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„Dies ist, glaube ich, die fundamentalste Regel allen Seins: Das Leben ist gar nicht so, es ist ganz anders!“

Kurt Tucholsky

„Wir glauben Erfahrungen zu machen,
aber die Erfahrungen machen uns.“

Eugène Ionesco

Alles auf Anfang

Hier im Hotel Böll, habe ich ein Zimmer gebucht, im Essener Norden, an meinem alten Schulweg. Eine billige Absteige. Hier soll ich mein neues Leben beginnen. Lächerlich.

Die Straßen sind regennass. Der Wind treibt Müll vor sich her. Die Häuserflucht, ein Schwarz-Weiß-Foto mit roter Ampel.

Zerzauste Erinnerungsfetzen, fossile Gefühle von Kindheit. Wusste nicht, wohin. Also nach Hause. Ist es nicht mehr. Zu lang war das andere Leben:

Frankfurt, da wo die Bücher wohnen, in den Kulturpalästen der großen Verlage. Buchkritiken und Lektoratsarbeit, Lesungen und Interviews, mitten im Leben eben. Dann Francoise, die Lebensliebe, zeigte mir, wie Leben geht, und Lust. Wir: Kopf und Zahl der gleichen Münze. Zwei Schuhe machen ein Paar. Dann kam Hannah, unsre kleine Fee. Glück pur.

An der Rezeption checke ich ein, nehme Schlüssel und Rollkoffer, sollte aufs Zimmer, ein wenig schlafen, kann aber nicht. Wenn ich da jetzt hochgehe … nein. Lasse meinen Koffer an der Rezeption, gebe den Schlüssel zurück und eile hinaus.

Später Nachmittag, Anfang November. Schieferwolken hängen tief. Der Wind will mir an den Hut, drücke ihn fest. Hände tief in den Manteltaschen gehe ich zügig die Hauptstraße lang. Biege in die Erste rechts in die Albstraße ein. Die Straße meiner Kindheit. Drei Kopftuchfrauen in schwarzen, langen Mänteln hasten vorbei, mit weißen Plastiktüten beladen. Kinder an Rockzipfeln. Der Regen setzt wieder ein. Ich stehe vor dem Haus Nummer 3, meinem alten Zuhause. Plötzlich rieche ich das Gusseisen der Werkzeugfabrik, die es nicht mehr gibt. Jäh fliegt mich das Gefühl von Kindheitsglück an. Ich schaue nach oben zum zweiten Stock rechts, unsere Wohnung. Links hat Tante Mia gewohnt. Hat mir erste Stücke auf dem Klavier beigebracht: „Der fröhliche Landmann“. Mein Gesicht ist nass von Regentränen. Spüre Scham.

Wenn ich es damals, in Frankfurt, wenigstens so stark gespürt hätte, dieses kolossale Glück. Aber es strahlt erst hell, wenn man im Dunkeln steht. Diese Unbeschwertheit, das leichte Leben, lange Abende mit Freunden bei Rotwein und Lammkeule, Kaffee-Orgien mit Kollegen im Büro, bei Erfolgen gab’s Prosecco. Und immer Hannah und Francoise, rund um die Uhr. Alles verschmolz zu einem großen Klumpen Gold.

Den Hut tief ins Gesicht gezogen, gehe ich zurück zur Hauptstraße. Weiß nicht, wohin. Halte ein Taxi an.

„Zur Rüttenscheider Straße“, sage ich.

„Ein bisschen früh für die Rü“, sagt der Fahrer und lacht. Lache auch, kurz und schmerzlos, will ihm nicht die Laune nehmen. Es reicht, wenn für mich die Welt untergeht. Die Rü, Kneipenmeile in Essen. Erkenne sie kaum wieder. Coole Lounge-Bars, hippe Restaurants. Glitzerwelt auch bei Regen. Ich gehe ins „Lorenz“, setze mich an die Theke, bestelle ein Bier.

Bis dann im schönsten Frankfurter Sommer das Licht ausging. Seelenfinsternis: Eine kleine Fee gegen ein großes Auto. Das war einfach nicht fair. Die Willkür saß am Steuer. Ihr war es egal, dass ein kleines Kind nicht mehr lachen, ein junges Mädchen nicht mehr heranwachsen durfte, zur Frau, die jemanden fände für die Liebe. Eine verbeulte Motorhaube gegen ein Bündel Kleidung mit was drin, was komplett zerbrochen war.

Nach dem zweiten Bier hänge ich Mantel und Hut an die Garderobe. Bestelle mir zum nächsten Bier einen Calvados. Er durchflutet mich mit einer Erinnerung an Sommerabende. Mit dem nächsten Bier merke ich, wie mir der Alkohol in den Kopf steigt und mich entspannt. Draußen faucht der Wind den Regen an. Menschen suchen rettenden Halt an Thekengeländern.

Francoise und ich legten unsere Herzen mit in den kleinen weißen Sarg. Herzlos, wie wir dann waren, trennten wir uns. Jeder trauert anders. Schmerz verbindet nicht. Geteiltes Leid ist halbes Leid, eine Lüge. Nach dem Desaster hatte ich wieder angefangen zu rauchen. Auch egal, alles egal.

Ich gehe vor die Tür und stecke mir eine an. Klopfe an die Scheibe und lass mir ein Bier bringen. Eine Frau steht neben der Tür, raucht auch. Will reden:

„So ’n Bierchen mit Kippe kommt gut, nee?!“

„Jau“

„Scheiß Wetter, was?“

„Mh.“

„Versteh’ schon.“

Sie geht hinein.

Die große Stadt am Main, ihr Rhythmus war mein Puls, ihre Energie lud meine Batterie. Sie, die mir die Chancen zu Füßen legte, mich nährte mit Arbeit, Geld und Ruhm, die mich Fremden aufgenommen und mir Freunde geschenkt hatte, diese großartige Stadt wollte mich nicht mehr. Sie spuckte mich aus wie einen alten Kaugummi. Und das nur, weil ich mein Lächeln verloren hatte. Mein Lächeln war die Währung für sie, mein Lächeln, mit dem ich mich dankbar zeigte für alles. Es ist mir aus dem Gesicht gefallen, direkt in die Grube.

Die Kneipe wird immer voller, immer lauter. Stimmen, Lachen, Gesichter und Körper, junge, schöne Männer und noch viel schönere Frauen, die lächeln und flirten und küssen und trinken und, und, und … Nichts macht einsamer, als allein in einer vollen Kneipe zu sein. Ich zahle und gehe. Es ist kalt, aber es regnet nicht mehr.

Die Kollegen mieden mich aus Unsicherheit. Ich mied sie aus Wut auf ihre heile Welt. Am liebsten hätte ich draufgehauen. Ich weiß, das ist nicht fair. War das große Auto fair? Wenn man in einem Verlag nicht mehr redet, ist man tot. Mein Chef fühlte mit mir, ich nicht mit ihm. Es ging nicht. Also ging ich. Hatte dann viel Zeit. Time for passion. Wieso bedeutet dieses Wort Leidenschaft und Qual zugleich?

Ziellos schlendere ich durch die Straßen meiner fremden Heimatstadt. Die Lichter der Cafés, Kneipen und Galerien kämpfen mit grellen Farben gegen das grantige Grau der Fahrbahnen und Fassaden. Der tief depressive Himmel fällt auf den nassen Asphalt. Ich suche nach Gefühlsankern und Wiedererkennen.

Trieb mich rum im Frankfurter Bahnhofsviertel, versuchte es mit Tränen. Einer, der auszog, um das Weinen zu lernen. Ein Märchen. Nach zehn Bier und sechs Korn gings manchmal. Dann war ich stolz. Ich stank nach Bier und Trauer. So hörte die Stadt auf mich zu lieben und machte mich zum einsamsten Menschen des Planeten. Mir waren die Mitleidsumarmungen der Frauen unangenehm. Mir erschien ausgesprochenes Mitgefühl als Lüge, als Obszönität. Der Einzige, den ich ertragen konnte, war mein Bruder. Der wohnte in Essen. Immer schon. Ein Fels in der Brandung. Ich fuhr zu ihm. Wir tranken Bier und erzählten uns Geschichten von früher. Manchmal weinte ich. Dann ging er in die Küche, holte den Ouzo aus dem Eisfach und schenkte ein.

Hier werde ich vielleicht eine neue Arbeit finden, als Verlagsassistent. Kann nichts anderes. Ich lache kalt auf.

„Montag: Vorstellungsgespräch! Reiß dich zusammen!“, rufe ich mir zu. Vor einer Eckkneipe stehen einige Taxen. Ich steige in eine und nenne dem Fahrer die Adresse meines Bruders.

Wir sitzen zusammen und erzählen uns Geschichten von früher und Neues von heute. Zwischendurch geht er nach Nebenan, um das Gästebett zu beziehen. Das Bier ist kühl, der Ouzo wärmt. Den Koffer kann ich ja morgen noch holen.

An Brüdern wie Felsen in der Brandung zerschellt man nicht. Sie retten einen vor dem Ertrinken. Bestenfalls.

Ayan erfindet sich neu

Es war Montagmorgen viertel vor acht, als Heinz Scholz im Lehrerzimmer auf den Vertretungsplan sah. Er las:

Scho - 1. + 2. Std - Ku - SEFÖG - Raum - K004

Für nicht Eingeweihte hieß die Übersetzung: Herr Scholz sollte in der Seiteneinsteiger-Fördergruppe, also in der Flüchtlingsklasse, zwei Stunden Kunst im Kellerraum 4 vertreten. Und zwar jetzt, gleich, sofort.

Heinz war zweiundsechzig, wollte keine Karriere mehr machen, nicht mehr die Schullandschaft oder gar die Welt verändern. Er wartete auf seine Pension und auf die Reisen mit seiner Frau und dem alten Wohnwagen. Ja, so war er. Früher hatte er sich engagiert, jahrelang, Jahrzehnte, gefühlte Jahrhunderte. Nichts war passiert, alles war erstickt im Sumpf der Bürokratie.

Meine Güte, auch das noch, was mach ich denn da mit den Flüchtlingen? Da spricht doch kaum einer Deutsch. Haben die denn Material? Ich war da noch nie. Die sollen ziemlich schwierig sein, dachte er.

Heinz ging in den Materialraum Kunst, klemmte sich ein paar verwaiste Zeichenblöcke und eine Kiste mit Wachsmalstiften unter den Arm und stieg hinab in den Keller. Die Tür zum Raum 004 war geschlossen und kein Ton zu hören.

Vielleicht hat ihnen ja die zuständige Kollegin gestern schon gesagt, dass die ersten beiden Stunden ausfallen, hoffte Heinz.

Er drückte die Klinke herunter, die Tür öffnete sich. Gleich sprang ihm ein Mädchen zu Hilfe und nahm ihm die Blöcke und die Kiste ab. Er betrat den Raum und schaute in die Gesichter von sechszehn Kindern und Jugendlichen, irgendwo zwischen 10 und 18 Jahren. Sie sahen ihn an, ängstlich, verunsichert, belustigt, forsch, gelangweilt, neugierig, mit einem Lächeln um den Mund oder mit Sorgenfalten auf der Stirn, mit ernstem Gesicht oder unbedarfter Heiterkeit. Aber niemand sprach, alle standen hinter ihren Stühlen und warteten.

„Guten Morgen zusammen!“, sagte Heinz. Sie antworten im Chor: „Guten Morgen Herr …“ Verlegene Blicke.

„Ach so, ja, ich bin Herr Scholz. Wir haben jetzt zwei Stunden Kunst zusammen“, sagte Heinz und lächelte sie an. Sie setzten sich und grinsten zurück.

Das hilfsbereite Mädchen von vorhin, das Lava hieß, erklärte ihm etwas altklug in gebrochenem Deutsch, dass einige von ihnen schon seit über einem Jahr hier seien, andere erst seit ein paar Monaten und Ayan erst seit letzter Woche. Und sie zeigte auf einen schwarzen Jungen von etwa 15 oder 16 Jahren, der schüchtern auf seine Hände blickte, als er seinen Namen hörte. Die meisten verständen schon viel Deutsch, wenn nicht, dann aber Englisch. Nur Vasili nicht, aber Boris übersetze ihm alles. Das funktioniere alles sehr gut, erklärte Lava. „Frau Drilling immer sagt: Alles gut, alles gut!“, endete sie mit einem Lachen.

Heinz verteilte Blätter und Stifte, seine Angst verflog. Es sind nur Kinder. Kinder sind eben Kinder, überall, Gott sei Dank. Er erklärte auf Deutsch und auf Englisch, dass sie ein Bild malen sollten zum Thema Frühling. Natürlich war das seltsam, es war Mitte Januar, tiefster Winter, draußen lag Schneematsch. Aber er konnte sie doch nicht auffordern, den kargsten, traurigsten und schäbigsten Monat des Jahres zu malen. Das ging doch nicht.

Er fragte, was denn alles zum Frühling gehöre und sie antworteten: „flowers, grass, trees, Sonne, Haus, Wiese, Regenbogen, Vögel, Kinder, Eltern, Mam and Dad, brother, Schwester, alles grün, schöner Regen, Datteln, Feigen, sweet, all is sweet …“

Und sie malten drauflos, die Kleineren eifrig, die Älteren gelassen. Dabei erzählten sie, woher sie kamen, fragten Heinz, ob er verheiratet sei, ob er Kinder habe, waren erstaunt, dass er nur ein Kind hatte, schauten daraufhin mitleidig, fragten, wie man einen Hasen malt, einen Esel oder ein Kamel. Alle waren beschäftigt und gut bei der Sache, nur einer nicht: Ayan.

Heinz bemerkte es und setzte sich zu ihm.

„Du bist Ayan, ja?“, fragte Heinz ihn auf Englisch.

Ayan nickte.

„Woher kommst du, was ist dein Land?“

„Er kommt aus Somalia, Frau Drilling hat gesagt“, krähte Lava dazwischen.

„Sei mal still, Lava, Ayan soll selbst erzählen“, erwiderte Heinz.

„Englisch er versteht, aber nix sagen, nie!“

„Ayan, wie alt bist du?“, versuchte es Heinz weiter.

Der Junge sah Heinz nicht an und rutschte auf seinem Stuhl etwas nach hinten. Heinz lächelte ihn an, nahm einen Malstift und hielt ihm den vors Gesicht. Ayan drehte zitternd den Kopf zur Seite.

„Hier, nimm den Stift und male, was du willst. Oder auch nicht. Du musst nicht“, sagte Heinz auf Englisch und strich ihm beim Aufstehen mit der Hand über die Schulter.

„No!“, schrie Ayan, sprang auf, „don’t touch me! No!“, drückte sich mit aufgerissenen Augen an die Wand. Der Stuhl war mit einem lauten Knall umgestürzt. Dann war es still, ganz still.

Heinz war zwei Schritte zurückgewichen. Die Handflächen nach unten gerichtet, signalisierte er Ruhe, Rückzug, sagte dann: „Okay, okay, ich lass’ dich in Ruhe, ich fasse dich nicht an.“

Man hörte das Ticken der Heizung, leises Scharren von Ayans Schuhen, das zurückgenommene Atmen der Kinder. Wie in Zeitlupe begann Ayan sich zu bewegen. Er ging wieder zum Tisch, stellte den Stuhl auf, setzte sich hin, hielt immer den Blick auf Heinz gerichtet, zog aber das leere Blatt zu sich, nahm einen Stift und begann zu malen.

Alle atmeten auf. Es kam wieder Leben in die Gruppe. Sie malten weiter, sprachen und lachten miteinander. Aber anders als vorher, verhaltener, geduckter. Heinz ging von Tisch zu Tisch, sah sich die Zeichnungen an, gab Ratschläge, half bei Motiven und Details, redete mit ihnen, fragte sie nach ihren Interessen, ihrem Alltag. Und zwischendurch schaute er immer mal wieder hinüber zu Ayan, wie er dasaß und malte. Manchmal konzentriert und akribisch, dann wieder wild kritzelnd und krakelnd. Der schlaksige Junge mit der dunklen Haut ließ Heinz nicht aus den Augen, innerlich auf dem Sprung, bereit zur Flucht.

So ging es die ganze Doppelstunde lang, fast neunzig Minuten. Als er am Ende der Stunde seine Kreidekästen wieder einsammelte und die Schüler in die Pause schickte, kam Heinz an Ayans Tisch. Der faltete schnell sein Blatt in der Mitte, schob es Heinz über den Tisch mit den Worten: „Here, that’s my spring. (Das ist mein Frühling)!“, und rannte hinaus.

Heinz faltete das Blatt auseinander und schaute auf das Bild: Drei große, schwarze, stehende Figuren, eckig gezeichnet, mit spitzen Gegenständen, vielleicht Knüppeln, Speeren oder Gewehren, waren zu erkennen. Vor diesen brachialen Gestalten lag eine Vielzahl kleiner, brauner Figuren. Darüber waren in wildem Krickelkrakel, rote, zackige Linien gemalt.

Hermann setzte sich an den Tisch, sah auf das Bild, stützte seinen Kopf in seine Hände und wusste nicht weiter.

Am nächsten Tag sprach Heinz seine Kollegin Drilling, die die Flüchtlingsgruppe intensiv betreute, auf Ayan an und erzählte, was passiert war. Heide, so hieß sie mit Vornamen, war entsetzt. Dass die Schul-Orga ihn einfach so kurzfristig in die Gruppe geschickt habe, ohne Infos und ohne Vorwarnung, sei eine Dreistigkeit, eine Katastrophe. Ayan dürfe man auf keinen Fall malen lassen. Er sei erst sechs Wochen in Deutschland. Nach der Ermordung seiner gesamten Familie von Terrormilizen und einer Flucht, bei der er nur knapp dem Tod entkommen sei, sei er jetzt völlig traumatisiert. Psychologen kümmerten sich, es sei aber schwierig. Damit er noch etwas Anderes sieht als nur seine innere Apokalypse, sei er hier in der Schule. Er müsse nichts lernen, erst mal nur überleben. Das sei alles so schrecklich. Er sei ja nicht der Einzige, da gebe es ja noch so viele Schrecklichkeiten, die man gar nicht aufarbeiten oder irgendwie therapieren könne, sie wisse auch nicht weiter … und was sie tun könne … ob das was bringt … sie wisse auch nicht … gebe aber alles.

Heinz meldete sich krank, ging nach Hause und blieb die nächsten drei Tage auch dort. Er verkroch sich in seinem Arbeitszimmer, recherchierte im Internet über Somalia, Terrormilizen, Hungersnöte, Kindersoldaten und Piraterie. Und wenn es allzu arg wurde, trank er Wein und weinte. Abends besprach er all das mit seiner Frau. Er verband die Fakten aus den Internetartikeln miteinander und verstand langsam die politischen Zusammenhänge in Somalia und die Lebenssituation der Bevölkerung. Und gleichzeitig verstand er nichts. Nicht die Grausamkeiten, die Folterungen, die Vergewaltigungen, die Kindersoldaten, die Morde, die Metzelei.

Heinz sah sein Leben, seinen Alltag, seinen Unterricht, seinen Feierabend, seine Freizeit, seine Gespräche, Spaziergänge, seine Kino- und Restaurantbesuche, das gemeinsame Kochen und Essen mit seiner Frau und seinen Freunden, sein Leben aus einer völlig anderen Perspektive. Er lebte im Paradies und fühlte sich schuldig.

In den nächsten Wochen und Monaten hatte Heinz keinen Unterricht mehr in dieser Klasse, fragte aber immer mal wieder seine Kollegin Heide, wie es dem Ayan so gehe.

Er mache Fortschritte, werde sicherer, fröhlicher und selbstbewusster, meinte Heide. Das beruhigte ihn.

Zwischendurch in den großen Pausen sah er Ayan häufiger mit Jonas zusammen, einem Schüler, den er aus seinem Deutschkurs in der Oberstufe kannte. Das beruhigte ihn noch mehr.

Die Sommerferien waren vorbei, das neue Schuljahr begann. Heinz richtete für seinen neuen Theaterkurs die Aula her. Requisiten, Ton und Licht, Kostüme und was man sonst noch so braucht. Die sechste Stunde war vorbei, die einstündige Mittagspause für Lehrer und Schüler begann, als Jonas seinen Kopf durch die Tür steckte und fragte:

„Herr Scholz, dürfen wir in der Pause hier Musik machen? Der Musik-Reimann hat uns das erlaubt. Wenn wir die Aula verlassen, sagen wir auch einem Lehrer Bescheid, damit er hier abschließt. Ist das Okay?“

„Ja, na klar. Ich kenn’ dich doch, du machst doch keinen Blödsinn hier drin. Aber was meinst du mit ,wir‘?“, frage Heinz zurück.

„Na, Ayan und ich, wissen Sie das nicht?“

„Was?“

„Wir machen schon seit Urzeiten zusammen Musik!“

„Nein, das wusste ich nicht, aber das ist ja toll“, antwortete Heinz und spürte, wie er sich schämte für dieses peinliche und steife Lehrerlob. Er zog sich in den Raum hinter der Bühne zurück, um seine Requisiten zu sortieren.

Jonas spielte auf dem Flügel in der Aula ein paar gebrochene Jazzakkorde als Intro, bis jemand dazu zu singen begann: „If it’s magic …“ Heinz erkannte es sofort: Stevie Wonder!

Er öffnete die Tür zur Aula ein wenig mehr, um besser hören zu können. Wer da sang, war großartig, wie er sang, war so soulig, mit einer Stimme, die samtig und doch kraftvoll klang, mit einer lässigen Sicherheit immer die richtigen Töne traf und mit ihnen spielte, als habe er nie etwas anderes getan. Heinz war so überwältigt, dass er gar nicht wusste, wohin mit seiner Freude.

Als das Lied zu Ende war, trat er aus dem Requisitenraum auf die Bühne und sah die beiden, Jonas und Ayan. Ganz langsam ging er auf sie zu, quer durch den großen Saal der Aula.

Jonas legte jetzt ein paar regelmäßige Akkorde auf eins und drei vor, bis Ayan taktversetzt einstieg, nicht als wolle er singen, eher als erzähle er eine Geschichte:

„I see trees of green, red roses too,

I see them bloom for me and you,

and I think to myself …“

Heinz schaute Ayan mit großen Augen an. Er hatte das Gefühl, als singe sich Ayan all seinen Schmerz von der Seele, als singe er sich hinein in ein neues Leben, als erfinde Ayan sich neu in einer anderen, besseren Welt.

Ayan, der nie sprach, der dieses Bild gemalt, der diese Hölle erfahren hat, dieser Ayan sang den alten Louis-Armstrong-Song „What a wonderful world“. Und Heinz glaubte es ihm.

Nach dem Dessert

Es ging um ihn. Er war gestern fünfzig Jahre alt geworden. Jetzt wurde gefeiert. Es ging nicht anders. Herrmann Bomburg, Staatsanwalt, stand ungern im Mittelpunkt. Vor Gericht ja, aber nicht für Lobesreden.

Ein Geburtstag ist weder Verdienst noch Leistung, dachte er.

Etwa vierzig elegant gekleidete Menschen bildeten einen Halbkreis um den Redner. Herrmann stand am rechten Rand und ließ die Ode seines Ältesten über sich ergehen. Nicht ohne Stolz und einem Anflug von Peinlichkeit. Der Salon seiner Villa war festlich hergerichtet. Alle waren bewaffnet mit Sektflöten und Feierlächeln. So viele schöne Menschen.

Ihm gegenüber sah er sie. Grazil und geschmeidig zugleich, die Schönste von allen. Immer wieder flog sein Blick zu ihr hinüber. Er konnte es nicht lassen. Sie lächelte leise.

„… und ich bin stolz darauf, in deine Fußstapfen getreten zu sein. Nein, du hast mich nicht gezwungen, nicht genötigt gar, nur geführt in meinen wilden, hormongeschüttelten Zeiten als Gymnasiast, weder mit harter Hand noch mit Handschellen … (Vereinzeltes amüsiertes Kichern) …, sondern mit Verständnis und Beharrlichkeit hast du mich an meine Pflicht erinnert, ein nicht nur gutes, sondern das beste Abitur zu schaffen und mich auf mein Studium der Jurisprudenz zu konzentrieren.“

Ja, dich habe ich immer im Griff gehabt, Lutz. Nur ein folgsamer Sohn ist ein guter Sohn. Wenn du auch weiterhin auf mich hörst, wird es dir gut gehen. Fleißig bist du ja, aber dir fehlt die Fantasie. Rebecca ist da ganz anders, dachte er.

„Wie oft habe ich mir bei dir Rat geholt in schwierigen Fragen und wie oft hast du mich motiviert, nicht auf-, sondern alles zu geben. Getreu deinem Motto: Nicht das Vergnügen sei des Menschen Pflicht, sondern die Pflicht sei des Menschen Vergnügen.“

Herrmann musste grinsen: Wunderschön formuliert. Reden kannst du. Das muss ich dir lassen.

„Dadurch habe ich zwar eine Reihe von Besäufnissen mit meinen Kommilitonen verpasst … (wieder leichte Heiterkeit in der Runde) … aber wenn das meinem Ruf geschadet hat, dann nur bei den Zechern unter meinen Weggefährten. So konnte ich mit deiner moralischen und gleichwohl fachkompetenten Unterstützung schon in diesem Frühjahr mein erstes Staatsexamen summa cum laude feiern.“

Diese Selbstlobhudelei! Lutz, du bist so peinlich! Rebecca lächelte nicht mehr. Sie stieg ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

Herrmanns Blicke waren wieder bei ihr. Was hatte sie nur verärgert? Er lächelte sie an, schlug die Augen nach oben und hob leicht die Schultern. Da zeigte sie Grübchen und blitzte keck herüber. Sie verstanden sich wortlos.

Ein langes, silbernes Kleid mit einem hohen seitlichen Schnitz floss um ihre schlanke Gestalt. Das dunkle Haar war hochgesteckt, die Lippen signalrot.

Rebecca, seine kleine Prinzessin, achtzehn Jahre jung, seit gestern, am gleichen Tag geboren wie er. Das Collier hatte sie von ihm bekommen. Lutz, Bemerkung, so etwas schenke man doch eher seiner Frau und nicht der Tochter, hatte ihn getroffen.

„Und dieses Fest war, wie du weißt, im wahrsten Sinne des Wortes nicht von schlechten Eltern. Doch obwohl du in deiner so eigenen Bescheidenheit deinen runden Geburtstag lieber im Schoße deiner Familie feiern wolltest, hat Mamá die Organisation in ihre preußischen Hände genommen und diese „Festkutsche“ zu einem gesellschaftlichen Ereignis gelenkt, bei dem die Garde deiner beruflichen Weggefährten nicht fehlen durfte.“

Wie schön du bist. Seine Gedanken schweiften ab in die Zeit, als sie noch klein war. Das war die Phase, in der er an seiner Karriere arbeitete und selten zu Hause war. Doch wenn, dann spielte und tollte er mit ihr herum. Wenn er mit ihr Karussell spielte, juchzte sie vor Glück. Das war auch sein Glück. Er hatte sie schon immer gerne in den Armen gehalten, angefasst und sie war bei jeder Gelegenheit auf seinen Schoß geklettert. Das hatte sich auch in der Pubertät kaum geändert. Mit Bewunderung und heimlichem Schmerz hatte er das Knospen ihrer Brüste wahrgenommen, das Runden ihrer Hüften. Doch sie waren sich immer noch sehr nah gewesen, auch heute noch.

Auch heute noch? Kleine Schweißperlen einer unbestimmten Angst krochen leise auf seine Stirn.

„Und wir, die Familie, sind froh darum, dass sie alle gekommen sind, deine langjährigen Kolleginnen und Kollegen, die Mitstreiter für Recht und Ordnung und gegen das Verbrechen. Sie hätten sonst auch kein privates Wort mehr an dich gerichtet, im Gericht.“

Das fröhliche Lachen der Gäste auf die gelungene Pointe nahm Herrmann nicht mehr wahr. Er hatte immer häufiger ihre unschuldige Nähe gesucht. Sie hatte nie Angst vor ihm empfunden, warum auch? Doch er hatte Angst vor sich selbst, denn er wusste um die Erregung, die sie auslöste. Manchmal war er nachts in ihr Schlafzimmer gegangen, nur um sie anzusehen, gelegentlich ihr Haar zu berühren, um dann schnell wieder hinauszuschleichen, gepeinigt von schlechtem Gewissen und noch schlechteren Wunschträumen. Völlig verstört hatte er dann nach solchen Besuchen stundenlang in seinem Arbeitszimmer gesessen und sich selbst nicht mehr verstanden, nicht mehr vertraut.

„Meine bescheidene Ode an dich, Papá, soll auch bald ein Ende finden, aber nicht ohne dein besonderes Engagement zu erwähnen, dass du in deiner Karriere als Staatsanwalt in deiner dir eigenen Beharrlichkeit gezeigt hast. Besonders am Herzen lagen dir, neben all den Opfern der Verbrechen aus Habgier und Gemeinheit, die Frauen und Kinder, die gedemütigt, misshandelt und vergewaltigt wurden von perversen Psychopathen und brutalen Kinderschändern. All die Menschen, denke ich, sind dir, bei all ihrem Leid, zu ewigem Dank verpflichtet für deinen konsequenten Einsatz.“(Applaus)

Herrmanns Erinnerungen brachen sich Bahn, unaufhaltsam: Eines Abends, etwa vor einem Jahr, war sie spät zu ihm ins Wohnzimmer gekommen und hatte sich neben ihm auf die Couch gesetzt.

„Paps, wir müssen mal reden“, hatte sie begonnen und ihm fest in die Augen gesehen. Die gleiche Panik, die er auch jetzt spürte, hatte seinen Brustkasten umschlossen.

„Du, wir sind doch nicht nur Paps und Rebecca, wir sind doch auch … gute Freunde.“

„Na sicher, mein Schatz.“ Die Spannung löste sich aus seinen Muskeln.

„Hör mal, du weißt doch, dass ich einen Freund habe, den Jonas.“

„Das ist dein Freund? Ich dachte, es sei nur ein, na ja, netter Mitschüler.“

Er hatte seine Kränkung nicht verbergen können.

„Nein, wir gehen schon ein halbes Jahr miteinander. Guck nicht so traurig. Ja, und … gestern ist es passiert. Wir haben miteinander geschlafen. Und jetzt bin ich ganz durcheinander, ich kann gar nicht mehr denken, so richtig, ich bin so glücklich, das war so … wie ins All fliegen und einmal um den Mond. Ich glaube, ich liebe ihn, kann ich denn mit siebzehn schon lieben? Was ist das eigentlich: Liebe? Ist das die Liebe?“, kam es aus ihr herausgesprudelt.

„Was?“ Mehr hatte er nicht sagen können. Der Schmerz hatte ihm den Atem genommen und gleichzeitig die Ahnung einer Erlösung geschenkt.

Er hatte sie angestarrt, ohne zu wissen wie lang.

„Paps, ist das denn so schlimm?“ Der Zauber ihres Lächelns hatte ihn ganz eingenommen.

„Nein, Schatz, komm mal her!“ Und sie war ihm um den Hals gefallen, er hatte sie umarmt, sie wieder gespürt, gestreichelt, auf den Hals geküsst, sie hatte aufgeschaut, ihr Gesicht ganz nah bei seinem, ihn auf den Mund geküsst, „armer Paps“ hineingelächelt. Er hatte ihren Kuss erwidert, auf den ach so blühenden Mund, und nicht mehr aufgehört, war immer fordernder geworden, hatte seine Hände wandern lassen, immer gieriger, bis sie ihn sanft, aber bestimmt zurückdrückte, „Lass gut sein, Paps“, murmelnd. Er starrte sie an, sie schlug die Augen nieder.

„Entschuldige, ich wollte nicht …“, hatte er gestammelt, mit abgewandtem Kopf. Und sie war grußlos verschwunden.

Die ersten Tage danach hatten sie kaum miteinander sprechen und sich nicht anschauen können. Dann einmal doch, nach Wochen, hatte sie ihn gefragt, ob er böse auf sie sei. Nein, aber sie auf ihn, hatte er erstaunt gefragt.

„Ach was, Paps, ich lieb dich doch“, hatte sie gesagt mit ihrem koketten Grübchenlächeln. Die Erleichterung ließ ihn durchatmen.

„So lasst uns das Glas erheben auf dich, den großen Oberstaatsanwalt, den verständigen Kollegen und lieben Freund, auf dich, meinen und unseren Papá, auf den Gatten dieser wunderschönen Frau, die ich mit Stolz meine Mamá nennen darf, die ihrem Mann immer den Rücken frei gehalten hat und die dafür gesorgt hat, dass du bei all deiner Arbeit auch noch Zeit für uns Kinder gefunden hast.“

Seine Hände waren so feucht, dass er glaubte, das Glas nicht halten zu können. Er kramte ungeschickt ein Taschentuch hervor und wischte sich über die Stirn. Er spürte den strafenden Seitenblick seiner Gattin. Die anderen schienen nichts zu merken. Sie hörten Lutz zu, der immer noch redete.

Vater und Tochter hatten ihre alte Vertrautheit im Gespräch wiedergefunden, aber nur da. Wenn sie ihn jetzt einmal umarmte, spürte er die Erregung jedes Mal wie einen Stromstoß, der ihn so durchzuckte, dass er zu zittern glaubte, nach dem er sich aber immer wieder unendlich sehnte. So stahl er sich Blicke auf Bauch und Busen, unbemerkt. Lauerte ihr auf, jagte nach der Beute der Berührungen, beim Zähneputzen im Bad, beim Sonnenbaden im Garten, beim Auskleiden abends in ihrem Zimmer. Nachts ließ er seinen Fantasien freien Lauf, einsam und schuldbewusst. Bis heute war das so. Er litt.

„Ich erinnere mich noch wie heute an das Leuchten deiner Augen, als meine Schwester Rebecca geboren wurde. Und dieses Strahlen hast du bis heute bei ihrem Anblick nicht verloren. Ich muss zugeben, dass mich das hier und da auch mal mit Neid erfüllte. Doch die Liebe des Vaters zur Tochter ist eben eine zärtliche und zum Sohn eine helfende.“

Was hatte Lutz da gesagt? Hatte er etwas bemerkt? Will er mich jetzt hier vor allen Leuten … Kein klarer Gedanke war mehr in ihm. Er spürte die Nässe der Angst unter seinen Achseln. Das Hemd klebte am Rücken. Er roch den Gestank seiner Panik. Das Haar lag klatschnass am Kopf.

Hatte Rebecca nicht gesagt, sie wolle auch noch vor den Gästen sprechen? Irgendwas mit Überraschung? Will sie mich hier öffentlich hinrichten?

Panik ließ seine Hände flatterten wie kleine Vögel, die man kopfüber an den Füßen hält.

„Und, Papá, verstehe das nicht als Vorwurf, sondern als Zeichen eines besonderen Glücks, das ich dir zu genießen von Herzen gönne.

Ein Prosit, verbunden mit allen guten Wünschen für die nächsten fünfzig Jahre von mir, von uns, für dich, lieber Papá!“

Ein Brausen in seinen Ohren. Es wuchs und wuchs. Was war passiert? Die Gäste applaudierten, das war alles. Sie prosteten ihm zu. Langsam fand er zu seiner Fassung zurück und erwiderte die Geste, ein um das andere Mal, wie eine Marionette. Das Klingeln eines Löffels an ein Glas ließ den Beifall verebben. Rebecca trat vor. Es war noch nicht vorbei. Sie ergriff das Wort:

„Lieber Paps, ich nenne dich auch heute so, obwohl wir nicht alleine sind. Ich will es kurz machen, mein großer Bruder hat schon großartig genug geredet. Von mir auch alle lieben Wünsche für die Zukunft. Und …“

Jetzt wird sie mich an den Pranger stellen, vor aller Augen den Staatsanwalt der lüsternen Gier nach dem Körper seiner eigenen Tochter anklagen, von sexueller Belästigung, Nötigung und psychischer Qual sprechen.

„… dir meine Überraschung offenbaren. Zu unser beider Geburtstag lade ich dich ein, mit mir die Reise anzutreten, nach der du dich immer gesehnt hast, die Reise nach Venedig. Mamá musst du nicht um Erlaubnis bitten. Alles ist schon geklärt. Sie interessiert sich ja eh nicht so für Kunstgeschichte. Ich freu mich darauf, Paps. Ich liebe dich!“

„Rebecca, mein Liebes, ich … ich … bin sprachlos vor Überraschung. Ich kann jetzt gar nichts sagen“, stammelte Herrmann.

Seine Tochter rannte in seine Arme, sie umfingen und hielten sich wie damals und früher und vor einem Jahr. Er spürte ihren Kuss auf seiner Wange und roch den Duft ihres Haars, als er sein Gesicht in ihrer Halsbeuge vergrub, und fühlte ihre Schenkel an den seinen und die alte Erregung und Sehnsucht und Sucht.

Die Gäste applaudierten gerührt. Sie lösten sich voneinander. Dann entschuldigte sich Herrmann, er wolle sich frisch machen vor dem Essen, während die Gäste Platz nahmen zum Diner.

Plötzlich war er ganz ruhig. Er ging hinauf in sein Arbeitszimmer, zog die Smokingjacke und das Hemd aus, streifte sich einen Pullover über und öffnete die alte Segelkiste. Er nahm ein starkes Seil heraus und, als ob er es gestern noch getan hätte, schlug er geschickt den Henkersknoten.

Er spürte die Tränen angenehm über seine Wangen laufen.

Langsam stieg er die Treppe hinauf zum Dachboden.

„Venedig, nur mit dir!“, flüsterte er lächelnd.

Sie fanden ihn nach dem Dessert.

Sie spielt Cello

Guido Kleinmann steht vor dem kolossalen Bau des „Hotel Royal“ in Frankfurt, schaut an der Fassade aus spiegelndem Glas, matt glänzendem Stahl und poliertem Granit empor, die sich in der Unendlichkeit des sternenklaren Nachthimmels verliert, und staunt.

Soll ich, soll ich nicht? Ich weiß nicht, ich weiß nicht, grübelt Kleinmann.

Dann schaut er noch einmal an der Fassade hinauf und sagt sich: Ich mach’ das, ja, ich mach’ das jetzt! Beschlossen, entschieden, fertig! Basta! Mein Gott, bin ich verrückt?! Warum nicht auch mal verrückt sein? Ja, das ist teuer, bestimmt ist das teuer, na und? Ist eben teuer, ich hab’s ja jetzt. Ich muss Dorothee anrufen, war ja nicht klar, wie lang es dauern wird beim Nachlassverwalter. Jetzt noch über sechshundert Kilometer zurückfahren? Nee! Ich mach’s und basta. Ich gehe in dieses Hotel, in diesen geilen, durchgestylten, sündhaft teuren Fünfsterneschuppen. Eine Nacht voller Luxus. Das gönne ich mir. Wehe sie meckert. Ist mein Geld, ganz allein meins. Tante Martha war meine Tante, nicht ihre!

Der Entschluss steht fest.

So betritt Kleinmann das hallenartige, elegant gestaltete Luxus-Foyer so ehrfürchtig als sei es eine Kathedrale und wendet sich der Rezeption zu. Seine Sporttasche von Pumadidas ist ihm peinlich. Hinter dem Empfang aus rosa und schwarzem Granit, spiegelglatt poliert, spricht ihn ein junger Mann mit Gelfrisur und weinroter Hoteluniform mit dezent gedämpfter Stimme an: „Was kann ich für Sie tun, mein Herr?“

Kleinmann erschrickt und antwortet: „Ich hätte gerne … äh, also ein Zimmer für eine Nacht nur. Haben Sie da … ist da noch was frei bei Ihnen, ich meine im Hotel, hier so?“

Der Rezeptionist mustert Kleinmann von oben bis unten, hebt kaum sichtbar die Mundwinkel zu einem herablassenden Schmunzeln und fragt:

„Standard, Komfort oder Luxussuite, mein Herr?“ Die Arroganz im Ton ist eklatant.

Schnösel, denkt Kleinmann.

„Was kostet denn ein Standardzimmer?“