Johannes B. Heßler ■ Peter Fiedler
Transdiagnostische Interventionen in der Psychotherapie
Dr. phil. Johannes Baltasar Heßler
Bachemer Straße 150
50931 Köln
johannes.b.hessler@gmail.com
psychotherapie-jbhessler.com
Prof. Dr. Peter Fiedler
Hauptstraße 47 – 51
69117 Heidelberg
Peter.Fiedler@Psychologie.uni-heidelberg.de
Besonderer Hinweis
Die Medizin unterliegt einem fortwährenden Entwicklungsprozess, sodass alle Angaben, insbesondere zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren, immer nur dem Wissensstand zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches entsprechen können. Hinsichtlich der angegebenen Empfehlungen zur Therapie und der Auswahl sowie Dosierung von Medikamenten wurde die größtmögliche Sorgfalt beachtet. Gleichwohl werden die Benutzer aufgefordert, die Beipackzettel und Fachinformationen der Hersteller zur Kontrolle heranzuziehen und im Zweifelsfall einen Spezialisten zu konsultieren. Fragliche Unstimmigkeiten sollten bitte im allgemeinen Interesse dem Verlag mitgeteilt werden. Der Benutzer selbst bleibt verantwortlich für jede diagnostische oder therapeutische Applikation, Medikation und Dosierung.
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Schattauer
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Cover: Jutta Herden, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von © unsplash/rawpixel
Lektorat: Dipl.-Psych. Mihrican Özdem, Landau
Projektmanagement: Dr. Nadja Urbani, Stuttgart
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
Printausgabe: ISBN 978-3-608-40007-6
E-Book: ISBN 978-3-608-11521-5
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20415-5
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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Psychische Störungen treten wahrscheinlich häufiger bei Frauen als bei Männern auf (Jacobi et al. 2004), mehr Frauen als Männer nehmen psychotherapeutische Hilfe in Anspruch, und es gibt eindeutig mehr Frauen als Männer, die diese Hilfe anbieten. Angesichts dieser Situation hätte es sich für uns unpassend angefühlt, ausschließlich von männlichen »Therapeuten« und »Patienten« zu sprechen, wie es in der deutschen Sprache üblich ist. Stattdessen möchten wir durch den gezielten Einsatz des grammatikalischen Geschlechts in diesem Buch einerseits die große Gruppe an Therapeutinnen und Patientinnen ansprechen, andererseits aber auch Therapeuten in ihrer Berufswahl und Patienten in ihrer Entscheidung für eine Therapie bestärken. Alle Menschen, die sich nicht in diesen Kategorien wiederfinden, sollen keineswegs ausgeschlossen werden, wir denken sie mit und verwenden die Geschlechter »Mann« und »Frau« als zwei Pole, zwischen denen jede*r sich den eigenen Platz suchen kann. So findet im einleitenden Teil dieses Buches ausschließlich das weibliche grammatikalische Geschlecht Verwendung, um der großen Gruppe an Frauen, die den Beruf tragen und voranbringen, gerecht zu werden. Bei den Interventionen wechseln sich Männer und Frauen in ihren Rollen ab.
Geordnet nach neun Bereichen werden in diesem Buch auf wenig Raum viele Interventionen so beschrieben, dass sie schnell und sicher durchführbar sind. Die Interventionen wurden gewählt, weil sie transdiagnostisch wirksam sind – stimmen Indikation und Durchführung, dürfte sich bei den meisten Patientinnen ungeachtet ihrer Diagnose etwas bewegen. Das Buch richtet sich somit an alle, die genau das suchen.
In erster Linie sind das Psychotherapeutinnen in Ausbildung, die unbedarft ans Werk gehen und viel probieren wollen. Ebenso bekommen fertige oder in Ausbildung befindliche Psychiaterinnen, die zwar psychotherapeutisch arbeiten sollen, dafür aber ein etwas dünnes Curriculum haben, schnelle und hilfreiche Anregungen. Gruppentherapeutinnen haben mit dem Griff zu diesem Buch Methoden an der Hand, um vor der Gruppe Einzelarbeit durchzuführen. Da sich die Interventionen auf Prozesse beziehen, die bei Patientinnen wie Klientinnen wirken, erweitern Coaches und Trainerinnen ihr Repertoire um Interventionen aus der modernen Psychotherapie. In Beratungsstellen ist das Buch ein nützlicher Werkzeugkoffer, wenn nur wenige Sitzungen zur Verfügung stehen. Es mag auch erfahrene Psychotherapeutinnen geben, die sich nach neuem Input umsehen und in diesem Buch fündig werden.
Das Buch soll Sie ermutigen, neue Dinge auszuprobieren und spontan zu sein in der Therapie. Vor allem geht es aber darum, Begegnung und Bewegung mit Ihren Patientinnen und Klientinnen zu erzeugen. Und das ist ja das Ziel überall dort, wo therapiert, beraten und gecoacht wird.
Schließlich sucht das Buch nicht allein aufseiten der Patientinnen das Gemeinsame, es soll auch zwischen den therapeutischen Schulen Brücken schlagen und helfen, die antiquierten Mauern zwischen den Verfahren zum Bröckeln zu bringen.
Die ersten Kapitel dieses Buches zeichnen den Hintergrund, vor dem die Interventionen durchgeführt werden. Der transdiagnostische Ansatz zur Beschreibung und Therapie von psychischen Störungen bildet den theoretischen Ankerpunkt. Die moderne therapeutische Haltung, die nichts mehr mit der weißen Wand der Verhaltenstherapeutin oder der Abstinenz der Psychoanalytikerin zu tun hat, ist der persönliche Ankerpunkt. Die Abschnitte über die psychotherapeutische Beziehung und Indikationen für Psychotherapie leiten den Hauptteil des Buches ein: die transdiagnostischen Interventionen der Psychotherapie.
Die Interventionen sind folgenden Bereichen zugeordnet:
Motivation und Therapiegefährdung
Biografie
Emotion
Kognition
Verhalten
Imagination
Körper
Zwischenmenschliche Beziehungen
Ressourcen
In jedem Bereich werden vier Interventionen für bestimmte Indikationen vorgestellt und ihre Durchführung beschrieben. Mit Indikationen sind nicht Diagnosen, sondern psychische oder körperliche Prozesse, zwischenmenschliche Problembereiche, Potentiale für die persönliche Entwicklung oder Fragen an das eigene Leben gemeint. Die Indikationen wurden ausgewählt, weil sie empirisch als transdiagnostisch bestätigt wurden, in verschiedenen störungsspezifischen Manualen genannt werden, für jeden Menschen relevant sind oder sich in unserer klinischen Arbeit als wiederkehrende Themen erwiesen haben.
Natürlich ist dies nicht die erste Sammlung psychotherapeutischer Interventionen. Das Verhaltenstherapiemanual (Linden & Hautzinger 2015) und die Psychotherapeutischen Schätze (Fliegel & Kämmerer 2014; 2015) sind hervorragende Werke sowie Inspiration und Quellen für das vorliegende Buch. Anders sind bei den Transdiagnostischen Interventionen der Psychotherapie der theoretische Rahmen und vor allem der direkte Zugriff auf die Interventionen. Möchten Sie mit einer Patientin kognitiv arbeiten, reicht ein Blick im Inhaltsverzeichnis unter dem Stichwort Kognition auf die verschiedenen Indikationen, um die passende Intervention zu finden. Querverweise führen Sie zu den Interventionen, die vorbereitend, begleitend oder nachbereitend durchgeführt werden können. Wir haben unser Bestes getan, um die Interventionen so zu wählen, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit etwas für Ihre Patientin dabei ist. Dieser unmittelbare Zugang sowie die übersichtliche Beschreibung der Interventionen erlauben es, das Buch tatsächlich in der Therapiestunde zur Hand zu nehmen und, dem Grundsatz der Transparenz folgend, die Übung sogar mit der Patientin zusammen auszuwählen.
Uns ist wichtig anzumerken, dass dieses Buch kein transdiagnostisches Therapiemanual darstellt und auch keine störungsspezifischen Programme ersetzen soll. Es ist als wertvolle Ergänzung gedacht, als Erweiterung der Manuale, um flexibel reagieren zu können. Vielleicht schickt es manche Patientinnen und Therapeutinnen auch auf neue Wege, die zu neuen Türen führen. Im besten Fall wird es seinem Anspruch der transdiagnostischen Wirksamkeit im doppelten Sinne gerecht, indem es in der Behandlung von verschiedenen Patientinnen mit einzelnen Diagnosen sowie einzelnen Patientinnen mit verschiedenen Diagnosen hilft.
Angststörungen, unipolare Depression und Alkoholstörungen sind die am häufigsten vergebenen psychiatrischen Diagnosen (Wittchen & Jacobi 2012). Zusammen mit den somatoformen und den Essstörungen sind sie in bis zu 60 % der Fälle mit anderen psychischen Störungen verschwistert (Bastine 2012). Demgemäß stellt sich etwa die Hälfte aller Patientinnen mit mehr als einer diagnostizierbaren und behandlungswürdigen psychischen Störung vor; im Schnitt entfallen auf jede Patientin zwei Diagnosen (denn eine große Gruppe erfüllt die Kriterien von bis zu sechs Diagnosen) (Bastine 2012). Diese Ergebnisse deuten einerseits darauf hin, dass psychische Störungen sich gegenseitig bedingen und verstärken können sowie dass Betroffene ein höheres Risiko haben, eine weitere Störung zu entwickeln. Andererseits lassen sie auch eine andere Interpretation zu. Die Tatsache, dass Komorbidität bei psychischen Störungen eher die Regel als die Ausnahme zu sein scheint, könnte zu einem guten Teil auch die Folge des diagnosefokussierten Ansatzes von DSM (American Psychiatric Association 2013) und ICD (World Health Organization 1992) sein.
Die Nosologie von DSM und ICD geht davon aus, dass psychische Störungen klar getrennte Entitäten sind. Diese Vorstellung ist zutreffend, solange sich die Störungsbilder eindeutig darstellen. Zum Beispiel lässt sich eine Patientin mit ausschließlich depressiver Symptomatik phänotypisch meist gut von einer Patientin mit isolierter Angstsymptomatik unterscheiden. Welche Diagnose jeweils am besten zutrifft, ist jedoch schon die erste knifflige Frage. Sobald die jeweiligen Symptome bei ein und derselben Person vorliegen, wird es noch komplizierter. Die Diagnostikerin, die nach ICD-10 arbeitet, hat nun folgende Optionen: einzelne affektive (F32) und neurotische (F40, F41) Diagnosen einschließlich der Anpassungsstörung (F43.2) kombiniert; ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung (F60.6) mit komorbider Depression (F32) oder Anpassungsstörung (F43.2); Dysthymia (F34.1) mit komorbider Angststörung (F40, F41) oder Anpassungsstörung (F43.2); kombinierte Persönlichkeitsstörung (F61); Angst und depressive Störung, gemischt (F41.2). Es ist kaum vorstellbar, dass sich für alle Patientinnen die richtigen Diagnosen finden lassen.
Trotz der diagnostischen Unschärfe haben DSM und ICD unbestreitbare Vorteile. Sie erlauben eine einigermaßen reibungslose Kommunikation über Länder- und Berufsgrenzen hinweg, vereinfachen Fallklassifikation und Abrechnung und machen klinische Studien interpretierbar und replizierbar. Für manche Patientinnen bedeutet eine Diagnose Erleichterung, suggeriert sie doch, man wisse, was das Problem und wie dies zu behandeln sei. Was passiert jedoch, wenn mehrere Störungen diagnostiziert werden? Möglicherweise hat die Betroffene das Gefühl, ein besonders kranker und hoffnungsloser Fall zu sein. Für Therapeutinnen wirft solch eine Situation ebenfalls Fragen auf, praktische wie persönliche. Welche Störung sollte ich zuerst behandeln? Und kann ich diesem Menschen überhaupt helfen angesichts des Ausmaßes der Psychopathologie?
Vor dem Hintergrund der hohen Komorbiditätsraten und der manchmal unklaren therapeutischen Implikationen von Diagnosen hat sich eine alternative Form der Nosologie psychischer Störungen entwickelt, die möglicherweise näher am klinischen Alltag liegt. Statt sich auf die Differentialdiagnostik der nur scheinbar getrennten klinischen Entitäten zu konzentrieren, versucht dieser Ansatz psychopathogene Prozesse zu identifizieren, die über verschiedene Störungsbilder hinweg (d. h. transdiagnostisch) auftreten (Harvey et al. 2004). Die von Harvey und Kollegen (2004) in der ersten umfassenden Publikation zum transdiagnostischen Ansatz vorgeschlagenen Ebenen, auf denen diese Prozesse ablaufen, sind Aufmerksamkeit (z. B. selektive Aufmerksamkeit), Gedächtnis (z. B. selektives Erinnern), Schlussfolgerungen (z. B. Heuristiken), Gedanken (z. B. Grübeln) und Verhalten (z. B. Vermeidung).
Das US-amerikanische National Institute of Mental Health (NIMH) entwickelt derzeit mit den Research Domain Criteria (RDoC) einen theoretischen Rahmen, innerhalb dessen menschliches Verhalten – und somit auch psychische Störungen – mittels dimensionaler Konstrukte und zugehöriger neurobiologischer Substrate beschrieben werden soll (Cuthbert & Insel 2013). Die RDoCs beinhalten negative valence systems für Reaktionen auf aversive Stimuli, positive valence systems für Reaktionen auf appetitive Stimuli, cognitive systems einschließlich Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Sprache, systems for social processes einschließlich Bindung, Kommunikation und Selbstwahrnehmung und arousal/regulatory systems einschließlich Erregung, zirkadianem Rhythmus und Schlaf.
Die transdiagnostischen Prozesse können ebenso den üblichen, in einer Verhaltensanalyse betrachteten Dimensionen zugeordnet werden. So finden sich über verschiedene Diagnosen hinweg ähnliche Störungen von Emotion (z. B. Emotionsvermeidung; Dysregulation; Unfähigkeit, Emotionen zu erkennen), Kognition (z. B. Grübeln, selektive Aufmerksamkeit, Glaubenssätze), Verhalten (z. B. Sicherheitsverhalten, Flucht, Vermeidung) und körperlichen Empfindungen (z. B. Anspannung, Erschöpfung, Erregung). Ihre Auswirkungen schlagen sich in Leidensdruck, zwischenmenschlichen Problemen und Schwierigkeiten bei der Alltagsbewältigung nieder. Tabelle 1 zeigt eine beispielhafte Auswahl an transdiagnostisch gestörten emotionalen Prozessen.
Gestörte emotionale Prozesse |
Relevante Diagnosegruppen |
Vermeidung unangenehmer Emotionen |
Angststörungen (F40 – F41), Zwangsstörungen (F42), Depression (F32), somatoforme Störungen (F45), Essstörungen (F50), Substanzsüchte (F10 – F19), Belastungs- und Anpassungsstörungen (F43), dissoziative Störungen (F44), manche Persönlichkeitsstörungen (F60) insb. emotional instabile Persönlichkeitsstörung (F60.3), Störungen der Impulskontrolle (F63) |
Übermäßige Emotionsregulation |
Depression (F32), Zwangsstörungen (F42), Anorexia nervosa (F50.0), somatoforme Störungen (F45), dissoziative Störungen (F44) |
Mangelnde Emotionsregulation |
Bulimia nervosa (F50.2), Binge Eating Störung (F50.4), Substanzsüchte (F10 – F19), Belastungs- und Anpassungsstörungen (F43), emotional instabile Persönlichkeitsstörung (F60.3), Störungen der Impulskontrolle (F63) |
Unfähigkeit, Ambivalenz zu tolerieren |
Angststörungen (F40 – F41), Zwangsstörungen (F42), zwanghafte Persönlichkeitsstörung (F60.5) |
Da unterschiedliche Lebensphasen und -situationen uns mit unterschiedlichen Problemen konfrontieren, können gleiche Prozesse zu phänotypisch sehr ungleichen Störungsbildern führen (Mansell et al. 2008). Ebenso müssen nicht alle Prozesse bei allen Störungen betroffen sein, eher liegen phänotypisch ähnliche Diagnosen auch ähnlichen Prozessen zugrunde.
Der transdiagnostische Ansatz soll nicht den diagnosefokussierten Ansatz von DSM und ICD ablösen. Während ersterer weniger für Fallklassifikation und Abrechnung geeignet ist (obwohl auch dies möglich wäre), gibt er Behandlerinnen eine Systematik an die Hand, die Problembereiche bei Patienteninnen präzise beschreibt und unmittelbare Implikationen für die Therapie liefert. Stellt sich Ihnen eine Patientin mit sowohl depressiver als auch ängstlicher Symptomatik vor, vermeidet sie mit hoher Wahrscheinlichkeit unangenehme Gefühle, hat eine Tendenz, innere und äußere Stimuli in einer katastrophisierenden und negativen Weise zu interpretieren, zeigt ein Muster dysfunktionaler Verhaltensweisen in Reaktion auf unangenehme Emotionen und hat Schwierigkeiten, Emotionen wahrzunehmen und zu benennen (Barlow et al. 2011). Anstatt erst die Angststörung und dann die Depression (oder andersherum) mit störungsspezifischen Manualen zu behandeln, erlaubt der transdiagnostische Ansatz eine effiziente und symptomorientierte Fallkonzeption und Behandlung: die transdiagnostische Psychotherapie.