Prinzip des Minderheitenschutzes folgen und ist deshalb stark verrechtlicht, sei es in Form von Antragsrechten, Beratungs- und Informationspflichten, der Fraktionsfinanzierung oder der Verteilung der Ausschussvorsitze. Gleiches gilt aus demselben Grund naturgemäß auch für das Wahl- oder das Parteienrecht. Demgegenüber gibt es für das Verhältnis von Regierungsmehrheit und Kabinett – für dieses eigentliche Zentrum des parlamentarischen Regierungssystems – kaum verfassungsrechtliche Regeln, wenn man einmal von dem Verfahren der Wahl des Bundeskanzlers absieht. Das ist keineswegs Zufall oder Versäumnis. Die Pointe dieses Regierungssystems besteht ja in der institutionellen und politischen Verbindung von Regierungsmehrheit und Kabinett: Die Kumulation von Ministeramt und Abgeordnetenmandat ist im parlamentarischen System keine zweifelhafte Durchbrechung der Gewaltenteilung, sondern eine seiner wichtigsten Bedingungen.[11]
Wenn also die informelle Unterstützungsbeziehung zwischen parlamentarischer Mehrheit und Regierung das Zentrum dieser Form des Parlamentarismus bildet, dann darf man sich das dazugehörige Verfassungsrecht nicht allzu statisch vorstellen. Es beruht gerade nicht auf festen Institutionen mit eindeutig gegeneinander abgegrenzten Kompetenzen, sondern auf einer offenen institutionellen Synthese. Von allen Regierungssystemen, hat Wilhelm Hennis, der energischste intellektuelle Verteidiger des parlamentarischen Regierungssystems der alten Bundesrepublik, treffend formuliert, «ist dies sicher das anspruchsvollste und verletzbarste. Wie kein anderes ist es von äußeren Voraussetzungen und Bedingungen abhängig – mit jeder Parteien- und Koalitionskonstellation ändert es seinen Charakter. […] Parlamentarische Regierungsweise ist daher die am wenigsten festgelegte, immer kann man sehr verschiedenes von ihr erwarten, stets läßt sie Fragen offen.»[12] Natürlich hängen die informellen Regelsysteme, die das parlamentarische System ausbildet, immer entscheidend von den verfassungsrechtlichen Vorgaben ab, mit denen es die Akteure zu tun haben.[13] Innerhalb dieses konstitutionellen Rahmens ist der Raum für politische Spielregeln, die sich schließlich zu verlässlichen Konventionen verfestigen und auf das Verständnis der verfassungsrechtlichen Institutionen zurückschlagen können, jedoch ausgesprochen groß. Das gilt insbesondere für die Bundesrepublik.
Die besonderen deutschen Schwierigkeiten mit dem parlamentarischen Regierungssystem haben ihren Grund in der Verfassung selbst. Das Verfassungssystem der Bundesrepublik ist nämlich mit der Kennzeichnung als parlamentarisches Regierungssystem gerade nicht im Ganzen institutionell beschrieben. Für das historische Vorbild Großbritannien gilt das durchaus: Alle Institutionen des britischen Regierungssystems mit Ausnahme des House of Lords sind gerade aus ihrer Zuordnung zu einer parlamentarisch verantwortlichen Regierung und einem souveränen Parlament verständlich. In der Bundesrepublik war das immer anders. Das Prinzip der parlamentarischen Demokratie beschreibt die deutsche Verfassung nur in einer bestimmten Dimension, in einer ihrer Möglichkeiten. Man muss sich das deutsche Verfassungssystem darum dualistisch vorstellen, als variable Zuordnung zweier Schichten, die zugleich eine sehr deutsche Form von Gewaltenteilung zwischen Politik und Bürokratie verkörpern.
Die spezifischen institutionellen Elemente der parlamentarischen Regierungsweise – die Unterscheidung zwischen Mehrheit und Opposition, die Verbindung von Parlament und Regierung, schließlich die Ministerverantwortlichkeit – kennzeichnen die eine, die neuere Schicht der Verfassung. Sie ist, wie noch zu zeigen sein wird, nur in Ansätzen eine Schöpfung des Grundgesetzes und muss in den meisten Belangen vielmehr als Errungenschaft der bundesrepublikanischen Verfassungsgeschichte gelten (→ II. Kapitel). Der neueren steht eine ältere Schicht, dem parlamentarischen steht ein administrativ-föderaler Teil der Verfassung gegenüber, der in seinen Grundstrukturen ein Kind der Bismarckverfassung und der Reichsgründungsära ist. Seit dem späten 19. Jahrhundert hat sich diese alte Verfassungsschicht zwar vielfach verändert, wurde im Kern aber nie in Frage gestellt.[14] Es gibt auf der Bundesebene noch immer eine sehr ausgeprägte bürokratische Autonomie der Ressorts gegenüber parlamentarischer Steuerung und eine beträchtliche Verselbständigung von großen Teilen der Verwaltung, etwa der Sozialversicherungsträger. Die Landesregierungen und ihre Bürokratien können über den Bundesrat zudem erheblichen politischen Einfluss auf die Bundespolitik nehmen und halten mit der weitgehenden institutionellen Kontrolle über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine enorme Machtressource in der Hand. Informelle Institutionen der Bund-Länder-Koordinierung wie die Innen- oder Kultusministerkonferenzen verstärken diesen Einfluss zusätzlich.
Die Verwaltungsstaatlichkeit und der sogenannte Vollzugsföderalismus deutscher Prägung hatten von Anfang an eine scharf antiparlamentarische Pointe.[15] Sie trennen die Regierungsverantwortung für die Gesetzesausführung und die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung systematisch voneinander. Während die meisten Zuständigkeiten für die Gesetzgebung auf der Bundesebene angesiedelt sind (Art. 73 und 74 GG), bleibt der Gesetzesvollzug – und damit die großen Ermessensspielräume und Richtungsentscheidungen, die sich im Rahmen der Gesetzesanwendung ergeben – im Prinzip den Ländern überlassen (Art. 83 GG). So liegen beispielsweise im Asylrecht alle Gesetzgebungszuständigkeiten beim Bund. Die Entscheidung über den Vollzug der Ausreisepflicht abgelehnter Asylbewerber liegt aber weitgehend bei den Landesbehörden. Sind sie aus politischen Gründen gegen Abschiebungen, muss sich der Bund in der Regel fügen. Selbst eine Vorschrift wie § 58a Abs. 2 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes, wonach der Bundesinnenminister ausnahmsweise bei sogenannten «Gefährdern» den Vollzug übernehmen darf, wenn der Bund an der Abschiebung ein besonderes Interesse geltend macht, ist verfassungsrechtlich kaum zu rechtfertigen.
Das demokratische Prinzip der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung wird damit empfindlich geschwächt: Gesetzgebung und Gesetzesausführung sind absichtsvoll getrennt, während gleichzeitig das bundespolitische Agieren der Landesexekutiven in den Parlamenten der Länder kaum effektiv kontrolliert werden kann. Was heute vielfach als Demokratiedefizit der Europäischen Union beklagt wird, kannte man in Deutschland folglich schon immer – nur eine Ebene niedriger. Die Bundesrepublik steht bis heute vor dem Grundproblem, inwiefern das parlamentarische Regierungssystem, das auf dem Dualismus von Regierung und Opposition aufbaut, mit der föderalen Struktur des Staates und des Parteiwesens vereinbart werden kann.
Die Voraussetzungen des parlamentarischen Regierungssystems könnten also im Vergleich insbesondere zu England kaum größer sein: Dort gibt es keine geschriebene Verfassung mit Vorrang gegenüber der Gesetzgebung und auch kein Verfassungsgericht, dafür aber Zentralstaat, Mehrheitswahlrecht und Zweiparteiensystem. So bleibt das parlamentarische Regierungssystem für einen Staat mit der politischen, sozialen und föderativen Struktur der Bundesrepublik eine im Grunde ganz und gar unwahrscheinliche Verfassungsordnung. Wie es sich in der Bundesrepublik dennoch konsolidiert hat, ist daher in gewisser Weise die große ungelöste Frage ihrer Verfassungsgeschichte.
Noch Wilhelm Hennis hatte lange gehofft, die politischen Eliten der Bundesrepublik könnten den Ballast des Bismarck’schen Erbes abstreifen und die zweite deutsche Demokratie ganz nach dem englischen Vorbild organisieren. Von der Großen Koalition erwartete er in den sechziger Jahren die Einführung des Mehrheitswahlrechts, um durch die Ausschaltung der FDP und den Übergang zu einem Zweiparteiensystem die alternierende Unterscheidung von Regierung und Opposition auf Dauer zu stellen.[161718