Junius Verlag GmbH
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Covergestaltung: Florian Zietz
Titelfoto: dpa
E-Book-Ausgabe Januar 2019
ISBN 978-3-96060-080-0
Basierend auf Printausgabe
ISBN 978-3-88506-696-5
6., überarbeitete Auflage 2011
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
1.Einleitung
2.Über die Unverständlichkeit
3.Drei Schlüsselbegriffe: System, Sinn, Autopoiesis
»Es gibt Systeme«
Sinn
Autopoiesis
4.Liebe als Passion: Ein Modellentwurf historischer Soziologie
5.Beginne mit einer Unterscheidung! Luhmanns operative Logik
6.Soziale Systeme: Grundriss und Landkarte von Luhmanns Theorie
7.Die Politik der Gesellschaft
8.Die Religion der Gesellschaft
9.Die Kunst der Gesellschaft
10.Die Moral der Gesellschaft: Paradigm Lost
11.Die Gesellschaft der Gesellschaft
12.Die Frankfurt-Bielefeld-Differenz: Habermas contra Luhmann
13.Schluss
Anhang
Anmerkungen
Literaturhinweise
Schautafel der Funktionssysteme
Zeittafel
Über den Autor
»Methoden ermöglichen es der wissenschaftlichen
Forschung, sich selbst zu überraschen.« (GG 37)
Weniger für gläubige Anhänger ist diese Einführung gedacht, sondern eher für solche Leser, die sich einen kritischen und eigenständigen Überblick über das Werk Niklas Luhmanns verschaffen wollen. Sein Gesamtwerk hat einen eindrucksvollen Umfang. Sein Hauptwerk, Die Gesellschaft der Gesellschaft, bildet den Schlussstein der Theoriekathedrale und gibt Landkarte und Leitfaden zum Verständnis der modernen Systemtheorie. Um dieses Hauptwerk herum gruppieren sich Einzelanalysen, die ich insgesamt als Werkkomplex I kennzeichnen würde: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Die Kunst der Gesellschaft, Das Recht der Gesellschaft sowie die nach seinem Tode veröffentlichten Bände Die Politik der Gesellschaft, Die Religion der Gesellschaft und Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Die Einleitung zu dieser Serie von Analysen ist zu einem 674 Seiten langen Buch geworden und trägt den Titel Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Dieses Werk ist nach wie vor die dichteste, abstrakteste und bei aller Mühe des Durcharbeitens auch lohnendste Präsentation des Theoriekerns.
Damit verfügen wir jetzt über das Gesamtbild. Wenn man Luhmann gerecht werden will, muss man sich an der Architektonik der Gesamtkonzeption orientieren. Neben seinem systematischen Werk steht als weiterer, etwas weniger umfangreicher, aber außerordentlich gelehrsamer Teil eine Reihe von Analysen zur historischen Semantik von sozialwissenschaftlichen Grundbegriffen wie Selbstreferenz, Recht, Staat und Staatsräson, Individualismus, Liebe als Passion, Ethik, Moral, Kultur, Natur oder Barbarei. Vor allem in den vier Bänden Gesellschaftsstruktur und Semantik I-IV sind diese Analysen ausgebreitet. Ich nenne sie Werkkomplex II. Dadurch ist zusätzlich zu einer systemtheoretischen auch eine historisch-begriffsgeschichtlich orientierte Lektüre Luhmanns möglich, die sich vor allem für Geschichts- und Geisteswissenschaftler schon in vielen Fällen als außerordentlich fruchtbar und anregend erwiesen hat. Mit diesen Einzelanalysen und dem von Luhmann reichhaltig erschlossenen Quellenmaterial können auch solche Leser etwas anfangen, die nicht unbedingt bereit sind, die systemtheoretische Gesamtkonzeption mit allen ihren Implikationen zu übernehmen. Luhmanns manchmal etwas frivol und spielerisch auftrumpfender Spott über »alteuropäische« Begriffsgebilde wird hier in minutiöser Weise mit Materialien und Fakten unterfüttert.
Weitere Werkteile sind politisch-soziale Analysen etwa zur Soziologie des Risikos, zur Realität der Massenmedien, zur Ökologischen Kommunikation oder zur Politischen Theorie im Wohlfahrtsstaat. Dies ist der Werkkomplex III, der von allen als der realitäts- und politiknächste Bereich gelten kann, auch wenn Luhmann hier darauf achtet, die Distanz des Beobachters immer einzuhalten. Seine Herkunft aus dem öffentlichen Dienst, in dem er es bis zum Oberregierungsrat in Niedersachsen gebracht hatte, hat ihn darüber hinaus genötigt, sich kontinuierlich mit Fragen der Organisationssoziologie zu befassen, von seinem ersten Buch Funktionen und Folgen formaler Organisation bis hin zu dem bedeutenden Text Organisation und Entscheidung, den ich für immerhin so gewichtig halte, dass es angemessen wäre, ihn als »Die Organisationen der Gesellschaft« in die Reihe der ganz großen Theoriewerke Luhmanns aufzunehmen. Dies kann als Werkkomplex IV zusammengefasst werden.
Die Struktur dieser Einführung ist damit vorgegeben: Zunächst geht es mir darum, ein Verständnis für die ganz spezielle Wissenschaftssprache zu wecken, die zugleich Rezeptionshindernis und Faszinationselement ist. Dann müssen einige Schlüsselbegriffe dargelegt werden, die in allen Analysen Luhmanns wiederkehren, nämlich die Begriffe »Sinn«, »Systeme« und »Autopoiesis«. Anschließend soll als exemplarischer Fall für Luhmanns historisch-semantische Analysen die berühmte und erfolgreichste dieser Studien, Liebe als Passion, dargestellt werden.
In fast allen seinen Arbeiten nimmt Luhmann Bezug auf die operative Logik George Spencer Browns und den radikalen Konstruktivismus. Diese werden deshalb zusammenfassend abgehandelt, um nun mit dem auf diese Weise gewonnenen methodischen Instrumentarium den Grundriss und die begriffliche Struktur seiner Supertheorie (mit höherer Oktanzahl, TM 9) in den Sozialen Systemen nachzuzeichnen. Die Politiktheorie, die Religionssoziologie, die Kunstsoziologie und die ziemlich antimoralistische Moralsoziologie werden anschließend entwickelt. Der Höhenweg von Luhmanns Theoriekonstruktion wird dann in Kapitel 11 in der Darstellung der Grundthesen von »Die Gesellschaft der Gesellschaft« mit dem zentralen Begriff der Weltgesellschaft erreicht. Am Schluss gilt es noch, die viel diskutierte Kontroverse mit Jürgen Habermas zusammenfassend darzustellen, durch die Luhmann überhaupt erst zum führenden Sozialtheoretiker der Bundesrepublik geworden ist.
Allein schon die beeindruckenden Textmassen, die von Luhmann vorliegen, bereiten dem Leser oft Probleme. Ab wann kann man glauben, das Wesentliche erfasst zu haben? Luhmann selbst erleichtert die Orientierung dadurch, dass er seine zentralen und tragenden Gedanken in allen Texten – jeweils dem aktuellen Darstellungzweck angepasst – zusammenfasst und wiederholt. An diesen Wiederholungen sich zu orientieren ist gleichzeitig die beste Weise, den Stärken seiner Theoriekonstruktion gerecht zu werden. Das alte Verstehensprinzip, eine Theorie nicht an ihren Schwachstellen zu zerpflücken, sondern sich gerade auf ihre Vorzüge und ihre Leistungsfähigkeit zu konzentrieren (und dennoch die Fehler zu benennen), muss bei Luhmann sehr nachdrücklich empfohlen und eingeklagt werden, weil es im Umgang mit seinen Texten eher selten eingehalten wird.
Stehen der Grundsatz und die Methode der Systemtheorie erst einmal klar vor Augen, ergibt sich der Zugang zu Luhmanns Werk für jeden Leser durch die Chance, eigene Stollen in die ihn näher interessierenden oder aufgrund eigener Forschungen betreffenden Textbereiche hineinzusprengen. Gegen ein derartiges selbstgesteuertes Lektüreverfahren hätte Luhmann selbst nichts einzuwenden gehabt, denn er hat immer wieder beklagt, dass es nicht möglich ist, alles Wesentliche, was man berücksichtigen muss, gleichzeitig zu sagen. Das Nacheinander der textuellen Darstellung führt zur Verzerrung. Solche Klagen durchziehen seine Vorworte, denn mit der Gruppierung seiner Stoffmassen ist Luhmann nie wirklich zurechtgekommen. Seine abschließenden Gesamtdarstellungen sind auch deshalb eine oftmals ermüdende Lektüre, weil er immer wieder die gleichen Argumente und Theorieversatzstücke vorträgt. Er tut dies, weil er nicht voraussetzen möchte, dass ein Leser der Religionssoziologie auch die Kunstsoziologie gelesen hat, und empfiehlt, doch einfach schneller zu lesen, wenn man auf schon Bekanntes stößt. Allerdings verkennt er, dass jeder Leser von Theorietexten ähnlich wie der Romanleser, der wissen will, wie es ausgeht, immer schon mit der ihm höchstmöglichen Geschwindigkeit liest – ganz anders als jemand, der etwa lyrische Texte genussvoll rezipieren würde. Wesentliche Beschleunigungseffekte sind dann den meisten einfach nicht mehr möglich. Selbstverständlich ist diese Einführung auch als Handreichung gedacht, um dieses Problem zu bewältigen und den Leser zu ermutigen und instand zu setzen, den anfangs erdrückend scheinenden Textmassen selbstbewusster, aber ohne das Ressentiment der Überforderung entgegenzutreten.
Gerade auch die späteren Arbeiten sollten in das Gesamtbild integriert werden. Anders als viele Luhmann-Exegeten mute ich keinem Leser zu, Paradoxien und Widersprüche in seinen Texten schlicht als Glaubensprüfung hinzunehmen – nach dem Motto: Derjenige ist dem Meister am nächsten, der auch noch dessen allerabstruseste Paradoxie textgenau zu reproduzieren vermag. Derartige Sektenbildungen ersetzen Eigendenken durch Texttreue. Gegen solche Nachbeter hat Luhmann einige ironische Sicherungen in seine Texte eingebaut. »Einerseits habe ich das Bedürfnis, in jedes Buch mindestens einen Unsinn hineinzubringen.« Andererseits werden Paradoxien oft als Ausgangspunkt genommen und dann meist durch Verzeitlichung, oft auch durch Umgehungsstrategien entschärft. Wer das nicht bemerkt, stolpert in die Gruben des Unfugs. »Das hat ja auch mit der Fundierung in Paradoxien zu tun. Mein Stil ist ja auch ironisch, um das genau zu markieren. Ich will damit sagen, nehmt mich bitte nicht zu ernst oder versteht mich bitte nicht zu schnell.«1
Es wird in diesem Einführungsband nicht versucht, über solche Probleme freundlich hinwegzuplaudern, sondern sie werden genau bezeichnet und reflexiv eingegrenzt. Anders als die meisten Luhmann-Kritiker verzichte ich aber auf die Anmaßung, es besser zu wissen. Ich möchte vielmehr herausfinden, was argumentativ standhalten kann, was methodisch und inhaltlich weiterführend und anregend ist und wo die Probleme liegen. Diese Einführung ist dem gleichen Anspruch verpflichtet, zu dem Luhmann sich bekannt hat: der soziologischen Aufklärung. Dazu gehört die kritische Reflexion ihrer selbst.
»Man möchte sich Sprachformen wünschen,
die ein hinreichendes Maß an Vorbehalten mitvermitteln
und ein rasches Verstehen verhindern.« (SO III, 176)
Luhmanns Theorie der sozialen Systeme gehört nicht zu den »netten, hilfsbereiten Theorien« (SY, 164). Allgemeinverständlichkeit ist nicht ihr Ziel. Das hängt mit ihrer besonderen Fragestellung zusammen: Sie will sich beeindrucken lassen »durch das Wahrscheinlichwerden des Unwahrscheinlichen« (SY 164). Sie fragt: »Wie ist soziale Ordnung möglich?« und behandelt diese Frage, indem sie soziale Ordnung zunächst einmal ins Fremdartige rückt und als unwahrscheinlich vorführt. Die Parallele zur Ethnomethodologie, die ebenfalls versucht, »Selbstverständlichkeiten des Alltagslebens in Frage zu stellen und durch experimentellen Frontalangriff oder durch elaborierte Sprachlichkeit der wissenschaftlichen Meta-Formulierung als kontingent zu erweisen« (SY, 165), ist deutlich.
Der Unterschied zur Ethnomethodologie besteht darin, dass diese eine Art eigene, expressive Gestikulation verwendet, um die Fremdartigkeit hervorzuheben. Luhmann bemängelt, dass expressives Verhalten, wie reflektiert es auch immer sei, eben noch keine Theorie ergibt. Statt zu gestikulieren, bemüht Luhmann sich um die Entwicklung seiner Theoriesprache. Allerdings ist diese darauf angewiesen, ihre Begriffsbildungen der vorgegebenen Sprachlichkeit abzugewinnen, »und bleibt damit sprachlich verführbar, irritierbar, mißverstehbar« (WG, 388). Deshalb hält er jene Jahrhunderte für einen Glücksfall, als es noch Latein als Fachsprache für die Wissenschaft gab, das nicht mehr alltagsprachlich verwendet wurde.
Der Versuch der Verfremdung rückt Luhmanns Theorie weg von den Freund- und Helfer-Konzeptionen (»Leitformeln und gute Polizey«; SY, 164). In der klassischen Rhetorik heißt das Ideal Klarheit »perspecuitas«. Luhmanns antiklassische Konzeption zielt dagegen auf die Faszination durch die »obscuritas«, die Dunkelheit. Er entscheidet sich aber auch nicht für jene – ich erlaube mir, da es hier um Fragen der Rhetorik geht, die perspektivische Übertreibung – »bösen« und »zersetzenden« Konzeptionen eines Georges Bataille, Foucault oder Derrida. Seine Frage: »Wie ist soziale Ordnung möglich?« ist nicht die Frage nach »der Eliminierung des Schädlichen oder Nichtanpassungsbereiten« (SY, 165), die man als das gemeinsame Thema der drei genannten französischen Autoren ansehen kann. Nicht Kritik an Prozessen der Eliminierung, sondern die Erklärung, wie das Unwahrscheinliche zur Normalität wird, ist Luhmanns Ziel. Denn jede Festlegung, sei sie nun irrtümlich oder absichtlich entstanden, bösartig repressiv oder wohlmeinend emanzipatorisch begründet, wird »Informations- und Anschlußwert für anderes Handeln gewinnen« (SY, 165). Luhmann wählt sich also einen Beobachterstandpunkt außerhalb dieser Gegensatzfronten, in die ein Theoretiker wie Foucault wohl noch eingereiht werden muss.
Unverständlichkeit gehört zu den Standardeinwänden gegen Luhmanns Denken. So war es naheliegend, dass er sich damit in einem Vortrag vor der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung auseinandergesetzt hat. Ironisch geht er von dem Satz aus: »Wer überhaupt spricht oder schreibt, sollte sich verständlich ausdrücken. Das ist eine auf den ersten Blick einleuchtende Forderung.« (SO III, 170) Soziologie allerdings, und das ist seine Replik darauf, war von Anfang an eine Lehre nicht vom ersten, sondern vom zweiten Blick. Es kommt darauf an, die Gründe zu prüfen, aus denen (für jedermann? Für Teilgruppen? Für einige?) unverständlich gesprochen wird.
Im Laufe des 17. Jahrhunderts hat Wissenschaft sich als eigenständiges Funktionssystem ausdifferenziert. Je eigenständiger sie wurde, desto mehr hat sie die interne Kommunikation gegenüber der externen begünstigt. Am ausgeprägtesten zeigt sich das bei der Entwicklung einer besonderen Terminologie. Normalerweise bleibt die Diskussion des Themas auf dieser Ebene. Da die Verwendung von Fachausdrücken sowohl einen Tempogewinn als auch einen Genauigkeitsgewinn bedeutet, ist dieser Punkt jedoch nicht besonders interessant. Luhmann interessiert sich mehr für die über das Terminologische hinausgehenden Sprachprobleme, und naheliegenderweise geht er dabei von Problemen aus, die ihm in seiner eigenen Sprachpraxis bewusst geworden sind. Eine kurze Durchsicht dieser Probleme kann also einen Schlüssel zum Verständnis seiner Schreibweise an die Hand geben.
1. Ein wichtiges Problem der Wissenschaftssprache sind die Theorieanschlüsse (SO III, 173). Wissenschaft ist auf neue Resultate aus; durch sie wandeln sich die Inhalte von so zentralen Begriffen wie Macht, Liebe, Politik, öffentliche Meinung usw. Durch die Weiterverwendung solcher eingeführten Begriffe entsteht zugleich der Anschein, es handele sich dabei um immer gleiche Grundfragen. So ergeben sich Missverständnisse, zumal dann, »wenn der Leser oder Hörer der Tradition oder dem Alltagsverständnis verhaftet bleibt oder ständig dahin abrutscht« (SO III, 173). Der Verfasser wissenschaftlicher Texte steht damit immer vor der Frage: neuer Begriff und dadurch Unverständlichkeit oder Beibehaltung des traditionellen Begriffs und dadurch Unverständnis gegenüber dem Wandel des Inhalts? Auf dieses Dilemma komme ich noch zurück.
2. Komplizierte methodenbewusste Forschung oder sehr stark abstrahierende Theoriearbeit wird durch ihre eigenen Operationsregeln weitergetragen. »Man weiß dann noch, was man tut; aber man weiß nicht, worum es sich handelt. Gerade dies aber will der Leser wissen und verstehen. So wird er irregeführt.« (SO III, 173)
3. Zwar wäre es vorteilhaft, seine Theorie, seine Bücher, seine Vorträge mit den allgemeinen Begriffen, Gesichtspunkten, Axiomen usw. zu beginnen, die für das Verständnis des Folgenden die Voraussetzung sind, oder mit dem einfachsten Fall, etwa dem Individuum, anzufangen und bei der Welt zu enden, wie Sartre in seiner Kritik der dialektischen Vernunft. Bei anspruchsvollen Theorien (also bei Luhmanns eigener) funktioniert dies indessen nicht. »Die mir vorschwebende Gesellschaftstheorie könnte ich von der Theorie des Systems, von der Theorie der Evolution, von der Theorie der Kommunikation oder von der Theorie über Sinn und Selbstreferenz aus schreiben. Jeder Einstieg, jeder Anfang ist mit nichtexplizierbaren Voraussetzungen belastet und daher für den, der bloß am Text entlangliest, kaum verständlich zu machen. Der Leser kann dann prüfen, ob die Sätze grammatikalisch stimmen; aber er kann die ihnen zu Grunde liegenden Optionen der Theorie nicht verfolgen.« (SO III, 174) Luhmann träumt deshalb von einer leicht labyrinthischen Theorieanlage in seinen Büchern, was aber wenig hülfe, weil die Leser ja auf verschiedenen Wegen zu ihnen gelangen.
4. Das vierte Problem ist logischer Art: Es gibt Realitäten, »die sich in Theorieform nur als Widersprüche darstellen lassen« (SO III, 174). Widersprüche sind aber in der Theorie bekanntlich gerade nicht zugelassen. Ähnlich verhält es sich mit der »Selbstimplikation« der Theorien: Ist die Systemtheorie nicht möglicherweise ein Obersystem ihrer Systeme? Enthält sie also sich selbst? Kann sie als Theorie und Metatheorie gleichzeitig auftreten?
5. Die Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems seit dem 17. Jahrhundert hat noch einen weiteren Sachverhalt produziert, den Luhmann als die Steigerung des Auflöse- und Rekombinationsvermögens bezeichnet. »Auch hier hat die Sprache Mühe, dem Denken zu folgen. Natürlich gilt nach wie vor: alles, was gedacht werden kann, kann auch gesagt werden. Aber das ist nicht das Problem. Das Problem ist: wie erzeuge ich mit sprachlichen Mitteln hinreichende Simultanpräsenz komplexer Sachverhalte und damit hinreichende Kontrolle über die Anschlußbewegung des Redens und Verstehens.« (SO III, 174f.)
All das erzeugt Verständnisprobleme und belegt hinreichend deutlich, dass es nicht ein Übermut einer sich selbst gefallenden Theorie ist, der sie zu besonderen Sprachformen greifen lässt. Luhmann beklagt geradezu die »Inflationierung des soziologischen Jargons« und sein »Überschwappen in andere Disziplinen« (SO III, 175). Interdisziplinärer Austausch setzt ja in der Tat Verständlichkeit voraus. Der Jargon der Soziologie beinhaltet aber die Gefahr, dass »ihre Begriffe und Aussageversuche verstanden und in anderen Disziplinen wie Wissen weiterbehandelt werden« (SO III, 175), während sie in Wirklichkeit »kein gesichert wahres Wissen über unsere Gesellschaft besitzt«. Der Schein der Verständlichkeit führt also geradezu in die Irre, »und man möchte sich Sprachformen wünschen, die ein hinreichendes Maß an Vorbehalten mitvermitteln und ein zu rasches Verstehen verhindern« (SO III, 176).
Solche Sprachformen gibt es freilich nicht. Bei der Beobachtung der Rezeptionsgeschichte von Texten Adornos, Benjamins, Derridas, Foucaults und vieler anderer lässt sich – im Gegenteil – erkennen, wie gerade die »obscuritas« einiger Stellen dazu führt, dass sie immer wieder zitiert werden und Folgebereitschaft auslösen. Ein anderes Beispiel: Bei der Prägung des Begriffs Autopoiesis (vgl. das folgende Kapitel in diesem Band) im Umkreis von Humberto Maturana hatte man darauf gesetzt, den Verfremdungseffekt dieses Begriffs gegen die Alltagssprache zu stabilisieren und ihm so Unverwechselbarkeit zu sichern. Luhmann bezweifelt sehr, dass dies »angesichts der Eigendynamik gerade dieses Wortes und seiner Kondensationsleistungen« (WG, 388) gelungen ist.
So elitär Luhmanns Sprachduktus manchmal erscheint, so sehr wendet er sich gegen das Prinzip der Exklusion und gegen eine elitäre Sprache. Er vertritt jedoch konsequent die Auffassung, »daß man sich den Sachnotwendigkeiten kompromißlos fügen sollte und daß Verständlichkeit kein Prinzip sein darf, das etwas verhindert, was zu sagen möglich ist« (SO III, 176). Forschung, die Neuartiges mitteilen will, gerät dadurch leicht in die Grenzbereiche des Ausdrückbaren. In einer überraschenden Wendung erlaubt sich Luhmann deshalb einen Ausblick auf die Möglichkeiten literarischen Sprechens. »Ich denke manchmal, es fehlt uns nicht an gelehrter Prosa, sondern an gelehrter Poesie. […] Vielleicht sollte es […] für anspruchsvolle Theorieleistungen eine Art Parallelpoesie geben, die alles noch einmal anders sagt und damit die Wissenschaftssprache in die Grenzen ihres Funktionssystems zurückweist.« (SO III, 176f.)
Diesen Gedanken, der gewiss auch als höfliche Schlusswendung gegenüber den ehrenwerten Mitgliedern der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung gemeint war, halte ich dennoch für recht attraktiv, zumal wir seit Friedrich Schlegels berühmtem Aufsatz Über die Unverständlichkeit wissen, dass literarische Sprechweisen durch ihre besonderen Formen – damals waren es die als neu empfundenen Ironien – in der Lage sind, Barrieren gegen eine allzu vordergründige Zugänglichkeit aufzubauen. Die Zurückweisung der Wissenschaftssprache in ihre Grenzen bedeutet darum gerade nicht ihre pastorale Übersetzung ins Allgemeinverständliche, sondern die bewusste Verwendung einer anderen Diskursform, die das Verhältnis von Klarheit und Obskurität nach ihren eigenen Maßstäben, also auf jeden Fall anders, mischt.
Luhmanns Theoriesprache ist besser als ihr Ruf, weil ein erheblicher Teil ihrer Unzugänglichkeiten nicht seinem Unvermögen, sondern der Verfremdungsabsicht geschuldet ist. Die gegenteiligen Beispiele, in denen es sich um wirkliche Formulierungsmängel handelt, auf die man in seinen Büchern gelegentlich stößt, will ich meinen Lesern ersparen. Er selbst spricht von seinem Bemühen, «wenn es nicht zu zeitaufwendig wird – an der Formulierung zu basteln und auf die Rhythmik in Sätzen zu achten« (AW, 94). Der einschränkende Verweis auf den Zeitmangel ist ebenso realistisch wie in literarischen Kontexten unzulässig: Er macht deutlich, dass wir letztlich doch kühle Gelehrtenprosa mit gelegentlichen, meist paradoxal vorbereiteten Blitzeinschlägen der Formulierungskunst vor uns haben.
Die Abwehr, die sich dagegen richtet, ist im Grunde die gleiche, mit der es Adorno zu tun hatte. Seine Selbstverteidigung in Wörter aus der Fremde kann auch für Luhmann gelten: »Versuche der Formulierung, die, um die gemeinte Sache genau zu treffen, gegen das übliche Sprachgeplätscher schwimmen oder gar sich bemühen, verzweigtere gedankliche Zusammenhänge getreu im Gefüge der Syntax aufzufangen, erregen durch die Anstrengung, die sie zumuten, Wut.«2 Meist jedoch eher Ratlosigkeit. Luhmanns Satz: »Es ist ganz gewiss nicht möglich, die Theoriesprache nach dem Konvoiprinzip zu fahren und auf das Verständnis des Letzten zu warten« (SO III, 176), verursachte bei einer literarisch hochgebildeten Journalistin, die dem Vortrag über das Unverständliche in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zugehört hatte, folgende Reaktion: »Wieder fahre ich zusammen. Offenbar bin ich gemeint, ich und kein anderer im Saal, denn nun habe ich den Zusammenhang vollends verloren.«3
»Alle erkennenden Systeme operieren
als reale Systeme in der realen Welt.«4
»Es gibt Systeme.« In dieser und anderen Variationen ist das eine der Grundthesen Luhmanns. Viele Leser Luhmanns waren dadurch konsterniert: Hatten sie sich doch gerade mit viel Mühe und gegen ihr Alltagsverständnis an eines der Grunddogmen der Systemtheorie gewöhnt, dass Systeme nichts weiter sein sollen als Konstruktionen unseres Verstandes. Genau das bezweifelt Luhmann. »Der Systembegriff steht (im Sprachgebrauch unserer Untersuchungen) immer für einen realen Sachverhalt. Wir meinen mit ›System‹ also nie ein nur analytisches System, eine bloße gedankliche Konstruktion, ein bloßes Modell.« (SY 599) Hinzu kommt, dass auch der Vorgang des Beobachtens ein realer Vorgang ist, der seinerseits als Faktum genommen und beschrieben werden kann. Luhmann akzeptiert also nicht mehr den traditionellen Dualismus von Beobachter und Gegenstand, weil er immer auch die Beobachtung des Beobachters selbst, also die Beobachtung zweiter Ordnung in seine Theorie integriert.
Der Gewinn dieser Umdefinition besteht darin, dass er damit die laufende und seiner Ansicht nach unergiebige Kontroverse zwischen Realismus und Konstruktivismus auflösen oder wenigstens umgehen kann. Der Realismus glaubt an die Realität der Außenwelt, der Konstruktivismus hält sie für ein Produkt unseres Wahrnehmungsvermögens. Luhmann stellt sich jenseits beider Positionen und erklärt auch die Operation des Sich-Beziehens auf etwas, des Referierens also, sei es auf die Außenwelt, sei es auf Elemente unseres Wahrnehmungsvermögens, zu einer realen Operation. Real ist dann nicht mehr nur der Gegenstand, auf den man sich bezieht, sondern auch der Vorgang des Referierens. »Allerdings genügt es nicht, dann bloß auf die Gegenposition überzuwechseln und sich an die Realität der referierenden Operation zu halten. Denn diese ist für sich selbst unzugänglich, und sie wäre für einen Beobachter wiederum nur als etwas referierbar, was er bezeichnet. So kommt man nur zu der bereits laufenden Kontroverse zwischen Realismus und Konstruktivismus – so als ob es sich um inkompatible Positionen handelte.« (WG 706)
Hier haben wir es mit dem berühmten »blinden Fleck« des Beobachtens zu tun. Damit ist gemeint, dass eine Unterscheidung, die zum Zweck des Beobachtens getroffen wird, sich nicht wieder selbst beobachten kann. »Die Unterscheidung wahr/unwahr kann nicht selber nur entweder wahr oder unwahr sein; sie kann sich nicht selbst beobachten; sie ist ihr eigener blinder Fleck.« (WG 520)5 Oder anders ausgedrückt: Die eigene Unterscheidung benutzt das Beobachten als blinden Fleck. Das gilt auch, wenn man die Ebene wechselt und nun das Beobachten beobachtet. Die Unterscheidung, die es dabei anwendet, ist dann ebenfalls nicht im Blickfeld. Auf der operativen Ebene muss auch dieses Beobachten zweiter Ordnung im Grunde naiv verfahren, weil es die eigene Referenz nicht zugleich kritisch betrachten kann. Es gibt in Luhmanns Denken »keine Reflexivitätshierarchien« (WG 85). Blinder Fleck und operative Naivität sind die beiden charakteristischen Kennzeichen jener an sich recht einfachen »Startoperation« namens Beobachten.
Um Luhmanns Denken richtig einschätzen zu können, ist es wichtig, sich dieser Einfachheit klar zu werden.6 Da Luhmann die Selbstbeobachtung des Beobachters als Reflexion kennzeichnet und da er gelegentlich gern Hegel zitiert, soll der entscheidende Unterschied zu dessen Ansatz hier wenigstens kurz benannt werden: Luhmann hält es für einen Grundirrtum aller subjekttheoretischen Denkansätze (und damit auch Hegels), dem Beobachten zweiter Ordnung eine hierarchisch höhere Position zuzubilligen. »Systemtheoretisch kann es nur um die Frage gehen, ob der Beobachter im unmittelbaren Realitätsbezug ein Ding (Begriff, Symbol etc.) vor Augen hat oder einen Beobachter, der seinerseits über eine Grenze hinweg das beobachtet, was für ihn Umwelt ist.« (WG 86) Eine Hierarchie der Reflexionsebenen kann auf diese Weise nicht zustande kommen. Die Möglichkeit, einen Beobachter zu beobachten, ist immer gegeben. Man muss ihn dann allerdings von etwas unterscheiden und damit eine andere Unterscheidung verwenden als dieser selbst. Jeder nimmt also an dem Beobachtungsspiel teil, jedenfalls wenn und solange er beobachtet; es gibt keine Außenposition. Diese Überlegung Luhmanns trifft sich mit der Einsicht des chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana, »daß es im Vollzug des Wahrnehmens nicht möglich ist, zwischen Realitätsbezug und Illusion zu unterscheiden«7.
Wenn es kein Außen gibt und keinen höheren Standpunkt, wo liegt dann der Ausgangspunkt des Erkennens? Luhmann macht hierzu den Vorschlag, mit einer Unterscheidung zu beginnen, nämlich mit der Differenz von aktual Gegebenem und dem Möglichen. Durch diese Grunddifferenz bekommt alles Erleben einen Informationswert. Sie ermöglicht die Zuordnung von Sinn zu der ansonsten unstrukturierten Mannigfaltigkeit der Erscheinungen. »Am Anfang steht also nicht Identität, sondern Differenz. Nur das macht es möglich, Zufällen Informationswert zu geben und damit Ordnung aufzubauen; denn Information ist nichts anderes als ein Ereignis, das eine Verknüpfung von Differenzen bewirkt – a difference that makes a difference.« (SY 112)8
»Sinn ist ein Operationsmodus spezifischer Systeme,
nämlich des Bewußtseins und des Gesellschaftssystems, und
kommt außerhalb dieser Systeme […] nicht vor.« (WG 306)
»Sinn« ist für Luhmann der Grundbegriff der Soziologie. Schon in seiner Debatte mit Habermas Anfang der Siebzigerjahre hatte er diesem Thema einen wichtigen Aufsatz gewidmet.9 Der Sinnbegriff wird in der Theoriekonstruktion außerordentlich hochrangig eingesetzt. »Es ist nicht die Eigenschaft einer besonderen Art von Lebewesen, es ist der Verweisungsreichtum von Sinn, der es möglich macht, Gesellschaftssysteme zu bilden, durch die Menschen Bewußtsein haben und leben können.« (SY 297 f.)
Der Begriff »Sinn« gilt sowohl für psychische als auch für soziale Systeme. Er ist dadurch besonders leistungsfähig, weil er ihre gegenseitige Durchdringung begrifflich darzustellen vermag und damit sowohl das »Zurückrechnen der Kommunikation auf das Bewußtsein der Beteiligten« (SY 297) ermöglicht als auch die Betrachtung der Kommunikationsprozesse in ihrer selbstständigen Entwicklung. »Sinn« ist kein Begriff, der einen bestimmten, tatsächlichen Sachverhalt bezeichnet, er meint vielmehr die Ordnungsform menschlichen Erlebens. (HL 32) Er wird also funktional aufgefasst. Unser Erleben ist durch eine Art »Überfülle des Möglichen« gekennzeichnet. Es muss durch ein Programm zur Steuerung der Auswahl strukturiert werden. Dazu dient das, was man »Sinn« zu nennen sich angewöhnt hat.
Erleben und Handeln sind Selektion durch die Zuschreibung von Sinnkriterien. Dabei wird das nicht Ausgewählte nicht zum Verschwinden gebracht, sondern als unbestimmte Mannigfaltigkeit, als Welt erhalten – möglicherweise für zukünftige Selektionen nach etwas veränderten Sinnkriterien. Die Auswahl nach Sinngesichtspunkten ist eine wichtige evolutionäre Errungenschaft. »Nicht alle Systeme verarbeiten Komplexität und Selbstreferenz in der Form von Sinn; aber für die, die dies tun, gibt es nur diese Möglichkeit.« (SY 95) Das sind personale und soziale Systeme.