Über dieses Buch:
Eine große Party zum Geburtstag? Der junge Lehrer Will kann sich Schöneres vorstellen – und verbringt das Wochenende lieber allein auf der Couch, um in Ruhe über das Leben zu philosophieren. Doch dann läutet das Telefon Sturm und stürzt Will mitten ins Gefühlschaos. Warum verdreht jedes Gespräch mit seiner Ex-Freundin ihm noch immer den Kopf? Und warum sprühen zwischen ihm und seiner Vormieterin plötzlich die Funken, wenn sie eigentlich nur anruft, um nach einem verloren gegangenen Brief zu fragen? Die große Liebe scheint in der Luft zu liegen! Will braucht dringend Rat von seiner besten Freundin – doch Alice hat ein Geheimnis, das Wills Leben plötzlich kopfstehen lässt …
Herzerwärmend romantisch und urkomisch zugleich – mit feinstem britischen Humor à la Nick Hornby und mit dem Charme von Helen Fielding schreibt Mike Gayle über die Pleiten und Pannen des Lebens.
»Ein prickelnd leichtes Buch voller Situationskomik und messerscharfer Beobachtungen.« The Independent on Sunday
»Witzig, trendy und der Super-Tip für Freundinnen mit Liebeskummer.« Freundin
Über den Autor:
Mike Gayle wurde 1970 in Birmingham, England, geboren. Nach seinem Studium der Soziologie zog es ihn nach London, wo er als Journalist für die »Sunday Times Style« und die »Cosmopolitan« arbeitete. Als »Kummerkastenonkel« für mehrere Jugendzeitschriften konnte er Stoff für seine turbulenten Romane sammeln. Mit seinem Romandebüt »Und täglich grüßt die große Liebe« gelang ihm sofort der Sprung auf die Bestsellerlisten. Heute lebt Mike Gayle als etablierter Schriftsteller mit seiner Frau und seinen zwei Kindern wieder in Birmingham.
Bei dotbooks veröffentlichte Mike Gayle bereits seine Romane »Man liebt sich immer zweimal« und »Wenn aus Chaos Liebe wird«.
Die Website des Autors: www.mikegayle.co.uk/
Der Autor im Internet: www.facebook.com/mikegayleauthor/
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eBook-Neuausgabe Januar 2019
Dieses Buch erschien bereits 1999 unter dem Titel »Mein Bett, das Telefon und sie« bei Droemer.
Copyright © der englischen Originalausgabe 1997 by Mike Gayle
Die englische Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel »My Legendary Girlfriend« bei Hodder & Stoughton Ltd., London.
Copyright © der deutschen Erstausgabe 1999 bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München
Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von Shutterstock/Yurkalmmortal, antart, pagina und rawpixel.com
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-96148-232-0
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Mike Gayle
Und täglich grüßt die große Liebe
Roman
Aus dem Englischen von Peter Torberg
dotbooks.
Für Claire
Manchmal kriegst du, was du willst,
Manchmal kriegst du, was du brauchst,
Manchmal kriegst du, was du kriegst.
Meine Mutter
Ich möchte mich bei Philippa Pride und allen bei Hodder, Jane Bradish Ellames, Emlyn Rees und allen bei Curtis Brown für ihre Hilfe bedanken; bei Joe und Evelyn Gayle, Andy Gayle, Phil Gayle, Jackie Behan, dem Richards-Clan, Cath McDonnell, Charlotte und John, Liane Hentscher, Emma und Darren, Lisa Howe, John O'Reilly, Pip, Ben, Rodney Beckford, Nikki Bayley und den Stammgästen im ›Four Winds‹ für ihre Unterstützung; und bei Mr. T, Dave Gedge, Kevin Smith, Mark Salzman, Xena, Richard Roundtree, Clive James, Oxfam und allen, die jemals Mike gefragt haben, für ihre Inspiration.
Mr. Kelly, für welches Fußballteam sind Sie?«
Während ich am Rande des Spielfeldes entlangschlenderte, unter jeden Arm einen Fußball geklemmt, dachte ich sorgfältig über Martin Acker und seine Frage nach. Er war der letzte meiner Schüler gewesen, der das Spielfeld verließ, und ich wußte, daß er ganz absichtlich getrödelt hatte, um mir diese Frage zu stellen, nicht nur, weil er sich ernsthaft für meine fußballerische Loyalität interessierte, sondern auch, weil er keine Freunde hatte und ich sein Begleiter auf dem langen und einsamen Weg zurück in die Umkleidekabinen sein sollte. Er war buchstäblich von oben bis unten vom Fußballfeldschlamm der Wood-Green-Gesamtschule bedeckt, was eine ziemliche Leistung war für einen Jungen, der den ganzen Nachmittag über den Ball nicht ein einziges Mal berührt hatte. Was seine spielerischen Fähigkeiten anging, so hegte ich nicht den leisesten Zweifel, daß er der schlechteste Fußballer war, den ich je erlebt hatte. Er wußte es, und er wußte, daß ich es wußte, und doch brachte ich es nicht über mich, ihn aus dem Team zu nehmen, denn was ihm an Fertigkeiten fehlte, machte er mit seinem Enthusiasmus mehr als wett, was mir selbst großen Mut verlieh, weil es bewies, daß die Sinnlosigkeit einer Beschäftigung für manche noch lange kein Grund war, gleich aufzugeben.
Martin war zwar ein hoffnungsloser Kicker, aber bei allem anderen rund um den Fußball kannte er sich bestens aus. Ich hingegen konnte diesen langweiligsten aller Zeitvertreibe weder spielen noch unterrichten noch so tun, als interessiere ich mich überhaupt dafür. Aufgrund der Stellenkürzungen im Sportbereich und des Bedürfnisses, meinen Vorgesetzten zu imponieren, lag die Verantwortung für den bunt zusammengewürfelten Haufen an Dreizehnjährigen, die die B-Mannschaft der achten Klasse bildeten, allein bei mir. Mister Tucker, der Direktor, war sehr beeindruckt gewesen, als ich mich freiwillig für diese Aufgabe gemeldet hatte, doch die Wahrheit sah weniger uneigennützig aus. Sie lautete: Fußball oder Theater-AG. Der Gedanke, zwei Mittagspausen in der Woche daran zu vergeuden, die Kinder fürs Theater zu interessieren und Beihilfe zu leisten, wenn sie My Fair Lady, das diesjährige Stück, meuchelten, ließ Fußball weniger deprimierend erscheinen, wenn auch nur um Haaresbreite. Ich war Englischlehrer – geschaffen, um Bücher zu lesen, tassenweise zuckersüßen Tee zu trinken und Sarkasmus als höhere Form des Witzes zu verbreiten. Ich war nicht dazu geschaffen, an frostig-kalten Herbstnachmittagen in kurzen Hosen herumzulaufen.
Ich sah genau in dem Augenblick zu Martin hinab, als er hinaufblickte, um zu sehen, ob ich seine Frage vergessen hatte.
»Manchester United«, log ich ihn an.
»Aber Sir, jeder ist für Manchester.«
»Ach, wirklich?«
»Ja, Sir.«
»Und für welche Mannschaft bist du?«
»Wimbledon, Sir.«
»Und warum?«
»Ich weiß nicht, Sir.«
Ende der Unterhaltung. Wir gingen schweigend weiter und konnten noch nicht mal den Schwarm verstädterter Möwen aufscheuchen, die sich an der Eckfahne versammelt hatten und im Schlamm herumstaksten und pickten. Ich hatte den Eindruck, als wollte Martin mich weiter in ein Gespräch über Fußball verwickeln, aber ihm fielen wohl keine Fragen mehr ein.
Martins Mannschaftskameraden brüllten und kreischten derart laut, daß ich mir die Verwüstung schon gut vorstellen konnte, noch bevor ich überhaupt an der Tür zum Umkleideraum angelangt war. Drinnen herrschte blankes Chaos – Kevin Rossiter hing kopfunter an der Heißwasserleitung, die sich durch den ganzen Raum zog, Colin Christie peitschte mit seinem Handtuch nach James Lees blankem Hinterteil, und Julie Whitcomb, die keinerlei Notiz von dem Geschehen rund um sich herum nahm, hockte in einer Ecke des Umkleideraum und war in Wuthering Heights vertieft, einen der Kerntexte, die ich in diesem Schuljahr in der achten Klasse unterrichtete.
»Hast du vor, dich umzuziehen?« fragte ich sie höhnisch.
Julie zog ihre sommersprossige Nase aus dem Buch, blinzelte, als sie den Kopf hob, und erwiderte meinen Blick. Ihr verwirrter Gesichtsausdruck machte deutlich, daß sie die Frage nicht verstanden hatte.
»Dies sind Umkleideräume, Julie«, stellte ich klar und schüttelte ungläubig den Kopf. »Jungenumkleideräume, um genau zu sein. Da du weder ein Junge bist noch dich umkleiden willst, dürfte ich vorschlagen, daß du verschwindest?«
»Ich würde ja gern, Mr. Kelly, aber ich kann nicht«, versuchte sie zu erklären. »Ich warte auf meinen Freund.«
Meine Neugier war geweckt. »Und wer ist dein Freund?«
»Clive O'Rourke, Sir.«
Ich nickte. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wer dieser Clive O'Rourke war.
»Ist er in der achten Klasse, Julie?«
»Nein, Sir, in der elften.«
»Julie«, sagte ich und versuchte ihr die Nachricht so schonend wie möglich beizubringen, »die elfte Klasse hat heute nicht Fußball.«
»Wirklich nicht, Sir? Aber Clive meinte, ich soll hier nach dem Fußball auf ihn warten und mich nicht wegrühren, bis er kommt.«
Sie ließ das Buch in ihren Rucksack fallen und griff ganz langsam nach ihrer Jacke, so als entzögen ihr die Denkprozesse alle Energie, wie bei einem Computer, auf dem zu viele Programme gleichzeitig laufen.
»Wie lange gehst du denn schon mit Clive?« fragte ich nebenher.
Sie begutachtete eingehend die abgewetzten Sohlen ihrer ausgelatschten Nikes, bevor sie antwortete. »Seit dem Mittagessen, Sir«, gestand sie leise. »Ich hab ihn gefragt, als er in der Essenschlange stand, um sich in der Kantine Pizza, gebackene Bohnen und Fritten zu kaufen.«
Ich war richtig gerührt, als ich diese Geschichte einer leidenschaftlichen Hingabe hörte, in der sogar die Details eines Mittagessens des Geliebten vorkamen. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Viertel nach sechs. Die Schule war schon seit fast drei Stunden aus.
»Tut mir leid, aber da hat dich wohl jemand angeschmiert«, sprach ich es aus, für den Fall, daß der Groschen noch nicht gefallen war. »Irgendwie habe ich das Gefühl, daß Clive wohl nicht auftauchen wird.«
Sie sah mich kurz an, bevor sie sich wieder ihren Turnschuhen zuwandte. Offenkundig war der Liebeskummer größer als ihre Verlegenheit, sie blinzelte und versuchte verzweifelt die Tränen zurückzuhalten, und sie preßte die Lippen zusammen, um die Schluchzer zu unterdrücken, die ihr zu entrinnen drohten. Schließlich erlaubte sie sich den Luxus eines sorgsam kontrollierten Seufzers, erhob sich und nahm ihren Rucksack.
»Alles in Ordnung?« fragte ich, obwohl offenkundig nichts in Ordnung war.
»Ja, Sir.«
Ich schaute ihr bis zur Tür des Umkleideraums nach, und bis sie dort ankam, war ihr Kummer unüberhörbar geworden. Manch anderer Lehrer hätte wohl keinen Gedanken mehr an sie verschwendet, ich aber nicht. Ihr Bild ging mir noch eine Weile im Kopf herum, denn in den wenigen Augenblicken, die wir geteilt hatten, erkannte ich, daß Julie Whitcomb mir näher war als sonstjemand, dem ich je begegnet war. Sie war eine von uns – eine, die jede Niederlage, ob nun groß oder klein, als Ergebnis eines persönlichen Rachefeldzugs des Schicksals betrachtete. Clive O'Rourkes Name würde unvergessen bleiben, war ihr unauslöschlich ins Hirn gebrannt, so wie mir der Name meiner Exfreundin. Und irgendwann in der Zukunft, höchstwahrscheinlich bei der Abschlußprüfung ihrer Reise durch die Schulzeit, würde sie erkennen, daß ihr lebenslanges Schmachten nach den Clive O'Rourkes dieser Welt sie verbittert und verklemmt genug hatte werden lassen, um sich dem Lehrerberuf zu widmen.
Der Lärm eines kleinen Jungen, der ein Geräusch von sich gab, daß sich ungefähr anhörte wie »Wwwuuuhhhrrrooooaaaahhh!«, signalisierte mir, daß Kevin Rossiter von einer adrenalintreibenden Extremsportart zur nächsten gewechselt hatte und nun durch den hinteren Umkleideraum tobte, nackt, wenn man mal von der Unterhose auf dem Kopf absah. Ich konnte nicht mal im Ansatz einen Grund für dieses Kunststück erkennen, brachte aber auch nicht die Energie auf, ihn so kurz vorm Wochenende daran zu hindern. Also seufzte ich schwer, verschwand unbemerkt in dem winzigen Kabuff, das als Büro für die Sportlehrer diente, und zog die Tür hinter mir zu.
Ich wühlte in meiner Tasche herum und fand die Zigarettenschachtel, die vom Gewicht der Bücher meiner achten Klasse leicht zerdrückt war – ich hatte noch eine Kippe. Im Geiste ging ich die anderen durch, die schon den Weg alles Irdischen genommen hatten: fünf auf dem Weg zur Arbeit, zwei im Lehrerzimmer vor der Einschreibung, drei in der Frühstückspause, zehn in der Mittagspause. Schwer festzustellen, welcher Gedanke der deprimierendere von beiden war: die Tatsache, daß ich – der ich erst vor drei Jahren den Sprung vom mitverantwortlichen zum unverantwortlichen Raucher vollzogen hatte – es geschafft hatte, so viele Zigaretten zu qualmen, daß ein Elefant Lungenkrebs gekriegt hätte, oder die, daß ich es erst jetzt bemerkt hatte.
Als das Nikotin zu wirken begann, entspannte ich mich und beschloß, so lange in der kleinen, aber perfekten Zuflucht zu bleiben, bis das Gewürm verschwunden war. Nach einer halben Stunde ebbte das Gebrüll und Geschrei zu einem sanften Stimmengewirr ab und wich gnädiger Stille. Ich machte die Tür einen Spalt auf, versperrte dem Rauch den Weg und linste hinaus, um sicherzugehen, daß die Luft rein war. Sie war es nicht. Martin Acker war immer noch da. Hemd und Jacke hatte er bereits an, doch in die Hose zu steigen bereitete ihm sichtlich Probleme, vor allem, weil er schon die Schuhe anhatte.
»Acker!«
Völlig verwirrt sah sich Martin im ganzen Raum um, bevor er den Ursprung des Rufes orten konnte.
»Hast du kein Zuhause?« fragte ich ihn.
»Doch, Sir«, erwiderte er niedergeschlagen.
»Na, dann geh auch nach Hause, Junge!«
In Sekunden hatte er die Schuhe von sich geworfen, die Hose übergestreift und die Schuhe wieder angezogen. Dann griff er sich seine Sachen, schlurfte aus dem Umkleideraum und rief: »Ein schönes Wochenende, Sir«, als er durch die Tür verschwand.
Die Frau im Zeitungsladen unterwegs zur U-Bahn, eine einsame dicke Asiatin, war damit beschäftigt, drei Kunden gleichzeitig zu bedienen und zwei Jungen von der Wood-Green-Gesamtschule im Auge zu behalten, die um ein Penthouse herumstrichen, das jemand, der erheblich größer war als sie, netterweise in mittlerer Höhe liegengelassen hatte. Als ich an die Reihe kam, griff sie, ohne den Blick von den Jungs fortzunehmen, nach meinen Marlboro Lights und legte sie auf die Theke. An dieser Stelle der geschäftlichen Transaktion war ich mit meinem Latein am Ende; Twix-Papier, zerrissene Silberfolie von einer Rolle Polo und Flusen; mehr hatte ich anstelle von Kleingeld nicht zu bieten. Die Zeitungsfrau schnalzte hörbar verächtlich, stellte meine Kippen zurück ins Regal und gab dem Mann hinter mir hundert Gramm Bonbons, bevor ich auch nur die Gelegenheit hatte, mich zu entschuldigen. Ich wischte an den Jungs vorbei, die übers ganze Gesicht strahlten, während sie die Seiten des nun aufgeschlagenen Penthouse verschlangen, und verfluchte mich dafür, meine Mittagspause nicht sinnvoller damit verbracht zu haben, zum Geldautomaten in der High Street zu gehen; im Lehrerzimmer zu sitzen und bis zur Besinnungslosigkeit zu qualmen war mir wichtiger erschienen. Doch nun, ohne Kohle und ohne Kippen, wünschte ich mir von ganzem Herzen, ich würde mit größerer Inbrunst an die Selbstbeherrschung glauben.
Ich trat hinaus in den kalten klammen Nachmittag von Wood Green, der von einer defekten Straßenlaterne, die wie Discobeleuchtung flackerte, nur traurig erhellt wurde, als drei Frauen, die von rechts kamen, meine Aufmerksamkeit auf sich lenkten, als sie bei meinem Anblick wie angewurzelt stehenblieben. Eine von ihnen gab sogar einen kurzen Schreckensschrei von sich. Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu erkennen, warum die Frauen so entsetzt waren. Die Frauen waren keine Frauen – es waren Mädchen. Mädchen, denen ich englische Literatur beibrachte.
»Sonya Pritchart, Emma Anderson, Pulavi Khan: Kommt sofort hierher!« befahl ich.
Trotz allem, was ihnen ihre Körper rieten, also wahrscheinlich so was in der Art »Rennt um euer Leben!« oder »Ignoriert ihn einfach, das ist nur der Lehrer, der immer nach Pfefferminz riecht«, taten sie, wie ihnen geheißen, wenn auch in ihrem ureigensten Schneckentempo. Bis sie zu mir her geschlurft waren, hatten sie als sichtbaren Protest für die möglicherweise Schwerhörigen ihre traurigsten Gesichter aufgesetzt.
Pulavi setzte zur Verteidigung an. »Wir ham doch überhaupt nix gemacht, Sir.«
»Nein, Sir, wir ham überhaupt nix gemacht«, fügte Sonya hinzu, um ihrer Freundin den Rücken zu stärken.
Emma blieb stumm, wohl in der Hoffnung, ich würde nicht bemerken, daß sie verstohlen ihre Hände hinter dem Rücken versteckt hielt. »Dreh dich bitte um, Emma«, forderte ich sie streng auf.
Sie weigerte sich.
»Sir, Sie können uns nichts anhaben, Sir«, jammerte Sonya kläglich. »Außerhalb der Schule sind wir nicht in Ihrer Justiz.«
Ich bemerkte Sonyas Verwendung des Wortes »Justiz«. Normalerweise wäre ich beeindruckt gewesen, wenn irgendeiner meiner Schüler ein solches Wort benutzt hätte, aber »Justiz« war ein Wort, wie es wohl die Gestalten in Baywatch von sich gaben – und dort hatte sie es wohl auch aufgeschnappt. »Jurisprudenz« allerdings war ein Wort, das bei Fernsehschnüfflern, in der Schmierenpresse und bei Teenagern nicht vorkam, und dieses Wort hätte ihr meine tiefste Bewunderung eingebracht.
»Na gut«, sagte ich und spielte ihnen vor, wie ungeheuer gelangweilt ich war, »wenn ihr nicht anders wollt. Aber Montag möchte ich nicht in eurer Haut stecken.«
Mir fiel auf, daß ich mich eigentlich wie ein Arschloch benahm, schließlich hatten sie recht, die Schule war aus, und alles andere ging mich nichts an. Die einzige Erklärung, die ich hatte, war, daß meine Kippenlosigkeit mich in einen mürrischen alten Sack verwandelt hatte, dem es Spaß machte, Teenager zu nerven.
»Das ist ungerecht, Sir«, jammerte Pulavi ziemlich treffend.
»Willkommen in der Wirklichkeit«, tadelte ich sie und wiegte mich überheblich auf den Fersen. »Das Leben ist nun mal nicht gerecht – ist es nie gewesen und wird es auch nie sein.« Ich wandte mich Emma zu. »Also, zeigst du mir jetzt, was du zu verbergen hast, oder nicht?«
Zögernd streckte sie ihre Hände vor, und zwischen ihren Fingern steckten drei Zigaretten, deren Glut hell aufleuchtete.
Ich schnalzte laut, wobei ich das Musterschnalzen einsetzte, das meine Mutter schon seit fünfundzwanzig Jahren gegen mich verwendete. Die ganze Woche schon hatte ich mich bei dem sinnlosen Unterfangen, Kinder vom Amoklauf abzuhalten, dabei ertappt, wie ich Autoritäten imitierte: meine Mutter, Lehrer aus dem Fernsehen, Margaret Thatcher.
»Ihr wißt doch, daß ihr nicht rauchen sollt, nicht wahr?« schimpfte ich.
»Ja, Mr. Kelly«, erwiderten sie mürrisch, aber unisono.
»Und ihr wißt, daß man daran sterben kann, nicht wahr?«
»Ja, Mr. Kelly.«
»Also, dann macht die Zigaretten auf der Stelle aus, bitte.«
Emma ließ die ihre fallen – Silk Cut, wenn ich mich nicht irrte – und trat sie mit einer Drehbewegung des Schuhabsatzes aus.
»Diesmal werde ich es euch noch durchgehen lassen«, sagte ich und warf einen traurigen Blick auf Emmas Schuhe. »Aber wehe, ich erwische euch noch einmal.«
»Ja, Mr. Kelly.«
Ich hob meine Tasche auf und ging davon, und für einen Augenblick kam ich mir vor wie Rooster Cogburn John Wayne, der mutterseelenallein die übelste Bande von Desperados diesseits der Turnpike Lane zusammenstaucht. Aber nach zwei Schritten blieb ich stehen, drehte mich um und ergab mich.
»Ähm, Mädchen ...«, rief ich hinter ihnen her. »Ihr habt nicht zufällig ne Kippe für mich?«
Und schon ging meine ganze Hingabe an die Arbeit in Rauch auf. Ich hatte Disziplin, eine der Voraussetzungen für meinen Job, gegen das Verlangen nach einem Nikotinkick aufgewogen, und die Zigarette hatte gewonnen. Meine Schülerinnen verstanden mein Dilemma, sie rauchten ja selbst, aber erst schütteten sie sich aus vor Lachen. Pulavi wühlte in ihrer Kunstkrokotasche herum und hielt mir eine Schachtel Silk Cut hin.
»Du rauchst Silk Cut?« fragte ich blödsinnigerweise, als ich mir eine Zigarette nahm.
»Ja, seit ich zwölf bin«, erwiderte sie, das Gesicht halb in der Handtasche vergraben, während sie nach dem Feuerzeug kramte. »Und was rauchen Sie, Sir?«
»Woodbines wahrscheinlich«, witzelte Sonya.
»Marlboro Lights, um ehrlich zu sein«, erwiderte ich kurz angebunden.
»Ich hab mal 'ne Marlboro Light geraucht«, warf Emma ein. »Da kann man ja gleich Luft rauchen. Sie sollten richtige Zigaretten rauchen, Sir. Marlboro Lights sind doch nur was für Schwulis.«
Und wieder kriegten sie sich vor Lachen nicht ein. Ich bedankte mich bei ihnen und versuchte, mich ihrer zu entledigen, aber sie bestanden darauf, in meine Richtung zu gehen. Untergehakt schlenderten sie neben mir her. Ich kam mir vor wie ein Hundebesitzer, der seine drei Pudel Gassi führt.
»Wir gehen ins West End, Sir«, meinte Emma, die vor Energie schier barst.
»Ja, wir sind auf 'nem Swutsch«, fügte Pulavi hinzu und zeigte dabei ein derart dreckiges Grinsen, daß es Sid James beschämt hätte.
»Ja, wir gehn ins Hippodrome, Sir«, meinte Sonya. »Wolln Sie nich mitkommen?«
Über diese Frage, ob ich nicht ausgehen wollte, mußte ich nachdenken, nicht mit ihnen natürlich – das wäre völlig undenkbar gewesen –, sondern überhaupt. Ich kannte keine Seele in London, fürs Wochenende hatte ich auch nichts geplant, und so fragte ich mich immer noch, warum ich einigen der jüngeren Kollegen, die mich im Lehrerzimmer gefragt hatten, ob ich nach der Arbeit nicht auf ein Glas Zeit hätte, gesagt hatte, daß ich beschäftigt sei.
»Da kommt ihr doch gar nicht rein«, sagte ich und schüttelte weise das Haupt, zu ihrem Besseren, aber eigentlich, weil ich immer noch über dieses traurige Etwas von Wochenende grübelte, das da auf mich wartete.
»Sie machen Witze«, quietschte Sonya. »Wir gehn da jede Woche hin.«
»Finden Sie nich, wir sehn aus wie achtzehn?« fragte Emma.
Und da fiel mir zum ersten Mal während der ganzen Unterhaltung wieder ein, was mich im ersten Augenblick so beunruhigt hatte. Ich wußte, sie waren vierzehn, aber die Mädchen, die hinter mir herliefen, sahen erheblich mondäner aus, als ihr biologisches Alter erwarten ließ. Emma hatte ihre deutlich überentwickelten Brüste in ein BH-Top gezwängt, das kaum groß genug war, sie züchtig zu bedecken, dazu passend trug sie einen kurzen silbrigen Rock. Sonya trug ein limonengrünes, kurzes Samttop, dazu einen unglaublich kurzen, blauen Satinrock, der bei jeder Bewegung des Oberkörpers einen Zentimeter nach oben rutschte und mehr Oberschenkel freigab, als unbedingt notwendig gewesen wäre. Pulavi hatte sich für leopardengetupfte Hot pants und eine durchsichtige, orangefarbene Bluse entschieden, durch die ihr schwarzer Wonderbra für alle Welt sichtbar wurde. Ich war zutiefst gedemütigt.
Ich bedankte mich bei ihnen noch einmal für die Zigarette und erfand blitzschnell eine Freundin, die angeblich zu Hause auf mich wartete, ich müßte mich also beeilen. Das war genau jene Art von Situation, die das Schicksal so gern in mein Leben einbaute, um mir zu beweisen, daß es noch jede Menge Luft gab, die Dinge noch schlechter werden zu lassen, bevor es besser würde. Die Mädchen kicherten und pulverisierten meine Selbstachtung zu nichts.
Ich betrat die U-Bahn-Station Wood Green und suchte in der Gesäßtasche nach meinem Fahrausweis. Dort war er nicht. Auch nicht in einer der anderen Taschen. Ich versuchte, nicht in Panik zu geraten, und entwickelte Plan B:
1. Denk nicht zu lange darüber nach, was es kostet, den Fahrausweis zu ersetzen.
2. Kauf dir eine einfache Fahrkarte bis Archway.
3. Sorgen machen kannst du dir Montag früh um 7 Uhr.
Es dauerte eine kurze Weile, bis mir aufging, daß Plan B nicht funktionieren konnte, weil ich nur noch Süßigkeitenpapier und Fussel mein eigen nannte.
Als ich meine Karte in den Geldautomaten steckte und 1411 eintippte (meine Geheimzahl: Geburtstag und -monat meiner Exfreundin), fing es an zu regnen. Ich überprüfte meinen Kontostand: 770 Pfund im Minus. Die Maschine fragte mich, wieviel Geld ich wollte. Ich verlangte fünf Pfund und drückte mir die Daumen. Die Maschine gab eine Reihe von klickenden Geräuschen von sich, und einen Augenblick lang glaubte ich fest, sie würde die Polizei rufen, mich verhaften lassen und meine Karte fressen. Statt dessen gab sie mir das Geld und fragte mich recht freundlich, ob ich noch weitere Dienste in Anspruch nehmen wollte, ganz so, als sei ich ein hochgeschätzter Kunde.
Auf dem Weg zur U-Bahn kam ich am Burger King auf der Wood Green High Street vorbei. Von ihren Fensterplätzen aus winkten mir Emma, Sonya und Pulavi aufgeregt zu. Ich senkte den Blick zu Boden und tat so, als hätte ich sie nicht gesehen.
Am U-Bahnhof kaufte ich mir eine Fahrkarte nach Archway und steckte das Ticket zur Sicherheit in die oberste Tasche meiner Jacke. Dort stießen meine Finger auf etwas. Ich hatte meinen Fahrausweis gefunden.
Auf dem Bahnsteig in südlicher Richtung kam ich gerade noch rechtzeitig an, um die Rücklichter einer U-Bahn zu sehen, die eben den Bahnhof verlassen hatte. Ich sah auf die Bahnhofsuhr, um festzustellen, wie lange es wohl bis zum nächsten Zug dauerte. Zehn verfluchte Minuten. Als er schließlich kam, setzte ich mich in den letzten Wagen, legte meinen Fahrausweis und die Fahrkarte auf den Sitz neben mir, um ein Auge darauf zu haben, und schlief prompt ein.
Der Zug kam schlingernd in einer Station zum Halten, und mit einem Ruck schreckte ich aus einem unglaublich gymnastischen Traum von meiner Ex auf. Ich verfluchte das üble Timing des U-Bahn-Fahrers und sah gerade noch rechtzeitig auf, um festzustellen, daß es sich um die Station King's Cross handelte – meine Haltestelle. Ich schnappte meinen Rucksack und schaffte es gerade noch, durch den Spalt in der sich schließenden Tür hindurchzuschlüpfen.
Der zweite Teil meiner Fahrt, auf der Northern Line diesmal, war wie immer ungemütlich. Die Wagen waren derart mit Hamburgereinwickelpapier, Zeitungen und Chipstüten übersät, daß es mir vorkam, als würde ich in einer Müllhalde auf Rädern nach Hause fahren. Das einzig angenehme Ereignis war eine Gruppe von wunderhübschen Spanierinnen, die in Euston zustiegen. Den ganzen Weg bis Camden schnatterten sie laut in ihrer Muttersprache miteinander – wahrscheinlich darüber, warum die Northern Line so dreckig war –, dort stiegen sie dann aus. Was das nördliche Ende der Northern Line anging, so schien es ein Gesetz zu geben – die Schönen stiegen in Camden aus, die Interessanten in Kentish Town, Studenten und Musiker in Tufnell Park, und übrig blieben nur noch die Langweiligen, Häßlichen oder Verzweifelten, die in Archway ausstiegen oder, falls sie ihrem Glücksstern danken und es sich leisten konnten, dort zu wohnen, in High Barnet.
Auf halber Rolltreppe in Archway hinauf suchte ich in meiner oberen Jackentasche nach meinem Ticket und dem Fahrausweis. Sie waren nicht da. Meine wahnsinnig' teure Jahreskarte fuhr jetzt natürlich auf der Piccadilly Line und hielt an jeder Station bis Uxbridge. Niedergeschlagen preßte ich die Augenlider zusammen. Als ich sie Sekunden später wieder öffnete, war ich oben; glücklicherweise kontrollierte niemand an der Schranke die Fahrkarten. Ich seufzte erleichtert und dachte bei mir: Manchmal kann das Leben doch unerwartet freundlich sein.
Ich schloß die Haustür auf, und eine deprimierende Atmosphäre der Vertrautheit empfing mich. Seit fünf Tagen war ich hier zu Hause. Fünf Tage, und mir kam es vor wie zehn Jahre. Ich drückte auf den Lichtschalter im Flur und blätterte die Post auf dem Münztelefon durch. Als ich den Schlüssel in meine Wohnungstür steckte, ging das Licht aus.
Aahh! Man hat bei dir eingebrochen!«
Jedesmal, wenn sie mein Zimmer sah, drehte sich Aggi, meine Exfreundin, um und sagte das zu mir. Das war schon ein stehender Witz bei uns, und obwohl er schon leicht asthmatisch auf der Brust war, konnten wir uns darüber immer noch jedesmal kaputtlachen.
Aggi und ich haben uns vor genau drei Jahren getrennt, nicht daß ich die Tage gezählt hätte oder so was. Ich wußte es nur so genau, weil sie mir an meinem dreiundzwanzigsten Geburtstag den Laufpaß gegeben hatte. Und obwohl ich alles unternommen hatte, den Tag meiner Geburt und das Ereignis, wie sie mir den Laufpaß gegeben hatte, zu vergessen, blieb mir das Datum in einer Hirnzelle hängen, die sich zu sterben weigerte.
An jenem verhängnisvollen Tag wurde ich vom Klang der Stille geweckt. Simon and Garfunkel hatten den Nagel auf den Kopf getroffen: Sound of Silence. Stille hatte wirklich einen eigenen Klang. Wenn damals im Haus meiner Eltern irgend jemand zu Hause war und nicht gerade im Koma lag, schaute die Stille gar nicht erst bei uns vorbei. Die Bewohner des Hauses kümmerten sich bei ihren Aktivitäten nicht im geringsten um die Schlafenden; die Waschmaschine lief um sechs Uhr früh, Besteck klapperte, das Frühstücksfernsehen lief, »Ma, hast du meine Schuhe gesehen?«, Gebrüll, ab und zu Lachen. Inmitten dieses Lärmpegels, der dem eines angolanischen Wochenmarkts zur Hauptgeschäftszeit entsprach, lernte ich schnell, das Grundrauschen des Familienlebens der unteren Mittelklasse auszuschalten.
Wenn dann meine Eltern später zur Arbeit gegangen waren (er: Stadtverwaltung Nottingham, sie: Altenheim Meadow Hall) und mein kleiner Bruder Tom in der Schule war, konnte das Haus wieder in friedlicher Stille versinken. Mein Hirn, das nun nicht länger alles ausfilterte, was bedrohlicher klang als das gelegentliche aufgeregte Tschilpen eines Stars im Garten, weckte mich – Stille war mein Weckruf.
Auf meinem Federbett lag ein brauner Briefumschlag. Jedesmal, wenn ich Post bekam, legte mein Vater sie dort ab, bevor er zur Arbeit ging. Ich glaube, er hoffte darauf, daß die Freude darüber mich irgendwie zu Taten verleiten könnte. Aber das konnte sie nicht. Nichts konnte das. Damals bekam ich nicht allzu viel Post; ich war ein hoffnungsloser Briefeschreiber. Nicht, daß ich nie welche schrieb, das tat ich schon, ich schickte sie nur nie ab. Ständig lagen zig Bögen liniertes Papier in meinem Zimmer herum, auf denen in meiner Sauklaue »Meine liebe Soundso« gekritzelt stand. Da in meinem Leben allerdings nicht sonderlich viel passierte, hatte ich herzlich wenig zu sagen, kaum mehr als: »Wie geht es dir?«, und wenn ich angefangen hätte, auch noch die allerkleinsten Anekdoten meines mondänen Lebensstils aufzuschreiben (»Heute bin ich aufgestanden und habe mir Frosties zum Frühstück gemacht ...«), dann hätte mich das zutiefst deprimiert.
Noch bevor ich den Umschlag überhaupt geöffnet hatte, wußte ich schon, was drin war, denn es handelte sich bei dem betreffenden Tag um den »Maßgebenden Mittwoch«, den alle vierzehn Tage stattfindenden religiösen Feiertag, der meine Rettung brachte – den Scheck mit der Arbeitslosenunterstützung. Meine Eltern waren gelinde gesagt nicht gerade die glücklichsten Haseneltern, als ich, der erstgeborene Rammler, ins Nest zurückkroch und von der Stütze lebte. Vier Jahre zuvor hatten sie mich – mitsamt einem Koffer, der Stereoanlage, kistenweise Kassetten und einem Betty-Blue-Poster – zur Manchester University gefahren und von mir erwartet, daß ich mir eine erstklassige Bildung erwarb, ein paar Gramm gesunden Menschenverstand zulegte und eine Richtung im Leben fand. »Es ist uns egal, was du tust, solange du es so gut machst, wie du nur kannst«, hatten sie gesagt, doch verbargen sie keineswegs ihre ungeheure Enttäuschung, als ich ihnen mitteilte, daß ich vorhätte, Englisch und Filmstudien zu belegen. »Wozu das denn?« fragten die Hüter meiner Seele mit den zwei Körpern und dem einen Verstand. Meine Erklärung, die im Kern darauf hinauslief, daß ich gerne las und mir gerne Filme anschaute, beeindruckte sie nicht im mindesten.
Drei Jahre später beendete ich meine Reise auf dem Ausbildungsfließband und bekam sehr schnell eine realistische Einsicht in meine Position in der Welt im allgemeinen: Ich war in zwei Fächern, die außerhalb der Universität von geringem Nutzen waren, hoffnungslos überqualifiziert. Nachdem ich gerade mal eben so bestanden hatte und mich der Bildungsprozeß überhaupt langweilte, packte ich das Bündel »Weitere Fortbildung« in die Kiste »Kommt nicht in Frage«. Statt dessen widmete ich mich der Lektüre weiterer Bücher, schaute mir jede Menge Filme an und schrieb mich wieder ein. So machte ich etwa ein Jahr lang weiter, bis die Bank eine härtere Gangart einlegte, als ich für kurze Zeit in einer Wohngemeinschaft in Hulme wohnte. In einem Zangenangriff, der Rommel alle Ehre gemacht hätte, entzog mir der Bankdirektor den Überziehungskredit und preßte mir die Unterschrift unter die Erklärung ab, jede Woche zwanzig Pfund auf mein Konto einzuzahlen, um die roten Zahlen »auf ein etwas vernünftigeres Maß« herunterzubringen, wie er sich ausdrückte. Also kehrte ich wie eine Brieftaube in den elterlichen Schlag in Nottingham zurück und verkroch mich in meinem Zimmer, um über die Zukunft nachzudenken. Meine Eltern ließen alle möglichen Connections spielen, um mir bei meinem Start ins Berufsleben zu helfen, und meine Oma telefonierte in monotoner Regelmäßigkeit mit mir und berichtete mir von Jobs, die in der örtlichen Zeitung inseriert waren. Ich brauche nicht zu erwähnen, daß all ihre Mühen vergeblich waren. Ich war am Berufsleben nicht interessiert, ich hatte ein Dach überm Kopf, und ich sagte mir, solange ich die Liebe einer guten Frau erfuhr, würde mir das Armsein nichts ausmachen.
Meistens jedenfalls, denn manchmal brachte mich meine Verarmung bis an den Rand bitterer Verzweiflung. Glücklicherweise lernte ich meine Machtlosigkeit dadurch auszudrücken, daß ich möglichst so viele Punkte gegen DIE DA gutmachte, wie ich konnte, DIE DA in solchen Sätzen wie: Also, DIE DA oben ... Zu diesen kleineren Akten des Guerillakrieges gehörten unter anderem:
Beschaffung eines Studentenausweises unter Vorspiegelung falscher Tatsachen;
Verwendung obengenannten Ausweises zum Erwerb verbilligter Kinokarten;
Manipulieren abgelaufener Fahrkarten;
Antitschen von Obst im Supermarkt;
Autofahren, ohne Steuern oder Versicherung zu zahlen;
Austrinken von Biergläsern wildfremder Menschen in Nachtclubs.
Ich tat alles mögliche, was meine Phantasie in Schwung hielt und mir das Gefühl gab, ich würde auf meiner Seite der großen Kreidetafel des Lebens einen weiteren Strich machen.
Aggi war einfach herausragend, der wundervollste Mensch, den kennenzulernen ich in meinem Leben jemals das Vergnügen hatte. Als wir anfingen, miteinander zu gehen, brachte ich sie immer nach Hause, und während wir dastanden und uns küßten und auf ihrer Türschwelle zum Abschied noch einmal umarmten, konzentrierte ich mich am liebsten darauf, mit allen Sinnen diesen Augenblick einzufangen – ihren Geruch, den Geschmack ihres Kusses, das Gefühl, wie sich ihr Körper an den meinen drückte. Ich wollte ihn fotografieren und für immer behalten. Das klappte nur nie. Wenige Minuten später, wenn ich mit nassen Haaren und einem dumpfen Pochen in den Lenden wieder durch die regenfeuchten Straßen von West Bridgford lief, war er weg. Das Erlebnis selbst ließ sich nie wieder ins Gedächtnis rufen.
Wir hatten uns während der Sommerferien in einem Wohltätigkeitsladen kennengelernt. Aggi war damals achtzehn und hatte gerade ihr Abitur gemacht, und ich hatte gerade das erste Jahr an der Uni hinter mir. Sie arbeitete in einem Oxfam-Laden in West Bridgford, in den ich zweimal die Woche ging, weil dort ständig neuer toller Trödel angeboten wurde.
Ich hatte seit fünf vor halb zehn geduldig vor der Tür gestanden, doch da der Laden offiziell erst in fünf Minuten aufmachen sollte, vertrieb ich mir die Zeit damit, die Nase gegen die Glastür zu drücken und zum eigenen Vergnügen Grimassen zu schneiden. Aggi war vor allem ein Gesicht aufgefallen – meine Version von Rumpelstilzchen mit Dachschaden –, und sie hatte lachend zwei Minuten vor der Zeit aufgeschlossen. Abgesehen von einer alten Dame, die am anderen Ende des Ladens Kleidung sortierte und sich Desert Island Discs anhörte, waren wir allein im Geschäft. An jenem Tag trug Aggi ein kurzärmeliges grünes Kleid mit kleinen gelben Blumen drauf und himmelblaue Segeltuchbaseballschuhe. Der Gesamteindruck war ehrlich gesagt etwas abgeschrägt, aber irgendwie wirkte es an ihr ungeheuer toll. Ich stellte mich vor ein paar alte Barry-Manilow-Alben und tat so, als würde ich sie durchblättern, weil das Plattenregal, in dem sie standen, der ideale Standort war, dieses unglaublich schöne Mädchen heimlich zu beobachten.
Ich war mir sicher, daß sie merken müßte, wie mein Blick jeder ihrer Bewegungen folgte, also gab ich nach einer Weile auf, so zu tun, als interessierte ich mich für Barrys Greatest Hits, und glotzte sie schmachtend an. Ich lächelte, als ich mich der Kasse mit meinem einzigen Fund näherte, einem Elvis-Spiegel von der Sorte, wie man sie nur auf dem Rummel findet, wo man irgendwas Tolles mit Luftgewehr, Dartpfeilen oder Reifen machen muß, um einen zu kriegen. Dank Aggi hatte ich den Zwischenhandel ausschließen können. Elvis gehörte mir.
»Der King of Rock 'n' Roll.«
Das waren die ersten Worte, die sie je zu mir sagte. In jener Woche bin ich jeden Tag hingegangen, und im Laufe der folgenden Monate und weiterer Unterhaltungen lernten wir uns kennen.
ICH: Hi, wie heißt du denn?
SIE: Agnes Elizabeth Peters. Du kannst Aggi zu mir sagen.
ICH: Und warum arbeitest du hier?
SIE: Meine Ma arbeitet hier manchmal. Zu Hause ist mir langweilig, also helf ich mit, das ist mein Beitrag zur Entwicklung der Menschheit. (lacht) Außerdem macht sich das gut auf dem Lebenslauf.
ICH: Und was machst du sonst so?
SIE: Ich will auf die Salford University und Sozialwissenschaften studieren.
ICH: Wozu?
SIE: (schaut leicht verwirrt) Na, weil mir die Menschen wichtiger sind als Geld. Ich finde es falsch, daß es heutzutage Obdachlose gibt. Nenn mich altmodisch, aber ich bin Sozialistin.
ICH: Glaubst du an die platonische Liebe?
SIE: Nein. »Platonische Liebe ist die Zeit zwischen dem Kennenlernen und dem ersten Kuß.« Kein Applaus, ist nicht von mir.
ICH: Glaubst du wirklich, daß Elvis tot ist?
SIE: (lacht) Ja. Aber die Erinnerung an ihn lebt weiter in den Herzen der Jungen, Mutigen und Freien.
ICH: Was ist dein Lieblingsfilm?
SIE: Hört sich vielleicht ein wenig eingebildet an, aber ich finde, Film als Medium ist einfach nicht so ausdrucksstark wie der Roman. Nach dieser Vorbemerkung muß ich zugeben, daß ich ein ganz besonderes Faible für Audrey Hepburn in Frühstück bei Tiffany habe.
ICH: Was ist der verrückteste Gedanke, der dir je gekommen ist?
SIE: Wenn es eine unendliche Zahl von Paralleluniversen gibt, in denen all die Entscheidungen durchlebt werden, die ich hätte treffen können, wie wäre mein Leben dann verlaufen, wenn ich Asim Alis Heiratsantrag angenommen hätte, als wir sechs waren?
ICH: Wann hast du das letzte Mal geweint?
SIE: Wahrscheinlich mit sechs, nachdem ich Asim Ali abgewiesen habe. Ich weiß nicht mehr genau – ich hab's meistens nicht so mit emotionalem Getue.
ICH: Liebst du mich?
SIE: Ich liebe dich so sehr, daß mein Hirn es überhaupt nicht begreift, wenn ich darüber nachdenke, was ich von dir halte. Ganz genau so wie die Unendlichkeit. Ich begreife es nicht, aber das sind die Grenzen meiner Liebe.
Zwischen der ersten und der letzten Frage lagen etwa fünf Monate. Und zwischen »Glaubst du an die platonische Liebe?« und »Ist Elvis wirklich tot?«, der Eröffnungsfrage bei unserer ersten echten Verabredung in der hell erleuchteten, überfüllten, in keinster Weise romantischen Lounge des Royal Oak, kamen wir zusammen. Tief innen drin machte ich mir gern vor, ich hätte gewußt, daß es zwischen uns nichts würde. Nichts konnte so perfekt sein, es sei denn im Fernsehen. Ausschlaggebend für mich war unser erster Kuß, das Ereignis, das mich sicher machte. Alle meine Ängste und Unsicherheiten waren wie fortgewischt.
Nach unserer ersten Verabredung war ich völlig verwirrt gewesen, wo wir denn nun bei dieser ganzen Jungen-Mädchen-Geschichte eigentlich standen. Ja, wir hatten gelegentlich Händchen gehalten und ungeheuer viel herumgeflirtet, aber geküßt hatten wir uns nicht, jedenfalls nicht richtig. Am Ende des Abends hatte ich sie ganz leicht auf die linke Wange geküßt, so wie ich es bei meiner Großmutter machen würde, und war nach Hause gegangen, nachdem ich ihr das Versprechen abgenommen hatte, daß wir uns wiedersehen würden. Die ganze Woche bis zu unserer nächsten Verabredung verbrachte ich in dem Folterzustand der Ungewißheit. Was genau war vorgefallen? Wir waren zusammen ausgegangen, gut, aber war das nur für mich so eine Art Verabredung gewesen? Konnte es sein, daß es für sie nur ein netter Abend mit einem netten Kerl gewesen war? Hatte ich die letzten sieben Tage ununterbrochen von ihr geträumt, aber sie konnte sich kaum an meinen Namen erinnern? Ich wollte darauf eine Antwort. Ich brauchte dringend eine Antwort. Ich rief sie sogar einmal an, um sie zu fragen, aber dann war mir das Herz in die Hose gerutscht, und ich hatte wieder aufgelegt. Ich wußte nicht, wie ich sie fragen sollte, was ich wissen wollte, nämlich: Bin ich dein Freund? »Bin ich nun dein Freund?«, das ist so die Art von Frage, wie sie ein Neunjähriger einem anderen Neunjährigen stellt. In einer ausgefeilten Beziehung hatte diese Frage nichts zu suchen. Ich kannte die Regeln – ich hatte cool zu sein, relaxed, locker und lässig. Erst mal würden wir uns »sehen« (was bedeutete, daß sie auch noch andere Leute »sah«), dann würden wir uns vielleicht verabreden (was bedeutete, daß sie keine anderen Leute mehr sehen würde, obwohl sie vielleicht wollte), und schließlich wären wir Freund und Freundin (was bedeutete, daß sie niemand anderen sehen wollte, weil sie mit mir glücklich war).
Am Tag unserer zweiten Verabredung trafen wir uns wie abgemacht vor dem Selectadisc, einem Plattenladen. Der Plan drehte sich vor allem darum, den Nachmittag auf dem Platz vor dem Rathaus zu verbringen und die Tauben zu füttern (ihre Idee). Dazu kam es allerdings nicht. Das erste, was sie tat, als sie mich sah, war, ihre Arme fest um mich zu schlingen und mich so hingebungsvoll zu küssen, daß mir buchstäblich die Knie versagten. Eine solche Leidenschaft hatte ich noch nie verspürt. Und das Beste daran war: Sie sah mir direkt in die Augen und fragte mich, ob sie meine Freundin sei. »Ja«, sagte ich, »meine legendäre Freundin.«
Und auch das Ende von allem, was wir hatten, was wir waren und was ich für uns erhofft hatte, begann ebenfalls mit einem Kuß, den ich auch Jahre später noch zwei-, dreimal am Tag durchlebte. Ich war erst seit ein paar Wochen wieder in Nottingham gewesen; Aggi war den ganzen Sommer über nach ihrem Abschluß dort geblieben und kellnerte in einem Restaurant in der Stadt. Wir verabredeten uns vor dem Shoe Express im Broad-Marsh-Einkaufscenter. Aggi war vor mir da, und da hätten meine Alarmglocken schon schrillen müssen, denn sie war zwar meistens pünktlich, aber nie zu früh. Sie kam mit leeren Händen, aber auch das bemerkte ich erst viel später.
Wir verbrachten einen tollen – vielleicht etwas zu tollen – Nachmittag und feierten meinen Geburtstag, wanderten durch die Läden und taten so, als seien wir frisch verheiratet und polsterten unser Liebesnest aus. Die Unterhaltung und der Humor gaben mir ein Gefühl von Lebendigsein. Daß ich keinen Job, keine Zukunft und kein Geld hatte – egal, ich war im Einklang mit der Welt. Ich war glücklich.
Auf dem Heimweg saß ich neben Aggi im Fiat Uno ihrer Mutter. Wir durchquerten die Innenstadt. Zehn Minuten bevor wir bei ihrer Mutter sein sollten, bog sie in die Rilstone Road, eine Sackgasse in der Nähe des Crestfield Park, und hielt an. Sie schnappte ihren Sicherheitsgurt auf, drehte sich zu mir und gab mir einen Kuß. Ohne Zweifel – das war ein Abschiedskuß. Ein »Es-geht-nicht-mehr«-Kuß. Ja, ein »Mir-tut-das-mindestens-ebenso-weh-wie-dir«-Kuß.
Dies ist der letzte Kuß, das war das einzige, was mir durch den Kopf schoß.
Schon seit längerem habe sie den Eindruck, ich wolle mehr von ihr, als sie geben könne, sagte sie.
Ich bräuchte jemanden, der mir garantieren könne, immer dazusein, sagte sie.
Sie liebe mich, sagte sie, aber sie habe nicht das Gefühl, als sei das genug.
Sie sei einundzwanzig und ich dreiundzwanzig, sagte sie, und wir sollten beide unser Leben auskosten, statt dessen steckten wir in einer Klemme.
Schon seit längerem habe sie den Eindruck, als würde sich unsere Beziehung nirgendwohin entwickeln, sagte sie.
Ich sagte nichts.
Um siebzehn Uhr fünfzehn war ich ein vollkommen glücklicher junger Mann gewesen, der noch alles vor sich hatte. Um siebzehn Uhr siebenundzwanzig war mein Leben zu Ende. Es dauerte ganze zwölf Minuten, um drei Jahre der Liebe zu zerstören.
Ich stieg aus, knallte die Wagentür hinter mir zu, lief zum nächsten Geldautomaten, zog mir 50 Pfund und ging ins Royal Oak. Dort trank ich drei doppelte Jack Daniels, eine Malibu-Cola (aus reiner Neugier) und einen doppelten Gin Tonic (weil das der erste Drink war, den ich Aggi je spendiert hatte).
Dann nahm ich einfach so aus Laune ein Taxi in die Stadt und trank weiter, obwohl ich mich zweimal übergeben mußte. Gegen Mitternacht landete ich mit einer Gruppe von Leuten, die ich kaum kannte, in einem Club namens Toots. An das meiste von dem, was danach kam, erinnere ich mich nur verschwommen, aber ich weiß noch, daß ich mindestens drei Wildfremden ihr Bier klaute. Als ich ein paar Wochen später im Tesco Pfirsiche antitschte, stürzte sich eine fette Irin wütend auf mich, die mir dann den Rest erzählte. Sie behauptete, an jenem Abend in dem Club gewesen zu sein, und ich hätte mit bis zum Gürtel offener Hemdbrust zu Abbas Dancing Queen mit ihr getanzt. Ihr zufolge entdeckte sie mich eine halbe Stunde später in einem Klo auf der Damentoilette, wie ich mich neben der Schüssel zusammengerollt hatte und verzweifelt schluchzte. Meine gute Samariterin, die sich Sorgen machte, ihre vorherige Weigerung, mich zu küssen, hätte diese Wirkung gehabt, setzte mich in ein Taxi, allerdings erst, nachdem ich ihr die Bluse vollgekotzt und ihr gebeichtet hätte, daß ich sie liebe.
Heute morgen mit Richard und Judy, Myoxil