Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de
Aus dem australischen Englisch von Elvira Willems
Deutsche Erstausgabe
© Megan Goldin 2017
Titel der australischen Originalausgabe:
»The Girl in Kellers Way«, first published by Penguin Random House Australia Pty Ltd, Australia 2017.
This edition published by arrangement with Penguin Random House Australia Pty Ltd.
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: zero-media.net, München
Coverabbildung: Susan Fox/Trevillion Images; FinePic®, München
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.
Für meine Söhne, deren grenzenlose Begeisterung
für meine skurrilen Gutenachtgeschichten mir
Mut machte, mich ins Reich der Fantasie zu wagen
Die Wahrheit ist selten rein und niemals einfach.
Julie
Nach dem Kalender haben wir schon Frühling. Doch der Winter mit seiner anhaltenden Kälte zögert noch. Es heißt, es wäre der kälteste Winter seit Jahren gewesen. Ganz ehrlich? Ich erinnere mich kaum daran. Die letzten Monate sind in einem dumpfen Pillendunst an mir vorübergezogen.
Ich wage nicht, darüber nachzudenken, was aus mir geworden wäre, wenn ich nicht in einem Schuhkarton ganz hinten im Schrank zufällig auf meine Joggingschuhe gestoßen wäre. Sie haben mich daran erinnert, dass in mir noch etwas anderes steckt, dass ich eine Überlebenskünstlerin bin. Ich habe sie angezogen und bin zum ersten Mal seit Langem wieder joggen gegangen. Danach war ich jeden Tag laufen.
Selbst heute Morgen habe ich mich aufgerafft, obwohl ich müde bin und es nieselt. Laufen ist die einzige Möglichkeit, um gegen das Grauen anzukommen, das mich quält, seit Matt und ich gestern Abend gestritten haben. Es war ein hässlicher Streit, der mir das Gefühl gab, unsere Ehe wäre in Gefahr. Als ich endlich einschlief, wurde ich von seltsamen, beunruhigenden Träumen überfallen, durchsetzt von peitschendem Wind und dem Prasseln des Regens auf den Schieferplatten unserer Einfahrt. Beim Aufwachen fühlte ich mich merkwürdig beraubt.
In dem Augenblick, als ich die Augen aufschlug, begann die morgendliche Routine. Es war hektisch wie immer. Alice hatte einen kleinen Tobsuchtsanfall, weil ihre Lieblingsfrühstücksflocken leer waren, und Matt machte ihr, um sie zu besänftigen, rasch Rührei mit Toast. Ich flocht ihre dunklen Haare, während sie aufgedreht vor dem Flurspiegel herumzappelte. Alice sollte einen Gegenstand mit in die Schule bringen und ein kurzes Referat darüber halten. Auf der Suche nach der Muschel, die sie dafür ausgewählt hatte, stellten wir zusammen das ganze Haus auf den Kopf. Trotz des Chaos war die Atmosphäre eisig. Matt und ich wechselten kein einziges Wort.
Als ich Alice endlich ins Auto verfrachtet hatte, um sie zur Schule zu fahren, kehrte der nächtliche Sturm zurück. Unablässig schlug der Regen gegen die Windschutzscheibe, und während ich an unserer örtlichen Ladenzeile mit ihren Cafés und Geschäften voller nutzlosem Schnickschnack vorbei die vertraute Strecke fuhr, kam es mir so vor, als verhöhnte er mich. Durch die Schlieren, die die Scheibenwischer auf ihrem Weg über die Scheibe hinterließen, sah ich den Spielzeugladen vorbeiziehen und dachte bei mir: Wenn die Makel meines Lebens doch auch so leicht verwischt werden könnten. Ich schaltete das Radio ein. Die Musik half nicht. Meine Gedanken wanderten unablässig zurück zu unserem nächtlichen Streit.
Es fing beim Abendessen an. Matt erklärte mir in demselben ausdruckslosen Tonfall, mit dem er mich auch bitten würde, ihm das Salz zu reichen, dass ich nicht zum Gedenkdinner für Laura eingeladen bin. Er versuchte, es mir schmackhaft zu machen, indem er es so darstellte, als täte er mir damit einen Gefallen. Es wäre sicher langweilig, dazusitzen und den einschläfernden Reden zuzuhören. Es würde ein sehr langer Abend werden, und meine Medikamente würden mich ohnehin müde machen. Und dann zog er die Alice-Karte. »Schatz«, sagte er, »jemand muss bei Alice bleiben. Mit der neuen Babysitterin fühlt sie sich noch nicht so richtig wohl.«
Ich konnte es nicht fassen. Ich kann’s noch immer nicht fassen. Hält er mich für so dumm, dass er glaubt, ich wüsste nicht, warum ich dort nicht erwünscht bin? Denn das weiß ich ganz genau. Matt kann wohl kaum den trauernden Witwer spielen, wenn ich neben ihm am Ehrentisch sitze und höflich klatsche, weil im Namen seiner ersten Frau Stipendien vergeben werden. Der lieben Laura, die in seinem Bett und in seinem Herzen stets den ersten Platz eingenommen hat. Und bis in alle Ewigkeit wird. Laura wird nie altern, nie dick werden, nie Falten bekommen, ihn nie so enttäuschen, wie ich ihn enttäuscht habe. Alle sprechen nur in den höchsten Tönen von ihr, auch nach all den Jahren. Mich nehmen sie kaum zur Kenntnis.
»Das ist fantastisch, Matt«, sagte ich, in dem Versuch, einen Witz darüber zu machen. »Mir war gar nicht klar, dass ich die Leiche in deinem Keller bin. Die lästige zweite Frau. Vor der Öffentlichkeit versteckt.«
»Jetzt übertreib nicht, Julie«, schoss er zurück. »Du hasst solche Veranstaltungen. Wenn ich dich gebeten hätte, mich zu begleiten, hättest du dich unter einem Vorwand davor gedrückt. So läuft es doch, oder? Ein Vorwand nach dem nächsten?«
»Du hättest fragen können, bevor du für mich entscheidest. Ich habe doch wohl das Recht, meine eigenen Entscheidungen zu treffen.« Ich lief hoch in unser Schlafzimmer und weinte in die Steppdecke auf unserem Bett. Tief in mir drin wusste ich, dass Matt recht hatte. Ich wäre nicht mitgekommen. Ich gehe kaum noch unter Leute.
Es heißt, Laufen ist ein Sport für Einzelgänger. Ich bin sowohl vom Körperbau als auch vom Temperament her eine Langstreckenläuferin. Am glücklichsten bin ich, wenn ich allein laufe und der Wind in meinen Ohren braust und alles andere überdeckt.
Der Kellers Way mit seinen steilen Anstiegen und seiner tiefen Stille ist meine Lieblingslaufstrecke. Egal, was andere sagen, kein Fitnessgerät kann das Gefühl von Freiheit vermitteln, das man beim Laufen im Wald hat. Nicht einmal das Hightech-Laufband, das Matt mir vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt hat. Es steht unten im Gästezimmer und staubt ein. Ich habe das Laufband zweimal benutzt, aber nur, weil ein heftiger Schneesturm wütete und wir das Haus nicht verlassen konnten.
Matt mag es nicht, wenn ich draußen laufe. Er sagt nicht, warum, aber das weiß ich auch so. Wir leben im Schatten von Lauras Tragödie. Er will, dass ich zu Hause trainiere oder die Platinmitgliedschaft nutze, die er im Fitnessstudio für mich abgeschlossen hat.
Warum begreift er nicht, dass das alles Schwindel ist? Die quirlige Step-Aerobic-Lehrerin, die unmöglich so glücklich sein kann; der Personal Trainer, der schamlos mit seinen Kundinnen flirtet, damit er mehr Trinkgeld bekommt; die Vollzeitmütter, die heimlich während des Trainings die Lücke zwischen ihren Oberschenkeln messen. Diese Frauen verurteilen und beneiden einander gleichzeitig. Nach dem Kurs schlürfen sie dann an der Bar des Fitnessclubs mit durchsichtigen Strohhalmen Gemüsesaft und kichern dabei wie aufgeregte Schulmädchen, die sich mit selbst gemixten Cocktails betrinken. Ich kann’s nicht glauben, dass ich da mitgemacht habe und meinen Vitaminshake getrunken habe wie eine, die sich um die Mitgliedschaft in einer Schwesternschaft bemüht und verzweifelt versucht dazuzugehören. Und elend scheitert.
Inzwischen laufe ich lieber allein. Der kalte Wind schlägt mir ins Gesicht, bis meine Wangen brennen, und der Regen prasselt auf mich nieder, bis ich nass bin bis auf die Knochen. Heute ist die Morgenluft so eisig, dass mein Atem in kleinen Wolken vor mir steht wie geisterhafte Erscheinungen, die sich auflösen, wenn ich hindurchlaufe.
Ich biege von der Hauptstraße ab und laufe den Kellers Way hinunter. Der Regen ist jetzt zu einem leichten Nieseln geworden. Ich laufe, bis ein ohrenbetäubendes Summen alles andere ausblendet, selbst die qualvollen Schmerzen in meinem Körper. Lange höre ich gar nichts, bis lautes Keuchen durch den Nebel der Benommenheit dringt, der mich einhüllt. Erst nach einem Augenblick begreife ich, dass ich das bin, die so keucht. Ich habe Mühe zu atmen. Unbeholfen zerre ich mein Asthmaspray aus der Tasche und inhaliere, bis die Enge in meiner Brust nachlässt.
Hinter mir knacken Zweige. Ich schieße herum. Ich bin von Bäumen umgeben, die meisten ohne Laub. Dann sehe ich es. Die sanften Augen eines Rehs schauen mich an, bis Entsetzen in ihnen aufscheint. Das Tier wirft mir noch einen beinahe vorwurfsvollen Blick zu, bevor es davonläuft.
Als ich zur Universität komme, ist Matts Vorlesung bereits in vollem Gange. Alle lauschen hingerissen. Ich habe schon immer bewundert, wie mühelos Matt einen Raum beherrscht. In dem marineblauen Hemd, dessen Ärmel bis zu den Ellbogen aufgerollt sind, und mit den kurzen dunklen Stoppeln am Kinn wirkt er eher wie ein Revolutionär, der einen Aufstand plant, als wie ein Professor der Psychologie.
Ich sitze anonym im Schatten und sehe zu, wie seine weiblichen Fans die Beine überschlagen und wieder lösen, während sie nervös auf ihren Stühlen hin und her rutschen und seiner sonoren Stimme lauschen. Ich erkenne den Hunger in ihren geschminkten Augen.
In College-Foren im Internet habe ich Kommentare über Matt gelesen, die mir die Röte ins Gesicht getrieben haben. Die Dinge, die diese jungen Frauen über meinen Mann sagen und denken. Er tut so, als bemerkte er die Phalanx pastellfarbener Slips nicht, die aufreizend unter ihren Röcken aufblitzt.
»Impuls.« Matt schreibt den Begriff mit rotem Marker auf das Whiteboard und unterstreicht ihn doppelt.
»Wir alle haben Triebe, Begierden. Einige Triebe teilen wir mit anderen Tieren. Zum Beispiel Hunger, einen der primitivsten Triebe. Andere Triebe sind höher entwickelt und ein Spiegel unseres Menschseins. Der Machttrieb. Das Bedürfnis nach Besitz oder Erfolg. Oder nach Anerkennung.« Er unterbricht sich.
»Wenn jetzt hier alle ihren Trieben nachgeben würden, würde schnell Chaos ausbrechen. Anarchie.« Er macht eine Pause, bis das verlegene Lachen sich legt. »Trieben nicht nachzugeben, Begierden widerstehen zu können unterscheidet uns von unseren Verwandten, den Primaten. Es macht uns zu Menschen. Ja, es macht uns zu zivilisierten Wesen.« Matt wartet mit verschränkten Armen, bis die Anspannung im Raum so groß ist, dass die Luft förmlich knistert. Seine Studentinnen und Studenten spitzen die Ohren, denn sie möchten seinen nächsten Satz auf keinen Fall verpassen.
»Es hat sich herausgestellt, dass es zu größerem Erfolg führt, wenn man die Fähigkeit besitzt, der Versuchung einer unmittelbaren Belohnung zu widerstehen und auf eine bessere Belohnung zu einem späteren Zeitpunkt zu warten. Mehr Punkte beim Aufnahmetest an der Uni. Bessere Berufe. Höheres Einkommen. Da stellt sich die Frage, warum Menschen, die in der Lage sind, die Befriedigung ihrer Triebe aufzuschieben, erfolgreicher sind. Nun?«
Ziemlich weit hinten hebt jemand die Hand. »Es ist ein Zeichen für Selbstbeherrschung.«
»Richtig. Selbstkontrolle. Wir üben sie unablässig aus.« Matt macht eine Pause. »Wir widerstehen jeden Augenblick unseres Lebens Begierden. Schokolade, Zigaretten, Kaffee.« Er macht eine Pause. »Sex.«
Er hält einen Moment inne und richtet den Blick direkt auf eine junge Frau mit langem schwarzem Haar. Ich schnappe nach Luft. Die Ähnlichkeit ist unheimlich. Kein Wunder, dass Matt die Augen nicht von ihr lassen kann. Von allen Studentinnen, die er dieses Semester unterrichtet, muss er ausgerechnet die ficken, die aussieht wie Laura.
Mel
Im Winter ist die Zahl der Mordfälle meist niedrig, bevor sie mit Beginn des Frühjahrs plötzlich sprunghaft ansteigt und dann langsam immer weiter zunimmt, bis sie im Hochsommer, wenn die Hitze am drückendsten ist, den Höhepunkt erreicht.
Manche meinen, der jährliche Anstieg an Tötungsdelikten im Frühling werde durch die Veränderung des Schlafrhythmus beim Wechsel auf die Sommerzeit ausgelöst. Die Wahrheit ist viel banaler. Die Schneeschmelze fördert Geheimnisse zutage, die über den Winter verborgen waren. Hauptsächlich alte Knochen. Bleich und brüchig. Sie stoßen durch die feuchte Erde und werden von Wanderern gefunden, die zwangsläufig davon ausgehen, dass es menschliche Überreste sind. Ab und zu haben sie recht. Meistens aber sind es Tierknochen, oft von überfahrenen Tieren, zur Seite gefegt und unter Schnee begraben. Im Frühling verwenden wir verdammt viel Zeit darauf, alten Knochen nachzujagen.
Das Opfer im Kellers Way wäre nie gefunden worden, wenn wir nicht die schlimmsten Frühjahrsstürme seit zwei Jahrzehnten gehabt hätten. Drei Tage lang hat es so stark geregnet, dass es in den Niederungen der Stadt zu Überschwemmungen gekommen ist. Mehrere Straßen, die durch die Wälder führen, wurden gesperrt, weil die Gefahr bestand, dass Bäume umfallen könnten. Eine dieser Straßen war der Kellers Way.
»Du musst rüber in den Nationalpark, Mel.« Die Stimme des Kollegen in der Leitstelle hallte vom Lautsprecher meines Handys durch die Küche und übertönte das Brutzeln der Eier, die ich für meine Kinder briet, bevor sie in die Schule gingen. »Auf einer Lichtung in der Nähe der Straße wurde eine Leiche gefunden.«
An der Abzweigung zum Kellers Way lenkte ich meinen Wagen um ein Schild mit der Aufschrift »Straße gesperrt« herum. Loser Kies knirschte, als ich einer Reihe von Haarnadelkurven zu den aufblitzenden Lichtern von Einsatzfahrzeugen irgendwo weiter vorn folgte.
Die Spurensicherung war mir zuvorgekommen. Carls allzu vertrauter grauer Schopf beugte sich über den mit gelbem Band abgesperrten Fundort. Dahinter steckte eine Schaufel in einem ordentlichen Haufen Erde. Das Loch im Boden direkt daneben hatte Carl mit Plastikplanen ausgelegt.
»Hey, Carl.« Meine Stimme drang durch die Stille. Carls Kopf schoss hoch.
»Tut mir leid«, sagte er und stand auf. »Ich hab ohne dich angefangen.« Sein silberner Schnurrbart hing herab, als äffte er den freudlosen Zug seiner Lippen nach.
»Was hast du gefunden?«
»Pack dich ein, dann zeig ich’s dir.« Er warf mir ein Set Schutzkleidung zu und wartete mit verschränkten Armen, bis ich in den weißen Overall gestiegen war, Schutzüberzüge über die Schuhe gestreift und die Hände in blaue Gummihandschuhe gezwängt hatte.
Der süßliche Geruch des Todes wehte mir entgegen. Ich setzte die Atemmaske auf und zog die weiße Kapuze über den Kopf, bis ich nur noch ein blasses Gesicht in weißem Plastik war. Dann bückte ich mich unter der Absperrung durch.
Ich trat in die Fußspuren von Carl, der sich langsam auf die Leiche zubewegte. Es gibt nichts Schlimmeres, als Dutzende von Fußspuren von Polizisten und Sanitätern ausschließen zu müssen, die einen Tatort verunreinigt haben, indem sie kreuz und quer darübergelaufen sind, als wäre es ein Familienpicknick.
Der Strahl von Carls Taschenlampe traf auf die Leiche, die unter einem Baum lag, zum Teil mit Erde bedeckt. Ich betrachtete die knorrigen Äste und den eindrucksvollen Stamm und dachte: Wenn Bäume doch nur reden könnten.
»Die Waldarbeiter haben die vom Sturm beschädigten Bäume entlang der Straße gefällt. Dabei ist ein abgesägter Ast hier in der Nähe gelandet. Als sie herkamen, um ihn wegzuschaffen, haben sie das Bein des Opfers entdeckt, das der Regen zum Teil freigelegt hatte.«
»Was hast du bisher?« Ich hockte mich neben Carl.
»Das Opfer ist aller Wahrscheinlichkeit nach eine erwachsene Frau«, sagte er. »Wer sie vergraben hat, ist davon ausgegangen, dass sie nicht gefunden wird.«
Ich ließ den Strahl der Taschenlampe über die Rinde des mächtigen Stamms wandern und schaute nach Initialen oder anderen Zeichen, die der Mörder womöglich hineingeritzt hatte.
»Carl, ich will Fotos von diesem Baum. Der Mörder hat vielleicht etwas in die Rinde geschnitzt, um die Stelle zu markieren.«
Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Leiche. Stofffetzen deuteten darauf hin, dass das Opfer eine schwarze Hose getragen hatte. An dem freigelegten Fuß steckte ein schwerer schwarzer Lederstiefel.
»Sieh dir das an«, sagte Carl und fegte mit einer Bürste Erde weg, bis eine Hand mit manikürten Nägeln zum Vorschein kam. Ein exquisiter Farbton, eher klassisch. Kein aufdringlicher Nagellack, wie ihn Huren und Stripperinnen auflegen. Am Handgelenk eine Uhr mit elegantem, hauchdünnem Ziffernblatt. Es war beschlagen, aber ich konnte trotzdem erkennen, dass die Uhr um 2:44 Uhr stehen geblieben war.
Das Opfer hatte Geld und Geschmack gehabt. Das eine geht nicht immer mit dem anderen Hand in Hand. Dies war weder eine Ausreißerin noch ein Callgirl, dessen Verschwinden der Polizei nicht gemeldet worden war. Das Opfer war eine Frau, deren Abwesenheit sicher bald bemerkt worden war.
»Wie lange dauert es noch, bis wir die Leiche hier rausholen und mit der Identifizierung anfangen können?«, fragte ich.
Carl zuckte die Achseln. »Bei Einbruch der Dunkelheit haben wir sie bestimmt raus. Sonst holen wir Scheinwerfer und arbeiten bis in die Nacht weiter. Wenn dafür heute keine Zeit mehr bleibt, kommen wir morgen wieder, um den Mutterboden ums Grab herum zu bergen und ins Labor zu bringen.«
Das war in einem solchen Fall üblich. Immerhin war es möglich, dass der Mörder etwas fallen gelassen hatte, während er das Opfer begrub.
Als ich noch oben in New York arbeitete, fanden wir einmal neben einer Leiche, die in einem Müllcontainer entdeckt worden war, einen Hotelzimmerschlüssel. Er führte uns direkt zum Täter, der in seinem Hotelbett tief und fest schlief, ohne zu ahnen, dass er am Tatort seine Ersatzschlüsselkarte verloren hatte.
»Sag mir Bescheid, sobald sie im Leichenschauhaus ist«, sagte ich zu Carl und bückte mich wieder unter dem Absperrband durch. »Bis zur Obduktion kann ich nicht viel tun.«
So war das mit Obduktionen. Sie konnten einen Fall voranbringen oder vollkommen ausbremsen. Als ich vor vier Jahren gerade hierhergezogen war, wurde ich an einen Tatort in einem Haus am Stadtrand gerufen. Das Opfer, eine Frau, lag mit eingeschlagenem Schädel im Hinterhof unter der Wäscheleine auf dem Boden. Ein weißes Bettlaken, das sie gerade aufhängte, als sie umgebracht wurde, war voller Blutflecken. Wir dachten, der Exmann wäre es gewesen. Er hatte an dem Abend, an dem sie starb, gesoffen und hatte nicht die geringste Erinnerung daran, wo er gewesen war und was er gemacht hatte.
Dann kamen die Laborergebnisse. Es stellte sich heraus, dass mikroskopisch kleine Fasern aus der Wunde des Opfers von den Klauenfedern eines Uhus stammten. Das Opfer war zwar durch stumpfe Gewalteinwirkung umgekommen, aber nicht von der Art, wie wir gedacht hatten. Ein Uhu hatte sich von hinten auf die Frau gestürzt und sie zu Boden geworfen, wo sie an einer Gehirnblutung gestorben war. Der Uhu hatte wahrscheinlich seine Jungen beschützt, wie die Tiere das im Frühling eben machen.
Der Fall wäre allenfalls als Anekdote für Dinnerpartys gut gewesen und ansonsten in Vergessenheit geraten, hätte er uns nicht eine Lektion fürs Leben erteilt. Der kristallene Briefbeschwerer in Form einer Eule, der jeden Morgen, wenn ich die Dienststelle betrat, auf meinem Schreibtisch aufblitzte, war eine Erinnerung an die Lektion, die kein Polizist je vergessen sollte: Manchmal muss man hinter das Offensichtliche schauen, um zur Wahrheit zu gelangen.
Das hatte nie mehr Gültigkeit als im Fall der Leiche aus dem Kellers Way.
Julie
Egal wie viel Mühe ich mir gebe, ich kann nicht aufhören, an den selbstgefälligen Ausdruck im makellosen Gesicht dieses Flittchens zu denken, als Matt während der Vorlesung mit ihr flirtete. Die Erinnerung daran zieht mir in sämtlichen Einzelheiten in einer Endlosschleife durch den Kopf: wie sie kokett ihr dunkles Haar nach hinten warf, als Matt in ihre Richtung sah, das heimliche, selbstzufriedene Lächeln auf ihren hübschen Lippen, während sie sich Notizen machte, die leichte Röte auf ihren frischen, jungen Wangen, als sie nach der Vorlesung an ihm vorbeiging. Vor allem aber erinnere ich mich an die kaum verhüllte Begierde in Matts Augen, während er ihr hinterhersah. Diesen Blick kenne ich sehr gut. Früher galt er mir.
Wie um Salz in meine Wunden zu reiben, ist er gestern Abend spät nach Hause gekommen. Ohne Erklärung. Ich war im Bett und hatte bereits das Licht gelöscht, als er sich neben mich legte. Ich hätte schwören können, dass er ganz leicht nach einer anderen Frau roch. Ich tat, als würde ich schlafen. Er zog mich an sich, strich über meine Brüste und schob mir dann die Hand zwischen die Beine. Ich hielt so lange still, wie ich konnte. Ich habe es satt, ihn mit anderen zu teilen. Doch Matt kann sehr hartnäckig sein, wenn er etwas will. Ich hörte also auf, so zu tun, als schliefe ich, und drehte mich zu ihm um.
Ich wische mir eine Träne fort, als ich den Hügel hinunterlaufe, und ziehe die Kapuze meiner Jacke über mein dunkelblondes Haar. Das entfernte Dröhnen eines Rasenmähers ist der einzige Hinweis darauf, dass ich nicht allein bin in unserer protzigen Straße, wo man nicht einmal weiß, wie die Nachbarn heißen. Wo jeden Morgen die Tore zu den Einfahrten verschlossen und Alarmanlagen eingeschaltet werden und gelangweilte, vernachlässigte Hunde sich über die Zäune der Gärten hinter den Häusern anbellen. Wo Kinder nach der Schule die Straße auf und ab radeln in dem verzweifelten Bemühen, ihrem reglementierten Vorstadtleben zu entfliehen.
Ich lebe seit fast fünf Jahren in diesem grünen Viertel mit prächtigen Anwesen und gepflegten Rasenflächen, und ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass das alles bloß Zuckerwatte ist. Aus der Ferne scheint es perfekt. Wenn man es endlich schmeckt, ist es widerlich und unbefriedigend.
Ich biege um eine Ecke in eine Durchgangsstraße. Autos zischen vorüber, verwischte Schatten ausgewaschener Metallicfarben. Ihr Motorenlärm ist tröstlich und beängstigend zugleich. Ich zähle im Geiste vor mich hin, während ich um die nächste Ecke biege. Bei zwanzig fange ich wieder von vorn an. Ich konzentriere mich auf meine Atmung, meine Schritte, das Pumpen meiner Arme. Ich atme hörbar ein und aus.
Zwei Blocks später hält direkt vor mir ein Lieferwagen am Straßenrand. Der Fahrer springt heraus und drückt die Schiebetür auf. Ich laufe an ihm vorbei. Ein Stück weiter bewegt sich eine Frau mit drei kläffenden Mischlingshunden wie in Zeitlupe. Sie lächelt, ich nicke. Und dann ist sie fort.
Als ich die Häuser hinter mir lasse und den Waldrand erreiche, biege ich in den Kellers Way. Auf dieser engen, hügeligen Straße sind selten Autos unterwegs. Es gibt schnellere Strecken. Bequemere Routen. Wie es der Zufall will, fährt heute auf der Straße aber doch ein Auto an mir vorbei. Die Reifen knirschen auf dem Asphalt. Der Motor jault, während es mich überholt.
Ich sprinte, bis mein Hals brennt und meine Beine sich anfühlen, als wollten sie mir jeden Moment den Dienst versagen. Am Fuß der steilsten Steigung trinke ich an meinem üblichen Haltepunkt unter den Ästen einer Pappel aus meiner Wasserflasche. Es ist die einzige Pappel in diesem Teil des Waldes.
Ich knote die Schnürsenkel meiner Laufschuhe fester, und meine Finger sind steif von der Kälte. Ich will gerade den letzten Hügel zu der Straße hochlaufen, die zur Universität führt, da höre ich ein Rumpeln. Wie Donnerdröhnen. So laut, dass ein Schwarm Blauhäher erschrocken von einem Baum auffliegt. Ich blicke nach oben und sehe, wie die Vögel hektisch mit den Flügeln flattern.
Ein Auto schießt um die Kurve. Es fährt viel zu schnell für eine so enge Straße. Ich warte darauf, dass es bremst. Doch es verlangsamt nicht. Es beschleunigt und hält auf mich zu.
Fühlt es sich so an, tot zu sein? Ich liege auf dem Boden und sehe zu, wie die Sonnenstrahlen hinter den Wolken hervorkriechen wie ein gottloser Heiligenschein. Vage erinnere ich mich an das Knacken meines Schädels, nachdem ich einen Hechtsprung die Böschung runtergemacht hatte, um dem auf mich zurasenden Auto auszuweichen.
Als ich aufstehe, tut mir alles weh. Mein Kopf pocht. Doch die Schmerzen sind mir egal. Adrenalin schießt durch meinen Körper, während ich den matschigen Hang hochklettere und mich dabei an Wurzeln hochziehe. Ich rieche die Trümmer, bevor ich die Rauchwolke sehe, die unter der verbeulten Motorhaube aufsteigt. Die Windschutzscheibe ist geborsten, ein Spinnennetz aus Rissen.
Mit zitternder Hand ziehe ich die Beifahrertür auf. Der Fahrer ist über dem Lenkrad zusammengesunken. Er stöhnt leise wie ein verletztes Tier vor dem Todesschuss. Blut tropft ihm aus einer klaffenden Stirnwunde über das Kinn aufs Hemd.
Mein Hals ist wie zugeschnürt vor Angst. Ich versuche zu sprechen. Es kommt kein Wort heraus. Ich schlucke und probiere es noch einmal. »Geht es Ihnen gut?«
Die einzige Reaktion ist eine so minimale Bewegung, dass ich sie mir auch eingebildet haben kann.
»Es wird alles gut«, versichere ich ihm. Ich versuche, überzeugend zu klingen, doch es gelingt mir nicht.
Plötzlich schlägt er die Augen auf. Beim Anblick seiner hellen Iris regt sich in den tiefsten Tiefen meiner Erinnerung etwas. Sein Haar ist gewellt und kastanienbraun meliert.
»Julie?«, sagt er mit brüchiger Stimme. »Mein Gott. Ich hab ja nicht gewusst …« Sein Satz bleibt unvollendet, als ihn starke Schmerzen übermannen.
»Was haben Sie nicht gewusst? Wer sind Sie?«, frage ich unter Tränen. Er ist ein gesichtsloser Mann mit stoppeligem Bart und voller Blut. Er hätte mich beinahe umgebracht. Warum weine ich?
»Ich hätte es niemals getan, wenn ich gewusst hätte, dass du es bist.« Seine Worte sind kaum mehr als ein Flüstern.
»Was getan?«
Er antwortet nicht. Seine Wunde blutet stark. Ich sage ihm, dass ich weiterlaufe, um Hilfe zu holen. Dass es nicht lange dauert, bis der Krankenwagen kommt. Dass alles gut wird.
»Nein«, krächzt er und hustet Blut. Es spritzt über das Armaturenbrett. »Es tut mir leid.« Er drückt meinen Arm, sodass mein Ärmel voller Blut ist.
»Es ist nicht Ihre Schuld. Es war ein Unfall«, erkläre ich ihm. »Wahrscheinlich haben die Bremsen versagt.«
»Nein.« Er schüttelt den Kopf. »Du täuschst dich. Es war kein Unfall.«
Er flüstert etwas. Ich verstehe ihn nicht. Die Verwirrung steht mir wohl ins Gesicht geschrieben, denn er hebt den Kopf und flüstert, indem er alle Kraft zusammennimmt: »Du bist nicht sicher, Julie. Du musst hier weg.«
Diese Worte hallen noch in mir nach, als ich eine halbe Stunde später in Matts unverschlossenes Büro humpele. Mich quälen rasende Kopfschmerzen, und ich habe mir bei dem Sturz wohl die Schulter geprellt. Ich begreife noch immer nicht ganz, was passiert ist. Er starb so schnell, dieser Mann in dem zerbeulten Wagen. Seine Atmung wurde flach. Und dann setzte sie abrupt aus, und sein Kopf fiel mit einem dumpfen Geräusch gegen das Fenster.
»Du musst hier weg«, hat er gesagt, bevor er starb. Also rannte ich. Ich lief durch den Wald, im Slalom um Bäume herum, den Hügel hinauf, durch dichtes Unterholz zum Unicampus. Ich bin direkt hierhergekommen, um Matt zu suchen. Er weiß sicher, was zu tun ist. Doch er ist nicht in seinem Büro. Ich stehe an seinem Bürofenster und sehe zu, wie Studierende wie Ameisen über den rechteckigen Rasen zwischen den Fakultätsgebäuden ziehen. Lehrveranstaltungen sind gerade zu Ende gegangen. Matt müsste bald kommen.
Ich will das Blut aus meinen Kleidern reiben, doch es ist tief ins Gewebe eingedrungen. Ein bleibender Fleck. Das letzte Mal, als ich so viel Blut gesehen habe, war in der Nacht, als ich mit dem Gefühl aufwachte, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich ging ins Bad, eigentlich um zur Toilette zu gehen, und sah stattdessen mit morbider Faszination zu, wie der weiße Satin meiner Schlafanzughose sich knallrot färbte.
Matt rief einen Krankenwagen. Die Sanitäter haben mich auf einer Trage festgeschnallt und mir Riesenbinden zwischen die Beine geschoben. Bis wir in der Notaufnahme ankamen, waren sie zweimal durchgeweicht. Inzwischen war ich halb bewusstlos, aber ich wusste, dass es sehr schlimm um mich stand. Selbst eine Ausschabung reichte nicht, um die Blutung zu stoppen. Der Chirurg musste mir die Gebärmutter herausnehmen. Matt gab, als nächster Verwandter, sein Einverständnis. Ich hatte nichts zu melden. Ich war bewusstlos.
Verdammt, Julie. Hör auf, an die Blutung zu denken.
Ich schiebe einen Stapel Bücher auf der Couch in Matts Büro zur Seite und lege den Kopf auf ein Samtkissen. Ich bin vollkommen fertig. Das Klicken der Pfennigabsätze einer Frau im Flur lullt mich in den Schlaf.
Als ich Matts charakteristischen Zitrusduft wahrnehme, wache ich auf. Er beugt sich über mich, Besorgnis tief ins Gesicht gegraben.
»Schatz«, sagt er leise. »Was ist passiert? Julie, du bist verletzt.«
»Es hat einen Unfall gegeben. Ich bin gestürzt und mit dem Kopf aufgeschlagen.«
Er sieht sich meinen Schädel an. Als er mit dem Daumen über die Beule streicht, zucke ich zusammen.
»Du hast vielleicht eine Gehirnerschütterung. Ich muss dich zum Arzt bringen.«
»Nein, mir geht’s gut«, protestiere ich. »Matt, ein Mann hätte mich beinahe mit dem Auto überfahren. Er hat etwas Komisches gesagt von wegen, ich wäre in Gefahr. Und dann ist er gestorben. Matt, er ist wirklich gestorben.« Ich breche in Tränen aus, die ganze angestaute Angst und der Schock lösen sich in lauten, würgenden Schluchzern. Matt zieht mich an sich, um mich zu trösten. »Wir müssen zur Polizei und denen sagen, was passiert ist«, erkläre ich ihm, den Kopf an seiner Brust, erleichtert, dass ich in Sicherheit bin.
»Julie.« Matt drückt mir einen Kuss auf den Scheitel und streicht mir zärtlich übers Haar. Er spricht geduldig mit mir, als wäre ich ein Kind. »Du bist gestürzt. Wahrscheinlich hast du eine leichte Gehirnerschütterung, so etwas kann schnell zu Verwirrung führen. Ich bringe dich jetzt erst einmal nach Hause und kümmere mich um dich. Danach spreche ich mit der Polizei.«
Zu Hause lässt Matt eine heiße Badewanne einlaufen und zieht mich derweil vorsichtig aus. Dann setzt er sich auf den Rand der Wanne und seift meine Haare mit Shampoo ein. Seine Finger reiben sanft über meine Kopfhaut. Er fährt mit dem Seifenstück über meine Schürfwunden und die blauen Flecken, die meine Schulter und meinen Oberschenkel entstellen.
Keiner von uns spricht, während er mich mit der Brause abspült und in ein Handtuch wickelt. Im Schlafzimmer zieht er mir einen frischen Schlafanzug an und hilft mir ins Bett.
»Das habe ich ganz vergessen. Ich muss Alice von der Schule abholen.« Hektisch setze ich mich auf.
»Ich hole Alice heute ab«, versichert er mir. »Ich habe mir den Nachmittag freigenommen, um nach dir zu schauen.«
»Mir geht’s gut«, sage ich. »Es ist nur eine Beule.«
»Es ist mehr als eine Beule, Julie, Schatz«, sagt er. »Du hast womöglich eine Gehirnerschütterung von dem Sturz. Und du hast schlimme Prellungen. Du solltest dich untersuchen lassen.«
Matt geht nach unten. Er spricht leise am Telefon. Sicher mit der Polizei. Ich bin erleichtert. Die Treppe knarrt, als er wieder hochkommt. Er setzt sich zu mir aufs Bett, in den Händen ein Glas Orangensaft und zwei Kapseln.
»Gegen die Kopfschmerzen und damit du schlafen kannst«, sagt er entschieden. Mir wird schwer ums Herz.
Ich nehme seit Wochen keine Medikamente mehr. Ich will sie nicht mehr. Das würde ich Matt gern sagen, doch ich habe keine Kraft, mich zu wehren, als er das Glas an meine Lippen hebt. Er schiebt mir die Kapseln in den Mund, eine nach der anderen, als wäre ich krank. Ich muss nur noch schlucken.
»Es wird alles gut.« Matt nimmt das Glas weg und drückt mich sanft aufs Kissen. »Es wird alles wieder gut.« Er wiederholt die Worte wie ein Mantra, bis mein Körper dahintreibt und mein Geist sich von mir löst.
Mel
Man sollte eine Stadt nicht nach der Größe ihres Leichenschauhauses beurteilen. Unser Leichenschauhaus war riesig. Es hatte zwei Dutzend Kühlfächer. Ich wüsste nicht, dass es je auch nur annähernd an die Grenzen seiner Kapazität gekommen wäre.
Doch man sollte auch niemals nie sagen. Im Laufe des letzten Jahres gab es einen deutlichen Anstieg von Tötungsdelikten durch Methamphetamin und chemische Cocktails mit ähnlich unaussprechlichen Namen. Es war so schlimm, dass unsere Abteilung die Einstellung zwei weiterer Detectives beantragen musste. Es ist kein gutes Zeichen für eine Stadt, wenn sie die Mordkommission aufstocken muss.
Das Leichenschauhaus lag in einem weißen Gebäude mit vorkragenden Fenstern aus schwarzem Rauchglas. Ein gescheiterter Entwurf aus den Achtzigern, der eher an ein abgewracktes Kasino erinnerte als ein öffentliches Gebäude, in dem das Institut für Rechtsmedizin untergebracht war.
Ich zog meine Zugangskarte durch das Lesegerät und tippte auf einem Zahlenfeld neben der gepanzerten Tür an den Parkplätzen hinter dem Gebäude einen Zugangscode ein. Die Tür sprang mit einem Klicken auf, und ich folgte einem leeren, gefliesten Flur, in dem es nach Desinfektionsmitteln roch.
Den Vormittag hatte ich hauptsächlich damit zugebracht, mit dem stellvertretenden Staatsanwalt den Fall Wilson durchzugehen. Er erklärte, er wolle eine außergerichtliche Einigung erreichen, um die Sache rasch vom Tisch zu haben. Er deutete an, dass er keine Kapazitäten hatte, den Fall vor Gericht zu bringen, und zeigte auf einen Aktenstapel auf dem Boden, der so hoch war, dass er jeden Augenblick ins Rutschen zu geraten drohte.
Mary Wilson war in einem Trailerpark von ihrem Freund zusammengeschlagen worden. Sie war zwanzig gewesen, als sie starb, Mutter dreier Kinder von zwei verschiedenen Vätern, von denen einer sie bei einem Streit über die Fernbedienung mit dem Kopf durch die Schlafzimmerwand gestoßen hatte. Drei Tage später war sie an einem Blutgerinnsel gestorben, das laut rechtsmedizinischem Gutachten vermutlich eine Folge der Kopfverletzung war.
Der stellvertretende Staatsanwalt erklärte mir, der Anwalt des Angeklagten könne behaupten, dass das Gerinnsel in keinerlei Zusammenhang mit der Kopfverletzung stünde. Dass sie so oder so gestorben wäre. Was die medizinische Seite betraf, konnte ich ihm nichts entgegensetzen, doch ich hatte ausreichend Material zusammengetragen, um zu beweisen, dass Mary Wilsons Freund sie über Monate geschlagen hatte. Und dass er mehr als einmal gedroht hatte, sie umzubringen.
Wenn es nach mir ginge, würde der Typ erst wieder frei herumlaufen, wenn er so alt war, dass er einen Gehstock brauchte. Das sagte ich auch dem Staatsanwalt. Ich sah, dass er hin- und hergerissen war zwischen dem, was richtig, und dem, was machbar war. Ich hoffte bei Gott, dass ich ihn überzeugt hatte, über die volle Distanz zu gehen.
Als wir fast fertig waren, bekam ich eine SMS vom Chef der Rechtsmedizin, dass sie bald mit der Obduktion der Leiche aus dem Kellers Way beginnen würden. Er hatte am Freitag eine erste Untersuchung vorgenommen, nachdem die Leiche am späten Abend ins Leichenschauhaus gebracht worden war. Dabei war es hauptsächlich darum gegangen, Gewebeproben zu entnehmen und Maden und andere Insekten einzusammeln, anhand derer der forensische Entomologe den Todeszeitpunkt bestimmen und herausfinden konnte, ob an der Stelle, wo sie vergraben gewesen war, etwas verändert worden war.
Die Leiche war nicht am Wochenende eilig obduziert worden, denn ich hatte nicht darum gebeten. Ich war mir, um ehrlich zu sein, nicht sicher, ob diese Überstunden genehmigt worden wären, wenn ich sie beantragt hätte. Es war ohnehin nicht besonders dringend. Das Opfer war schon eine Weile tot.
Im Vorraum zum Sektionssaal legte ich Schutzkleidung an. Ich setzte eine Einmalkappe auf, zog mir Maske und Gummihandschuhe über und tunkte die Finger in ein Gläschen mit extrastarker Mentholsalbe, das ich immer in der Handtasche hatte, weil die Salbe den Obduktionsgeruch überlagerte. Der Tod riecht übel, und verweste Leichen sind am schlimmsten.
Seit wir vor ein paar Jahren einen an sich wasserdichten Mordfall verloren haben, achten wir penibel darauf, dass auch nicht der geringste Verdacht einer Kontamination aufkommt. Der Verteidiger, ein teurer Anwalt aus Charlotte, hatte behauptet, dass forensische Beweismittel – die so belastend waren, dass sein Mandant unter normalen Umständen, nein, verdammt, unter allen Umständen schuldig gesprochen worden wäre – kontaminiert seien.
Sein Mandant war sympathisch. Weiß. Pfarrer. Er hatte eine hübsche Frau mit einem herzförmigen Gesicht und vier blonde, leicht hyperaktive Söhne, die während des Plädoyers im Gerichtssaal hinter ihm saßen. Sie trugen alle cremefarbene Anzüge und hellblaue Krawatten, die zu ihren blauen Augen passten.
Als der Staatsanwalt sprach, hörte ich einen Jungen den anderen flüsternd fragen: »Was ist Vergewaltigung?« Es war vollkommen unangebracht, dass sie im Saal waren. Doch Kinder zu beschützen war nicht die Aufgabe der Verteidigung. Diese Kinder waren Requisiten. Sie waren da, damit die Geschworenen in ihre altklugen blauen Augen blicken konnten, bevor sie ins Geschworenenzimmer gingen, um über das Schicksal ihres Vaters zu entscheiden.
Ihr Daddy, der Pfarrer, hatte eine junge Prostituierte vergewaltigt und sie dann erwürgt. Wir hatten Spuren seines Spermas auf ihrer Kleidung gefunden. Er hatte ein Kondom benutzt, doch ein paar Tropfen waren danebengegangen. Wir hatten Glück, seine DNA fand sich von einem Vergewaltigungsfall aus seiner Zeit auf dem College, der nie vor Gericht gekommen war, in den Akten. Diese Information war nicht für die Geschworenen bestimmt, doch sie half uns, ihn zu finden.
Er hatte einen guten Anwalt, der tat, was ein guter Strafverteidiger tut: Er streute allen Sand in die Augen. Er besorgte sich die Unterlagen aus dem rechtsmedizinischen Institut und stellte fest, dass an dem Nachmittag, als in zwei verschiedenen Laboren im selben Gebäude die Spuren vom Opfer und vom Beschuldigten untersucht worden waren, ein Mitarbeiter in beiden Laboren gewesen war.
Er besaß die Dreistigkeit, eine Kontamination des Beweismaterials als Argument vorzubringen. Die Geschworenen hatten förmlich einen Vorwand gesucht, ihn freisprechen zu können. Und der Verteidiger servierte ihnen diesen auf dem Silbertablett: berechtigter Zweifel. Er wusste, dass die Geschworenen lieber den Unschuldsbeteuerungen seines Mandanten glauben würden, als vier flachsköpfigen Jungen ihren Daddy wegzunehmen und sich der Tatsache zu stellen, dass selbst Pfarrer zu bestialischen Taten fähig waren.
Ich habe Staatsanwälte sagen hören, dass Geschworene forensischen Beweisen zu viel Gewicht beimessen, weil Fernsehserien sie glauben lassen, die Forensik besäße eine nahezu gottgleiche Macht. Dieser Prozess war so ein typischer Fall. Obwohl es sogar einen Zeugen gab, einen Tankwart, der das Opfer am Abend ihres Verschwindens im Auto des Pfarrers gesehen hatte. Der Verteidiger zerriss die Zeugenaussage des Mannes in der Luft, indem er auf dessen Vergangenheit als Drogensüchtiger herumritt. Eigentlich war der Fall eine todsichere Sache. Und doch war der Angeklagte – trotz der ausführlichen Aussage eines Zeugen und trotz erdrückender DNA-Beweise – als freier Mann aus dem Gerichtsgebäude spaziert.
Die internen Ermittlungen im Anschluss an den Prozess hatten ein sehr strenges Protokoll für den Umgang mit Spuren zur Folge gehabt. Keiner von uns wollte wegen einer beschissenen Verteidigungsstrategie noch einen Fall verlieren. Deswegen steckte ich von Kopf bis Fuß in Schutzkleidung aus Plastik, als ich den Sektionssaal betrat, in dem unter einem weißen Laken die Tote aus dem Kellers Way auf einem Tisch lag.
Um anzuzeigen, dass er meine Ankunft bemerkt hatte, blickte Mike kurz vom Computerbildschirm auf, wo er sich gerade Röntgenbilder ansah. Mike und ich arbeiteten schon lange zusammen, und ich wusste, dass er seinen Gedankengang nicht unterbrechen wollte.
Ich nutzte die Zeit, um mir die Sachen des Opfers anzusehen, die in einer langen Reihe von Asservatenbeuteln auf der Arbeitsfläche lagen. Auf jeder Plastiktüte stand mit Permanentmarker eine Nummer und die Beschreibung des Inhalts.
Im ersten Beutel war ein schwarzer linker Stiefel mit geschlossenem Reißverschluss von der Art, die bis knapp unters Knie reichen. Der rechte Stiefel befand sich in einem anderen Beutel daneben. Beide Schuhe waren zum Teil mit Matsch bedeckt, doch es war so viel von dem Leder zu erkennen, dass man ihre außergewöhnliche Qualität ausmachen konnte, vielleicht waren sie sogar handgenäht. Solche Stiefel waren nicht billig. Die Absätze waren dick. Stabil. Keine Stilettos. Dies waren keine modischen Stiefel.
In einem weiteren Asservatenbeutel befand sich eine Garnitur schwarzer Damenunterwäsche. Nichts Ausgefallenes. Ich hielt den Beutel unter das Licht einer der Leuchtstoffröhren an der Decke, um mir die Unterwäsche genauer anzusehen.
»Die Wäsche ist nicht vorsätzlich zerrissen worden«, sagte Mike, ohne den Blick vom Computerbildschirm zu lösen. »Wir überprüfen sie im Labor auf Spermaspuren.«
Der BH war eher maulwurfsgrau und voller Schmutzflecken. Eine weiße Bluse sah durch das Plastik der Tüte grau aus. In einem weiteren Beutel steckte eine rote Jacke, ein Einreiher mit Messingknöpfen am Revers und, soweit ich es erkennen konnte, ohne Etikett. Sie sah nicht aus, als wäre sie von der Stange. Ich schätzte, dass sie maßgeschneidert war.
Zwei goldene Ohrstecker mit Diamanteinsätzen waren ebenfalls in einen kleinen Asservatenbeutel gesteckt worden, und in einem weiteren befand sich eine goldene Halskette mit einem Halbedelsteinanhänger. Auch die Armbanduhr, die ich am Tatort gesehen hatte, war da, elegant und modisch. Ich machte mir Notizen, um die Besitztümer des Opfers mit den Vermisstenlisten abzugleichen.
»Keine Geldbörse, nehme ich an. Kein Ausweis?« Ich wandte mich an Mike. Die Frage war überflüssig. Er hätte mich sofort angerufen, wenn er etwas gefunden hätte, anhand dessen wir sie hätten identifizieren können. Er schüttelte den Kopf.
»Hast du den Zahnstatus überprüft?«
»Klar«, sagte er. »Viel hat der Zahnarzt da nicht gemacht, außer eine Zahnspange als Kind. Zwei kleine Füllungen. Die Weisheitszähne wurden ihr als Jugendliche gezogen. Bring mir die Zahnarztunterlagen potenzieller Opfer, dann können wir ihre Identität bestätigen.«
Das war das Problem mit dem Zahnstatus. Er nützte nur etwas, wenn man die Zahnarztunterlagen potenzieller Opfer zum Abgleichen hatte. Umgekehrt funktionierte es nicht so gut.
»Irgendwelche besonderen Merkmale am Körper?«
»Nichts Auffälliges.« Mike stand auf und schob seinen Hocker nach hinten. »Angesichts der Zeit, die nach unserer Schätzung verstrichen ist, ist noch überraschend viel Körpergewebe vorhanden. Aber wir haben nichts gefunden, was für ihre Identifizierung hilfreich wäre. Keine Tätowierungen oder Ähnliches. Im Laufe der Woche machen wir uns an die Gesichtserkennung.«
Er rollte, während er sprach, seine Werkzeugrolle aus und reihte seine Instrumente fein säuberlich neben der Leiche auf.
»Was ist mit der Kleidung? Gibt es da etwas, womit wir sie identifizieren könnten?«
»Die Etiketten waren zu verblasst, um sie noch zu lesen«, sagte er. »Dennis untersucht sie im Labor. Die goldenen Ohrringe haben übrigens achtzehn Karat.«
»Trug sie einen Ehering?«, fragte ich.
»Keine Ringe«, antwortete er, ohne aufzublicken. »Das Labor siebt diese Woche die Erde durch. Sie müssen vierunddreißig Säcke Erde durchsuchen. Sind noch Kollegen am Tatort?«
Ich nickte. Wir hatten über das Wochenende und an diesem Morgen Leichenspürhunde draußen. Die Spurensicherung suchte mit Metalldetektoren und Bodensonden einen größeren Bereich um den Leichenfundort ab, für den Fall, dass sich dort weitere Spuren oder womöglich gar Leichen fanden.
»Irgendeine Idee, wann sie gestorben ist?«
»Ich habe noch keinen endgültigen Zeitrahmen«, antwortete Mike. »Ich bezweifle, dass es weniger als fünf Jahre her ist. Es ist unwahrscheinlich, dass es mehr als zehn Jahre sind. Damit hast du ein Fenster von fünf Jahren, mit dem du vorerst arbeiten kannst. Konkreteres kann ich sagen, sobald wir die Testergebnisse haben.«
»Und ihr Alter?«
»Ihr Alter«, wiederholte er, als würde er zum ersten Mal darüber nachdenken. »Den Zähnen nach zu urteilen, würde ich Mitte dreißig schätzen. Vielleicht Anfang vierzig. Sie ist weiß, eventuell auch Hispanoamerikanerin.«
»Hast du schon eine Idee von der Todesursache, Mike?« Ich stellte die Frage, obwohl ich die Antwort bereits kannte.
»Es gibt nichts Offensichtliches.« Er zuckte die Achseln. »Sobald ich mit der Obduktion fertig bin und mir die Röntgenbilder gründlich angesehen habe, bekommst du eine Arbeitshypothese.« Das war die Standardantwort.
»Verdammt«, sagte ich leise.
»Tut mir leid, Mel«, sagte Mike, ohne aufzublicken. »Bei einer Leiche, die so stark verwest ist, würde ich nur im Dunkeln stochern, wenn ich dir etwas anderes sagen würde.«
Mike hob das Laken an. Das Opfer hatte die Beine an die Brust gezogen. Die rechte Hand der Frau lag über ihrem Gesicht.
»Die Körperhaltung deutet darauf hin, dass sie versucht hat, sich zu schützen, als sie umgebracht wurde«, sagte Mike.
Wer auch immer die Frau war, sie hatte gewusst, dass sie sterben würde.
Julie
Es ist kurz vor sechs Uhr, als Matts Wagen in die Einfahrt biegt und sich das schmiedeeiserne Tor automatisch hinter ihm schließt. Er kommt eine Stunde zu spät. Die Wirkung des Gin Tonic, mit dem ich mir Mut angetrunken habe, ist schon wieder verflogen. Fast wünsche ich mir, ich könnte mir noch einen einschenken, doch dann wäre ich dem bevorstehenden Abend nicht gewachsen.
Durch die Vorhänge des Schlafzimmers im ersten Stock beobachte ich, wie Matt auf die Haustür zukommt, in der Hand seine lederne Aktentasche. Sie beult sich, vermutlich vor lauter Seminararbeiten, die er übers Wochenende bewerten muss. Er sieht besorgt aus. Ich binde meinen Satinmorgenmantel so locker, dass er vorn aufsteht, und mache mir einen Haarknoten oben auf dem Kopf, wie Matt es mag.
Als wir uns das erste Mal trafen, fuhr Matt mit dem Daumen über meine Wangenknochen und erklärte mir, er würde mein Gesicht gern in Bronze gießen lassen, damit meine Schönheit für immer erhalten bliebe. Er sagte, mein Gesicht sei die Verkörperung antiker griechischer Schönheit – perfekte Symmetrie und so zarte Züge, dass er fürchte, sie zu zerdrücken. Wenn ich heute in den Spiegel blicke, sehe ich in meinen Augenwinkeln die ersten Spuren des Alters, Vorzeichen des unausweichlichen Zerfalls, die auch Matt nicht entgehen.
Ich habe mir viel Mühe gegeben, doch Matt wirft nicht einmal einen Blick in meine Richtung, als ich in meinem halb offenen Morgenmantel die Treppe hinuntergehe. Er schaut lieber mit übertriebener Faszination den Poststapel auf dem Tisch im Flur durch, obwohl er doch, ohne hinzusehen, weiß, dass es hauptsächlich Werbung von Autohändlern und dergleichen ist. Meine Wangen brennen vor Scham, weil ich mich benehme wie eine läufige Hündin. Weil ich meinen eigenen Ehemann verführen möchte. Und weil ich jämmerlich scheitere.
Seit meinem Sturz behandelt er mich wie zerbrechliches Glas. Er redet mit mir wie mit einem Kind. Er berührt mich nicht einmal. Wir sind wie Figuren in einem spießigen Film aus den Fünfzigern, schlafen auf verschiedenen Seiten des Betts und geben uns platonische Küsse auf die Schläfe, bevor wir uns hinlegen. Wenn das so weitergeht, verliere ich ihn.
Endlich gibt Matt zu erkennen, dass er mich wahrnimmt. Er murmelt eine Begrüßung und beugt sich geistesabwesend vor, um mir mechanisch einen Kuss auf die Stirn zu drücken. Das geht schon die ganze Woche so. Er benimmt sich mir gegenüber, als wäre ich ein unerwünschter Hausgast, den er widerwillig duldet, weil er so gut erzogen ist.
Zum Teufel damit. Ich bewege in letzter Sekunde den Kopf, sodass sein Kuss auf meinen Lippen landet. Ich intensiviere den Kuss, lege ihm die Arme um den Hals. Ich drücke mich an ihn, bis ich mir ganz sicher bin, dass er mich will.
»Wo ist Alice?«, fragt er heiser.
»Schläft bei einer Freundin«, murmele ich. »Wir sind ganz allein.«
Es dauert nicht lang, und wir huschen eng umschlungen die Treppe hoch. Ich knöpfe sein Hemd auf. Er streicht mit den Fingern über meine Oberschenkel und packt den elastischen Rand meines Spitzenslips. Bis wir den oberen Treppenabsatz erreichen, hängt mein Slip über dem Geländer, Matts Hosenreißverschluss ist offen, und sein Hemd liegt irgendwo im Flur.
Als wir später zusammen duschen, berührt Matt die blauen Flecken an meiner Schulter.
»Tut es noch weh?«
»Ein bisschen.« Ich tue so, als wäre es mir egal, doch in meinen Augen steigen Tränen auf.
»Was ist los, Julie?«, fragt er, als er mir aus der Dusche hilft und mich in ein weiches Handtuch wickelt. Er hebt mein nasses Haar von den Schultern und küsst mich auf den Nacken. »Du bist in letzter Zeit ziemlich niedergeschlagen.«
»Ich muss andauernd an den Mann in dem Auto denken. Ich hätte ihm irgendwie helfen sollen.« Ich wische eine verirrte Träne fort.
»Julie.« Matt seufzt. Seine Miene ist ernst. »Woran erinnerst du dich denn überhaupt noch von dem Tag?«