Caroline Spector
Kleine Schätze
Siebter Roman des
Earthdawn™-Zyklus
Originalausgabe
Feder & Schwert
Band 7
Übersetzung: Christian Jentzsch
Illustrationen: Jeff Laubenstein
Redaktion & Lektorat: Catherine Beck
E-Book-Gestaltung: Nadine Hoffmann
Earthdawn® is a Registered Trademark of FASA Corporation. Barsaive™ is a Trademark of FASA Corporation. Original Earthdawn® content copyright © 1993–2015 FASA Corporation. Earthdawn® and all associated Trademarks used under license from FASA Corporation. All Rights Reserved. © 2019 Deutsche Ausgabe Feder & Schwert GmbH.
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E-Book-ISBN 9783867623858
Für die Mütter:
Nancy Sterling
Mary Kirchoff
Sally Wallace
Paula Wiesner
und
Eleanor Skelley
1.
Sie brachten sie halb tot zu mir. Mit dem stumpfen Haar und der wächsernen Haut sah sie kaum noch lebendig aus und mit Sicherheit abstoßend. Und dann hatte sie noch diesen ungeheuer aufgeblähten Bauch.
»Bei allen Passionen, was soll das?«, fragte ich. »Ich gab euch den Auftrag, mir eine neue Sklavin für den theranischen Botschafter zu suchen, und stattdessen bringt ihr mir eine Kuh, die jeden Moment kalbt.« Ich wedelte mit einem parfümierten Taschentuch vor meinem Gesicht herum. »Welch ein Gestank.«
Der angenehme Duft von Ambra stieg mir in die Nase und beruhigte meine strapazierten Nerven augenblicklich. Ich bin zwar Sklavenhändler, aber die Arbeit bereitet mir kein Vergnügen.
Ja, gewiss, vielleicht hin und wieder ein klein wenig. Denn ist die Macht über Leben und Tod nicht erstrebenswert? Ich werde nie eine Passion sein und auch kein Anführer eines mächtigen Volkes, aber hier in Kratas, in diesen Räumen, bin ich ein Gott.
Einer der Trolle zog der Kreatur den Kopf in den Nacken, sodass ihr Gesicht dem Licht ausgesetzt war. Und da erkannte ich sie. Es war Aina, die Vernarbte. Ihr Anblick erschreckte und verblüffte mich, so unerwartet war er.
Wie kam es, dass sie plötzlich meiner Gnade und Barmherzigkeit ausgeliefert war? Und wie war es meinen stupiden Lakaien gelungen, ihren tödlichen Fähigkeiten zu trotzen?
Ich kam zu dem Schluss, soviel Glück nicht weiter in Frage zu stellen. Einstweilen war sie in meiner Gewalt – und noch dazu in einem so empfindlichen und verletzlichen Zustand. Mir schwirrte der Kopf angesichts der Möglichkeiten, die sich mir auftaten, und meine Gedanken überschlugen sich wie ängstliche Bittsteller.
Wie sollte ich diesen Schatz nutzen? Mit wem zuerst Kontakt aufnehmen? Was war für mich am vorteilhaftesten? Ich fühlte mich geradezu beschwingt vor Freude. Wenn mir das Glück solch einen Schatz in die Hände spielt, hinterfrage ich gerne seine Absichten. In meinem Schreibtisch befand sich ein Satz Knochen. Später würde ich sie werfen und sehen, was sie mir zu sagen hatten.
Aber einstweilen musste ich meine Beute am Leben erhalten.
Mich innerlich wappnend, trat ich neben sie. Sie öffnete die Augen. Sie glänzten fiebrig und glasig. Tiefe onyxfarbene Brunnen. Ich berührte ihre Stirn. Sie war heiß wie ein Ofen. Ich zog die Hand rasch zurück.
Sie packte mein Handgelenk mit überraschend festem Griff. Sie zog mich zu sich herab und flüsterte mir ins Ohr.
»Wer bist du?«, fragte sie.
»Ich bin Vistrosh«, sagte ich. »Die Geißel Kratas‘ und des Südens.«
Ich verneigte mich leicht. Übermäßiger Stolz ist gewiss ein Zeichen von Dummheit, aber das hat mich noch nie davon abgehalten, ihn an den Tag zu legen.
Sie ließ meinen Arm los, sank zurück und schloss die Augen.
»Der Sklavenhändler«, sagte sie. »Was wirst du mit mir tun?«
Ich betrachtete sie. Es gab eine ganze Reihe von Leuten, die gerne gewusst hätten, dass sie sich in meiner Gewalt befand. Aber aus irgendeinem Grund erweckte ihr Zustand eine ungewöhnliche Emotion in mir: Mitgefühl.
Schließlich war sie in ihrem Zustand schrecklich verletzlich. Nein, beschloss ich. Ich würde sie bis nach ihrer Niederkunft behalten. Dann hatte ich zwei Sklaven anzubieten anstatt eines einzigen. Und wer wusste schon, was sie mir erzählen würde. Informationen waren mein Herzblut. Zu wissen, wer wann was wollte. Wer wem was angetan hatte. Klatsch, Geschichten, Gerüchte. Ich siebte alles, um eine Substanz zu schürfen, die kostbarer als Orichalkum war. Wissen war Macht.
»Natürlich wirst du mein Gast sein«, sagte ich. »Ich könnte eine Elfe, eine Rassegenossin, in deinem Zustand niemals aus meiner Obhut entlassen.«
»Welch ein Trost«, murmelte sie.
Ich ignorierte ihre Bemerkung, eine Fähigkeit, die ich im Laufe der Jahre entwickelt habe. Es war besser, verletzende Bemerkungen zu ignorieren, als sie zur Kenntnis zu nehmen. Ich hatte schon vor langer Zeit Frieden mit mir geschlossen, auch wenn andere das nicht getan hatten.
Mit einigen geflüsterten Worten befahl ich meinen Dienern, ein Zimmer für sie vorzubereiten. Sie kehrten kurze Zeit später zurück, und obwohl ich es widerwärtig fand, hob ich sie auf und trug sie selbst in das Zimmer. Sie presste die Lippen aufeinander, als meine Dornen ihre Haut durchbohrten. Aber sie schrie nicht auf. Mein Respekt für sie wuchs, denn es kam niemals vor, dass ich nicht selber gerne vor Schmerzen geweint hätte.
Ich legte sie auf das Bett. Die Ledergurte, welche die dünne Matratze hielten, quietschten. Sie stieß ein leises Stöhnen aus.
»Geht es dir gut?«, fragte ich.
»Nein«, sagte sie. »Aber andererseits wird nichts je wieder gut werden.«
Darauf hatte ich keine Antwort, also ließ ich sie mit ihrem ungeborenen Kind und ihren Erinnerungen allein. Später würde ich mich fragen, ob ich sie nicht auf der Stelle hätte töten sollen, dann wäre alles ausgestanden gewesen. Aber im Nachhinein ist man immer schlauer, nicht wahr?
2.
Als ich in meinen Empfangsraum zurückkehrte, verschloss ich die Tür vor neugierigen Blicken. Gewiss, ich wusste, dass es meinen Dienern möglich war, mir nachzuspionieren, aber alle hatten die Konsequenzen mitbekommen, als ich einmal einen unerwünschten Spion entdeckt hatte. Ich kann mich noch erinnern, dass nach dem Vorfall alle mehrere Tage lang einen ungewöhnlich geringen Appetit hatten.
Die Knochen waren in einer kleinen Lade verborgen, die in ein Tischbein eingearbeitet war. Das Möbel war für meinen Geschmack zu prunkvoll, aber es war nicht leicht, gutes Mobiliar für meine speziellen Bedürfnisse aufzutreiben.
Es juckte mich in den Fingern, endlich die Knochen zu werfen. Es war ziemlich lange her, seit ich mich zuletzt mit ihnen beschäftigt hatte, und ihre Macht zerrte an mir. Hätte ich nicht mein gegenwärtiges Gewerbe betrieben, wäre ich, wie ich glaube, für die Genauigkeit meiner Würfe und Voraussagen berühmt geworden.
Der Lederbeutel roch nach Sandelholz und Blitzen. Vor langer Zeit hatte ich die Knochen auf meine Struktur abgestimmt. Sie schienen mir geradezu in die Hände zu springen und sich bei meiner Berührung zu erwärmen. Ich genoss die klickenden Geräusche, als sie in meiner Hand leicht gegeneinander stießen. Viele hielten die Knochen für ein Spiel, das nur von betrunkenen Narren und leichtsinnigen Glücksspielern gespielt wurde. Aber ich wusste es besser.
Jeder Satz Knochen war anders. Meinen hatte ich aus den Überresten eines Dämons geschnitzt, den ich getötet hatte, als ich noch im Blutwald lebte. Ich bin alt genug, um mich noch gut an die Plage erinnern zu können. Natürlich werden wir Elfen sehr alt, manche vielleicht sogar zu alt, das ist nicht ungewöhnlich. Lange habe ich gehasst, was meinem Körper angetan wurde, um mich vor den Dämonen zu schützen. Aber an dem Tag, als ich den Dämon tötete, aus dem ich meine Knochen geschnitzt habe, genoss ich die Schmerzen.
Manche halten mich wegen der schamlosen Weise, in der ich meine Verunstaltung zur Schau stelle, für pervers. Sie sagen, ich genösse das Unbehagen, das ich anderen bereite.
Sie haben recht.
Ich mag zwar die Bedingungen meiner Existenz verachten, aber ich verleugne sie nicht. Das zu tun, hieße, mich selbst zu verleugnen, und das ist in meinem Leben bereits zu oft geschehen.
Ich warf die Knochen und ließ sie auf die Schreibtischplatte fallen. Sie rollten und klickten und lagen schließlich still, während mich ihre Oberseiten in dem matten Licht anfunkelten.
Magie, die Königin, die Liebende.
Ich warf noch einmal, bis ich das Bild vervollständigt hatte. Alles in allem war es ein schlechtes Omen, und als ich seine Warnungen herausarbeitete, spürte ich, wie mir kalt wurde.
Ich wusste nur wenig über Ainas Vergangenheit. Aithne Eichenwald hatte mir vor Jahren ein wenig darüber erzählt, als Alachia, unsere illustre Königin, ihn vom Blutwald ausgeschickt hatte, Aina zu finden und zurückzubringen. Ich wusste, dass es ihm gelungen war, sie zu überreden, mit ihm in den Wald zurückzukehren, kannte jedoch nicht den Ausgang des Zusammentreffens von Aina und Alachia.
Irgendetwas Furchtbares war ihr in der Zwischenzeit zugestoßen. Soviel verrieten mir die Knochen, aber was, konnte ich nicht erkennen. Es war ungewöhnlich, dass sich mir solche Ereignisse nicht offenbarten, und das weckte in mir ein Gefühl des Unbehagens. Ich verstaute die Knochen wieder in ihrem Beutel und legte ihn in sein Versteck zurück.
Ich öffnete die Tür und befahl meinem Diener, mir Essen und Unterhaltung zu bringen. Er brachte mir augenblicklich ein Tablett mit Obst und eine Schüssel dampfenden Reis, der mit zartem Fisch garniert war. Dem Diener folgte einer meiner beschränkten Trolle, der meine Unterhaltung für diese Nacht brachte. So viel üppiges junges Fleisch, und nur zu meinem Vergnügen. Vielleicht hältst du mich für grausam, und hätte ich noch ein Herz gehabt, um Liebe zu empfinden, hätte ich von diesen Dingen vielleicht Abstand genommen. Aber mein Herz war schon vor langer Zeit gebrochen, also tröstete ich mich, so gut ich konnte.
Das Essen war ausgezeichnet, etwas, worauf ich bestand. Aber ich kann dir sagen, es ist kein leichtes Unterfangen, in Kratas einen anständigen Koch zu finden und zu behalten. Diebe und Attentäter tanzen haufenweise nach meiner Pfeife, aber was würde ich für einen einzigen meiner Bediensteten aus meiner Zeit im Blutwald geben.
Ach, der Blutwald. Wie ich ihn vermisse, selbst jetzt noch. Ich werde dir etwas sagen: Es gibt Zeiten, in denen ich ihn nach mir rufen höre. Sein Lied ist wie Wein, wie Feuer, wie die Hitze des Blickes eines Verliebten, die durch mein Blut rauscht.
Ein Teil von mir genießt dieses Gefühl und ein anderer fürchtet sich davor. Ich habe gesehen, was die Sehnsucht nach dem Wald einem Elf antun kann. Er muss zurückkehren – koste es, was es wolle – und marschiert tagelang, wochenlang, sogar monatelang ununterbrochen, bis er völlig entkräftet ist. Manche sterben, bevor sie den Blutwald erreichen. Andere verenden im Schatten des riesigen Waldes, so nah, dass sie ihn fast berühren können.
Ich erhob mich und ging zu einem der Sklaven, die man mir gebracht hatte, um ihm über das Haar zu streichen. Er war hellhäutig, wenngleich nicht so hellhäutig wie ich. Das sind nur sehr wenige. Selbst ich bin manchmal, wenn ich mein Spiegelbild sehe, verblüfft über das Schillern meiner Haut, den Schopf meiner reinweißen Haare und die rötliche Färbung meiner Augen. Ich gebe zu, dass ich manchmal über mein Aussehen ins Schwärmen gerate. Nur wenige haben solch einen Teint, und trotz der Dornen ist meine Haut glatt und ansonsten makellos. Ohne die Dornen würde ich als sehr schön gelten, selbst bei den Theranern, deren Geschmack in solchen Dingen äußerst heikel ist.
Ich legte beide Hände um das Kinn des Sklaven und zwang ihn, den Kopf zu heben, bis er mich ansehen musste. Selbst da wandte er den Blick ab, als könne er es nicht ertragen, mich anzusehen. Ich schüttelte ihn, und er begegnete meinem Blick. Und da sah ich das Verlangen in seinen Augen. Wenn man so viele Jahre gelebt hat wie ich, bemerkt man solche Dinge. Ein Blick hier, eine Berührung da, eine gewisse Art und Weise zu reden. Nichts, was jenen, die nicht so sind wie ich, auffallen würde. Aber ich sah in seinen Augen, dass seine Bedürfnisse meinen entsprachen. Vielleicht hasste er sich dafür, dass er mich wollte, aber er konnte seine Natur genauso wenig kontrollieren wie ich meine.
Vielleicht, dachte ich. Vielleicht wird er mich heilen. Vielleicht finde ich hier mehr als nur einen Moment des Trostes. Dann suchte mich das Gesicht aus meiner Vergangenheit wieder heim, und ich wusste, dass alle derartigen Überlegungen Wunschträume waren und bleiben würden.
Ich gab den Trollen Befehl, alle Sklaven bis auf diesen einen wegzubringen, und ließ ihm die Ketten abnehmen, bevor sie gingen. Er stand da, rieb sich die Handgelenke und warf ängstliche und zugleich hoffnungsvolle Blicke in meine Richtung.
Wie mich seine Verwirrung erregte. Ich ging um ihn herum, wobei ich ihn hin und wieder berührte. Er zuckte zusammen, wenn sich meine Dornen in seine Haut bohrten. So zarte Qualen. Nach einiger Zeit begann er zu zittern, wenn ich ihn berührte, wenngleich es offensichtlich war, dass ihm die Dornen nicht gefielen. Aber es war Zeit genug, all das zu ändern.
»Wie heißt du?«, fragte ich ihn leise.
»Orris«, erwiderte er.
»Du bist ein Sklave, Orris«, sagte ich. »Aber du kannst dein Schicksal wenigstens zum Teil selbst bestimmen. Ich lasse dir die Wahl. Du kannst dir deinen neuen Herrn selbst aussuchen. Mich selbst oder einen anderen. Mir bedeutet es nichts, aber dir vielleicht schon.« Ich berührte ihn jetzt nicht mehr, sondern stand nur hinter ihm und wartete auf seine Entscheidung.
Er blieb eine ganze Weile so stehen. Ich konnte seinen ungleichmäßigen Atem hören. Konnte das Verlangen beinahe spüren, das durch seine Adern kreiste. Dafür hasste ich ihn beinahe. Dafür, dass sein Verlangen meinem entsprach. Aber ein Teil von mir wollte, dass er mich wollte, und wie ich mich dafür selbst verachtete.
Dann drehte er sich um, griff nach mir, versuchte mich dort zu berühren, wo keine Dornen waren. Und ich gestattete mir, zu denken aufzuhören.
Und dann hörte ich auf, mir um irgendetwas Gedanken zu machen.
Für eine Weile.
3.
Ich erwachte bei Sonnenuntergang des nächsten Abends mit einem Gefühl des Friedens und Wohlbefindens. Aus meiner Hängematte konnte ich Orris im Bett schlafen sehen, das Gesicht tief in eines meiner weichen Federkissen vergraben. Für mich war es unmöglich, in einem Bett zu schlafen, weil die Dornen an Rücken und Rumpf zu dicht standen. Wie ich ihn um seinen friedlichen Schlaf beneidete.
Den dicken Samtvorhang vor dem Fenster beiseite schiebend, sah ich hinaus in die einsetzende Dämmerung. Es war jene Zeit, in der die Sonne gerade untergegangen, es aber noch nicht dunkel ist. Dann werden keine Schatten geworfen, und eine Stille senkt sich herab, als warte die Welt darauf, dass etwas geschieht. Ich sah kaum noch das Tageslicht, da ich es vorzog, mein Gewerbe während seiner natürlichen Stunden auszuüben. Die Theraner finden das lästig, und ich bekenne, dass mir die Vorstellung gefällt, ihnen ein paar kleinere Unannehmlichkeiten zu bereiten. Sie haben keine Bedenken mehr, zu jeder Tages- und Nachtzeit das schockierendste Betragen an den Tag zu legen.
Orris seufzte und drehte sich im Schlaf um. Die helle Haut, die mich in der Nacht zuvor noch so verzaubert hatte, war nicht mehr glatt und makellos. Ich fand das ziemlich abstoßend und machte im Geiste einen Vermerk, dafür zu sorgen, dass er entfernt wurde, bevor ich zurückkehrte. Vielleicht würde ich ihm wieder mit Wohlwollen begegnen, wenn seine Wunden verheilt waren, aber bis dahin war er vielleicht auch schon verkauft. Solcher Art waren meine vielen Ärgernisse.
Nackt ging ich ins Bad. Das Wasser war perfekt temperiert, da die Bediensteten meine Vorlieben schon seit langer Zeit kannten. Anders als in Garlthik Einauges jämmerlicher Truppe gibt es in den Reihen der Horde keine falsche Kameraderie. Sie schwören mir Gefolgschaft und ich ihnen. Ich führe. Sie folgen. Ansonsten wären sie wie Wildhunde. Jetzt sind sie ein Rudel. Eine Horde.
Handtücher wurden am Feuer gewärmt, und ich nahm eines, um mich abzutrocknen. Ich zuckte zusammen, als ich an einem meiner Dornen hängenblieb, aber daran ließ sich nichts ändern. Das war der Preis, den ich für ihren Schutz zahlte, den wir alle zahlten. Das Gesicht Alachias erhob sich plötzlich vor meinem geistigen Auge. Ihre bleiche Haut, die von rosenartigen Dornen durchstochen wurde, wodurch sie noch bezaubernder wirkte als zuvor. Wie so viele ihrer Untertanen hasste und liebte ich sie zugleich, und zwar mit einer schrecklichen Leidenschaft. Ein einziges freundliches Wort von ihr, und ich wäre zu ihr zurückgeeilt. Doch auf solch eine Wohltat zu hoffen, war vergeblich, und das wusste ich.
Als ich schließlich meine Gewänder angelegt und mein Haar zu seidigem Glanz gebürstet hatte, verließ ich meine Gemächer und ging zu den Empfangsräumen im Erdgeschoss. Heute würde ein Mittelsmann für einen wohlhabenden theranischen (als gäbe es auch andere) Kaufmann auf mich warten.
Als ich die Treppe herunterkam, sah ich, dass er noch nicht eingetroffen war. Das störte mich ein wenig, da ich es immer genieße, Theraner warten zu lassen. Es ärgert sie.
Am Herd stand Kai, der tödlichste meiner Assassinen. Er war sehr klein, mondgesichtig, segelohrig, kahlköpfig und blasshäutig. Die meisten Leute unterschätzten ihn, aber ich wusste, wie bösartig er sein konnte. Er hatte die Fähigkeit kultiviert, die Arglosen anzulocken und sie dann anzugreifen. Normalerweise waren seine Opfer tot, bevor sie reagieren konnten.
Und er liebte seine Arbeit über alles.
»Was gibt es Neues?«, fragte ich.
»Bisher nichts«, erwiderte er. Seine Stimme war ausdruckslos und mit einem Näseln unterlegt, das mir Zahnschmerzen verursachte. Nach einem Gespräch mit ihm sehnte ich mich immer unsagbar nach den melodischen Stimmen der Blutelfen.
»Ich erwarte mehr von dir«, sagte ich. »Alle haben ihre Schwächen. Sogar Garlthik Einauge.«
Er zuckte die Achseln. »Er schützt sich gut. Er wechselt ständig den Aufenthaltsort und lässt niemanden zu nah an sich heran.«
»Hast du irgendeine Ahnung, wo er sich gerade befindet?«
»Nein, aber ich habe Leute darauf angesetzt. Wir werden ihn finden. Und wenn wir ihn gefunden haben, mache ich Euch seinen Kopf zum Geschenk.«
In seinen Augen war ein fanatisches Glitzern. Obwohl er kaltblütig und vollkommen herzlos war, schien er mir gegenüber eine unerschütterliche Ergebenheit an den Tag zu legen. Eine Tatsache, die ebenso oft alarmierend wie gut war. Solch einen Mann zu kontrollieren war niemals einfach, aber wenn er einmal beschließt, einem sein Leben zu widmen, kann das trotz der damit verbundenen Risiken äußerst vorteilhaft sein.
Ich lächelte ihn an, und er hielt meinem Blick einen Moment lang stand, bevor er wegsah. Welch eine Ergebenheit. Wahrscheinlich hatte ich sie gar nicht verdient.
»Ich freue mich auf diesen Tag«, sagte ich. »Ich habe Zutrauen in deine Fähigkeiten.«
Der Stolz ließ ihn erröten, zuerst am Hals und dann auch im Gesicht. Sehr zu meiner Erleichterung verließ er dann den Raum.
Zufrieden nahm ich zur Kenntnis, dass Kerzen in den Leuchtern und Räucherwerk in der Duftpfanne entzündet worden waren. Ja, ja, ich weiß, dass es sehr leicht ist, Licht auf magische Weise zu erzeugen, aber ich ziehe Kerzen vor. Ihr Duft, der Schein, den sie erzeugen, die Schatten, die in ihrem Licht flackern. Vielleicht ist es schrullig von mir, aber Kerzen schaffen eine gewisse Atmosphäre.
Ein Klopfen an der Tür kündete meinen Diener Fortunatus an, der Ormond Xanus hereinführte. Wie die meisten Theraner bot Xanus einen langweiligen Anblick, so perfekt und symmetrisch wie er aussah. Warum sie dieses Aussehen als angenehm empfinden, verstehe ich nicht. Ich finde, sie sehen ziemlich merkwürdig aus, als seien beide Gesichtshälften in derselben Gussform entstanden.
Er bewegte sich mit der für die Theraner üblichen Grazie. So geschmeidig und anmutig, dass man meinen konnte, er gleite über eine Eisfläche. Eine dicke emaillierte Kette hing um seinen Hals. Ich wusste, dass er wertvollere Stücke besaß. Er hatte das so oft erwähnt, dass ich bereits gähnen musste, wenn ich nur daran dachte. Tatsächlich war es ein nettes Schmuckstück. Eines, das ich mir sogar für mich gewünscht hätte, wäre die Tatsache nicht gewesen, dass es theranische Haut berührt hatte.
»Seid gegrüßt, Vistrosh«, sagte er. »Wie freundlich von Euch, mich zu empfangen.«
Er hielt mich überhaupt nicht für freundlich. Sein Tonfall ließ daran keinen Zweifel. Aber er brauchte mich und meine Dienste. Zu wissen, dass ihn das schmerzte, war eine große Freude.
»Guten Abend, Ormond«, sagte ich. »Was kann ich Euch heute Abend zeigen?«
»Sklaven natürlich«, erwiderte er. »Warum sollte ich sonst kommen?«
»In der Tat, warum«, erwiderte ich, meinen Ärger verbergend. Arroganz und schlechte Manieren. Was war es doch für eine Freude, sich mit Theranern abzugeben. »Welche Art von Sklaven schwebt Euch vor?«
»Ich suche eine ganz besondere Art.«
»Bitte«, sagte ich. »Klärt mich auf.«
Ormond grinste. »Eine Sklavin«, begann er. »Dunkel wie die Nacht, mit Haaren, die so weiß wie Eure sind. Eine Rassegenossin von Euch. Sie trägt den Namen Aina.«
Woher weiß er von ihr?, fragte ich mich. Nur selten drangen Informationen aus meiner Domäne nach draußen, ohne dass ich es wusste. Oder geplant hatte.
»In der Tat, eine besondere Sklavin«, sagte ich. »Ich wollte, ich könnte Euch behilflich sein, aber ich weiß nichts von ihr.«
»Ah, Ihr spielt den Bescheidenen«, sagte Ormond. »Sagt mir, stimmt es, dass sie am ganzen Körper mit den schrecklichsten Narben bedeckt ist?« Er schüttelte sich geziert, als fände er den Gedanken faszinierend und abstoßend zugleich.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte ich. Innerlich wurde ich immer wütender. Sie war meine Sklavin und ging nur mich etwas an. Ich mag es nicht, wenn ich gedrängt werde, und schon gar nicht von Theranern.
»Es gibt Gerüchte, dass sie sehr mächtig sei und ein ungewöhnliches Verständnis von den Dämonen habe. Könnt Ihr Euch so eine Sklavin vorstellen? Sie wäre für ihren Besitzer ein außerordentlicher Aktivposten.«
Ich runzelte die Stirn. »Ich bin sicher, das wäre sie, aber ich fürchte, ich kann Euch diesmal nicht helfen.«
Ormond musterte mich eindringlich. »Ich weiß aus sicherer Quelle, dass sie jetzt hier ist. Dass sie schwanger ist. Natürlich müsste die Schwangerschaft unterbrochen werden. Aber das Verfahren ist ja einfach genug.« Er winkte abfällig mit der Hand.
Wut flammte in mir auf, explodierte förmlich in meinem Kopf. Weißglühend und blendend. Wie gleichgültig er darüber redete, ihr Kind umzubringen. Einen meiner Rassegenossen. Wie viele von ihnen hatten sie im Laufe des Krieges zwischen uns getötet? Wir hatten gesiegt, und dennoch kamen sie immer noch, um uns zu töten.
Da lächelte ich. Ich lächle immer, wenn ich wütend bin.
»Ich habe sie nicht«, sagte ich, indem ich zur Tür ging und sie öffnete. »Und da ich Euch nicht helfen kann, sollten wir unser Gespräch vielleicht für heute beenden.«
Er wollte noch etwas sagen, das konnte man seiner Miene entnehmen. Aber dann sah er meine Augen und was sich hinter meinem Lächeln verbarg. Sein Lächeln flackerte und erlosch.
»Denkt darüber nach«, sagte er. »Ihr wollt Euch doch keine mächtigen Feinde machen.«
»Ebenso wenig wie Ihr«, erwiderte ich, indem ich die Tür vor seiner Nase schloss.
4.
Ein paar Augenblicke später erschien Fortunatus und sah mich erwartungsvoll an, da er meine Befehle erwartete. Ein wirklich guter Sklave ist so schwer zu finden. Ich wies ihn an, jeden, der etwas von mir wollte, bis zu meiner Rückkehr warten zu lassen. Ich verließ den Raum über meine private Treppe und ging in den obersten Stock meines Hauses, wo Aina untergebracht war.
Als ich ihr Zimmer betrat, war es dunkel. Mit einer raschen Drehung meines Handgelenks vertrieb ich die Dunkelheit. Jetzt war nicht der geeignete Zeitpunkt, mit der Subtilität von Kerzen zu spielen. Das Zimmer sprang mich förmlich an. Die Fenster waren weit geöffnet, und sie stand mit dem Rücken zu mir vor ihnen.
»Ist das nötig?«, fragte sie. Sie drehte sich nicht zu mir um.
»Was?«
»Das Licht. So kann man mich von draußen sehr gut sehen.«
»Dann zieh die Vorhänge vor.«
Sie seufzte, dann raffte sie sie mit einer entschlossenen Bewegung zusammen. Sie drehte sich zu mir um, neigte den Kopf ein wenig und sah mich an.
»So«, sagte sie schließlich. »Du bist also mein Retter. Eine ziemliche Ironie, findest du nicht?«
»Warum?«
»Nun ja. Du. Ich. Wir sind ein unmögliches Paar. Ich würde fast sagen, dass uns eine der Passionen gerade in diesem Augenblick auslacht. Höchstwahrscheinlich Vestrial.«
»Ich glaube nicht an die Passionen.«
Sie lächelte. »Ich auch nicht.«
Und da fiel es mir auf. Die Tatsache, dass sie aus eigener Kraft dastand, bedeutete, dass sie ihre körperliche wie geistige Gesundheit zumindest teilweise wiedererlangt hatte.
»Es scheint dir viel besser zu gehen«, sagte ich.
»Ja«, erwiderte sie. »Deine Heiler sind ziemlich tüchtig. Sie haben mich gegen meinen Willen einigermaßen wiederhergestellt. Hast du das veranlasst?«
Ich nickte.
Sie wandte sich ab und setzte sich auf einen der großen hölzernen Armsessel, die vor dem Kamin standen. Ihr dicker Bauch erschwerte es ihr, sich auf den Sessel zu manövrieren, aber ich rührte keinen Finger, um ihr zu helfen. »Dann bist du es also, den ich hassen muss«, sagte sie. »Denn ich hatte nicht den Wunsch, gerettet zu werden.«
Undankbares Geschöpf, dachte ich. Ich sollte Ormond zurückrufen und dich sofort an ihn verkaufen. Aber ich tat es nicht.
»Merkwürdig, dass du es bedauerst, gerettet worden zu sein«, sagte ich. »Nach allem, was Aithne mir über dich erzählt hat...«
»Erwähne seinen Namen nicht«, schnauzte sie. Sie starrte ins Feuer, und auf ihrem Gesicht lag ein orangefarbener Schein. Da sah ich die Linien der Erschöpfung, die sich hineingegraben hatten. Trotz meiner Heiler war sie immer noch sehr schwach.
»Ich dachte, du und Aithne ...«
»Es gibt keinen Aithne mehr für mich. Und auch keine Aina mehr für ihn. Es ist für uns beide so, als sei der andere nie geboren worden.«
Ihre Stimme war tonlos, ohne jede Energie und Empfindung. Sie klang farblos und alt. Das war äußerst seltsam. Was war zwischen ihnen vorgefallen? Aithne hatte durchklingen lassen, dass sie einander einst geliebt hatten. Nach allem, was ich wusste, hatte er sie dazu überredet, in den Blutwald zurückzukehren und dort zu leben. Den Grund dafür hatte ich nie herausgefunden. Aber ich wusste von Aithne, dass sie niemals gerne dort geblieben wäre.
Was hatte sie dazu bewegt zurückzukehren? Und warum hatte sie den Blutwald dann wieder verlassen? Hätte ich die Möglichkeit, wieder in den Blutwald zurückzukehren, würde ich es tun und ihn nie wieder verlassen.
Doch eine dringlichere Frage lautete, wie ich sie behandeln, was ich mit ihr tun sollte. Ich sah ihr zu, wie sie ins Feuer starrte, während ich über diese Frage nachdachte.
Sie war so, wie Aithne sie beschrieben hatte. Die feinen Gesichtszüge. Die hohen Wangenknochen, die für uns Elfen typisch sind. Die makellose Haut. Abgesehen davon, dass laut Aithne ihr ganzer Körper mit Ausnahme ihres Gesichts von Narben bedeckt war. Vielleicht war also doch noch ein wenig Eitelkeit in ihr.
Ich fand ihre Augen äußerst beunruhigend. Schwarz und bodenlos erweckten sie den Eindruck, als schaue man in eine Ewigkeit. Was für ein Paar wir abgeben würden. Die dramatische Erscheinung – welch eine Ablenkung würde das sein. Da kam mir ein verzweifelter Gedanke. Vielleicht gab es eine Möglichkeit zurückzugewinnen, was ich verloren hatte. Vielleicht konnte ich sie auf andere als die für mein Geschäft übliche Weise gewinnbringend einsetzen.
»Was kann zwischen euch vorgefallen sein, das Aithne aus deinem Herzen verbannen würde?«, fragte ich schließlich.
»Du stellst viele Fragen für einen Sklavenhändler«, sagte sie. »Hast du immer so ein Interesse an deinen Opfern? Oder soll ich glauben, dass du mich auserwählt hast, um mir eine Sonderbehandlung angedeihen zu lassen? Es kann nicht daran liegen, dass du in mich vernarrt bist. Ich hörte, du hättest andere Neigungen. Also, Vistrosh, Geißel von Kratas, was hast du vor?«
Sie lehnte sich zurück, als habe ihr diese längere Rede alle Kraft geraubt.
Wie soll ich sie behandeln?, fragte ich mich.
»Vielleicht will ich nur einer Elfe helfen, die ebenso wie ich aus dem Blutwald verbannt wurde«, sagte ich.
Sie lachte. Es klang hohl.
»Erwartest du wirklich, dass ich das glaube? Oder willst du nur witzig sein?«
»Du kränkst mich«, sagte ich, eine Hand auf mein Herz legend.
»Also das ist schon besser. Der Anflug eines verbalen Gefechts. So ist es doch auch viel interessanter. Es gibt mehr als eine Methode, jemanden zu verführen. So ist es eine viel größere Herausforderung. Findest du nicht?«
Ich zuckte die Achseln. Es hatte keinen Sinn, meine Karten zu früh aufzudecken. Ich ging davon aus, dass sie alles, was ihr in den Schoß fiel, sehr rasch langweilen würde.
»Wann ist es soweit mit deinem Kind?« ,fragte ich.
Sie sah mich mit leerem Blick an. »Kind?«, fragte sie. »Ich habe keine Kinder.«
»Nein«, sagte ich. »Ich meine das, was du in dir trägst.«
»Ich trage kein Kind in mir«, erwiderte sie.
Sie sah direkt zu mir auf, und ich konnte nicht die Spur einer Täuschung erkennen. Keinen Spott. Nur ernste Überzeugung. Und da wusste ich, dass das, was sie erlebt hatte, bevor sie von meinen Männern gefangengenommen wurde, sie zumindest teilweise in den Wahnsinn getrieben hatte.
5.
»Nun, willst du noch irgendetwas sagen, oder wirst du mich nur anstarren?«, fragte sie mich.
Ich ging zu dem anderen Sessel und zog ihn neben den ihren. Meine Gedanken überschlugen sich, da ich zu erfassen versuchte, wie verrückt sie tatsächlich war. Vielleicht konnte ich einen Vorteil aus ihrem Wahnsinn ziehen, aber er brachte auch ein Element großer Unsicherheit ins Spiel. Ich wusste einfach nicht, wie sie handeln oder reagieren würde.
Höchst ärgerlich.
»Erinnerst du dich noch an eine Frau namens Sidra?«, fragte ich. Vielleicht würde eine unerwartete Wendung etwas Interessantes zu Tage fördern.
Sie lächelte dünn.
»Ja«, sagte sie, als unterhalte sie sich mit einem ziemlich beschränkten Kind. »Du weißt, dass sie jetzt tot ist?«
Ich nickte. Nach den Maßstäben unserer Rasse haben Menschen eine sehr kurze Lebensspanne. Vielleicht ist das der Grund dafür, warum sie so hektisch und ungeduldig sind. Sie wissen, dass sie nur für einen kurzen Augenblick hier sind. Das macht sie in vielerlei Hinsicht gierig. Sidra war immer wissbegierig gewesen. Ich erinnerte mich gern an sie. Nun, so fern, wie ich mich überhaupt an jemanden erinnere.
»Sie hat mich einmal gerettet«, sagte Aina. »Natürlich musste ich mich dafür revanchieren. Sie für ihre gute Tat bestrafen, nehme ich an.«
»Ich wusste nicht, dass sie dich gerettet hat«, sagte ich.
»Vielleicht hat sie es gar nicht so gesehen. Aber ich schon.«
»Und du hast sie auch gerettet? Wovor?«
»Himmelsspitze.«
»Du warst in Himmelsspitze?« Das war eine überraschende Neuigkeit.
»Ja. Sie war immer so neugierig. Das vermisse ich. Auch wenn man glaubte, es gäbe nichts Interessantes mehr an einem, konnte sie eine Frage stellen oder etwas sagen, sodass man sich danach in einem ganz neuen Licht betrachtete. Das war eine echte Gabe. Ich habe sie darum beneidet.«
»Was ist passiert?«
Aina sah mich mit ihren dunklen, rätselhaften Augen an. Welche Gedanken ihr in diesem Augenblick durch den Kopf gingen, konnte ich nicht einmal erahnen. Dann holte sie tief Luft und lehnte sich zurück.
»Soll ich dir eine Geschichte erzählen?« fragte sie.
Eine merkwürdige Richtung, die unser Gespräch jetzt nahm, aber wenn man es mit einer Verrückten zu tun hat, fährt man gut, wenn man ihr ihren Willen lässt.
»Nur wenn du willst«, erwiderte ich.
»Ah, wie rücksichtsvoll. Und höflich.«
»Mir liegt nur an deinem Wohlbefinden«, sagte ich.
»Das glaube ich nicht. Aber es ist eine nützliche Erfindung. Ich soll meinen Häscher mit meinem Verstand unterhalten. Geschichten erzählen, um ihm die Zeit zu vertreiben, bis er meiner überdrüssig wird. Das ist immer das Problem, nicht wahr? Was soll man erzählen und was für sich behalten. Es gibt so viele Geheimnisse.«
»Und wirst du mir deine Geheimnisse erzählen?«
»Nein«, sagte sie. »Erst wenn du mir deine erzählst.«
»Aber ich habe keine Geheimnisse.«
Da lachte sie. Laut und schallend.
»Ich schwärme für Lügner«, sagte sie. »Sie sind so amüsant.«
»Warum sollte ich eine Sklavin belügen?«, fragte ich.
Sie zuckte die Achseln. »Das gehört nicht zur Sache. Also gut, eine Geschichte. Wovon soll ich dir erzählen?«
»Erzähl mir von Sidra und den Theranern.«
Sie wandte den Blick ab und sah ins Feuer. Lange Zeit bewegte sie sich nicht. Und dann, schließlich, begann sie...
6.
Es war ein ungewöhnlich kalter Winter. Das weiß ich noch, weil ich die Kälte nicht mag. Ich konnte sie noch nie leiden. Ist es nicht eine Ironie, dass ich in den Norden zog, um dort zu leben?
Die Lichter der Weinenden Zinne.
Ein reizender Name, findest du nicht? Aber ein kalter Ort, wo sich die Sonne manchmal tagelang weigert, ihr Gesicht zu zeigen. Dorthin ging ich, nachdem ich Bergschadens Domäne verlassen hatte.
Ich hatte lange Zeit in der Drachenhöhle verbracht. Die... Krankheit, die ich so viele Jahre lang mit mir herumgeschleppt hatte, hatte Spuren hinterlassen. Seltsam, man stellt sich Drachen eigentlich nicht als Geschöpfe vor, die jemanden gesundpflegen. Aber wann hätte ein Drache schon jemals etwas getan, das wir Namensgeber verstehen?
Nein, ich sage dir nicht, wo er sich jetzt befindet. Was bringt dich auf den Gedanken, ein Drache würde mich über seinen Aufenthaltsort auf dem Laufenden halten?
Wo war ich?
Ach ja.
Natürlich konnte ich nicht im Blutwald leben, damals nicht. Alachia und ich hatten gerade erst über Mittelsmänner einen brüchigen Waffenstillstand geschlossen. Ich traute ihr damals nicht. Ich traue ihr auch jetzt nicht. Manche Dinge müssen wir wohl einfach akzeptieren. Es gibt Leute, die eng mit dem eigenen Leben verknüpft sind und gegen die man nichts tun kann.
Aber ich hatte unter den Leuten des Nordens eine einigermaßen freundliche Aufnahme gefunden. Und dieses Land ist auch schön. Mit grünen Farben, die wir uns hier nicht vorstellen können. Kräftige Töne, die mit Gelb- oder Blauschattierungen durchsetzt sind. Natürlich misstrauten mir die Elfen dort. Ich war zwar nicht verderbt, aber ich war auch keine von ihnen. Ich war so etwas wie ein Zwischending.
Aber über diese Dinge weißt du selbst sehr gut Bescheid, nicht wahr, Vistrosh?
Ich baute mir dort ein Steinhaus auf einer Klippe über dem grauen Ozean. Es war ganz schlicht. Einfache graue Steinmauern. Ein Lehmboden. Eine Holztür. Drinnen hatte ich nur ein Bett und einen Tisch.
Vielleicht bestrafte ich mich für all das Elend, was ich verursacht hatte. Vielleicht wollte ich meine Seele reinigen. Was es auch war, es kam mir gerade recht. Denn in der Zeit, die ich dort verbrachte, war ich von einem Gefühl des Friedens und der Hoffnung erfüllt.
Eines Tages ging ich den Strand entlang, um Muscheln zu suchen. Eine einfache Tätigkeit, aber sie bereitete mir große Freude. Die Luft war frisch und sauber und roch salzig. Das Wasser hatte den Saum meines Gewandes durchtränkt, er schleifte hinter mir her und hinterließ eine breite Spur im Sand.
Dann hörte ich das Geräusch.
Es kam von ganz weit entfernt. Zuerst dachte ich, dass es das Weinen eines Kindes sei. Doch dann erklang es noch einmal, und zwar hoch oben am Himmel. Ich schaute nach oben, und in diesem Augenblick hatte die Sonne einen ihrer seltenen Auftritte, sodass ich blinzelte, um meine Augen vor dem grellen Schein zu schützen.
Und dort vor der blassgelben Sonne schwebte ein Vogel. Er flog nach unten. Als er kaum noch hundert Ellen entfernt war, erkannte ich ihn.
Vor langer Zeit waren Aithne und ich übereingekommen, dass ich kommen würde, falls er mich je brauchte. Er würde einen Boten schicken. Einen Vogel, den ich als den seinen erkennen würde. Und dieser Vogel flog jetzt auf mich zu.
Er war schwarz und rot gefiedert und hatte einen leuchtend gelben Schnabel. Ich hielt den Arm hoch, und er landete, indem sich seine Krallen um meinen Unterarm schlossen. Mein Gesicht verzog sich zu einer schmerzerfüllten Grimasse, als sich seine Krallen in meine Haut bohrten. Diese Wunden würden nicht rasch heilen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte ich keinen Gedanken an solche Verletzungen verschwendet.
Um ein Bein war ein silbernes Bändchen mit Aithnes Siegel gewickelt. Ich fand die Botschaft, die in einem festgebundenen Röhrchen steckte.
Aina,
es ist zehn Jahre her, seit wir zuletzt miteinander geredet haben. Damals sagtest Du, ich brauchte Dir nur eine Nachricht zu schicken, sollte ich Dich je brauchen. Ich bitte Dich, nicht mir zu helfen, sondern Sidra. Sie wird in Himmelsspitze festgehalten, und ich fürchte, dass ich sie nie Wiedersehen werde. Die Nachrichten, die ich von dort bekommen habe, erfüllen mich mit großer Besorgnis.
Bitte hilf mir.
Aithne Eichenwald
Ach, welch grausame Streiche uns das Schicksal spielt, findest du nicht auch? Dass mich meine größte Liebe, mein Jugendfreund, nicht für sich, sondern für seine größte Liebe um Hilfe bat. Und wie konnte ich etwas anderes tun als worum er mich bat?
Sag mir, hast du jemanden, den du wirklich liebst? Du brauchst mir nicht zu antworten. Ich sehe dir an, dass das der Fall ist. Es gibt keine schlimmere Qual, nicht wahr?