Christopher Kubasik
Vergiftete Erinnerungen
Dritter Roman des
Earthdawn™-Zyklus
Impressum
Feder & Schwert
Band 3
Übersetzung: Christian Jentzsch
Illustrationen: Jeff Laubenstein
Redaktion & Lektorat: Catherine Beck
E-Book-Gestaltung: Nadine Hoffmann
Earthdawn® is a Registered Trademark of FASA Corporation. Barsaive™ is a Trademark of FASA Corporation. Original Earthdawn® content copyright © 1993–2015 FASA Corporation. Earthdawn® and all associated Trademarks used under license from FASA Corporation. All Rights Reserved. © 2019 Deutsche Ausgabe Feder & Schwert GmbH.
Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.
Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Feder & Schwert, Köln, gestattet.
E-Book-ISBN 9783867623810
Widmung
Für Hannah und David,
die mich hindurchgelotst haben.
Und für Sam Lewis,
der mir beim Schreiben der
Earthdawn®-Trilogie
lachhaft viel Freiraum gelassen hat.
Gönner sind dieser Tage ziemlich rar,
aber er war für mich da.
Danke, Sam.
Prolog
1.
Samael und Torran saßen zu Hause vor dem Herd. Die Regenzeit war gekommen, und die Nächte waren kalt geworden. Doch nicht die Kühle der Luft, sondern die letzten Zeilen des Briefes ihrer Mutter ließen sie frösteln. Der Brief lag auf einem Tisch zwischen ihnen. Samael, der besser lesen konnte als Torran, hielt das letzte Blatt in der Hand, dessen abschließende Worte unhörbar zwischen ihnen in der Luft hingen. Er hielt das Blatt locker zwischen den Fingern, wie ein Junge die Knochen eines Affen halten mochte, die er zufällig im Dschungel gefunden hatte.
Halbvolle Gläser mit Reiswein fingen das Licht des Feuers ein und glitzerten. Das Feuer knisterte, gab hin und wieder ein scharfes Knacken von sich. Die Stunde war weit vorgerückt und das Feuer fast heruntergebrannt. Die tiefdunkelroten Flammen strichen über die Gesichter der beiden Männer. Wallendes Blut.
Sie hätten wie Zwillinge aussehen können, wären die Narben nicht gewesen. Dicke, glatte Wundmale, die sich hierhin und dorthin über ihr Gesicht zogen wie die Adern großer Blätter. Beide saßen ernst und versunken da, Torran eher finster brütend, Samael mit leuchtenden Augen. Beide gingen die Geschichte ihrer Mutter in Gedanken immer wieder durch.
Torrans Schwert lag auf seinem Schoß. Sie hatten vor ein paar Tagen mit der Lektüre des langen Briefes begonnen, und mittlerweile gehörte das Schwert zum festen Inventar. Torrans Hand ruhte jetzt auf dem Knauf, ein Finger strich sanft über das Heft. Die Füße, die in dicken Stiefeln steckten, hatte Torran auf einen Stuhl gelegt.
In den letzten sechs Nächten, in denen sie den Brief lasen, hatte Torran Stück für Stück einer Lederrüstung angelegt, die er in der Stadt Märkteburg vor den Toren des Zwergenkönigreichs Throal von Elfen gekauft hatte, so daß er nun die vollständige Rüstung trug.
Samael trug bequeme Baumwollhosen und ein buntes, überwiegend rot und grün gefärbtes Hemd. Er war ein Geschichtenerzähler, und die heitere Kleidung kam seinem Gewerbe zugute. Doch das dunkle, dicke Holz der Wände, das heruntergebrannte Feuer, die düsteren Enthüllungen des Briefes, all das trübte die Aura der Fröhlichkeit, in die er sich normalerweise hüllte – ebensosehr Rüstung wie Torrans Leder –, und ließ seine Kleidung lächerlich wirken.
Die Wände des Hauses. Dunkel, flackernd rot, ein böses Omen. Dicke Wände. Wände, um Dinge draußen zu halten. Als die Zwillinge ihr Haus bauten, das sie mit der Beute aus zahllosen Abenteuern bezahlten, waren sie sich stillschweigend einig gewesen, daß dicke Wände nötig waren. Etwas Solides. Etwas, um Dinge draußen zu halten. Keiner von ihnen hatte je begriffen, was sie eigentlich heimsuchte, aber das Gefühl der Heimsuchung war nie verschwunden. Ihr Leben lang hatten sie dieses Gefühl stillschweigend geteilt. Ein stockender Wortwechsel, wenn sie unter dem Dach der Sterne lagerten. Ein gemeinsames Nicken, wenn ein klagender Wind über die Steppe heulte. Und es war so furchtbar, daß sie es niemals laut ausgesprochen hatten.
Doch die Wände waren nicht dick genug gewesen, konnten es gar nicht sein.
Die beiden Männer hatten ihre Geister jeden Abend in ihren Köpfen mit nach Hause gebracht. Erinnerungen an ihren Vater. Es gab kein Entkommen.
»Wir hätten den Schluß zuerst lesen können«, sagte Torran mit einer spröden und auf eine seltsam gezwungen wirkende Weise tiefen Stimme. »Ich hab es dir doch gesagt.«
»Aber so wollte sie die Geschichte nicht erzählen«, erwiderte Samael. Er nahm die anderen Blätter des Briefes und legte das letzte Blatt dazu.
»Warum hat sie es so in die Länge gezogen?«
»Sie wollte, daß wir einiges ganz genau verstehen.«
Ohne nachzudenken, hob Torran eine Hand an die Wange und betastete seine Narben. Er begutachtete sie sorgfältig, als seien sie gerade erst aufgetaucht und ihm noch nicht vertraut. »Warum hat sie uns das alles erst jetzt erzählt?«
Samael rollte die Blätter zusammen und legte sie auf den Tisch. Dann nahm er sein Weinglas. »Ich weiß nicht. Ich glaube... Natürlich wäre es ziemlich hart gewesen. Und vielleicht wollte sie uns nicht weh tun.«
Torran beugte sich vor, während seine Hand den Knauf des Schwerts plötzlich so fest umklammerte, daß die Knöchel weiß wurden. »Er ist immer noch irgendwo da draußen! Er will, daß wir ihn besuchen!« Er stand auf und stellte sich vor das Feuer, so daß sein muskulöser, gerüsteter Körper einen mächtigen Schatten an die Wand warf.
»Das will er tatsächlich.«
»Er ist wahnsinnig.«
»Vielleicht.«
Torran fuhr herum, das Schwert hoch erhoben, seine Miene eine vertraute Grimasse des Zorns. Samael hatte keine Angst. Es war das alte Lied. »VIELLEICHT! Was hast du gerade vorgelesen? Vielleicht! Was hast du diesmal für Schwierigkeiten? Es ist doch ganz einfach. Er ist wahnsinnig.«
»Dieser Drache, Bergschaden, der uns den ersten Brief geschickt hat, hatte eine ziemlich hohe Meinung von Vater.«
»Er ist ein Drache, und Drachen reißen Leute aus purem Vergnügen in Stücke! Ich bin sicher, er und Vater sind wunderbar miteinander ausgekommen.« Torran breitete die Arme aus, und der Feuerschein glitzerte auf der Schwertklinge. »Die ganzen Jahre habe ich so etwas im Hinterkopf gehabt.«
»Ja.«
»Ich kann nicht glauben... Ich kann einfach nicht glauben... Vielleicht hat sie gelogen. Das wäre möglich. Um uns...«
»Sie hat nicht gelogen. Das weißt du.«
»VIELLEICHT!«
»Horche in dich hinein. Siehst du ihn jetzt nicht vor dir? Wie er sich über uns beugt?« Samael zitterte plötzlich. »Ich sehe ihn. Und ich sehe das Messer...«
»Ja«, unterbrach ihn Torran schroff.
Schweigen.
»Gehst du zu ihm?« fragte Samael.
Ohne zu zögern, antwortete Torran: »Nein.« Dann musterte er seinen Bruder eindringlich. »Und du auch nicht. Das kannst du nicht...«
»Ich gehe.«
»Das kannst du nicht.«
»Ich kann. Und ich werde.«
»Er ist ein alter Mann. Er hat uns betrogen. Er hat uns verraten. Er hat...« Torran berührte die Narben.
Samael stand auf. »Morgen früh. Ich breche morgen früh auf. Wenn du mitkommen willst, wenn du es dir noch anders überlegen solltest...«
Torran trat neben seinen Bruder, legte ihm die Hand auf die Schulter. Sie waren eineiige Zwillinge, doch Torran sah sich als den älteren der beiden. Er mußte den flatterhaften, tagträumenden Jüngeren beschützen, der nie wußte, worauf es ankam, und nie das richtige Gespür für die Gefahren entwickelt hatte, die in der Welt lauerten.
»Geh nicht«, bat er sehr ernst.
»Torran, er ist unser Vater. Er will uns sehen.«
»Ich fürchte mich nicht.«
Samael log um seines Bruders willen, einem Mann der Rüstungen, einem Mann der Waffen. »Ich weiß.«
»Geh nicht.«
»Ich will aber.«
»Warum? Er...«
»Er hat eine Geschichte zu erzählen. Ich höre mir gern Geschichten an.«
Torran ließ den Kopf hängen. »Du bist ein Narr.«
»Ja.«
»Eine Geschichte.«
»Er will uns etwas erzählen.«
»Warum zuhören?«
»Weil es eine gute Geschichte wird. Ich habe ein Gespür dafür. Jetzt weiß ich, daß ich diese Gabe von ihm geerbt habe, dieses Talent für Geschichten.«
»Und was habe ich von ihm geerbt?«
Samael konnte nicht antworten. Torran betrachtete voller Unbehagen seine Rüstung, drehte das Schwert in seinen Händen. Dann fragte er: »Und wenn er immer noch wahnsinnig ist? Wenn er dir immer noch weh tun will?«
»Dann töte ich ihn.«
2.
Bergschatten, der Drache, hatte ihnen in seinem Brief mitgeteilt, wo sie ihren Vater finden konnten – wenn sie wollten. Er lebte in einem kleinen Haus inmitten eines Dschungels südöstlich der Stadt Kratas.
Wände und Dach des Hauses bestanden aus Bäumen, Blumen und Ranken, die alle miteinander verflochten und irgendwie zusammengeschustert waren. Viele Stämme und Äste hatten an Ort und Stelle neue Wurzeln geschlagen und grüne Blätter hervorgebracht.
Das Haus war ein Durcheinander verschiedener, ineinander übergehender Zimmer. Ein Teil des Hauses befand sich in Bodenhöhe und war mit kleinen, in seltsamen Winkeln angebrachten Anbauten verknüpft. Über diesen erhoben sich größere Räume, die sich bis in die benachbarten Bäume erstreckten. Samael mußte ein paar Schritte zurücktreten, um alles in sich aufnehmen zu können. Es war viel größer, als er ursprünglich vermutet hatte. Die Räume türmten sich auf wie ein umgedrehter Berg aus lebendigem Holz. Das Haus drehte und wand sich und wuchs in die Baumkronen hinein, so daß man unmöglich sagen konnte, wo der Anschein von Ordnung begann und das Dschungelleben endete.
Schließlich bemerkte er Stufen, die sich ohne Geländer in der Art einer Wendeltreppe spiralförmig um einen Baum wanden und schließlich im dichten Gezweig der Krone verschwanden. Zuerst wußte er nicht, was das zu bedeuten hatte, doch dann fiel ihm die Besessenheit seines Vaters hinsichtlich des Entdecken einer verborgenen Bedeutung in der Anordnung der Sterne am Himmel wieder ein, die sowohl in der Geschichte Bergschadens als auch in der seiner
Mutter erwähnt wurde. Sich über die Baumkronen des Dschungels zu erheben, mußte die einzige Möglichkeit für J'role sein, die glitzernden Lichtpunkte am Himmel zu betrachten.
Der Tag war grau, und es nieselte. Das dichte Blätterdach des Dschungels hielt Samael trocken und verlieh dem Licht eine unheimliche graugrüne Färbung. Alles war in ein traumartiges Zwielicht gehüllt, bei dem Dinge in der Ferne nicht immer dunkler wurden, sondern einfach die Farbe und die Umrisse verloren.
In der Mitte des Haupthauses erwartete ihn eine Tür aus grobem Holz, die vollständig mit einem braunen Moos bewachsen war, und für einen Augenblick glaubte Samael die Tür hin und her wogen zu sehen, als atme sie.
Er lächelte. Das Ergebnis einer übersprudelnden Phantasie.
Er erschauerte. Plötzlich war er sich dessen nicht mehr so sicher: Wieviel wird von den Eltern auf die Kinder vererbt?
Sänger, jenes magische Schwert, das er in den Ruinen eines während der Plage zerstörten Unterschlupfes gefunden hatte, schlug ihm gegen den Oberschenkel, als er langsam auf das Haus zuging.
Er hob die Hand und klopfte an die Tür.
Stille. Ein Geräusch. Irgendeine Bewegung, ein Schaben. Noch ein Geräusch – zu Boden fallendes Geschirr, ein Klappern.
Eine Pause.
Schritte. Der Riegel wurde von ihnen gehoben. Die Tür öffnete sich.
J'role, alt und dünn – hager – stand da, die Haut kalkig-grau. Seine Augen leuchteten mit der Klarheit der Sterne vor dem Hintergrund seiner trüben Haut.
Samael hielt nach Narben Ausschau, sah jedoch keine.
Sein Vater starrte ihn einen Moment lang an, neugierig, unsicher, gefesselt. Hinter ihm konnte Samael ein Tohuwabohu aus Gerümpel erkennen. Sternkarten, die mit Messern am Holz befestigt waren, hingen willkürlich an den Wänden. Schatztruhen lehnten an Stühlen, die auf der Seite lagen. Überall lagen Silber- und Goldstücke wie Staub auf dem Boden. Spinnweben hingen von der Decke, und Spinnen huschten umher, als habe sie die Ankunft eines Gastes nach all den Jahren in äußerste Erregung versetzt. In einer Ecke waren Schränke, Tische und Stühle aufgestapelt. Eine Treppe führte zu den höher liegenden Räumen. Auf den Stufen lagen unzählige Stapel von Sternkarten, so daß es so aussah, als sei der Aufstieg mindestens ebenso schwierig wie das Erklimmen eines steilen Hügels.
Was dreißig Jahre lang ein schattenhafter Alptraum gewesen war, stand jetzt in Fleisch und Blut vor ihm, und der Anblick seines Vaters ließ zu viele Erinnerungen klar an die Oberfläche treten. Panik erfaßte ihn. Samael wollte sich umdrehen und weglaufen, doch nicht, weil er um sein Leben fürchtete. Es war ausschließlich der Drang, der Situation zu entfliehen. Was tat er hier überhaupt? Was sollte er sagen?
Doch er brauchte das Gespräch nicht zu beginnen. J'role schien plötzlich zu dämmern, wer vor ihm stand. Er, der als Junge keine Stimme besessen hatte, lächelte und begrüßte seinen Sohn. Er bat Samael herein.
Eine kleine Weile standen die beiden verlegen da, während J'role auf die Schätze deutete, die er gesammelt hatte, die ihm aber nichts bedeuteten: Er war ein Dieb, und er stahl. Er konnte es nicht ändern.
J'role fragte nach Torran und war enttäuscht, als er erfuhr, daß sein anderer Sohn nicht kommen würde. Samael erwähnte, daß auch Releana nicht kommen würde. Als er dies vernommen hatte, wandte sich der alte Mann ab und fragte seinen Sohn, ob er eine Tasse Tee trinken wolle. Samael nahm dankend an, und kurz darauf hatten sich Vater und Sohn am Herd niedergelassen und wärmten sich am Feuer und an den Teetassen in ihren Händen.
Samaels Schwert lag auf seinem Schoß. Sein Vater bemerkte es und stellte eine diesbezügliche Frage. Der Sohn lächelte nur dünnlippig. J'role nickte wissend. Er schluckte. Er verstand. Samael wußte, worum es bei ihrem Treffen ging. Das Schwert stand zwischen ihnen, eine Barriere, die es zu durchbrechen galt, bevor Vater und Sohn sich umarmen konnten.
Samael sagte: »Du wolltest mir etwas erzählen?«
J'role räusperte sich.
Teil Eins
NEUER JUNGE,
ALTER MAGIER
1.
Ich stand auf der Plattform, die ich oben unter dem Dschungeldach errichtet hatte. Das ist jetzt etwas über ein Jahr her. Ich starrte zu den Sternen hinauf, die reglos und perfekt über mir am Himmel standen. Ein Bildnis der Ordnung. Sie bewegten sich, aber langsam. Nicht wie unsere hektischen Gedankengänge, sondern in einer erhabenen Prozession. Verständlich. Man kann die Sterne ansehen. Sich ihre Position einprägen. Karten von ihnen zeichnen.
Das tat ich. Oft. Es lenkte mich ab, beschäftigte mich, beruhigte mich. Ich saß an einem Schreibtisch auf der Plattform, eine Feder in der Hand, die ich so fest hielt, daß ich oft meine Finger nicht mehr spürte, und zeichnete die Sterne auf. Ihre Positionen. Vermerkte Sternschnuppen, die verirrten Gedanken des Universums. Fixpunkte aus Licht, die sich von ihrem angestammten Platz losgerissen haben. In jener Nacht sah ich drei von ihnen, was mich ängstigte. Jahre zuvor waren bereits die Dinge in meinem Kopf durcheinandergeraten, und für mein inneres Gleichgewicht war es unbedingt erforderlich, daß zumindest die Sterne an Ort und Stelle blieben. Also saß ich angespannt da wie ein Kind, das auf eine Ohrfeige seiner wütenden Eltern wartet.
Die Geräusche von Bewegungen unter mir trieben zu mir herauf, so leise wie der Vorbeiflug eines Schmetterlings. Im Dschungel lauscht man immer, da jeder Laut ein Hinweis sein kann, der einem das Leben rettet. Ich hörte Blätter rascheln, das Knacken eines brechenden Zweiges.
Ein Tiger auf der Jagd? Zu ungeschickt. Leute? Ich erhob mich. Hatte man mich gefunden? Dieser Gefahr war ich mir immer bewußt, und der Gedanke daran schlummerte in meinem Hinterkopf, eine Schlange unter vielen, die sich am Rande meines Bewußtseins zusammengeringelt hatten.
Dann Stimmen. Rufe. »Dort drüben!« Der Schrei eines Jungen. »Nicht! Bitte!«
Das kribbelnde Gefühl der Panik überkam mich. Ich fragte mich nicht, wer diese Leute waren. Bedeutsam war einzig und allein die Tatsache, daß ein Kind in Gefahr war. Gab es etwas Schlimmeres? Ich mußte etwas unternehmen. Aber... aber war ich nicht eine viel größere Gefahr für das Kind als jene, vor der es davonlief? Ich hatte seit dem Theranischen Krieg keinem Kind mehr etwas angetan. Trotzdem waren die Schlangen noch aktiv.
Ich spannte mich wie ein Jagdhund und lauschte. Das Dickicht des Dschungels umgab mich wie die schwarzen Wellen eines erstarrten Sees. Über mir die unerbittlichen Sterne. Bleib ruhig, sagte ich mir. Sei wie die Sterne. Etwas zu unternehmen, heißt, das Ende zu riskieren. Nicht das fleischliche Ende, das mir willkommen gewesen wäre. Das Ende der Sicherheit.
Das Rascheln der Blätter kam näher. Die Schreie wurden lauter. Er war schnell, dieser Junge. Er hatte eine Chance verdient.
Ich rannte zur Treppe, raste die Stufen zu einem Raum herunter, der sich vierzig Ellen über dem Boden befand. Kein Geräusch wurde laut. Die Diebesmagie hüllte mich ein wie ein Mantel aus Schatten und beschwichtigte mich. Unsichtbar zu sein! Es gab nichts Schöneres, als unerkannt zu bleiben! In die Nischen der Natur zu schlüpfen und in den Augen anderer Leute ein Felsen oder ein Baum zu sein.
Ich hechtete zur Tür, die ins Haus führte, rollte mich hinein, sprang auf und griff nach dem Schwert, das an der Wand hing. Ein Kampf! Die Muskeln in meinem Körper erwachten zu strahlendem Leben. Bereit zum Kampf.
Die Treppe hinab, lautlos wie eh und je. Im stillen mußte ich lachen. Ich war mein eigenes Geheimnis.
Durch die Haustür. Unter dem Blätterdach war die Luft wärmer. Stickiger. Unbewegt. Das Knacken von Zweigen vor mir. »Ausschwärmen!« rief jemand. Eine alte Stimme, die sich in mein Hirn bohrte wie ein Angelhaken. Durchdringend, doch zu leise, um sie erkennen zu können. Fackeln tauchten hinter Bäumen auf und verschwanden wieder wie leuchtend rote Blutflecken. Das grelle Licht enthüllte hier und da ein Gesicht: ein Elf, ein paar Menschen. Sie schwärmten aus.
Mein Haus, das Zimmer für Zimmer inmitten der Bäume errichtet und jetzt mit Ranken bewachsen ist, verschmolz mit dem nächtlichen Wald. Sie gingen weiter, etwa hundert Schritte vor mir, und bahnten sich einen Weg durch das dichte Unterholz. Suchten.
Der Junge war dort draußen. Irgendwo. Den Jägern voraus. Der weiche, feuchte Waldboden gab nicht mehr als ein Seufzen von sich, als ich losrannte. Meine alten Beine trugen mich wie Flügel. Die Diebesmagie umgab mich, führte mich. Ich drehte, wand und duckte mich, schlängelte mich um Haaresbreite an Blättern und Zweigen vorbei. Dabei konnte mir die Sicherheit der Magie helfen, mich vor den Jägern zu verstecken, dachte ich.
Ich mußte mein Verlangen unterdrücken, dem Jungen zu helfen. Mußte die Magie überlisten. Das war nicht leicht, aber durchaus möglich. Gefährlich außerdem. Ich sagte mir immer wieder, daß ich ihm nicht helfen wollte. Er mochte sich als nützlich erweisen. Als wertvoll. Wenn man ihn jagte, mußte er Geld besitzen. Oder zu Geld führen. Oder Geld beschaffen können. Irgendwie.
Ich sagte der Diebesmagie, daß mir der Junge gleichgültig war, daß ich etwas wollte. So habe ich mein ganzes Leben gelebt.
Es war möglich, daß ich ihn tötete, wenn ich mich zu sehr hineinsteigerte und zu eigensüchtig wurde. Das richtige Maß war entscheidend. Ich mußte mir den Jungen als Mittel zum Zweck vorstellen, aber nicht zu sehr. Ich wollte ihm nichts antun, aber ich hatte ihn auch noch nicht erreicht. Wenn ich das tat und er zum Beispiel eine juwelenbesetzte Krone trug, mochte die Magie in mir bewirken, daß es mich nach seinem Reichtum gelüstete, und dann tat ich ihm vielleicht alles mögliche an, um zu bekommen, was ich wollte.
Mit Reichtum konnte ich nichts anfangen. Reichtum brauchte ich nicht.
Die Rufe entfernten sich immer weiter. Mein Atem beschleunigte sich. Ein heiseres, altes Keuchen, das in meinen Ohren widerhallte. Ich blieb stehen. Lauschte. Das Knacken eines Zweiges. Voraus das Geräusch keuchenden Atmens. Der Junge. Er versuchte, das Geräusch zu unterdrücken. Einen Moment lang glaubte ich, der Junge sei ich selbst, fünfzig Jahre jünger, der sich vor denen versteckte, die den Ring der Sehnsucht wollten. Er selbst eine Leiche, die von einem Geisterbeschwörer wiedererweckt worden war und sich nach dem richtigen Leben sehnte.
Ich näherte mich ihm. Langsamer jetzt. Man hatte mich schon oft zu überlisten versucht. War dies eine Falle, ein abgekartetes Spiel? Absurd, vielleicht, aber für einen Menschen ohne Freunde ist die Ichbezogenheit ein allgegenwärtiger Begleiter.
Die Jäger kamen näher. Rufe. Anweisungen. Bestätigungen. Leises Gemurmel der Unzufriedenheit. »Ist viel zu spät für solche Sachen. Wir sind hier schließlich im Dschungel, bei allen Passionen.« Stadtbewohner, und sie konnten einander nicht besonders gut leiden. Gut.
Der Junge war stehengeblieben, hatte sich zweifellos versteckt.
Ich hörte etwas Neues, etwas feuchtes. Ein Schnüffeln, kehlig und voller Verwesung. Tiere. Doch keine Dschungeltiere. Etwas Neues.
»Entfernt euch nicht weiter als hundert Ellen voneinander!« rief jemand. Die Stimme des Angelhakens. Meine Gedanken überschlugen sich, als ich mich erinnerte. Ich war ein Mann auf dem Drahtseil, der die Frau, die er getötet hat, plötzlich im Publikum sitzen sieht.
Mordom.
2.
Er war vor fünfzig Jahren gestorben. Aufgespießt worden. Tot. So tot wie ein Kadaver, der vom Meer an den Strand gespült wird. Durchbohrt und zerfetzt. Ich hatte das Blut gesehen. Nein. Hatte ich nicht. Das hatte ich mir nur eingebildet. In den Gängen unter Parlainth war es ziemlich dunkel gewesen. Doch Mordom war aufgespießt worden. Soviel wußte ich. Der Schrei. Die plötzliche Stille. Er war tot.
Andererseits ist der Tod unter einem Lavameer eingesperrt. Seine Macht ist brüchig. Es geschehen viele merkwürdige Dinge. Wiederbelebung. Geburt. Hoffnung.
Er war am Leben. Mordom war am Leben, hier und jetzt. Und nur ein Dutzend Schritte entfernt. Ich unterdrückte einen Aufschrei. Schlug meine faltigen, fleckigen Hände vor den Mund. Atmete aus. Ließ den Laut fast durch meine Finger gleiten. Ganz plötzlich brachen die Erinnerungen über mich herein. Der Junge in Gefahr. Ich, der Junge, jetzt. Mutter tot, Vater im Sterben. Das Unwesen in meinem Kopf. Garlthik, mein Mentor, mein Peiniger, Verräter an mir. An irgendeiner Stelle in meiner Vergangenheit war irgend etwas ganz entsetzlich schiefgegangen. Eine einzige schlimme Saat, und es endet damit, daß die Zweige und Äste des Verstandes schief und krumm wachsen.
Jedenfalls plagten mich diese Fragen. Wo lag mein Fehltritt? Was hatte ich falsch gemacht?
Ich ließ mich zu Boden sinken, und die Last der Jahre legte sich bedrückend und schwer auf meine Schultern. Wenn ich tief genug sank und mich so klein und flach wie möglich machte, übersah er mich vielleicht. Sie alle übersahen mich dann vielleicht.
Ich war über sechzig! Was tat er hier? Er war eine Erinnerung, die Ursache quälender Alpträume! Er gehörte in meinen Kopf, ein Phantom der Verzweiflung und zu vieler offener Fragen. Es stand ihm nicht zu, plötzlich in Fleisch und Blut vor mir zu stehen und sich mit der unheimlichen Präzision zu bewegen, die belebten Knochen anhaftet. Daß er am Leben war, ließ sich gerade noch verstehen. Aber warum mußte er mir begegnen? Unsere Wege hatten sich getrennt. Ich wäre fast aufgesprungen und hätte gerufen: »Hör mir zu. Ich habe mich mein ganzes Leben lang vor allem gefürchtet, was geschehen ist, als ich dich kannte. Ich habe keinen Streit mit dir. Laß mich gehen. Nimm den Jungen. Du hast nichts mehr von mir zu befürchten.«
Der Junge.
Jetzt also ein anderer Junge. Ein Junge in Gefahr. Mordom in der Nähe.
War sein Vater tot? Seine Mutter wahnsinnig? Zu Tode gesteinigt worden? Wer konnte das wissen? Schreckliche Dinge geschehen. Gab es nicht auch Freude dort draußen in der Welt? Hatte ich nicht einmal ein junges Paar Vorbeigehen sehen, Hand in Hand, lächelnd? Moment mal. War ich das nicht gewesen? Wo bleiben diese Dinge nur? Wie stellt man es an, glücklich zu sein? Und wenn man glücklich ist, wie bleibt man es? Es ist leichter, Luft zu fangen und zu behalten.
Das sonderbare feuchte Schnüffeln kam näher. »Irgendwer ist ganz in der Nähe«, sagte einer der Jäger mit tiefer, schroffer Stimme. Ein Zwerg.
Durch winzige, von Blättern und Ästen geformte Tunnel sah ich Mordom und den Zwerg. Fünfzehn Ellen entfernt im Licht der Fackel, die der Zwerg hielt. Wenn er auch nicht tot war, so war Mordom doch zumindest alt. Dünn, haarlos. Im flackernden Fackellicht glänzten die tiefen Furchen in seiner Haut rot und schwarz. Verbrannte, verfluchte Erde. Seine Augen hatten sich verändert. Sie waren nicht mehr offen, weiß und blind, sondern geschlossen, die Augenlider mit groben, purpurfarbenen Stichen zugenäht. Meine Finger wühlten in der feuchten Erde herum, beiläufig, als seien sie auf der Suche nach einem Halt, nach einer stabilen Realität. Er hatte die Hand erhoben, wie er dies auch vor fünfzig Jahren zu tun pflegte, und suchte. In der Handfläche sah ein grünes Auge nach links, dann nach rechts. Ein Blinzeln. Garlthiks Auge.
Mordoms Gesicht trug einen Ausdruck der Boshaftigkeit. Eine zu allgemeine Beschreibung, denkst du jetzt vielleicht. Aber nein, es war Boshaftigkeit, schlicht und einfach. Stell dir ein Hohnlachen vor und füge so viel Haß hinzu, wie ein Namensgeber überhaupt empfinden kann. Und dann noch etwas mehr. Das war sein Gesicht. Eine Maske leidenschaftslosen Hasses.
Der Zwerg zu seiner Linken lehnte sich zurück. Eine Hand hielt die Fackel. Um das Handgelenk der anderen waren zwei Leinen gewickelt. Das Ziehen der Tiere am anderen Ende hatte seine Haut gerötet. Der feuchte Laut, ein Hauchen, ein Hunger, kam von jenseits des dichten Gebüsches, wohin die Leinen führten.
»Soll ich sie loslassen?« fragte der Zwerg.
»Nein, noch nicht. Es wird schwierig, sie wieder einzufangen. Sie haben die Witterung seiner Angst. Sie werden ihn finden.«
Sie haben die Witterung seiner Angst?
Dämonen?
Dämonen.
Mordom war schon vor fünfzig Jahren gut mit Dämonen zurechtgekommen. Jetzt hielt er sie sich als Haustiere. Beschämt durch meinen Mangel an Mut krümmte ich mich zusammen, versuchte mich irgendwie zusammenzufalten. Der Schrecken des Augenblicks – der jähe Einbruch der Vergangenheit in die Gegenwart – schien solch eine außergewöhnliche Bemühung zu rechtfertigen.
Durch die Lücken zwischen den Blättern konnte ich einen Blick auf die Dämonen erhaschen. Es waren zwei verschiedene. Beide waren schwarz und hatten die Größe sehr großer Hunde. Einer hatte einen gewaltigen Buckel. Der andere war fast ein Skelett und mit dichtem, nassem Fell bedeckt.
Ich war einigermaßen sicher. Ich konnte ruhig bleiben und sie vorbeilassen. Sie waren nicht hinter mir her. Die Unwesen führten Mordom und den Zwerg an mir vorbei und zu dem Jungen. Zu feige? Verglichen mit einem Helden, lautet die Antwort gewiß ja. Aber ich habe nie behauptet, ein Held zu sein.
Wieder das Atmen des Jungen. Ein Schnaufen. Dann Stille. Ich wandte den Kopf. Neben mir ein abgestorbener Baum, dessen Stamm aufgesprungen und hohl war. In der Höhlung bewegte sich ein Schatten. Ein plötzliches Aufflackern der Fackel erhellte einen Augenblick lang das Gesicht des Jungen. Die Haut über seinen Wangen war glatt und wies noch keine Spuren des Alters und der Erfahrung auf. Ein Zwergenjunge.
»Dort drüben!« rief der Zwerg mit den Unwesen plötzlich. Das Schnüffeln der Dämonen, schlurfende Schritte, die immer lauter wurden. Einer knurrte. Ein sondierender Gedanke wand sich durch meinen Verstand. Einen Moment lang hörte ich auf zu atmen, unterdrückte alle Empfindungen. Der sondierende Verstand zog sich zurück.
»Hör zu«, flüsterte ich dem Jungen zu. »Ich kann dir helfen. Wir müssen verschwinden...« Er hatte gedacht, ich hätte ihn nicht bemerkt, hatte gedacht, er habe sich zu gut versteckt. Er schrie auf.
Mit einem Satz war ich bei ihm und packte ihn unter den Achseln. Er trat nach mir, während ich ihn aus dem hohlen Baum zog. »Laß mich los!«
Ich hielt mein Gesicht dicht vor seines, so daß sich unsere Nasen berührten, und knurrte: »HALT DIE KLAPPE!« Das tat er.
Hinter uns das Krachen des Unterholzes, als der Zwerg die Dämonen von der Leine ließ, die jetzt ungehindert auf uns losstürmten.
3.
Ich setzte den Jungen ab und nahm ihn an der Hand. Sie zitterte. Er weinte. »Los, komm!« sagte ich schroff. Wir rannten.
Soviel geschah, drang auf mich ein. Die Diebesmagie war mir jetzt keine Hilfe. Mordoms Anwesenheit hatte mich zu sehr verwirrt. Ich konnte mir den Zwergenjungen nicht mehr als möglichen Schatz vorstellen. Ich wollte ihm helfen. Er war nicht mehr er selbst, er war mehr als er selbst. Er war ich, vor Jahrzehnten von Mordom bedroht. Er war du und Torran, von Generalstatthalter Pavelis bedroht. Mein Verstand übersprang ein paar Takte im Rhythmus des Lebens, wie das jeder Verstand manchmal tut. Oft sind die Dinge nicht, was sie tatsächlich sind, sondern mehr. Er war ein kleiner Junge, doch kaum lag seine pummelige Hand in meiner, als er alle kleinen Jungen der Welt zugleich war, im Dschungel verirrt, von Feinden verfolgt.
Die Dämonen waren uns dicht auf den Fersen. Die Luft wurde unnatürlich feucht und heiß. Ein warmer Lufthauch senkte sich herab, wickelte sich um mich. Der Junge schrie wieder auf, und ich wußte, warum. Der Lufthauch leckte an unserer Haut, verschmolz mit ihr. Er störte mein Empfindungsvermögen. Irgend etwas war unter meine Haut gekrochen.
Wir rannten weiter. Zweige schlugen nach mir, zerkratzten mich. Der Junge schnappte keuchend nach Luft, drohte im dichten Wald der Blätter zu ersticken, die sein Gesicht peitschten. Meine Stirn prallte gegen einen niedrig hängenden Ast. Ich taumelte zurück, doch dann fing ich mich wieder und rannte geduckt weiter.
Wohin führte uns unser Weg?
Wiederum Rufe. Die Jäger folgten den Dämonen, die wiederum uns folgten. »Da ist noch jemand!« schrie einer von ihnen. Ein Dämon erreichte uns, schnappte knurrend nach den Waden des Jungen. Ich riß den Jungen hoch und in meine Arme, rannte stolpernd weiter. Unbeholfen, ungeübt, ein alter Mann, der plötzlich ein Kind trägt.
Die Zweige, die meinen Körper peitschten, waren zuviel für mich. Die Strapazen beanspruchten alle meine Kräfte, so daß ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Ich konnte mich nur noch darauf konzentrieren, in Bewegung zu bleiben. Wenn mich meine Beine im Stich ließen, war alles aus. Der seltsame, sondierende, heiße Lufthauch drang in meinen Körper ein und glitt durch meine Organe. Er nahm eine festere Struktur an und zog sich jetzt zusammen, so daß meine Innereien zu einem Knoten zusammengepreßt wurden. Ich krümmte mich, wobei ich den Jungen beinahe fallengelassen hätte. Sein Gewicht in meinen Armen war außerordentlich, eine massive Last. Ich keuchte laut. Der Junge weinte wieder. Ich war eine falsche Hoffnung. Eine Sinnestäuschung: Vielleicht wird alles wieder gut. Dann: Nein, keineswegs, am Ende doch nicht.
Einst war ich jung gewesen, stark. Jetzt fühlten sich meine Muskeln steif und müde an. Ich sehnte eine Ruhepause herbei, eine lange Ruhepause. Den Tod. Wie hatte es eine derart erbärmliche Kreatur wie ich nur geschafft, so lange am Leben zu bleiben? Meine Gedanken verwirrten sich. Konnte ich nicht einfach fallen? Das wäre nicht meine Schuld. Alt, auf der Flucht, von einem Dämon getötet, bei dem Versuch, das Leben eines Kindes zu retten. Das schien ein freundlicher Nachruf zu sein. Ein Nachruf, der den schrecklichen Kinderreim als bisher einzig mögliche Grabinschrift verdrängen mochte.
Der Reim stahl sich in meine Gedanken, während ich weiterrannte, und sein Versmaß entsprach meinem Schrittrhythmus:
»Wer bist du?«
»J'role, verrückter alter Clown,
So war ich schon immer Seit meinem ersten Laut.
Vater und Mutter Vor mir verdreht,
Jonglier mit Messern!
Schnitt! Alles zu spät!«
Ich hatte den Reim gerade beendet, als ich den Boden unter den Füßen verlor. Der Junge und ich stürzten vorwärts in tiefste Dunkelheit.
4.
Vor Überraschung schrien beide auf, bis die kühlen Fluten des Flusses über uns zusammenschlugen. Unsere nasse Kleidung schmiegte sich um unsere Haut, klammerte sich an uns. Ich kannte den Fluß, der normalerweise viel kleiner war, kaum mehr als ein Bach. Ich hatte vergessen, daß er durch die kürzlichen Regenfälle angeschwollen war. Die Strömung trieb uns mit zahllosen formlosen Händen voran. Das Ding, das in meinem Körper gewesen war, der sondierende Hauch, war verschwunden, doch meine Nervenenden spürten noch einen Rest von Klebrigkeit. Einen sonderbaren Schleim, der durch meinen Körper sickerte. Der Junge ruderte mit den Armen und rief nach seiner Mutter, während er auftauchte und wieder untertauchte und dabei Wasser schluckte. Ich hielt ihn fest und drehte ihn so, daß er auf dem Rücken schwamm. »Entspann dich«, befahl ich, aber er schlug weiterhin mit den Armen, unfähig, seiner Panik Herr zu werden. Der Verlust jeglichen Halts forderte seinen Tribut: Wir glauben, das Leben zu kennen, und dann ist plötzlich alles Vertraute verschwunden, unförmigen Schatten, Trugbildern von anderen Leuten und Orten gewichen, die wir nicht kennen. Was kann man dann anderes tun, als um sich schlagen und versuchen, sich irgendwie in die Welt zurückzubefördern, die man gekannt hat?
Ein Platschen flußaufwärts. Über uns hielt das dichte Blätterdach das Sternenlicht fern. Hinter uns nur das Rauschen des Wassers. Irgend etwas schwamm auf uns zu. Schwer atmend. Feucht. Hungrig. Ich griff nach meinem Schwert, das ich mir zu Hause in den Gürtel gesteckt hatte, doch meine Hand fand nichts. Ich mußte es bei der Flucht durch den Wald oder bei dem Sturz in den Fluß verloren haben. Fackeln tanzten am Flußufer entlang, verschwanden hinter Bäumen, um gleich darauf wieder aufzutauchen. Sie folgten uns.
Die Kehle schnürte sich mir zu, und ich paddelte aus Leibeskräften mit den Beinen, um uns ans gegenüberliegende Ufer zu bringen, während der Dämon spritzend durchs Wasser pflügte. Die Dunkelheit, das schwarze Wasser, das Treiben darin, alles das erweckte in mir das Gefühl, irgendwie bereits tot zu sein. Der Dämon kam näher, und ich flehte den Jungen an, still zu sein. Ich glaubte nicht, daß uns die Stille gegen ihn helfen würde, aber vielleicht entging unseren Jägern, wo wir an Land gingen – falls wir es ans Ufer schafften. Tatsächlich beruhigte er sich, als ihm plötzlich klar wurde, daß er noch nicht ertrunken war, und sein Verstand die Gefahr, in der er schwebte, nicht zur Kenntnis nahm. Erleichterung erfaßte ihn. Er schniefte vor sich hin, da ihm Einsamkeit und Heimweh jetzt mehr zusetzten als alles andere.
Das Ding kam paddelnd näher. Alles in mir verkrampfte sich, da ich damit rechnete, den seltsamen feuchten Lufthauch wieder zu verspüren. Als er nicht kam, nahm ich an, der Dämon mit dieser entsetzlichen Fähigkeit müsse wieder angeleint worden und bei den Jägern am Flußufer sein. Der zweite Dämon, der mit uns im Wasser war, blieb ein Geheimnis, das erst noch gelüftet werden mußte. Sie, die Dämonen, treten in so vielen alptraumhaften Formen und Gestalten auf, wer könnte sie da alle erfassen und katalogisieren?
Sein hechelnder Atem war jetzt deutlich zu hören. Er schnaufte und spie Wasser, während er immer näher an uns heranpaddelte, nur noch ein paar Schritte entfernt. Der Junge hörte das Schnauben und fing an zu schreien. Angespornt durch die Furcht des Jungen, schnellte der Dämon vorwärts. Der Sprung war zu kurz, und der Dämon klatschte ins Wasser zurück, das über uns zusammenschlug. Der Junge versuchte seiner Angst durch einen weiteren Schrei Herr zu werden, doch vergeblich. Er schlug plötzlich um sich, da er sich aus meinem Griff befreien wollte, packte meinen Arm und versuchte sich loszureißen. Ich hielt ihn fest, doch dann fiel der Dämon über uns her.
Er stürzte sich auf mich, ein Schatten dunkler als die Finsternis um uns. Das Aufblitzen von Zähnen, ein huschendes Schemen. Die Wunde, eine Konzentration von zerbrochenem Glas. Der Junge glitt aus meinen Armen, als ich mich aufschreiend herumwälzte. Mein Mund, der vor Schmerzen weit aufgerissen war, füllte sich mit Flußwasser, in dem Blutschlieren trieben. Riesige Pranken mit Krallen wie silberne Nägel krabbelten über meinen Rücken und drückten mich tiefer ins Wasser. Das Ding kletterte über mich hinweg und paddelte hinter dem Jungen her. Ich war für den Dämon nicht mehr vorhanden, und im Vorübergehen trat er mit gedankenloser Nachlässigkeit nach mir.
Um mich herum Leere. Kein Oben, kein Unten. Ich trieb ohne Sinn und Zweck im Wasser. Meine Lungen schrien nach Luft, die Augen nach Licht. Dann ein erstickter Schrei. Dort, rechts von mir. Ich durchbrach die Wasseroberfläche. Hustend. Die Luft, die ich einsog, schnitt heiß durch meine Brust. Das Ding wirbelte herum, bevor ich mich wieder orientieren konnte. Ein Gesicht – nein. Ein Maul. Der Kopf des Dämons war nicht mehr als ein riesiges Maul, die Lippen waren so weit zurückgezogen, daß nur Zähne und eine Zunge zu sehen waren. Eine geschälte Orange und darin nichts als eine gähnende Leere. Die Unmöglichkeit dieses Anblicks ließ mich erstarren. Das Maul schnellte mir entgegen. Ich warf mich nach hinten, versuchte mit den Füßen zu paddeln. Die Krallen des Dämons bohrten sich tief in meine Brust. Ein Schrei von mir, dann ein Gurgeln, als ich wieder Wasser schluckte. Ich klammerte mich an seine Schultern, tastete nach seinem Hals, von dem Gedanken beseelt, der Dämon könne mich vor dem Ertrinken retten. Wir beide, der Dämon und ich, tauchten unter.
Wir wanden uns, pflügten durch die Fluten des Flusses. Jeder von uns mühte sich, den anderen richtig zu fassen zu bekommen. Meine Finger glitten seinen Hals entlang über zartes Fell, das sich merkwürdig flauschig anfühlte. Der Hals war lang, absonderlich lang für das riesige Maul, das er trug. Ich umklammerte ihn mit beiden Händen, versuchte ihm das Genick zu brechen. Der Dämon krümmte sich in meinem Griff wie eine Schlange. Wie ein Kind, das sich freiwinden will.
Die Finger meiner Mutter auf meiner Brust. Das Ritual. Das Unwesen in meinen Gedanken.
Zähne bohrten sich in meinen Arm. Der Schmerz zwang meinen Mund auf. Die Welt verkehrte sich ins Gegenteil. Wasser wurde zu Luft, verstopfte meinen Mund, meine Kehle. Die natürliche Reaktion auf Schmerzen – Schreien, Keuchen – war gleichbedeutend mit dem Tod. Meine Hände ruderten im Wasser, suchten das Maul, wollten es von meinem Arm abschütteln. Meine rechte Hand reagierte nicht. Sie war lahm und brannte. Die linke fand die scharfen, tödlichen Zähne. Zog das Maul auseinander, während die Zähne meine Hand durchbohrten. Frei. Bilder vom Tod passierten vor mir Revue wie seltsame Fische. Meine Leiche, die den Fluß hinuntertrieb. Meine Leiche, die von theranischen Sklavenmeistern ausgepeitscht wurde. Meine Leiche, von eigener Hand getötet, wie der Dämon in meinem Kopf es mir vorgeschlagen hatte. Wie oft war ich fast gestorben? Durch den Luftmangel wurde mir schwarz vor Augen. Die Zeit dehnte sich, das Werk eines Kindes, ein Ball aus einer Dschungelliane, die sich immer nur um sich selbst wand. Ich trieb dahin, unsicher, wie alt ich war. Alt war ich auf jeden Fall. Sehr alt. Schon immer gewesen.
Immer?
Immer.
Manche von uns brauchen ihr ganzes Leben, um ihr eigentliches Alter einzuholen.
Nach oben und durch die Wasseroberfläche. Das Fackellicht flackerte weit entfernt am gegenüberliegenden Ufer. Am Leben! Ein Augenblick der Freude, die Schönheit eines ruhig daliegenden Sees, die plötzlich durch die Wogen des Augenblicks gekräuselt wird. Der Dämon. Mordom. Der Junge! Wo war der Junge?
Ich war verwirrt. Meine Schulter brannte so heiß, daß ich glaubte, sie stünde in Flammen. Der Junge, den ich suchte – welcher war es? Einen Augenblick lang glaubte ich, ich könnte mich selbst finden. In den rauhen Wassern des Lebens treibend. Erinnerungen an meine Vergangenheit brachten mich durcheinander, und plötzlich war ich für mich selbst ein Fremder. Ein unbekannter, geheimnisvoller Retter meiner selbst. Existierte meine Kindheit noch? Lebte sie irgendwo? Konnte ich den Jungen retten, der ich einmal gewesen war, und damit meine Gegenwart ändern? Die Gedanken nahmen irgendwo in meinem Kopf Gestalt an, und ich befürchtete, den Verstand zu verlieren. Hin und wieder überfiel mich die Angst, den Verstand zu verlieren. Außer mir zu sein. Gedanken, die sich förmlich überschlugen, wie ein Kind, das von seinem Vater gehalten und herumgewirbelt wird, immer und immer wieder, während das Kind bis zu dem verhängnisvollen Augenblick lacht, wenn der Vater losläßt. Ein Unfall. Ein Ausrutscher. Ein Schwung, und das Kind fliegt los. Davon. Weg. Verschwunden.
Ich verlor den Verstand.
Ich fürchtete, ich könne wahrhaftig zu der Ansicht gelangen, als Kind nicht ich selbst, sondern tatsächlich zwei verschiedene Personen gewesen zu sein. (Woher stammte diese Vorstellung? Wo kommen eigentlich die Gedanken her?) Wenn ich das glauben konnte, wenn sich dieser Glaube in mir festsetzte, würde ich nicht länger wissen, wie ich in der Welt leben sollte. Ich würde die Dschungel des Landes durchstreifen und wie ein Leopard leben, mir immer der Umgebung bewußt sein – ein Baum, eine Antilope, das Sonnenlicht –, aber meine Gedanken, die Gedanken eines Namensgebers, würden verschwunden sein. Ich würde mich nicht mehr als mich selbst kennen.
Plötzlich wieder der Junge. Diesmal, der Zwergenjunge. »Hau ab!« rief er. Ein schwaches Glitzern von Metall. Ein heller Stem an einem wolkenverhangenen Himmel, der den Schleier der Dunkelheit durchbrach. Seine kleine Hand ließ die Klinge hinter dem Maul des Dämons heruntersausen. Das Unwesen brüllte vor Schmerz. In diesem Augenblick erkannte ich, daß ich starb. Ich trieb davon, ein Beobachter, erfreut über den Stoß des Jungen und unseren gemeinsamen Sieg. Erfreut, aber auch sicher, daß ich die dazugehörige Feier nicht mehr erleben würde.
5.
Der Dämon warf sich auf ihn und schleuderte ihn ein paar Ellen weit weg. Ein Platschen, als der Fluß den Jungen wieder verschluckte. »Was ist da los?« rief jemand vom Flußufer. Wir hatten einen ziemlichen Vorsprung vor ihnen, da uns die Strömung rasch an dem Gewirr aus Bäumen und Büschen vorbeigeschwemmt hatte, das sie aufhielt. Sie waren etwa zwanzig Schritte hinter uns. »Ich kann nichts sehen!« mischte sich ein anderer ein. »Wo ist der Magier?« fragte ein dritter. »Kommt! Er ist unterwegs«, sagte ein vierter. Einer der Jäger warf eine Fackel in unsere Richtung. »Da!«
Das Spiegelbild der Flamme leuchtete auf dem Wasser auf, scharlachrotes Öl, ein glühendheißer Punkt mit einer weißen Mitte. Einen Moment lang sah ich den Jungen, jung, mit glatten, bartlosen Pausbacken. Die Augen eine Mischung aus Furcht und der Unverwüstlichkeit der Berge. Irgend etwas war in ihm ausgerastet. Die sonderbare Kraft aller Kinder, die von rührseligen Erwachsenen immer unterschätzt wird, war angezapft worden. Er ruderte mit den Armen, um sich über Wasser zu halten, und schaffte es auch. In einer Hand hielt er den Dolch, der mit grünen Tropfen befleckt war.
Der lange Hals des Dämons schoß aus dem Wasser, sein gewaltiges, auf obszöne Weise groteskes Maul in der Parodie eines Schreis weit aufgerissen. Kein Laut drang daraus hervor. Er konnte es einfach nicht mehr schließen. Er fuhr herum. Ich hatte keine Ahnung, wie er sah. Für Augen war bei diesem gewaltigen Maul kein Platz. Er näherte sich dem Jungen.
Die Fackel fiel auf das Wasser, zischte. Dampf erhob sich, vom letzten Aufflackern der Fackel erhellt. Die Dunkelheit kehrte zurück wie die erstickende Umarmung einer Mutter.
Die Furcht, ausgelöscht zu werden, schüttelte mich. In mir erwachte die Passion des Konflikts. War das Leben nicht eine einzige Serie von Hieben und Finten? Waren wir nicht nur im Kampf wirklich lebendig? Ein Hieb. Ein Stoß. Vielleicht noch das rauhe Durcheinander beim Sex. Wenn ich Sinn im Leben entdeckt hatte, dann diesen: Laß Blut fließen.
Ich unterdrückte den Schmerz und schwamm auf das Ding zu, dessen Anwesenheit durch den plötzlichen Aufschrei des Jungen angezeigt wurde: »Laß mich los! Laß mich los!« Das Wasser vor mir wurde vom Ringen des Jungen mit dem Unwesen aufgewühlt. Es schien ihm nichts zu tun, sondern ihn nur zum Ufer zu bringen, wo die Jäger warteten. Während ich mich den beiden näherte, hörte ich das glitschige Geräusch, als der Dolch des Jungen in das Fleisch des Unwesens hineinstieß. Wieder und wieder hob er ihn, ließ ihn herabsausen, zog ihn wieder heraus. Bei jedem Stoß atmete er stöhnend aus. Das Unwesen grunzte, ein schriller Schmerzenslaut, der gleichzeitig mit dem Stöhnen des Jungen erklang, aber es schien die Schmerzen und den angerichteten Schaden ganz gut zu verkraften.
Meine Hand berührte das Ding, erwischte es am Rücken. Es zuckte zusammen, drehte unbeholfen den Kopf. Der Junge stieß einen Schrei der Überraschung aus. Jetzt erst bemerkte ich, daß der Dämon den Jungen in seinem riesigen Maul trug. Das Unwesen trat mit den Hinterbeinen nach mir, während es weiterhin dem Ufer entgegenstrebte. »Gib mir den Dolch«, verlangte ich, doch der Junge reagierte nicht. Ich tastete mit dem gesunden linken Arm im Wasser herum, fand zufällig sein Gesicht und umklammerte es mit den Fingern. Ich bin sicher, er dachte, ich wolle ihm die Wangen eindrücken. »Gib ihn mir!«
Seine Hand kam mir entgegen, ein verschwommener Laut in der Dunkelheit. Ich ließ sein Gesicht los, tastete seinen Arm entlang, fand den Dolch. »Laß los.« Er tat es. Ich warf meinen nutzlosen und schmerzenden rechten Arm auf den Rücken des Unwesens, um irgend etwas zu fassen zu kriegen, woran ich mich festhalten konnte. Meine Schulter fühlte sich an, als würde sie jeden Augenblick abbrechen und mein Arm einfach abfallen und auf den Grund des Flusses sinken. Trotz der Gefühllosigkeit gelang es mir, mich mit den Fingern in das Fell des Unwesens zu krallen. Der Griff war nicht besonders fest, aber für den Augenblick gut genug. Wie so oft in meinem Leben.