C.H.Beck
Nach seiner totalen militärischen Niederlage mußte das Deutsche Reich 1919 den Vertrag von Versailles unterzeichnen, der für die Deutschen in der Zwischenkriegszeit zum großen Trauma wurde und bis heute als eine der Ursachen für den späteren Aufstieg des Nationalsozialismus bezeichnet wird. Wie es zur Kriegsniederlage kam, wie aus den Verhandlungen zwischen den Siegermächten die drakonischen Vertragsbedingungen hervorgingen und wie Deutschland zur Annahme des Friedensvertrags veranlaßt wurde, schildert und analysiert Eberhard Kolb in seiner ebenso konzisen wie kenntnisreichen Darstellung.
Eberhard Kolb war bis zu seiner Emeritierung Professor für Geschichte an der Universität zu Köln. Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen: Gustav Stresemann (2003) und Bismarck (22014).
Kapitel I
Ein deutsches Trauma: Die Unterzeichnung des «Versailler Vertrags»
Kapitel II
Die militärische Niederlage der Mittelmächte
Kapitel III
Vom deutschen Waffenstillstandsersuchen zum Waffenstillstandsabkommen
Kapitel IV
Friedenschließen nach einem Weltkrieg: Arbeit und Ergebnisse der Pariser Friedenskonferenz
Kapitel V
Annehmen oder Ablehnen?
Die deutsche Friedensstrategie und der Kampf um die Unterzeichnung des «Versailler Vertrags»
Kapitel VI
«Versailles» und die Deutschen
Abkürzungsverzeichnis
Zeittafel
Literaturverzeichnis
Register
Unterzeichnung des Versailler Vertrags 28.6.1919
Foto: © Corbis via Getty Images/Foto: VCG Wilson
Am 28. Juni 1919 besiegelten die Siegermächte des Ersten Weltkriegs ihren vollständigen Triumph über das niedergeworfene Deutsche Reich: Im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles setzten die deutschen Bevollmächtigten und die zweiunddreißig Delegationen der «alliierten und assoziierten Mächte» ihre Unterschriften unter den Friedensvertrag, der als «Versailler Vertrag» in die Geschichte eingegangen ist. Der Schauplatz für den Unterzeichnungsakt war mit Bedacht gewählt; symbolische Bezüge waren unübersehbar. Da sich im Krieg von 1870/71 während der Belagerung von Paris das deutsche Hauptquartier in Versailles befand, hatte hier am 18. Januar 1871 die Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. zum deutschen Kaiser stattgefunden. Zwar war für diese Zeremonie der Spiegelsaal des Schlosses aus pragmatischen Gründen gewählt worden (er war der größte in Versailles verfügbare Raum, der sonst in diesen Monaten als Lazarett diente), aber die Franzosen empfanden es doch als eine Schmach, daß die Proklamation des deutschen Kaisers ausgerechnet in dem «à toutes gloires de la France» gewidmeten Schloß des Sonnenkönigs Ludwig XIV. erfolgte – und diese Schmach wurde nun getilgt, indem das besiegte Deutsche Reich an eben diesem Ort einen drakonischen Friedensvertrag unterzeichnen mußte. Aus französischer Sicht bedeutete dieser «zweite» Versailler Frieden zudem die Auslöschung des «ersten» Versailler Friedens, nämlich des Präliminarfriedens zwischen Preußen/Deutschland und dem besiegten Frankreich, der in Versailles (in der rue de Provence 14) ausgehandelt und am 26. Februar 1871 unterzeichnet worden war.
Der majestätische Spiegelsaal, die «galerie des glaces», ist der prunkvollste Raum des Schlosses, 73 Meter lang, 10,5 Meter breit, 12,3 Meter hoch, erhellt von siebzehn Fenstern, denen auf der Gegenseite siebzehn verspiegelte Arkaden zwischen Marmorpfeilern entsprechen, so daß die Spiegelflächen die Raumtiefe in illusionärer Weise steigern. Das gewaltige Deckenfresko ist ausgemalt mit Szenen aus den Kriegen Ludwigs XIV. gegen Holland, Spanien und das Reich. An diesem geschichtsträchtigen Orte also fand die Unterzeichnung des Friedensvertrages statt.
Am 28. Juni 1919, einem Samstag, waren an die tausend Personen im Spiegelsaal versammelt. Am einen Ende des Saales drängten sich die Presseleute, an der gegenüberliegenden Seite hatten geladene Gäste Platz genommen, Abgeordnete, Senatoren, Militärs, Mitglieder der Delegationen. In der Mitte des Saales (dort, wo 1871 die Kaiserproklamation stattgefunden hatte) stand die große hufeisenförmige Tafel für die Bevollmächtigten, davor ein kleines Tischchen, auf dem das Vertragsdokument lag, ein dickes Buch mit dem in französischer und englischer Sprache abgefaßten Vertragstext. Der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau, der der Friedenskonferenz präsidierte, erhob sich Punkt drei Uhr von seinem Platz in der Mitte des Delegiertentisches, gebot Schweigen und befahl barsch: «Bringen Sie die Deutschen herein!» Die Tür am Ende des Saales öffnete sich. Zwei mit Silberketten geschmückte Saaldiener erschienen, hinter ihnen vier Offiziere, je ein französischer, englischer, amerikanischer und italienischer, dann die beiden deutschen Bevollmächtigten, Hermann Müller, seit wenigen Tagen Reichsaußenminister, ein führender Sozialdemokrat, und Minister Dr. Johannes Bell, ein Zentrumspolitiker. Als sich die beiden auf die ihnen zugewiesenen Stühle – zwischen den Delegierten Uruguays und Japans – niedergesetzt hatten, erklärte Clemenceau in einer kurzen Ansprache die Sitzung für eröffnet. Im Schlußsatz betonte er die unwiderrufliche Verpflichtung, alle festgesetzten Bedingungen zu erfüllen. «Unter diesen Umständen habe ich die Ehre, die deutschen Bevollmächtigten einzuladen, ihre Unterschriften auf dem mir vorliegenden Vertrage geben zu wollen.» Hermann Müller und Bell standen auf und schritten durch den Saal. «In diesem Augenblick», so der Bericht Hermann Müllers, «herrschte eine feierliche Stille und wir fühlten, daß tausend Blicke auf uns gerichtet waren. Am Tisch angelangt, zog ich meinen Füllfederhalter und unterschrieb …, nach mir Dr. Bell. Zurück zu unseren Plätzen. Es war vorüber.»
Danach wurden in rascher Reihenfolge die Delegationen der Siegermächte aufgerufen, beginnend mit den fünf Delegierten der USA, an der Spitze Präsident Wilson. In sich allmählich steigernder Unruhe unterzeichneten dann die Delegierten der weiteren vier Hauptmächte, der fünf britischen Dominions und von zweiundzwanzig Staaten. Als auch der letzte Delegierte seine Unterschrift geleistet hatte, war der Unterzeichnungsakt kurz vor vier Uhr beendet – er hatte kaum eine volle Stunde gedauert. Clemenceau erklärte die Sitzung für geschlossen und ersuchte die beiden Deutschen, den Saal zu verlassen. Der britische Diplomat Harold Nicolson, dem wir eine ausführliche Schilderung der Unterzeichnungszeremonie verdanken, bemerkt: Sie wurden abgeführt «wie Sträflinge von der Anklagebank, die Augen noch immer auf irgendeinen fernen Punkt am Horizont gerichtet». Hermann Müller und Johannes Bell, die die Tortur dieses Tages in vorbildlicher Beherrschtheit durchgestanden hatten, reisten noch am Abend des 28. Juni nach Deutschland zurück.
Clemenceau hatte sich für die Deutschen noch eine besondere Demütigung beim Unterzeichnungsakt ausgedacht. In einer Fensternische hinter dem Tisch, an dem der Vertrag unterzeichnet wurde, ließ er fünf französische Soldaten plazieren, die durch schwerste Gesichtsverletzungen entstellt waren, ohne Münder oder Augen, ein lebender Vorwurf an die Adresse Deutschlands. Es scheint allerdings, daß die beiden deutschen Bevollmächtigten diese Gruppe der Gesichtsverletzten gar nicht wahrgenommen haben und ihnen dadurch der visuelle Schock erspart blieb. Hermann Müller erwähnt in seinem ausführlichen Bericht das Szenario ebenso wenig wie Harold Nicolson, der den Einzug der beiden deutschen Bevollmächtigten ausdrücklich so beschreibt: «Sie halten die Blicke von diesen zweitausend sie anstarrenden Augen hinweggerichtet, zum Deckenfries empor.»
Oberst House, der engste Berater Präsident Wilsons, hat zur Durchführung des Unterzeichnungsaktes angemerkt: «Ich wünschte, es wäre einfacher gewesen und ein Element der Ritterlichkeit hätte nicht gefehlt, das völlig mangelte. Die Affäre war sorgfältig inszeniert und war so gestaltet, daß sie für den Gegner so demütigend wie möglich wäre.» Damit ist ein wesentliches Merkmal dieses Friedensschlusses treffend bezeichnet: die Sichtbarmachung der Demütigung Deutschlands. Wenn dem Deutschen Reich ungeheure materielle Belastungen auferlegt wurden, so bewegte sich dies noch sozusagen im Rahmen der Normalität des Friedenschließens, denn Gebietsabtretungen und Kriegskostenentschädigungen wurden den Besiegten auch in früheren Friedensverträgen zudiktiert. Worin sich von diesen der Versailler Vertrag jedoch deutlich unterschied, das waren bis dahin ungekannte Formen des Vorgehens in den Verhandlungen und beim Vertragsabschluß. Sie zielten darauf, den besiegten Gegner mit äußerster Rigorosität moralisch abzustrafen und zum Ertragen demütigender Prozeduren zu zwingen. Es war nicht zuletzt dieses Moment, durch das «Versailles» seine vergiftende Wirkung entfaltete.
Daß Deutschland «Versailles» hinnehmen mußte, hatte einen einfachen Grund: Nach dem in rasantem Tempo sich vollziehenden Zusammenbruch der Mittelmächte im Herbst 1918 verfügte das Deutsche Reich über kein militärisches Machtpotential mehr und war den Siegermächten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Wie kam es zu dieser – bis weit ins Jahr 1918 hinein unvorstellbaren – vollständigen militärischen Niederlage?
Wann war die militärische Niederlage des Deutschen Reiches und seiner Verbündeten klar absehbar? Oder etwas anders gefragt: Wann war klar, daß das militärische Potential der «Mittelmächte» (Deutschland, Österreich-Ungarn, Türkei, Bulgarien) nicht ausreichen würde, um der gegnerischen Allianz wenn nicht den Sieg, so doch einen Verhandlungsfrieden abzuringen? Auf diese Frage sind mehrere und durchaus unterschiedliche Antworten möglich und gegeben worden.
Nimmt man zunächst die wirtschaftlichen und demographischen Potentiale beider Seiten in den Blick, dann ist unbestreitbar, daß sich die Ententemächte schon bei Kriegsbeginn eindeutig im Vorteil befanden (und im Lauf des Krieges verschoben sich dann die Gewichte noch weiter zuungunsten der Mittelmächte). Im letzten Friedensjahr verfügten die Mächte der Entente über 28 Prozent aller Industriekapazitäten weltweit, die Mittelmächte nur über 19 Prozent. Die Gesamtbevölkerung Rußlands, Frankreichs, Großbritanniens, Belgiens, Serbiens und Montenegros belief sich auf 258 Millionen, während Deutschland und Österreich-Ungarn 118 Millionen Einwohner zählten. Infolgedessen standen 1914 den 6,323 Millionen Soldaten des Deutschen Reichs und Österreich-Ungarns rund 9,292 Millionen der Ententemächte gegenüber. Angesichts dieser Kräfteverhältnisse hätte die Entente den Krieg rasch für sich entscheiden müssen – wenn Heeresstärken und wirtschaftliche Ressourcen allein ausschlaggebend wären für die militärischen Möglichkeiten. Da dies aber nicht der Fall ist, war – trotz des ungleichen Potentials beider Seiten – Sieg oder Niederlage in diesem Krieg nicht von vornherein unzweideutig vorgezeichnet.
Unter diesen Umständen wurde der Ausgang der Marneschlacht Anfang September 1914 zu einem folgenschweren Ereignis: Weil ein schneller, kriegsentscheidender Sieg der deutschen Armeen verhindert wurde und seit Oktober 1914 die Westfront im Stellungskrieg erstarrte, gewannen die Alliierten Zeit, um ihre überlegenen Ressourcen für einen mit langem Atem zu führenden Zermürbungskrieg zu organisieren. Ende November 1914 sah sich der deutsche Generalstabschef von Falkenhayn veranlaßt, dem Reichskanzler einzugestehen, er sehe keine Möglichkeit, die Feindmächte derart zu besiegen, daß das Reich die Friedensbedingungen diktieren könne.
Ein Überblick über Kriegsverlauf und Wendepunkte im Kriegsgeschehen kann an dieser Stelle nicht gegeben werden. Es sei lediglich hervorgehoben, daß das Jahr 1917 weitreichende Veränderungen der politischen und militärischen Kräftekonstellation brachte. Zum einen: Durch den Kriegseintritt der USA erfuhr das Potential der Alliierten eine massive Steigerung – damit schrumpften die ohnehin zweifelhaften Siegeschancen der Mittelmächte noch mehr. Aber zum anderen: Im Gefolge der Oktoberrevolution schied Rußland aus dem Krieg aus – das bedeutete Wegfall der zweiten Front und eröffnete die Möglichkeit, nun mit Aufgebot aller Kräfte im Westen die Entscheidung zu suchen, noch ehe amerikanische Truppen maßgeblich auf diesem Kriegsschauplatz agieren konnten. Die politische und militärische Situation um die Jahreswende 1917/18 war daher durch eine gewisse Ambivalenz gekennzeichnet: Bei der Führung der Mittelmächte, insbesondere Deutschlands, die Entschlossenheit, dem Siegfrieden im Osten jetzt die Kriegsentscheidung im Westen folgen zu lassen; auf Seiten der Alliierten die unbedingte Zuversicht, trotz des Verlusts des russischen Bundesgenossen vermöge amerikanischer Unterstützung und eigener Ressourcenmobilisierung früher oder später den kriegsentscheidenden Sieg davonzutragen. Soviel ist sicher: Seit dem Kriegseintritt der USA arbeitete die Zeit gegen Deutschland und seine Verbündeten.
Gleichwohl sah es zu Beginn des Jahres 1918 für die Alliierten nicht allzu günstig aus. Nicht nur Rußland war aus dem Krieg ausgeschieden (am 22. Dezember 1917 begannen in Brest-Litowsk die Verhandlungen über einen Separatfrieden Rußlands mit den Mittelmächten), besiegt war auch Rumänien (das im August 1916 den Mittelmächten den Krieg erklärt hatte), und Ende Oktober 1917 war österreichischen und deutschen Truppen bei Caporetto an der Isonzofront ein großer Sieg über die Italiener gelungen. Es war einer der spektakulärsten operativen Erfolge in diesem Krieg: Die gesamte italienische Front brach ein und konnte erst zwei Wochen später und 110 Kilometer weiter zurück entlang der Piave mühsam wieder stabilisiert werden.
Auf der Habenseite der Alliierten stand der – vor allem durch die Einführung des Geleitzugsystems – gewonnene U-Boot-Krieg, so daß der amerikanische Nachschub nahezu unbehindert über den Atlantik gebracht werden konnte; amerikanische Truppen trafen allerdings erst nach und nach in Frankreich ein und mußten zunächst ausgebildet werden. Frankreich hatte 1917 krisenhafte Monate durchlebt: Streiks, Meutereien, Instabilität der Regierung, pazifistische Strömungen in der öffentlichen Meinung. Beendet wurde diese Krisensituation im November 1917 mit der Ernennung des 76jährigen Georges Clemenceau zum Ministerpräsidenten, der sofort seine äußerste Entschlossenheit demonstrierte, den Krieg unerbittlich weiterzuführen: «Keine pazifistischen Kampagnen, keine deutschen Intrigen mehr. Weder Verrat noch Halb-Verrat: Krieg, nur noch Krieg.» Und die große Mehrheit der Franzosen folgte ihm in dieser Haltung.
Die militärischen Aussichten der Alliierten waren jedoch um die Jahreswende 1917/18 eher düster. Der amerikanische Militärvertreter im Obersten Kriegsrat der Alliierten schrieb im Februar nach Washington: «Ich bezweifle, daß ich jemandem, der nicht bei der letzten Konferenz anwesend war … klarmachen kann, wie stark das Denken der politischen und militärischen Persönlichkeiten hier von Angst und Furcht durchdrungen ist.» Denn man erwartete jetzt eine große deutsche Offensive, weil nach Waffenstillstand und Beginn der Friedensverhandlungen mit Rußland die deutsche Führung starke Truppenverbände von der Ostfront abziehen und nach Westen verlegen konnte.
Tatsächlich begann die Oberste Heeresleitung Hindenburg-Ludendorff schon Ende 1917 mit der operativen Planung einer großangelegten Frühjahrsoffensive. Sie wurde als unbedingte militärische Notwendigkeit verstanden: Franzosen und Engländer sollten eine vernichtende Niederlage erleiden, ehe die amerikanischen Truppen voll einsatzfähig waren. Bei dieser Entscheidung durften sich Hindenburg und Ludendorff schon im Vorfeld der Offensive von einer hoffnungs- und erwartungsvollen Stimmung in Heer und Heimat getragen wähnen. Die Vorstellung, durch eine letzte große Kraftanstrengung dem Krieg mit einem deutschen Sieg ein Ende bereiten zu können, hatte offenbar im Feldheer und in der Heimat die bis dahin vorherrschende Resignation momentan überwunden. Die kommende Offensive im Westen wurde allgemein – wie auch die Auswertung von Soldatenbriefen ergibt – als «Königsweg zum baldigen Kriegsende» angesehen. In diesen Wochen wurde ein Höhepunkt des deutschen Machtgefühls erreicht, der fast dem hohen Stand der Hoffnungen vom August 1914 entsprach (was allerdings nicht mehr für alle Bevölkerungsschichten zutraf).
Vor dem Hintergrund eines solchen – in rückschauender Betrachtung schwer zu begreifenden – Stimmungshochs voller Siegeserwartungen zu Beginn des Jahres 1918 ist zu prüfen, ob der Entschluß zu einer Offensive, die sich zum «größten militärischen Einzelunternehmen der bisherigen Geschichte» (Dieter Storz) entwickeln sollte, militärisch und politisch sinnvoll und verantwortbar gewesen ist und ob es zu diesem Zeitpunkt realistische Alternativen zur offensiven Kriegführung gegeben hat. Es wird immer wieder die Ansicht vertreten, man hätte Anfang 1918 aus der Position einer gewissen Stärke heraus Friedensdiplomatie betreiben müssen; der militärischen Offensive hätte eine auf einen Verständigungsfrieden abzielende politische Offensive vorausgehen sollen. Derartige Überlegungen sind innerhalb der militärischen Führung nicht angestellt worden, und man darf beim heutigen Kenntnisstand bezweifeln, ob eine politische Offensive mit dem Ziel eines Kompromißfriedens eine realistische Alternative zur geplanten Frühjahrsoffensive dargestellt hätte. Die Chancen, den Krieg durch einen Verständigungsfrieden beenden zu können, waren nämlich während der Kriegsjahre und erst recht im Jahr 1918 sehr viel geringer, als dessen Befürworter glaubten, wenn solche Chancen denn überhaupt existierten.
Diese Behauptung bedarf einer kurzen Begründung. In der Forschung dominierte seit der Fischer-Kontroverse der 1960er Jahre die Auffassung, die exorbitanten deutschen Kriegsziele seien das entscheidende Hindernis gewesen auf dem Weg zu einem «Verständigungsfrieden», was immer man unter dem etwas unscharfen Begriff verstehen mag (Status-quo-Frieden oder «Kompromißfrieden» dieser oder jener Art?). Es besteht kein Zweifel, daß die Kriegszielforderungen, vertreten von der Militärführung, der Reichsleitung und weiten Teilen der Öffentlichkeit, die deutsche Position in der öffentlichen Meinung der Welt stark beeinträchtigt und die gegnerische Allianz zusammengeschweißt haben. Doch zweierlei ist zu bedenken. Zum einen ist nie die Probe aufs Exempel gemacht worden, wieviel von den Kriegszielforderungen man in Verhandlungen mit den Alliierten wirklich durchzusetzen versuchen würde, denn es ist nicht zu solchen Verhandlungen gekommen. Somit ist ein eindeutiges Urteil über die deutschen Kriegsziele als fundamentales Hindernis für einen Verständigungsfrieden nicht möglich. Eine Anmerkung zum Frieden von Brest-Litowsk (3. März 1918): Dies war gewiß ein drakonischer Siegfrieden, bei dem die Mittelmächte – angesichts der Schwäche des Gegners – noch weit mehr durchsetzten, als bis zum Waffenstillstand möglich erschienen war und gefordert wurde. Aber was die Möglichkeit eines Kompromißfriedens mit den Westmächten angeht, gilt Winfried Baumgarts Feststellung, daß durch diesen Friedensschluß eine Verständigungsbereitschaft der Alliierten nicht zerstört worden ist, «weil es sie gar nicht gegeben hat. Die Kriegsziele der Alliierten standen in ihren Grundzügen lange vor Brest-Litowsk fest.»
Und damit sind wir beim zweiten Gesichtspunkt. Lange Zeit ist viel zu wenig berücksichtigt worden, daß im Lager der Entente Kriegszielforderungen bestanden, die nur bei einer völligen Niederlage der Mittelmächte, insbesondere des Deutschen Reiches, realisiert werden konnten. In Großbritannien war man seit Kriegsbeginn entschlossen, die militärische und wirtschaftliche Machtstellung des Reiches zu zerstören. Man verlangte daher – so Henry A. Kissinger – «Garantien», die auf ein dauerhaft geschwächtes Deutschland und vor allem auf eine drastische Reduzierung der deutschen Hochseeflotte hinausliefen, «Bedingungen, die Deutschland niemals hinnehmen konnte, es sei denn im Falle einer totalen militärischen Niederlage». Was die französischen Führungskreise angeht, hat der französische Historiker Georges-Henri Soutou überzeugend nachgewiesen, daß schon sehr früh, bereits im September 1914, der Perspektive eines «Verhandlungsfriedens» eine schroffe Absage erteilt wurde und rasch ein Konsens zustande kam, sich nicht auf die Wiedergewinnung von Elsaß-Lothringen zu beschränken, sondern darüber hinaus die Abtrennung der linksrheinischen Gebiete vom Deutschen Reich zu verlangen (Neutralisierung mit langdauernder französischer Besetzung als Minimallösung, volle Annexion als Maximallösung). Auch in den schwärzesten Stunden des Jahres 1917 hat die französische Führung an diesen Zielen festgehalten. Soutou geht soweit, Ludendorff zu attestieren, er habe eines richtiger gesehen als viele deutsche Politiker: «die Entschlossenheit der Alliierten, das Reich als Großmacht zu zerstören».
Angesichts derartiger Befunde besteht in der jüngsten Forschung weitgehende Übereinstimmung darüber, «daß die Beendigung des Krieges auf dem Verständigungswege in keinem der kriegführenden Lager ernstlich angestrebt wurde» (Wolfgang J. Mommsen). Das heißt aber auch: Da die Alliierten Ziele verfolgten, die sie ohne Sieg nicht erreichen konnten, waren sie gewillt, bis zum vollen militärischen Sieg zu kämpfen, und zumal seit dem Kriegseintritt der USA hatten sie an ihrem schließlichen Sieg keine ernsthaften Zweifel mehr. Daher gab es im Winter 1917/18 keine Chance, zu einer politischen Lösung bei der Beendigung des Krieges zu gelangen – es sei denn, das Deutsche Reich und seine Verbündeten hätten in Bedingungen eingewilligt, die nur ein besiegtes Volk auf sich nimmt. Doch zu Beginn des Jahres 1918 fühlten sich die Mittelmächte – nach den Erfolgen im letzten Jahr – alles andere als besiegt. So erhielt die Frühjahrsoffensive einen «Zug von bitterer Unausweichlichkeit» (Peter Graf Kielmansegg). So, wie die Dinge lagen, führte kein Weg an der Notwendigkeit vorbei, für das Jahr 1918 die militärische Fortsetzung des Krieges zu planen, wobei man sich im deutschen Generalstab allerdings bewußt war, die «letzte Karte» zu spielen.