Antoine de Faurichon de La Bardonnie, Catherine de Nicolaÿ

Liebe zur Zeit der Guillotine

Autobiographische Erzählungen aus der Französischen Revolution

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Liebe zur Zeit der Guillotine

Prolog

Antoines Erzählung: Die Prinzenarmee und die Belagerung von Maastricht

Catherines Erzählung: In den Gefängnissen der Revolution.

Antoines Erzählung: Als Emigrant in Deutschland.

Antoines Erzählung : Zu Fuss bis an die Wolga und zurück.

Epilog

Impressum neobooks

Liebe zur Zeit der Guillotine




Alexander Jordis-Lohausen

(Herausgeber)







Liebe zur Zeit der Guillotine









Autobiographische Erzählungen aus der französischen Revolution












































Vorbemerkung



Dies ist der wahre Bericht des Antoine Faurichon de La Bardonnie und der Catherine de Nicolaÿ, wie sie ihn in den Jahren 1815-17 in Coburg niedergeschrieben haben. Da uns diese Niederschrift leider nur unvollständig überliefert ist, habe ich sie, wo immer notwendig und möglich, ergänzt, bearbeitet und ins Deutsche übertragen, ohne aber irgendetwas Wesentliches zu verändern.

Ich bin Xavier Faurichon de La Bardonnie dankbar mir diese Erzählungen seiner Vorfahren sowie noch weitere Dokumente zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt zu haben.

Mit Dankbarkeit denke ich auch an den freundlichen Empfang zurück, den Monsieur et Madame Claude und Jacqueline Jaeck mir und meiner Frau bereitet haben, als wir sie in Verzinas besuchten. Ihre Führung durch das von ihnen so geschmackvoll restaurierte und eingerichtete Schloss und den blühenden Garten haben viel zu meinem Verständnis für Antoines Liebe zu diesem Ort seiner Kindheit beigetragen.





Alexander Jordis-Lohausen


























In Erinnerung an meine Urahnin Sophie Reine Fermepin des Marteaux.




























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Verzinas nach einer Zeichnung von Sophie Reine Fermepin des Marteaux, 1835





Prolog


Verzinas

Seinen Vater, Hélie-Jean-Noel Faurichon de la Bardonnie, Offizier in der Leibgarde des Königs in Versailles, hatte Antoine als Kind nur hin und wieder erlebt, und mit 10 Jahren ganz verloren. Seine Mutter Marie Faurichon de la Bardonnie lebte im nahen Croze bei Milhac, auf dem Gut seines Vaters, mit seinem jüngeren Bruder und seinen zwei Schwestern. Doch sie ist ihm fremd geblieben, er hat sie nur hin und wieder besucht. Denn nach dem Tod ihres Mannes hatte die Mutter diesen aufgeweckten, etwas unbändigen Erstgeborenen ins Pensionat nach Périgueux oder nach Limoges schicken wollen.

Doch ihr Vater, Antoines Großvater, Antoine Guicard de Laforest, der als Witwer allein in Verzinas lebt, in dem kleinen Schloss mit den hohen Dächern, hatte darauf bestanden, den Jungen bei sich zu behalten und selbst zu erziehen. Er liebt diesen Enkel, liebt seine lebhafte Intelligenz, seine strahlende Begeisterungsfähigkeit, seinen Tatendrang, sein Interesse für alle Wunder der Natur. Vor allem aber geht ihm die Liebe und Verehrung nahe, die dieses Kind ihm entgegenbringt. Als traditionsbewusster Edelmann der alten Schule erzieht er seinen Enkel nach den Prinzipien seiner Vorfahren: Ritterliche Ehre, Nächstenliebe, Pflicht und Gehorsam gegenüber Gott und dem König. Sicherlich ist er streng mit ihm, wenn es sein muss, doch er straft ihn nur selten, er versucht ihm vielmehr Unrecht verständlich zu machen, appelliert an seinen Verstand und an seine Gefühle. Im übrigen lässt er ihm mehr Freiheit als es die meisten Jugendlichen seiner Zeit genießen. Schon mit 11 Jahren kann der Junge in Verzinas nach Lust und Laune tun und lassen, was er will. Er nützt er es nicht aus, aber er ist dankbar für sein herrlich freies, einfaches und gesundes Leben.


Im Tal von Croze, am großen Teich von Saint-Amand steht eine alte Mühle, in welcher der Müller das Getreide der umliegenden Höfe mahlt. Dort, in einiger Entfernung vom Mühlrad, sitzt Antoine im Sommer oft stundenlang ganz allein mit seiner Angel in der Sonne, denkt über alles nach, was ihn bewegt, und wartet geduldig bis ein Fisch anbeißt. Wird es ihm zu heiß, springt er ins Wasser. Schon ganz jung schwimmt er wie ein Fisch, was ihm später einmal das Leben retten wird. Oder er streift durch Wald und Flur, die rauschenden Bäche entlang. Er kennt alle Höhlen und Verstecke, die blumenbedeckten Lichtungen mitten mit Wald, die kleinen Wasserfälle, die über die Felswände hinunterstürzen. Er lebt in dieser unberührten Natur, beobachtet sie und liebt sie --die Pflanzen, die Tiere, das vielfarbige Gestein. Seine kindliche Phantasie ist wach und reich. In den hohlen Bäumen wohnen Zwerge, in den Tümpel schwimmen Nixen und Elfen tanzen nachts auf den Lichtungen. Diese geheimnisvollen Wesen sind seine Freunde. Er spielt mit ihnen.


Später, als er älter wird, lernt er in langen Gesprächen mit dem Großvater, während sie die viereinhalb Meilen1 von Verzinas nach Croze wandern, die Wirklichkeit der Natur kennen, die Namen aller Bäume und Sträucher, ihre Beschaffenheit, die Geheimnisse der Erde und des Gesteins, sowie die Heilkräuter, ihre Wirkung, und wann sie gesammelt werden müssen. Sein Großvater hält nicht viel von grauer Theorie, er will, dass sein Enkel das praktische Leben kennen lernt. So reift Antoine auf den Gütern der Familie im Kreislauf des ländlichen Lebens, im Wandel von Aussaat und Ernte, von Obst- und Gemüseanbau, Viehzucht, Forstwirtschaft, Vermarktung, Finanzen und Verwaltung des Besitzes. Im Herbst, zur Zeit der Weinlese, wohnt er einige Wochen lang auf dem Weingut „Du Tertre“, um sich die Feinheiten der Weinbereitung anzueignen. Eines Tages wird er ja den Besitz übernehmen.


Jeden Donnerstag kommt der Pfarrer von Vaunac, Abbé Rebière, nach Verzinas, um in der Schlosskapelle die Messe zu lesen. Anschliessend lehrt er Antoine und die Kinder des Gesindes den Katechismus. Nach alter Tradition bleibt der Abbé zum Mittagessen, und Antoine darf schweigend den Tischgesprächen zuhören. Was ihn dann aber besonders freut, ist die Fahrt in der Kutsche, wenn sein Großvater den geistlichen Herrn nach Vaunac zurückbegleitet.


Im Winter, wenn draußen die Natur ruht und wenn der Sturm an den Fensterläden rüttelt, wird im Schloss früh zu Abend gegessen. Danach sitzen Antoine und sein Großvater bis spät in die Nacht hinein vor dem lodernden Kaminfeuer, das gespenstische Schatten über die Wände reiten lässt. Während dieser nächtlichen Gespräche erfährt er den größten Teil seiner Bildung. Der alte Herr hat eine besondere Gabe auch weniger aufregende Themen anregend und lebendig werden zu lassen. Und wenn er am Schluss von seinen Vorfahren berichtet, hat der Enkel das Gefühl, dabei zu sein, bei den Kriegstaten, bei den Begegnungen bei Hof, bei den Hochzeiten und Bällen. Vor allem aber, verlangt er immer wieder, dass der alte Herr ihm noch einmal von der berühmten Begebenheit auf dem Schlachtfeld von Fontenoy erzählt, als der König Ludwig XV. seinem Vorfahren sein Schwert zum Geschenk macht, als Dank für seine Bravour und Tapferkeit. Oft geht Mitternacht darüber vorbei, aber im Winter ist ja weniger Arbeit. Da kommt es dann auf eine Geschichte mehr oder weniger auch nicht mehr an.


Das bunte Treiben auf den kleinen Märkten in den Dörfern ist für Antoine immer eine willkommene Abwechslung. Doch voller Ungeduld erwartet er jedes Jahr den großen Jahrmarkt zu Ehren von Saint-Mémoire in Perigueux. Zu diesem Anlass zieht die ganze Familie, seine Mutter, die Geschwister, der Großvater und er ins Stadthaus in der rue Eguillerie. Sobald das feierliche Hochamt in der Kathedrale Saint Front zu Ende gegangen ist, ergießt sich eine heitere Menschenmenge aus allen Gegenden des Perigord auf die Plätze und in die winkeligen Gassen der Stadt und verliert sich in dem bunten Treiben. Überall stellen Gaukler aller Art ihre Kunst zur Schau. Hoch über den Köpfen haben Seiltänzer ihr Seil von einem Giebel zum anderen gespannt und alle verrenken sich die Hälse, um mit leichtem Schauer die tastenden Schritte auf dem schwankenden Seil zu verfolgen. Darunter sind es hier Jongleure, die Bälle oder Kegel durch die Luft wirbeln, dort Puppenspieler, die auf kleinen Bühnen ihre buntbemalten Puppen die neuesten Moritaten vorführen lassen. Wieder woanders machen Musikanten Stimmung, mit glänzenden Trompeten und Posaunen, mit Geigen und dicken Pauken. Und auf dem großen Marktplatz bieten die Bauern ihre Käse und Würste, ihre Weine, ihr Obst und ihr Gemüse feil. Und auf einem Anger unter der Stadtmauer wird der Viehmarkt abgehalten. Pferde, Rinder, Schafe und Ziegen werden ausgeschrien, angepriesen, es wird gefeilscht und gestritten.

Doch am meisten liebt Antoine die für die Dauer des Marktes aufgestellten Werkstätten der Handwerker, und kann sich nicht satt sehen an ihrer Kunst, die sie vorführen vor all den Neugierigen, die sich zu ihnen hereindrängen. Da ist der Drechsler, der auf seiner Drehbank kunstvoll verzierte Schalen und Teller aus Holz herstellt, aber auch Treppenpfosten und Tischbeine. Ganz ähnlich verfährt der Steindreher, der rohe Kalksteinblöcke drehen lässt, um daraus schwere Kapitelle, Becken oder Sockel hervorzuzaubern. Etwas weiter entdeckt Antoine den Böttcher inmitten seiner Fässer, Bottiche und Zuber, und dahinter eine Weidenkorbflechterin. Kaum zwanzig Schritte weiter unter einer knorrigen Platane, dort, wo einige Pferde geduldig warten, bis sie beschlagen werden, befindet sich das Feuerwerk der Schmiede. Der Hufschmied lässt den großen Hammer dröhnen, das Eisen glüht und der Blasbalg lässt das Feuer sprühen. Und schließlich in einem stillen Winkel, findet Antoine ein paar Frauen am Spinnrad. Sie singen dazu. Hanf spinnen sie, was ihn nicht erstaunt, wird doch auf fast jedem Bauernhof etwas Hanf angebaut. Antoine nimmt all diese vielfältigen Eindrücke in sich auf, ordnet und verarbeitet sie, was oft Tage dauert. Und er lässt sich das, was er nicht verstanden hat, später von seinem Großvater erklären. Der Markt ist eine wichtige Schule.


Die Faurichon de La Bardonnie gehören, wie auch die Guichard de Laforest, zu ältesten Familien des Perigord. Diese Aufenthalte in Perigueux sind daher auch eine Zeit der Geselligkeit. Denn nur wenige Schritte von der rue Eguillerie entfernt, in der rue de Plantier, wohnen in fast jedem Haus Verwandte. Es sind die Fayolle, die Champagnac, die Langlade, die Eyliac, die Siorac, die Guionie und noch andere. Sie haben fast alle Kinder in Antoines Alter, sodass er sich um zu wenig Umgang keine Sorgen zu machen braucht. Trotz seiner häufigen Einsamkeit ist Antoine kein Eigenbrötler, im Gegenteil. Sie erwarten ihn jedes Mal ungeduldig, all die Cousins und vor allem all die Cousinen, begierig die Geschichten zu hören, die er immer zu erzählen weiß, und gespannt auf die Spiele, die er diesmal mit ihnen veranstalten wird.


Doch ist die Gegend um Perigueux nicht die Welt, sondern nur ein kleiner abgelegener Winkel im großen, mächtigen Königreich Frankreich. Daher beschließt die Familie, und diesmal auch der Großvater, so schwer es ihm fällt, dass Antoine, als er 16 Jahre alt geworden ist, die große Welt kennen lernen soll, um sich weiterzubilden. Wie schon sein Urgroßvater Hélie, sein Großvater Pierre und sein Vater Hélie-Jean-Noel, wird nun auch er nach Versailles geschickt, um als Kadett bei den „Gardes Rouges du Roi“, der königlichen Roten Garde einzutreten, und zwar im Regiment Clermont-Tonnerre. Im Gegensatz zur Blauen Garde, der Leibwache des Königs innerhalb des Schlosses von Versailles, ist die Rote Garde die königliche Leibwache außerhalb des Schlosses. Im Krieg sind diese roten Kompanien die Elitetruppen, die den König auf dem Schlachtfeld umgeben und auch an den Kämpfen teilnehmen. Alle Offiziere dieser Garde gehören dem alten Adel an.

Am Anfang fällt es Antoine nicht leicht, sich an die ungewohnte militärische Disziplin zu gewöhnen. Zum ersten Mal in seinem Leben kann er nicht mehr so frei über seine Zeit verfügen. Doch er weiß um die Ehre, und bald erfährt er auch den Reiz zu dieser ausgewählten Gemeinschaft zu gehören. Das Leben unter Kameraden sagt ihm zu, es kommt seiner Geselligkeit entgegen, und spornt seinen Ehrgeiz an. Mit Eifer und mit Ausdauer betreibt er die Kavallerieübungen und nimmt aufmerksam an den technischen Unterweisungen teil. Bei Kameraden und Vorgesetzten ist er beliebt. Nach zwei Jahren wird er zum Leutnant befördert. Er fängt gerade an, sich in der scharlachroten Uniform heimisch zu fühlen und mehr Verantwortung zu übernehmen, als 1789 mit dem Sturm auf die Bastille die Französische Revolution ausbricht.

Bald darauf wird die gesamte königliche Garde aufgelöst. Antoines Regimentskommandant Clermont-Tonnerre, den er und seine Kameraden sehr schätzen, setzt sich noch ein letztes Mal für sie ein und zahlt ihnen drei Monate Sold aus und belässt ihnen ihre Pferde. Für diese Wohltat wird er wenig später verhaftet und soll erschossen werden. Bei seiner Gefangennahme verwundet, schleppt er sich nur mühsam durch die Strassen zu seiner Hinrichtung. Als die johlende Menge ihn verhöhnt, ruft er ihnen zu: „Glaubt nur nicht, dass ich Angst habe. Es ist nicht das erste Mal, dass ich dem Tod ins Auge blicke. Im übrigen, solltet Ihr wissen, dass ein Clermont-Tonnerre weder Blitz noch Donner scheut!“ 2 Und ebenso unerschrocken ist er gefallen.

Antoine ist jetzt froh, all das hinter sich lassen zu können, Versailles und noch viel mehr die üble Atmosphäre von Paris. In kleinen Etappen kehrt er mit seinen wenigen Habseligkeiten zurück zu seinem Großvater nach Verzinas. Im Perigord ist die Luft noch rein, die Stimmung noch nicht durch die Ereignisse in Paris vergiftet. Überdies ist sein Großvater in der ganzen Gegend sehr beliebt. Einstimmig wird er zum Bürgermeister von Vaunac gewählt. Und sein Enkel, als frischgebackener Leutnant, wird zum Kommandanten der lokalen Garde Nationale ernannt. Denn in dieser Zeit der Unsicherheit stellt manch eine Stadt ihre eigne Bürgerwehr auf, um sich im Notfall verteidigen zu können. Wie in Paris, nennt man diese Milizen National-Garde. Jeden Sonntag exerziert Antoine mit seiner kleinen Truppe, bringt ihnen Disziplin und Kriegskunst bei und trinkt anschließend mit ihnen auf König und Nation. Es sei denn, sein Großvater hat, wie es häufig vorkommt, allesamt, Stadtrat und National-Garde, zum Mittagessen eingeladen. Es entsteht ein freundschaftliches Vertrauensverhältnis.

Doch die Nachrichten aus Paris, die mit Verspätung, aber immer eindringlicher in diese ländliche Abgeschiedenheit einsickern, berichten nicht von Freundschaft und Vertrauen, sondern von Unruhen, Willkür und Gewalt. Unter diesen Umständen wird auch am Land das Schicksal der adeligen Familien immer unsicherer, besonders, wenn sie nicht gewillt sind, den Eid auf die neue Verfassung abzulegen. Viele von ihnen entschließen sich daher, solange es noch möglich ist, Frankreich zu verlassen.



























Obwohl das Volk König Ludwig XVI. von Versailles nach Paris zurückgeholt hat, herrscht im ersten Jahr der Revolution keine ausgesprochen königsfeindliche Stimmung. Die Revolution vollzieht sich weitgehend im Einvernehmen mit dem König. Erst seit ihrer missglückten Flucht von Paris bis Varenne im Juni 1791 sind der König und seine Familie den revolutionären Führern, aber auch dem Volk verdächtig geworden. Sie werden in die Tuilerien zurückgebracht und noch strenger überwacht. Die Monarchie durch eine Republik zu ersetzen, rückt nun immer mehr ins Bereich des Möglichen.

Im Ausland schliessen Leopold II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, und Friedrich Wilhelm II., König von Preussen, ein Bündnis ab, beschränken sich aber auf drohende Erklärungen gegenüber dem revolutionären Frankreich.

Frankreich ist Anfang 1792 nur ungenügend zum Krieg gerüstet. Zwar ist die Qualität der Bewaffnung ausgezeichnet, aber die Anzahl der Kanonen und Gewehre unzureichend. Das eigentliche Problem jedoch liegt bei der Führung, bei der Moral der Truppen und bei der Rekrutierung. Die meisten Offiziere der Armee von 1789 entstammen dem niederen Landadel, denen die Hoch-Aristokratie bei Hof bisher den Weg in höhere Chargen versperrt hatte. Zu Anfang der Revolution erhofften sich nun viele von ihnen gute Aufstiegschancen in der neuen republikanischen Armee. Doch enttäuscht durch die Abschaffung ihrer Vorrechte, vor allem bei der Besetzung höherer Offiziersstellen und durch Gewissenskonflikte nach der zunehmenden Entmachtung des Königs, desertieren und emigrieren zwei Drittel von ihnen, etwas 6000. Und diejenigen, die bleiben, gelten nun als verdächtig bei der neuen Generation von Offizieren, die unter den ehemaligen Unteroffizieren oder unter den Bürgerlichen der Garde Nationale rekrutiert worden sind. Die einfachen Soldaten wiederum hatten sich von der Revolution eine Aufhebung der strengen Armeedisziplin erwartet. Als die nicht eintrifft, kommt es im Jahre 1790 zu häufigen Soldatenaufständen. All das trägt nicht zur Moral der Truppen bei. Die Armeestärke beträgt nur etwa 120.000 Mann. Und trotz einer neuerlichen Aushebung nach der Flucht von Varenne, beträgt die Gesamtzahl im April 1792 kaum mehr als 150.000 Mann. Krieg war also ein Risiko für das revolutionäre Frankreich.

Dennoch geht die Kriegsinitiative von Frankreich aus. Nach langen Diskussionen, für und wider, beschliesst die französische Nationalversammlung (Assemblée Nationale) am 20. April 1792 Österreich den Krieg zu erklären (1. Koalitionskrieg). Sogar Ludwig XVI. spricht sich vor den Abgeordneten für den Krieg aus, in der geheimen Hoffnung, Frankreich würde ihn verlieren und die Alliierten würden das Königtum in seiner alten Form wiederherstellen. Am 6. Juli tritt Preussen an der Seite Österreichs in den Krieg ein. In den deutschen Grenzgebieten am Rhein ist die Zahl der französischen Emigranten, Militärs und Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder, inzwischen auf etwa 40.000 angeschwollen. Viele der Männer werden als Offiziere, aber auch als einfache Soldaten in die „Prinzenarmee“ eingegliedert, die sich in Trier um die Brüder Ludwigs XVI., den Comte de Provence und den Duc d'Artois, formiert hat, um auf Seiten der Österreicher gegen das revolutionäre Frankreich zu kämpfen. Am 10. August wird Ludwig XVI. von den Jakobinern verhaftet und abgesetzt. Die Republik wird ausgerufen.

Der revolutionäre Kriegsminister Dumouriez plant einen raschen Vorstoss in die österreichischen Niederlande (etwa das heutige Belgien), um das dortige Volk zum Aufstand zu bewegen. Die drei konservativen Generäle Lafayette, Biron und Rochambeau dagegen beschränken sich auf defensive Aktionen, in der Hoffnung schliesslich gegen Paris marschieren zu können, um dort politisch Ordnung zu schaffen. Aber ihre Truppen spielen nicht mit. Die Moral ist schlecht und die Versorgung unzureichend. In diesem Moment dringt das alliierte Heer unter der Führung des Herzogs von Braunschweig in Frankreich ein, erobert Longwy and Verdun und macht damit die Strasse nach Paris frei. Danton ruft in flammenden Reden in der Nationalversammlung zur Einigung und zum Widerstand auf. Dumouriez, jetzt General der Nordarmee und Kellermann, General der Zentrumsarmee stellen sich am 20. September bei Valmy den alliierten Streitkräften und erringen den ersten Sieg der jungen Republik. Diese Kanonade von Valmy, der auch der junge Goethe beiwohnt, stärkt das revolutionäre Selbstbewusstsein. Durch diese Niederlage, aber auch durch schlechtes Wetter und unzulänglichen Nachschub entmutigt, ziehen sich die alliierten Heere zurück. Daraufhin geht Dumouriez zur Offensive über, erringt am 6. November einen entscheidenden Sieg über die Österreicher bei Jemmapes und erobert die österreichischen Niederlande. Ein Teil der Prinzenarmee wird Ende November aufgelöst.

In Paris ist die Nationalversammlung inzwischen am 21. September 1792 durch die Convention Nationale ersetzt worden.

Siegesbewusst sehen sich die Führer der neue Convention Nationale nun zur Befreiung der unterdrückten Völker Europas berufen und beschliessen gleichzeitig die Grenzen Frankreichs auszudehnen. Savoyen und das Land um Nizza werden dem Staatsgebiet eingegliedert. Doch diese expansionistische Politik, sowie die Hinrichtung Ludwig XVI. am 20. Januar 1793, geben Anlass zu einer neuen Koalition gegen Frankreich, die in verschiedenen Konstellationen mehr als 20 Jahre dauern wird, und an der fast das ganze Heilige Römische Reich, aber vor allem nun auch das Vereinigte Königreich, Russland und Spanien teilnehmen.

Im Frühjahr 1793 wendet sich das militärische Glück der revolutionären Heere. Die französischen Truppen sind durch die Korruption ihrer Armeelieferanten nur mangelhaft versorgt. Die Moral ist schlecht. Überdies zersplittert Dumouriez die Kräfte der französischen Streitkräfte, besessen von der Idee einer Eroberung Hollands und eines vereinten niederländischen Staates mit ihm an der Spitze. Er wird vom kaiserlichen Heer unter Führung des Herzogs von Coburg am 16. März bei Neerwinden und eine Woche später bei Löwen vernichtend geschlagen. Die Österreicher befreien das von General Miranda belagerte Maastricht und alle im Vorjahr von den Franzosen eroberten Gebiete um Belgien und Luxemburg. Bis Mai 1793 hat Frankreich auch weiter südlich alle an seiner Ostgrenze eroberten Gebiete wieder eingebüsst. Die republikanische Armee verfällt in einen Zustand totaler Zerrüttung. Dumouriez läuft zu den Kaiserlichen über. An seiner gesamten Ostfront ist Frankreich nur mehr in der Defensive.


(Vgl. dazu: François Furet et Denis Richet, La Révolution Française, Fayard, Paris 1973).

















Antoines Erzählung: Die Prinzenarmee und die Belagerung von Maastricht



Abschied

Oktober 1791. Frühnebel vor Sonnenaufgang. Es ist noch bitterkalt, als wir von einander Abschied nahmen. Wir wussten beide, dass wir einander nicht wiedersehen würden. Und so ist unsere letzte Umarmung auch von ungewohnter Innigkeit. Zuletzt zeichnete mein Grossvater mit seinem Daumen das Kreuz auf meine Stirn und gab mir Gottes Segen mit auf den Weg ins Ungewisse. Ich küsste ihm das letzte Mal die Hand, schwang mich auf mein Pferd und galoppierte hinaus auf die Landstrasse in Richtung Thiviers. Ich war 21 Jahre alt.

Alles, was mir bisher Freude, Kraft und Rückhalt gegeben hatte, ließ ich hinter mir zurück. Das unbeschwerte Leben in Verzinas, dem Schloss meiner Kindheit, das tiefe Glück, das ich in der Gesellschaft meines Großvaters immer empfunden hatte, all das trug ich mit diesem Abschied unwiederbringlich zu Grabe. Und es sollten viele Jahre vergehen, bis ich Verzinas wiedersehen würde. Die Welt würde sich grundlegend verändert haben. Kaum jemals in meinem späteren ereignisreichen Leben ist mir ein Abschied so schwergefallen wie dieser. Mein über alles verehrter und geliebter Großvater bedeutet mir mehr als irgendein anderer Mensch auf der Welt. Ihm hatte ich mich anvertraut auf dem schwierigen Weg vom Kind zum Manne, er war mir seit jeher Vater und Mutter, Freund, Erzieher und Berater gewesen.

Doch während eines Besuchs Anfang Oktober 1791 bei meinen Freunden Vococourt im nahen Thiviers hatte ich erfahren, dass sich ein Grossteil meiner ehemaligen Regimentskameraden inzwischen in Koblenz, also in deutschen Landen, versammelt hätte. Dort befänden sich die Brüder des Königs, der Comte de Provence und der Comte d’Artois, und bemühten sich mit den ehemaligen Offizieren des königlichen Heeres eine Emigrantenarmee zusammenzustellen. Ehre und Pflicht gebot es, diese zu unterstützen. Und so beschloss auch ich, mit den Brüdern Vococourt, den Herren du Vignaud, Faucauld, Du Bos und einigen anderen aus der Gegend, mich nach Koblenz auf den Weg zu machen.

Ich hatte mir in Nontron ein vortreffliches Pferd gekauft, mir in Verzinas das beste Sattel- und Zaumzeug ausgesucht und so ritten wir am 10. Oktober von Thiviers nach Limoges.

In der Stadt wimmelte es von revolutionären Freiwilligen, die alle die Grenzen des Vaterlandes gegen die ausländischen Eindringlinge verteidigen wollten. Da wir die Uniform der National Garde trugen, erregten wir keinen Argwohn. Bei der „Maison Rouge“, der ersten Poststation auf der Landstrasse nach Paris, mieteten wir Relaispferde, um in einem Zug bis zur Hauptstadt durchreiten zu können. Mein Großvater hatte mir den treuen Jean Lapouyade, der seit über 40 Jahren bei uns diente, als Begleiter mitgegeben. Ihn schickte ich nun mit unseren Pferden nach Verzinas zurück, denn ich wollte ihn den Gefahren unseres Abenteuers nicht aussetzten.

Kaum aufgesessen, begegneten wir der prächtigen sechsspännigen Kutsche des Comte de Beaumont, der mit seiner Gemahlin ebenfalls nach Paris unterwegs war. Gnädig erlaubte er uns, seinem Gespann vorauszureiten, und so reisten wir sehr angenehm bis Bourg-La-Reine. Wir wohnten im Hôtel d’Arcourt, wo wir einige Male mit dem Comte de Beaumont speisten, der sich uns gegenüber überaus wohlwollend zeigte. Durch ihn lernten wir auch den Marineoffizier Foucault des Ayries kennen, der wie wir auf dem Weg nach Koblenz war. Die Gesellschaft des Grafen beruhigte mich einigermaßen, denn ich sagte mir, wenn die hohen Herren sich immer noch in derselben Pracht wie früher zeigten, so sei die Lage in Frankreich vielleicht doch nicht so schlimm, und würde sich die drohende Stimmung langsam wieder beruhigen. Dennoch, als wir uns Paris näherten, nahmen auch wir einen Wagen, um an den Zollschranken weniger aufzufallen. Die Hoffnung auf eine friedliche Lösung, an die ich eben noch geglaubt hatte, verlor sich bei unserer Ankunft in Paris. Hier herrschte deutlich spürbar eine Stimmung, die von Hass, Neid und Rachsucht vergiftet war. Ich selbst habe es nicht gesehen, aber man erzählte, dass immer häufiger blutrünstige revolutionäre Banden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die ihnen, aus was immer für Gründen nicht behagten, gefangen nähmen und ohne jeglichen Prozess köpften. Unter dem beifälligen Geschrei und Gejohle der Volksmassen würden ihre Köpfe dann auf einem Spiess durch die Strassen getragen und ihre verstümmelten Körper hinterher geschleift.

Sechs Tage mussten wir uns in der Hauptstadt aufhalten, um Nachrichten einzuholen. Dann brachen wir erleichtert nach Nordosten auf und kamen bei Valenciennes über die Grenze ins kaiserliche Tournai und über Lüttich, Aachen und Köln nach Koblenz.


Der Anfang und das Ende einer Illusion

Am 11. November kamen wir in Koblenz an und begaben uns sofort zum Grand Prévôt. Ihm mussten wir innerhalb von 24 Stunden ein Leumundszeugnis vorlegen, von vier Edelleuten unterzeichnet. Erst dann konnten wir den Antrag stellen, in eine der Einheiten einzutreten. Mein Freund Vignaud und ich wählten ein Kavalleriekorps, das in Vallendar, einem kleinen Ort am rechten Rheinufer, etwa eine Meile von Koblenz entfernt, zusammengestellt wurde. Doch behielten wir den Kontakt zu den anderen Kameraden und trafen uns regelmässig im Wirtshaus „Zu den drei Kronen“ in Koblenz. Das war ein gefährlicher Ort für junge Leute ohne Erfahrung, weil dort in eigenen Spielsälen viel gespielt und verloren wurde.

Vignau war ein leidenschaftlicher Spieler und überredete mich zu einem gemeinsamen Einsatz. Jeder von uns setzte 15 Franken3, die wir auch prompt innerhalb von wenigen Minuten verloren. Das rief mir in Erinnerung, wie eindringlich mein Großvater mich immer vor Glücksspielen gewarnt hatte. Ich verließ den Spieltisch und versuchte meinen Freund sanft mitzuziehen. Doch vergeblich! Er spielte wie besessen weiter und verlor schließlich 40 Louis d’or. Dabei hatten wir beide nur wenig Geld und mussten davon Unterhalt und Ausrüstung bestreiten. Ich war noch einmal glimpflich davongekommen, aber es blieb für mich eine Lehre, die ich nie vergessen habe. Ich habe mich in meinem späteren Leben nie mehr an einen Spieltisch gesetzt.

Im Februar 1792 wurde unser Korps nach Diez an der Lahn verlegt. Wir bekamen Pferde, wurden organisiert, und begannen militärische Übungen und Manöver. Ausgezeichnete Offiziere bläuten uns Ordnung und Disziplin ein. Im Juli waren wir bereit, in die Prinzenarmee, in der Nähe von Trier, eingegliedert zu werden. Wir ritten an Mainz vorbei, über Kreuznach, Kirn und Oberstein bis ins Biwak von Grevenmacher. Dort erfuhren wir, dass sich die Stadt Longwy den Preußen ergeben habe. Woraufhin wir Befehl erhielten, in Frankreich einzumarschieren, um die preußische und die Prinzenarmee bei der Belagerung von Thionville zu unterstützen.

Unser Hauptquartier wurde in Cattenom aufgeschlagen, nur eine Viertel Meile von der Befestigungsmauer von Thionville entfernt. Die Stadt wurde aufgefordert, sich zu ergeben. Als das nicht geschah, wurde sie von unseren Kanonen unter Beschuss genommen, wenn auch ohne wesentlichen Erfolg. Die Preußen gaben uns dabei keinerlei Unterstützung, weswegen wir ihnen bittere Vorwürfe machten.

Während die Preußen weiterhin Thionville belagerten, zog unser Korps und die gesamte Prinzenarmee über Etain und Verdun hinaus bis vor Clermont, in nächste Nähe der republikanischen Armee des General Dumouriez. Wir erwarteten eine Entscheidungsschlacht, um danach bis Paris vorzustoßen und den besten und armseligsten aller Könige zu befreien und wieder auf seinen Thron zu setzen.

Aber das Schicksal wollte es anders: statt anzugreifen, erhielten wir Befehl uns zurückzuziehen. Auch die preussische Armee zog sich ohne ersichtlichen Grund zurück, als habe es eine Absprache gegeben, die wir nicht nachvollziehen konnten. Wir waren wie vor den Kopf gestoßen. Unser Rückzug erfolgte vor der Nase der Republikaner, die uns von nun an Schritt für Schritt folgten. Hin und wieder kam es zu kleineren Scharmützeln, mit Toten und Verwundeten auf beiden Seiten. Doch sobald es ernster zu werden drohte, gaben die Republikaner auf. Es fehlte ihnen wohl an Schneid. Doch sobald wir unseren Rückzug – übrigens in vorbildlicher Ordnung – fortsetzten, waren sie wieder da! Ich hatte Glück damals nicht ernsthaft verwundet worden zu sein, denn ich fürchte, von unseren Schwerverwundeten haben nur wenige überlebt. Die Republikaner gaben ihnen an Ort und Stelle den Rest. Unser Korps erreichte Bertogne, zog durch die Ardennen und nahm schließlich nördlich von Lüttich, in Tongres Quartier.

Die ununterbrochenen Regengüsse während unseres Rückzugs in Frankreich hatte die Landstrassen ungangbar gemacht. Als wir schliesslich in Tongres ankamen, war unser Korps durch den Mangel an Futter und Nahrung während der letzten Wochen völlig erschöpft, ein Drittel der Pferde war eingegangen und ein Grossteil der Mannschaften war krank. Kaum hatten wir uns in unseren Quartieren halbwegs eingerichtet, als die Nachricht eintraf, dass Dumouriez die Schlacht von Jemmapes gewonnen und die Österreicher zum Rückzug gezwungen habe. Wenige Tage später kam der Befehl unser Korps solle sich nach Visé an der Maas begeben. Es hiess, wir sollten in Holland überwintern. Doch am 14. November, ein Jahr und vier Tage nach meiner Ankunft in Koblenz, ließ man uns vor der Stadtmauer Aufstellung nehmen. Dann las uns der Korpskommandant, der Marquis d’Autichamps, den Befehl vor, wonach er uns fristlos und ohne weiteren Sold zu entlassen habe.

Wir waren niedergeschmettert! Die Hälfte von uns konnte nur durch den Verkauf ihrer Pferde – sofern sie noch welche hatten -- zu etwas Geld kommen. Aber wie konnten wir auf einmal 400-500 Pferde verkaufen, und wie sollten wir sie bis dahin ohne Geld noch füttern? Wie sollten wir uns selbst ernähren? Wohin sollten wir uns wenden in einem Land, dessen Sprache wir nicht verstanden? Eins war sicher: wir mussten schnell handeln, denn die republikanische Armee war inzwischen bis auf wenige Meilen herangekommen. Und wer ihnen in die Hände fiel, wurde auf der Stelle erschossen. Nur das unvorstellbare Durcheinander, das bei den Republikanern herrschte, rettete den grössten Teil unseres Korps. Denn bei den Republikanern gab jeder Befehl, jeder wollte kommandieren. Überdies kam ihr Tross nicht nach, worauf die Truppen plünderten, wo sie konnten, um zu überleben. Dadurch kam ihre Armee nur sehr langsam vorwärts und war ihr Zusammenhalt so ungewiss, dass sie an Kampfhandlungen nicht ernsthaft denken konnten.

Dennoch war unsere Lage ziemlich hoffnungslos. Die einen verkauften für ein paar Franken in Assignaten ihre Pferde, ihre Ausrüstung und ihre Waffen und machten sich aus dem Staub. Andere, am Ende ihrer Kraft und ihrer Mittel, stürzten sich aus Verzweiflung in die Maas, weil sie keine Möglichkeit mehr sahen, sich vor einem Gegner zu retten, der von den politischen Kommissaren der Convention aufgehetzt, wie tollwütige Bluthunde nur darauf wartete, uns umzubringen.

Vignaud und ich hielten es für günstiger, nach Holland weiter zu ziehen, statt unser Hab und Gut hier zu verkaufen, wo Überangebot und geringe Nachfrage herrschten. Nach einigen Meilen machten wir in einer kleinen Stadt Halt und verkauften, was wir zu verkaufen hatten. Reich sind wir dabei nicht geworden. 15 Franken bekam ich für mein prachtvolles Pferd. Sicherlich, es war erschöpft und ausgehungert, aber noch jung und wird wohl nach einem Monat guter Fütterung wieder kräftig und stattlich geworden sein. Für mein Gewehr, meine Pistolen, meinen Säbel und meine Uniform erhielt ich 17 Franken, wobei es mir diesmal gelang, mich nicht in Assignaten, sondern in Silberdukaten bezahlen zu lassen. Mein Freund Vignaud handelte sein Pferd für nur 10 Franken ein, weil es eine Schusswunde an der Schulter hatte, und erhielt 18 für seine Ausstattung. Sonst blieben ihm noch 25 und mir noch 12 Louis d’or .4




Maastricht

Wir befanden uns in der Nähe von Maastricht, im neutralen Holland, das mit Frankreich in Frieden lebte. Wie viele unserer Leidensgenossen dachten wir daher, hier vor unseren feindlichen Landsleuten sicher zu sein.

Vignaud und ich kamen unbehelligt in die Stadt und mieteten dort ein kleines Zimmer, besser gesagt ein dunkles Loch in der rue de Bois-le-Duc. Im Erdgeschoss gelegen, mit großen Tonfließen ausgelegt, war es immer feucht, aber konnte durch einen offenen Kamin halbwegs geheizt werden. Der einzige Ausblick war ein düsterer Hinterhof, in dem wir aus einem Brunnen unser Wasser schöpften. Das Mobiliar bestand aus einem dürftigen Holzbett, einem Schrank (8 Fuss hoch, 4 Fuss breit und 2 ½ Fuss tief)5, und zwei einfachen Holzstühlen. All diese Herrlichkeiten kosteten uns 6 Franken monatlich. Dazu bekamen wir noch einen gusseisernen Topf, und je zwei Teller, Löffel, und Gabeln. Unsere Armeebecher hatten wir behalten. Als erstes ließen wir das Los entscheiden, wer auf dem Holzbett schlafen dürfe und wer oben auf dem Schrank. Vignaud gewann. Dann kauften wir zwei Bündel Stroh und nähten sie in ein altes Leintuch. Dieser Strohsack wurde meine notdürftige Matratze oben auf dem Schrank. Mein Sattelsack war mein Kopfpolster, mein Kavalleriemantel meine Decke. So sah für die nächsten drei Monate mein Bett aus. Ich musste auf einen der Stühle steigen, um da hinauf zu gelangen. Glücklicherweise bin ich kein Schlafwandler, sonst hätte ich mir sicherlich schon in der ersten Nacht das Genick gebrochen!

Nachdem wir uns so eingerichtet hatten, berechneten wir unser „Soll und Haben“ und kamen überein, fortan pro Monat gemeinsam höchstens 30 Franken6 auszugeben. Das war unser Budget:


Miete 120 Sols p.m.

Heizung 120 Sols p.m.

Gemüse etc. 120 Sols p.m.

Brot, Butter, Fett 60 Sols p.m.

Persönliche Ausgaben 180 Sols p.m.


Total 600 Sols p.m. = 30 Franken pro Monat

Vignaud war charmant, gebildet und kultiviert, aber hatte absolut keinen Sinn für praktische Dinge. Daher kümmerte ich mich um den Einkauf und um unsere frugale Küche. Ich kaufte immer mehrere Laib Brot auf Vorrat, damit sie hart würden, bevor wir sie anschnitten. Dann kochte ich in unserem Eisentopf Gemüse gar und dick. Es wurde abgekühlt und dann zu einer Pastete gepresst. Auch unser Tageslauf war entsprechend frugal. Zum Frühstück gab es ein kleines Stückchen Brot und dazu eine ganz dünne Scheibe unserer Gemüsepastete. Danach gingen wir bis Mittag ins Café, um uns aufzuwärmen, Freunde zu treffen und Nachrichten einzuholen. Wieder zu Hause assen wir wieder ein Scheibe Pastete und ein Stück Brot, mit ganz wenig Butter oder Schmalz bestrichen. Bei schönem Wetter gingen wir nachmittags spazieren, oder kehrten wieder im Café ein, wo uns manchmal ein etwas besser gestellter Kamerad auf ein Glas Bier einlud. Das Abendessen glich dem Mittagessen. Und nach einem kurzen Gespräch legten wir uns schlafen, Vignaud in seiner hölzernen Schlafstelle, ich auf meinem Schrank.

Natürlich haben wir versucht mit Gelegenheitsarbeiten etwas Geld zu verdienen. Doch weil wir so viele waren, die Arbeit suchten, gelang es nur selten. Ein Notar stellte mich eine Zeitlang als Archivar an, aber wegen meiner Unkenntnis der niederländischen Sprache hat er mich nicht lange behalten.

Da die Hoffnung der einzige Trost der Unglücklichen ist, klammerten wir uns an den Gedanken, dass im Frühjahr die Österreicher die verlorenen Gebiete zurückerobern, mit geballter Macht in Frankreich einbrechen und die alte Ordnung wiederherstellen würden, und wir dann in unsere Heimat zurückkehren könnten. Solange müssten wir durchhalten und so leben, dass meine 10-12 louis d’or für die nächsten sechs bis sieben Monate ausreichten. Sollten wir uns aber in unserer Hoffnung täuschen, könnten wir immer noch der Armee des Prinzen Condé beitreten, die 150 Meilen von Maastricht entfernt im Winterquartier lag.


Die Belagerung von Maastricht.

Die Dörfer in der unmittelbaren Umgebung von Maastricht gehörten zur Provinz Lüttich. Dort überwinterte die französisch-republikanische Armee. Von der Stadtmauer aus konnten wir sie beobachten, wie sie sich vor der Festung hin und her bewegten. Aber Maastricht war eine neutrale holländische Stadt und so machten wir uns keine Sorge. Doch waren wir sehr bedrückt, als uns Ende Januar 1793 die Nachricht von der Ermordung des Königs auf dem Schafott erreichte. Wir hielten eine so grauenhafte Tat erst gar nicht für möglich. Doch nach und nach mussten wir diese unumgängliche Wahrheit hinnehmen. Unsere Verzweiflung und vor allem unsere Angst um unsere Verwandten, von denen wir keinerlei Nachricht hatten, nahm entsprechend zu. Wie ging es wohl meinem Grossvater? Ich musste immer wieder an ihn denken.

Unsere Ruhe wurde in den ersten Februartagen des Jahres 1793 gänzlich hinweggeweht. Das revolutionäre Frankreich erklärte Holland den Krieg. General Miranda schickte sich an, die Stadt Maastricht zu belagern und forderte sie auf, innerhalb von 24 Stunden zu kapitulieren. Die Stimmung unter den Emigranten sank wieder auf einen Tiefpunkt. General Miranda ließ dem Gouverneur der Stadt mitteilen, dass er ihm eine ehrenhafte Übergabe gewähre, falls er ihm alle französischen Emigranten ausliefere.