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ISBN 978-3-492-99331-9
© Piper Verlag GmbH, München 2019
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Im Andenken an den Herrn Stefan, der das Wirtshaus
»Adlerhof« in Wien in einer Weise führte, die geeignet gewesen wäre, ein von einer Kugel durchschossenes Herz mit zwei Pfropfen heilsam zu verschließen.
*
Und im Andenken an den Hund Lauscher, der eine solche Widmung wohl für so was von unnötig gehalten hätte.
Das Stück am Anfang
Es war kalt.
Was nun wirklich keine Überraschung war, wenn man wusste, dass dieses Schiff sich entlang der Westküste Grönlands bewegte, auf dem Weg von der Hauptstadt Nuuk hinauf nach Itilleq, einer Siedlung zwei Kilometer nördlich des Polarkreises.
An Bord des Schiffs befanden sich an die 230 Passagiere sowie eine elfköpfige Gruppe von Meeresbiologen. Und ein Mann namens Clive Mills, der aber erst in Nuuk an Bord gegangen war, während der eigentliche Start dieser Reise in Island gelegen hatte.
Mills lehnte an der Reling und gab vor, hinaus auf eine bewegte See und einen bedeckten Himmel zu blicken. Die Abstufungen von Blau, Grau und Grün wirkten alle, als trügen sie eine schwarze Armbinde. Es war eine große Trauer in diesen Farben und diesem Licht, aber eine Trauer, die an manchen Stellen etwas Feierliches besaß.
Was Clive Mills aus dem Augenwinkel heraus aber wirklich beobachtete, das waren der Mann und die Frau, die eng aneinandergepresst am Bug des Schiffs standen und tatsächlich hinaus aufs Meer sahen.
Mills kannte den Mann. Mills war hier, um genau diesen Mann zu töten. Nicht die Frau, nur den Mann. Das musste nun endlich getan werden. Um der Gerechtigkeit zu genügen. Wäre der Mann, der vor Jahren in einem Gefängnis gesessen hatte, in diesem auch geblieben, um seine Strafe zu verbüßen, das wäre in Ordnung gewesen, aber er war ausgebrochen und geflüchtet. Und jetzt in Freiheit. Das durfte nicht sein.
Dumm nur, dass er in diesem Augenblick nicht allein war. Mills hätte sonst die Gelegenheit genutzt, ihn außer Gefecht zu setzen und über Bord zu werfen. Doch Clive war keiner von denen, die sich darauf einließen, Kollateralschäden in Kauf zu nehmen. Er hielt dies für eine amerikanische Unart. Er selbst war Brite. Ein britischer Brite.
Er würde warten müssen. Aber dies war ohnehin das Letzte, was er in seinem Leben zu erledigen hatte.
Jetzt sah er wirklich aufs Meer hinaus. Spürte allerdings, wie der Mann und die Frau sich soeben an ihm vorbeibewegten.
Er sah ihnen hinterher und dachte: »Um die Frau wäre es wirklich schade.«
Noch eine ganze Weile blieb er an der Stelle. Irgendwo war das Wolkenband aufgebrochen, und ein wenig vom abendlichen Rot drang hindurch und färbte die treibenden Eisberge rosa-orange.
Da bemerkte Mills, wie eine Hand seine Schulter berührte. Er drehte sich um, blickte in ein Gesicht von chinesischem Zuschnitt und sagte: »Ach, Sie sind es!«
»Natürlich bin ich es«, antwortete der andere, »immerhin haben Sie mich gerufen.«
»Ich habe Sie angerufen«, verwies Mills auf den kleinen Unterschied.
»Wie auch immer«, meinte sein Gegenüber, »hier bin ich.«
»Gut«, sagte Mills, »so können Sie mir helfen.«
»Bei einem Mord?«
»Wieso nicht?«
»Ich glaube«, sagte der mit dem Gesicht von chinesischem Zuschnitt, »Sie verwechseln da etwas.«
»Mag sein«, sagte Mills. Und fügte an: »Aber was hält die Welt mehr zusammen als der Irrtum? Der Irrtum ist die Basis unseres Lebens.«
Der Mann, der bis zehn zählte,
sich aber entschied, dass bis fünfzehn
auch in Ordnung wäre
Cheng betrat den Frühstücksraum und nahm Platz. Da bemerkte er den Blick der Frau. Wobei der Blick weniger ihm selbst galt, sondern dem Hund an seiner Seite. Der Hund, der zu seinen Füßen lag und sich wie eine schläfrige Schnecke zusammengerollt hatte.
Ein Hund freilich, der schon lange tot war.
Es geschah selten, aber es geschah, dass Menschen, wenn sie zu Cheng schauten, für einen Augenblick diesen Hund an seiner Seite wahrzunehmen schienen. Manche nur ganz kurz, andere etwas länger, um dann doch festzustellen, sich getäuscht zu haben. Dass also jenes Tier, von dem sie gerade noch meinten, es erblickt zu haben, gar nicht vorhanden war. Ein stämmiger Rüde mit sehr kurzen Beinen und langen, spitz zulaufenden Schlappohren sowie einer Schnauze, die wegen des dort weiß gewordenen Fells aussah, als rage ein Zuckerhut aus seinem Gesicht. Und in dessen trüben Augen die Blindheit von jemandem steckte, der wirklich schon alles einmal gesehen hatte und nicht fand, er müsse sich das ein zweites Mal antun. Genau so ein Hund war das.
Markus Cheng hatte ihn, der einst den Namen Lauscher getragen hatte und vor vielen Jahren hochbetagt entschlafen war, seit dessen Tod weder gesehen noch irgendwie gespürt. Und dennoch fiel ihm immer wieder auf, wie fremde Leute in einer Weise an ihm, Cheng, heruntersahen, die sich eben nur dadurch erklären ließ, dass diese Leute für einen Augenblick dachten, da befinde sich ein kleines Wesen zu seinen Füßen.
Klar, ein kleines Wesen war nicht automatisch ein Hund. Aber die Art der Blicke ließ eigentlich nur einen Hund zu. Hätte es sich um eine Schlange, einen Hasen oder ein Kind gehandelt, die Gesichter der Leute hätten einen anderen Ausdruck besessen. Wenn Menschen Hunde betrachteten, dann lag sofort ein tiefes Verständnis in ihrem Schauen. Ein Verständnis für die Gestalt und das Wesen dieser Kreatur. Als würden sie die Natur der Hunde besser durchschauen als die eigene. Erstaunlicherweise besitzt dieser Ausdruck tief gehenden Begreifens aber auch eine etwas trottelhafte Note. Wie man das wiederum von denen kennt, die frisch verliebt sind. Der menschliche Blick auf den Hund erscheint als eine Kombination aus Wissen und Liebe. Man könnte auch sagen: Bildung und Torheit.
Und genau einen solchen Blick bemerkte Markus Cheng, als er sich an einem Tisch im Frühstücksraum des Hotels niederließ. Die Frau drüben am Fensterplatz war der einzige andere Gast zu dieser noch frühen Morgenstunde.
Das war so eine neue Unart in seinem nun fünfeinhalb Jahrzehnte währenden Leben, nämlich viel zu zeitig aufzuwachen und dann trotz aller Müdigkeit und dem Gefühl des von der bisherigen Nachtruhe völlig Erschlagenen einfach nicht mehr zurück in den Schlaf zu finden. Um fünf Uhr spätestens war alles vorbei und jegliche Rückkehr eine Illusion. Eher um vier oder davor. Eine Weile hatte er dagegen angekämpft, hatte auf eine geradezu wütende Weise versucht, zurück in seinen Schlaf zu finden, wie einer, der gegen die Türe trommelt und Einlass fordert. Dann aber hatte er eingesehen, dass es wohl am besten war, einfach aufzustehen und die Schönheit und den Schrecken dieser frühen Stunde in aufrechter Haltung zu erleben. Die »Stunde des Wolfs«, wie sie bei Ingmar Bergman heißt und in der angeblich die meisten Menschen sterben und die meisten geboren werden, was einen eigentümlichen Widerspruch ergibt, weil in dieser Zeit die Welt geradezu stillzustehen scheint und rein gar nichts geschieht.
Cheng kam es so vor, als höre er in all der Stille den Planeten, auf dem er stand, an den Leitplanken des Weltraums entlangschrammen. Und er begann nun den viel zu frühen Tag damit, Gymnastik zu treiben. Einarmige Gymnastik, denn Markus Cheng hatte in den Neunzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts seinen linken Arm verloren. Und einige andere Verletzungen davongetragen. Im Zuge eines schweren Sturzes war der heruntergerissene Teil seiner Gliedmaße in eine Gletscherspalte geraten und nicht wieder aufgetaucht. Somit war es theoretisch sogar möglich, dass man Cheng irgendwann mitteilen würde, man hätte seinen im Eis gut konservierten Arm gefunden.
Und was dann? Hätte er den Arm beerdigen oder ihn in irgendeiner Weise präparieren lassen sollen? Gab es überhaupt Verordnungen für Körperteile, die nach so langer Zeit zu denen zurückkehrten, an denen sie ursprünglich festgewachsen waren? Das war lächerlich. Wenn es nach Cheng ging, durfte der Arm für immer verschwunden bleiben. Er hatte sich an den Zustand der Einarmigkeit bestens gewöhnt und bezweifelte, dass selbst eine wundersame Heilung ihn glücklich gemacht hätte. Darum war für ihn auch nie eine Prothese infrage gekommen. Eine Prothese wäre ihm im Wege gewesen, während der leere Raum, der durch das Fehlen von Unterarm, Ellbogen und einem kleinen Stück des Oberarms entstanden war, zu einem wesentlichen Teil seiner selbst wurde. Ein kleines Reich, ein kleiner Himmel am senkrecht stehenden Horizont seiner linken Flanke. Weshalb er auch stets darauf achtete, dass der lose Ärmel eines Jacketts oder eines langärmeligen Hemds in eleganter Weise nach oben gefaltet und befestigt war. Im Grunde wie ein angehobener Vorhang, der den Blick auf »Chengs Himmel« freigab, diese sphärisch gefüllte Leerstelle seines Körpers. Sie bildete zudem einen bedeutenden Aspekt seiner Noblesse. Es gab wenige Männer, die einen Anzug so gut zu tragen verstanden wie Cheng. Wofür der fehlende Arm und der in der Folge hinzugekommene Himmel von großer Bedeutung waren. Es war der entscheidende Punkt in Chengs Leben, erst im Zuge verschiedener Verluste und Einschränkungen das Gefühl entwickelt zu haben, komplett zu sein.
Wenn Cheng sich mitunter dachte, die Katastrophen seiner mittleren Jahre, die ihn einen Arm gekostet und ihm einen Himmel beschert hatten, wären einer Art von schriftstellerischer Intervention zu verdanken gewesen – vor allem ein Jahre zurückliegender Fall, bei dem er im wirklich allerletzten Moment aus einem Hohlraum unterhalb eines mit Wasser gefüllten Bassins gerettet worden war –, so galt das für sein aktuelles Leben rein gar nicht. Man könnte sagen: Er war fertiggeschrieben worden. Wer oder was auch immer einst daran Interesse gehabt hatte, einzuwirken, schien das Interesse verloren zu haben. Was nichts daran änderte, dass Cheng weiterhin im doch sehr literarisch angehauchten Detektivgeschäft arbeitete. Aber was hätte er auch sonst tun sollen? Die Detektivarbeit entsprach am besten seiner Persönlichkeit. Es widerstrebte ihm, innovativ zu sein, unternehmerisch. Er bevorzugte es, etwas bereits Stattgefundenem auf den Grund zu gehen. Natürlich, manche Geschichten waren an Banalität kaum zu überbieten, aber das gehörte dazu: der Ehebruch, der Erbstreit, böse Nachbarn, böse Kinder, der Schrecken des Alltags mit seinen Lügen und Heimlichkeiten und immer wieder dem Blick aufs Geld.
Was Cheng ebenfalls deutlich spürte, war, dass sein eigenes Leben langsam zu Ende ging. Aber eben nicht im Zuge einer schweren Krankheit oder eines Unfalls, bei dem sich noch etwas mehr von seinem Körper abgetrennt hätte als lediglich ein Unterarm. Nein, es bestand keinerlei Vorahnung, die das exakte Wesen seines Abschieds von der Welt beschrieben hätte. Cheng erkannte einfach das Ende der Straße, auf welcher er sich bewegte. Er konnte es deutlich sehen. Wobei es gar nichts genutzt hätte, auf ein und derselben Stelle herumzuzappeln oder mittels rückwärtigem Salto zu versuchen, hinter die eigene Position zu gelangen und ein paar Zentimeter zu schinden. Für Saltos fehlte ihm die Sprungkraft, und ein Herumgezappel hätte nur dazu geführt, dass das Ende der Straße gezwungen gewesen wäre, sich seinerseits auf ihn zuzubewegen. Doch eine Straße zwingen, sich zu bewegen, war schlichtweg unwürdig. Nein, er sah keine andere Möglichkeit, als ohne Zuversicht, aber mit einiger Gelassenheit gerade Schritte in Richtung auf jenes sichtbare Ende der Straße zu machen, auch wenn er dabei ganz leicht hinkte, ebenfalls die Folge eines einstigen Unfalls. Doch sein Hinken war wiederum ein Äquivalent zum Himmel an seiner Hüfte, nämlich eine in seinen Gang integrierte kleine Welle.
Gymnastik um vier also. Während die sich drehende Erde ein wenig knirschte. Ein langer Morgen. Gymnastik, dann Fernsehen, dann Dusche, dann auf dem Balkon stehen und dem Tag zusehen, wie er auf die Beine kommt.
Drei Stunden später betrat Cheng den Frühstücksraum, überblickte das Ambiente mit den vielen leeren Tischen, den weißen Tischtüchern, den spitz in die Höhe gefalteten Servietten und dem lang gestreckten Buffet, an dem soeben eine Servierkraft letzte Hand anlegte. Den anderen Gast, die Frau am Fenster, bemerkte er erst, als er selbst in der Mitte des Raums Platz genommen hatte. Es war dies die einzige Stelle, die im Schatten lag – ein schmaler Sektor –, während die übrigen Bereiche von den Strahlen der tief stehenden Morgensonne geradezu lackiert schienen. Cheng war kein Freund direkter Sonneneinstrahlung. Er bevorzugte das Halbdunkel.
Und in einem solchen bevorzugten Halbdunkel saß er nun und nahm den Blick der Frau wahr. Sie schaute in diesem Moment von der Stelle, an der sich Chengs Himmel befand, abwärts zu den Beinen, dorthin, wo es sich der Hund Lauscher wohl gemütlich gemacht hätte. Wäre seine Anwesenheit im Hotel überhaupt erlaubt gewesen. Was nicht der Fall war. Tiere waren in diesem Fünf-Sterne-Palast nicht zugelassen. Doch gegen unsichtbare Tiere bestand natürlich keinerlei Handhabe.
Der Blick der Frau war nicht ungebührlich. Sie hatte bloß das Tier bemerkt. Und bald darauf begriffen, sich getäuscht zu haben. Vielleicht auch begriffen, es handle sich in Wirklichkeit um das Echo eines Hundes. Einen Nachhall. Ein umrissartiges Nachglühen. Etwas in dieser Art. Sie war aber sicher nicht die Frau, die von einer Aura gesprochen hätte. Jedenfalls betrachtete sie Cheng und seinen toten Hund nicht länger, als es brauchte, der eigenen kleinen Überraschung Platz einzuräumen. Und sich gleich darauf wieder der Realität ihrer Kaffeetasse zu widmen.
Wenig später erhob sie sich. Aus dem Gespräch mit einem Kellner war herauszuhören, sie plane, im Meer schwimmen zu gehen.
Das war nicht ganz so überraschend wie ein unsichtbarer Hund, aber doch ungewöhnlich, immerhin schrieb man Ende Januar. Ende Januar auf Mallorca. So kräftig die Sonne in diesen Frühstücksraum eindrang, im Meer draußen hatte es dreizehn, maximal vierzehn Grad. Zudem war die See trotz wolkenlos blauem Himmel recht unruhig.
Wie kalt auch immer, etwas später konnte Cheng – während ihm der Kellner soeben eine zylindrische Rühreikreation servierte – durch eine der Fensterscheiben weit drüben im Meer eine kraulende Person erkennen, vielleicht die Frau von vorhin, vielleicht ein anderer Kaltwasserfanatiker. Auch meinte er zu beobachten, wie die schwimmende Person an Bord eines Segelboots ging.
Es brauchte ihn nicht zu kümmern. Er vertiefte sich jetzt ganz in sein Frühstück, angeblich eines der weltbesten Frühstücke, wenn man der Werbung des Hotels glauben durfte. Und er mochte es gerne glauben.
Es war kein Auftrag, der ihn hierher geführt hatte, nach Cas Català, einem Vorort von Palma. Vielmehr war er dem Bedürfnis gefolgt, ein paar Tage Urlaub zu machen. Urlaub war im Grunde etwas, das er persönlich kaum kannte, ausgenommen von einer Reise noch zu Studentenzeiten. Dabei hatte er schon einiges von der Welt gesehen, aber nie im Sinne einer Pause vom gewohnten Beruf.
Dennoch war ihm mit einer erstaunlichen Plötzlichkeit die Idee gekommen, zu verreisen, einen billigen Flug zu buchen und ein teures Hotel dazu. Nicht einmal eine ganze Woche, fünf Tage nur, für jedes Jahrzehnt seines gelebten Lebens ein Urlaubstag. Das sollte reichen. Wobei er sich im Grunde gar nicht für Mallorca entschieden hatte, sondern für dieses eine spezielle Hotel. Wäre das gleiche Haus auf Lanzarote gestanden, dann wäre er jetzt auf Lanzarote gewesen und hätte dort eine kunstvoll geschichtete Türmung verrührter Eier genossen.
Nach und nach füllte sich der Raum mit Gästen, ausschließlich Paare. Es ging sehr ruhig zu. Ein Schweigen und Flüstern, hin und wieder ein zurückhaltendes Lachen. Einige der Gäste nahmen draußen auf der Terrasse Platz, wo sie deutlich lauter sprachen. Auch Cheng wechselte ins Freie, an einen der Tische, die direkt an der niedrigen Brüstung standen und von wo man frei von Hindernissen auf das weite Meer sehen konnte. Cheng bestellte noch einen Kaffee und ließ sich Orangensaft einschenken.
Die Segeljacht von zuvor, auf die die kraulende Person sich begeben hatte, war verschwunden.
Es war etwas anderes, was seine Aufmerksamkeit anzog. Die Stimme des Mannes am Tisch hinter ihm. Er konnte den Mann also nicht sehen, der sich in diesem Moment mit einer Frau unterhielt, die genau in Chengs Rücken saß. Wie viele andere Gäste auch, sprachen die beiden Deutsch. Die Stimme des Mannes war so markant wie dunkel, dunkel in der Art der Dinge, die einen Übergang bilden. Also nicht die Nacht, sondern die Dämmerung. Nicht das Verbrannte, sondern das Knusprige. Nicht der Triumph, auch nicht die Niederlage, sondern eine Ahnung davon, was Triumph oder Niederlage bewirken können. So eine Stimme war das. Auch eine Stimme, die ungemein klar und deutlich ausfiel, dabei aber in keiner Weise laut und aufdringlich war.
Vor allem aber war es eine Stimme, die Cheng bekannt vorkam. Er benötigte eine Weile, um in der von Meeresgeräuschen und Frühstückstönen gefüllten Luft diese eine Stimme zu isolieren, dann aber war er sich sicher, sie aus diversen Filmen zu kennen. Es war die Stimme eines der populärsten und meistausgezeichneten Filmschauspieler unserer Zeit. Von ihm noch nie gehört zu haben war eigentlich undenkbar. Man musste schon blind und taub sein oder seit der Kindheit in entlegenster, fernsehfreier Wildnis gelebt haben, um rein gar nichts mit dem Gesicht und dem Namen dieses Mannes zu verbinden. Dieser Schauspieler war – wie natürlich einige andere Berühmtheiten auch – geradezu eine Naturerscheinung. Seine Präsenz war die der dahinziehenden Wolken, die man schließlich selbst dann bemerkt, wenn man sich wenig für Wolken interessiert und deren Chemie nicht versteht. Und es war mehr als passend, dass ein Asteroid nach ihm benannt worden war. Dieser Mann war fundamental. Dieser Mann und seine dunkle, jegliches Zwischenreich vertonende Stimme …
Stimme?
Cheng begriff seinen zwangsläufigen Irrtum. Und schüttelte den Kopf.
Denn es war ja nicht etwa so, dass der in Amerika lebende, aus England stammende und noch immer als englischer Schauspieler geltende Superstar auch die Synchronisation der eigenen Originalstimme ins Deutsche übernahm. Davon hätte Cheng gewusst, weil die ganze Welt davon gewusst hätte. Nein, eine solche Zweisprachigkeit war definitiv nicht der Fall.
Dies konnte somit nur bedeuten, dass es sich bei dem Träger der Stimme, die Cheng hier und jetzt vernahm und die so unverkennbar und vielschichtig dunkel vom Nebentisch herüberschwang, um die sogenannte deutsche Stimme des weltberühmten Hollywoodschauspielers handelte. Oder aber um eine Person, die quasi als der phonetische Doppelgänger der ihrerseits berühmten Synchronstimme auftrat.
Nicht dass Cheng der Name des deutschen Schauspielers und Sprechers ein Begriff gewesen wäre. Wobei es sich natürlich ebenso um einen Österreicher hätte handeln können. Doch Cheng selbst war ja Österreicher, geborener, und auf eine verzweifelte Weise auch ein überzeugter Österreicher, jedenfalls war er sich sicher, dass, wenn in dieser Stimme irgendetwas Österreichisches gesteckt hätte – auch noch so verloren und noch so vergraben –, es ihm aufgefallen wäre. Aber da war nichts Österreichisches, nicht einmal etwas ehedem Österreichisches, das in ähnlich geisterhafter Weise auf ein geschehenes Leben verwiesen hätte wie im Falle von Chengs Hund. Einem Hund, den er selbst nicht sah, aber durchaus erkannte, dass andere ihn sahen.
Cheng frühstückte zu Ende, dann erhob er sich und verließ den Tisch. Und indem er dies tat, gewann er für einen Moment einen guten Blick auf den Mann, dessen Stimme ihm aus einer ganzen Reihe höchst populärer Filme vertraut war. Die Stimme schon, der Mann nicht. Er schien um die sechzig und besaß rein gar nichts von jener weltbekannten Naturerscheinung, für die er den deutschsprachigen Part übernahm. Kein schöner Mann also. Eher hässlich, allerdings auf eine interessante Weise. Es lag etwas Derbes in diesem runden Gesicht, eine ausgeprägte Fleischlichkeit, die eine hölzerne Qualität besaß. Als könnte Fleisch verholzen. Und wenn man wusste, dass die Verholzung von Pflanzen dazu diente, stabile Strukturen zu bilden, dann galt dies auch für dieses Gesicht. Cheng stellte sich vor, wie dieses Gesicht erst im Alter, erst im Zuge der Verholzung seinen prägnanten Ausdruck gewonnen hatte, wie es davor einfach nur schwammig gewesen war. Aus der Hässlichkeit dieses Gesichts – das gut auf ein Gemälde von Lucian Freud gepasst hätte und somit also immerhin die Wirkung eines englischen Gesichts besaß – leuchtete eine sympathische Beredtheit heraus, eine wort- und anspielungsreiche Erzählung des Lebens. Hätte dieses Gesicht einen Titel besessen, dann etwa einen wie Der Mann, der bis zehn zählte, sich aber entschied, dass bis fünfzehn auch in Ordnung wäre.
Cheng begab sich auf sein Zimmer, wo er sich ein weiteres Mal die Zähne putzte, wie nach jeder Mahlzeit, um sodann seinen Bart mit Öl einzureiben und zu frisieren. Der erste Bart seines Lebens. Und obgleich es hieß, Asiaten würde kein Bart oder zumindest kein richtiger Bart wachsen, so war es ein wirklich schönes Ding geworden, das da seine untere Gesichtshälfte dominierte. Ein durchaus europäisch zu nennender Bart. Ähnlich wie bei seinem Kopfhaar zeigte sich eine Mischung aus sehr schwarzen und vollkommen weißen Haaren, als wär’s ein stark kontrastiertes Schwarz-Weiß-Foto. Wobei das eher vom Schwarz dominierte Kopfhaar einem Foto im Stile präziser Architekturfotografie glich, einem sehr geordneten Haus, sein Bart hingegen an ein Standfoto aus einem frühen Fritz-Lang-Film erinnerte, zum Beispiel M – Eine Stadt sucht einen Mörder. Denn so gleichmäßig gestutzt und an den Rändern präzise ins Linealistische rasiert dieser Bart auch war, fuhren die weißen Strähnen wie ein überraschend aufgezogener Sturm durchs schwarze Land. Ein Mörder, aber ein weißer Mörder, der eine schwarze Gesellschaft verstört.
Cheng achtete sehr auf diesen Bart, wie er insgesamt auf die eigene Person achtete und gänzlich diese gewisse Schlampigkeit seiner frühen Jahre zugunsten einer akkuraten Selbstbeschreibung aufgegeben hatte. Ja, es war wirklich so, dass er sich Tag für Tag nachzeichnete und diverse Korrekturen vornahm, ausradierte, nachstrich, präzisierte und bei alldem die Vorteile und Raffinessen des Alters und Alterns nutzte. Sein Gesicht, sein Bart, sein Anzug, sein fehlender Arm – und wie dies alles ein Bild ergab, das von Manet hätte stammen können. Unsigniert, aber von Manet. Ein Manet von heute natürlich, ein Manet, der schon mal einen Fritz-Lang-Film gesehen hatte.
Den Vormittag verbrachte Cheng im hoteleigenen Wellnessbereich, besuchte die Sauna, ließ sich massieren, trug Früchte im Gesicht und Schlamm auf seinem Körper.
Als er sich mittags auf den Weg machte, um hinein nach Palma zu fahren, bemerkte er vom Balkon seines Zimmers aus, wie draußen auf dem Meer einige Boote hin und her fuhren. Es hatte etwas Militärisches. Wie bei einer Übung. Cheng begab sich hinunter in die Lounge, wo eine ganze Gruppe von Polizeibeamten stand. Jemand zeigte auf ihn. Es war der Kellner, der ihn frühmorgens bedient hatte. Cheng wurde gerufen, und man bat ihn, eine Aussage ebendieses Kellners zu bezeugen. Eine Aussage betreffs jener Frau, die früh am Morgen, noch vor Cheng, den Frühstücksraum betreten und beim Verlassen angekündigt hatte, zum Schwimmen ins Meer zu gehen.
Der kritische Punkt war, dass sie genau davon nicht mehr zurückgekommen war. Darum auch die Boote draußen, die nach ihr suchten. Was ja nur bedeuten konnte, einen Leichnam zu suchen und nicht etwa eine erschöpfte Schwimmerin.
Cheng bestätigte die Ankündigung der Frau, zum Baden ins Meer zu wollen, wie auch die Warnung des Kellners, dass es dafür eigentlich zu kalt sei. Zusätzlich aber konnte Cheng berichten, wenig später tatsächlich eine Person beim Schwimmen gesehen zu haben, höchstwahrscheinlich die gleiche Frau. Und dass er zudem beobachtet habe, wie sie an Bord eines Segelboots gegangen war. Was für ein Boot genau, könne er nicht sagen, dafür sei die Distanz dann doch zu groß gewesen. Ein Boot, das später, als er die Terrasse betreten hatte, nicht mehr zu sehen gewesen sei.
Mehr konnte Cheng nicht berichten und vermied es tunlichst, von seinem Beruf zu sprechen. Viele Polizisten empfanden Privatermittler als tendenziell kriminell, nicht nur in dem Sinne, eine irgendwie verbrecherische Kundschaft zu vertreten, sondern ganz grundsätzlich zur Gesetzwidrigkeit zu neigen. Die Peripherien des Rechts zu beschreiten. Ein wenig wie sie selbst, die Polizisten, aber illegitim.
Immerhin ließen die Beamten Cheng bald wieder in Frieden, während sich das Hotelmanagement ob der Unannehmlichkeiten untröstlich zeigte. Zugleich hatte Chengs Äußerung natürlich eine gewisse Erleichterung geschaffen. Die Frau schien nicht einfach untergegangen zu sein. Wenngleich es zunächst völlig mysteriös blieb, auf was für ein Boot sie gelangt sein sollte. Und vor allem, wieso sie von dort nicht zurückgekehrt war. Zurück zu ihrem Begleiter, mit dem sie ein Zimmer im Hotel bewohnte.
»Ich bin im Urlaub«, sagte sich Cheng und meinte das auch so. Die verschwundene Frau kümmerte ihn nicht. Sie war nicht sein Fall.
Er stieg in ein Taxi und ließ sich ins Zentrum von Palma fahren. Dort genoss er es, bei moderater Außentemperatur und einer Wärme, die noch nicht schwitzen machte, aber den Körper angenehm einhüllte, recht ziellos herumzuspazieren und in den Straßencafés zu sitzen. Noch sah man vor allem Einheimische, während die deutschen Touristen bloß eine kleine Vorhut bildeten.
Gegen Abend kehrte er ins Hotel zurück. An der Rezeption fiel kein Wort über die Ereignisse des Vormittags. Doch er war sich sicher, hätte man die Frau gefunden, man hätte es ihm mitgeteilt.
Cheng ging auf sein Zimmer und legte sich aufs Bett, wo er kurz einschlief. So war das meistens. Ein Schlaf spät am Nachmittag, aus dem er sehr viel ausgeruhter erwachte als bei seinem allnächtlichen Dilemma viel zu weniger Stunden. Ein kurzer Schlaf, der sich anfühlte wie eine komfortable Parkbank im hintersten Winkel des Universums.
PP
Cheng aß nicht im Hotel zu Abend, sondern besuchte ein um die Ecke gelegenes indisches Restaurant, das offensichtlich zu dieser Jahreszeit vor allem vom Lieferservice lebte. Im Lokal selbst blieb Cheng der einzige Gast. Er hatte einen guten Blick auf das in die Dunkelheit gleitende, leicht stürmische Meer und wurde von einem ständig zwischen drei Sprachen wechselnden Kellner bedient, dem Cheng zweisprachig seine Wünsche mitteilte. Wünsche, die bestens erfüllt wurden. Das Alleinsein störte Cheng dabei nicht im Geringsten. Es hatte etwas ungemein Vornehmes, als traue sich niemand, ihn, Cheng, beim Essen und Nachdenken und Genießen der vielen kleinen Gerichte zu stören. Allein dieser indische Kellner mit der Ausstrahlung eines göttlichen Boten, der zwar seine Botschaft nicht mehr so richtig im Kopf hatte, aber zufrieden damit war, silberne Schälchen zu balancieren.
Beim Bezahlen der erstaunlich moderaten Rechnung kam Cheng dann noch ein wenig mit dem Kellner ins Gespräch und musste ihm versprechen, sich in den wenigen Tagen seines Aufenthalts ein weiteres Mal hier einzufinden. Cheng versprach es gerne. Und hätte größte Lust gehabt, den mallorquinischen Inder hinüber in die Hotelbar einzuladen, aber das wäre natürlich zu weit gegangen. Denn so wenig Cheng an Gott glaubte, auch an keinen indischen, hielt er sich doch an die Regel, nach der es sich nicht gehörte, mit einem göttlichen Boten an einem Tresen zu sitzen. Boten waren stets dienend. Was zu bedenken war, wenn man ihnen ein Trinkgeld gab, beziehungsweise wenn man ihnen kein Trinkgeld gab. Cheng bedachte es und zeigte sich großzügig.
Hätte man Cheng übrigens nach seiner Religiosität befragt, hätte er vielleicht geantwortet, dass er bei allem Unglauben doch meine, es könne nicht schaden, sich an ein paar Regeln zu halten. Und dass möglicherweise das Paradoxon bestehe, dass selbst in einem von Gott oder Göttern völlig freien Universum dennoch göttliche Boten existierten. Leute mit einem Auftrag.
So kehrte er also zurück zum Hotel, betrat die große Halle und war gezwungen, das Restaurant zu durchqueren, um an die rückwärtig gelegene Bar zu gelangen. Ähnlich wie beim Frühstück saßen auch hier ausschließlich Paare an kleinen Tischen, weiß und glänzend von Geschirr und Glas.
Als sich nun Cheng an die Bar begab – eine längliche, dunkle Theke, darüber ein Plafond aus altem Holz, davor weiß gepolsterte Hocker, dahinter drei Reihen beleuchteter Spirituosen –, erkannte er im Näherkommen einen einzelnen Mann, der am unteren Ende saß. Es war Peter Polnitz.
Natürlich, Cheng hatte im Internet nachgesehen, wie er hieß, der Mann, der die deutsche Stimme jenes weltbekannten Schauspielers verkörperte. Und in der Tat gab er der Stimme viel Körper: Peter Polnitz. Von seinen Freunden wie von der Presse auch gerne PP genannt, eigentlich die Abkürzung für Papa, womit der Papst gemeint ist, der beim Unterschreiben eines Dokuments dieses Kürzel hinter seinen Namen setzt. Einige Rezensenten hatte dies zur durchaus ernst gemeinten Behauptung verführt, Polnitz sei der »Papst unter den Synchronsprechern«. Jedenfalls lieh Polnitz nicht nur besagtem Superstar seine deutsche Stimme, sondern auch noch anderen Größen des Filmgeschäfts, war viel im Radio zu hören, in Hörspielen und Dokumentationen. Nicht zuletzt arbeitete er für die Werbung, wo er einem Auto stimmlich schmeichelte, einem Auto, das noch ein bisschen berühmter war als der weltberühmte Schauspieler. Auch der Wagen eine Naturerscheinung.
Auf einigen Seiten wurde zudem erwähnt, dass Polnitz eine sehr ungewöhnliche Nonstop-Lesung der drei bedeutendsten Monumentalromane des zwanzigsten Jahrhunderts eingespielt hatte, nämlich Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Der Mann ohne Eigenschaften und selbstverständlich Ulysses, zwar nicht ohne die Unterbrechung von Schlaf und Nahrungsaufnahme, aber doch in einem Zug, in einem Aufwasch, wie man so sagt, was ihm neben dem Kürzel PP auch die Initialen PMJ – Proust, Musil, Joyce – eingebracht hatte, nicht zu verwechseln mit dem New Yorker Musikkollektiv Postmodern Jukebox.
Peter Polnitz alias PP alias PMJ.
Es war eigentlich so gar nicht Chengs Art, jemand Fremden anzusprechen. Auch gehörte er nicht zu den hysterisch leidenschaftlichen Fans jenes Hollywoodstars und damit eben auch nicht von dessen deutscher Stimme. Dennoch, etwas trieb ihn dazu, sich nicht nur nahe diesem Mann – bloß einen einzigen Sitz aussparend – niederzulassen, sondern nach einiger Zeit, in der er sein Gläschen Averna wie ein kleines, ein wenig unnützes Möbel hin und her geschoben hatte, sich zu dem Mann hinzudrehen und …
Cheng konnte gerade noch vermeiden, ihn tatsächlich anzusprechen.
Es war Polnitz, der sich praktisch im gleichen Moment zu Cheng hinwandte und erklärte, er wolle nicht aufdringlich erscheinen, meine sich aber zu erinnern, man sei sich vor einigen Jahren in einem Hörspielstudio in Berlin begegnet.
Wobei Polnitz dies auf Englisch sagte. Cheng ihm jedoch auf Deutsch antwortete, ganz sicher niemals in einem Hörspielstudio gewesen zu sein.
»Dann muss ich mich entschuldigen«, meinte Polnitz, jetzt mit genau jener deutschen Stimme, die aus ihm einen PP gemacht und ihm die Gunst vieler Film- und Hörspielfreunde beschert hatte.
»Nein, keineswegs«, sagte Cheng, »es ist mir eine Ehre. Ich erkenne natürlich Ihre Stimme. Wer nicht?«
Polnitz reichte Cheng die Hand und fragte feststellend: »Sie sind Österreicher, nicht wahr?«
»Das haben Sie rasch herausgehört. In der Tat, ich bin geborener Wiener.«
Darauf Polnitz: »Das war der Mann, mit dem ich Sie gerade verwechselt habe, definitiv nicht. Sondern Ire. Chinesischer Abstammung zwar und … nun, Sie entschuldigen, er hatte nur einen Arm. Darum meine Annahme. Er besaß aber auch Ihre Figur. Und Ihren Schick. Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich das sage.«
»Kein Problem«, versicherte Cheng, wobei es ihm schon einen kleinen Stich versetzte, nämlich die Vorstellung, es existiere ein Mann, der ihm auf solche Weise glich.
»Ein Mann mit Bart?«, fragte Cheng.
»Nein, darum war ich mir ja heute Morgen unsicher, als ich Sie das erste Mal sah. Und auch wegen dem Hund, den Sie bei sich hatten. Der andere hatte keinen Hund.«
»Ich ebensowenig«, beteuerte Cheng. »Ich habe keinen Hund.«
»Wirklich?«
»Wirklich. Sehen Sie einen Hund?«, fragte Cheng, der sich freilich bewusst war, dass das heute nicht zum ersten Mal geschah.
»Jetzt nicht.« Polnitz schien ehrlich verwirrt. »Schauen Sie, es ist schon verrückt, wie man sich täuschen kann. – Sie kommen also nicht aus dem Filmgeschäft.«
»Nein, gar nicht. Ich arbeite …«
Cheng stockte. Fast wollte er lügen. Wollte davon sprechen, im Aktienhandel tätig zu sein, oder als Manager einer Modefirma, als Architekt. Meine Güte, warum nicht als Buchhalter oder Steuerprüfer? Wie schon mittags in Gegenwart der Polizisten widerstrebte es ihm, die Wahrheit über seine Profession zu sagen.
Dennoch, aus dem kurzen Stocken heraus entglitt sie ihm. Wie bei einem Kind, dem die im Mund versteckte Schokoladenkugel beim Versuch zu lügen aus dem Mund fällt.
Polnitz war begeistert: »Detektiv! Toll! Das klingt, als würden Sie also doch fürs Kino arbeiten. Fürs Kino der Wirklichkeit.«
»Es gibt auch langweilige Filme«, erklärte Cheng. »Die meisten meiner Fälle würden sich kaum als Vorlage für ein Drehbuch eignen.«
»Und Sie haben wirklich keinen Hund?«, fragte Polnitz. Dieser Punkt hatte es ihm offensichtlich angetan.
»Aber Sie haben eine Frau«, erwiderte Cheng, dem das Hundetheater langsam auf die Nerven ging. Er vermutete, dass es sich bei der Frau heute Morgen an Polnitz’ Tisch um dessen Ehefrau gehandelt habe. Zumindest trug Polnitz einen darauf hinweisenden Ring an seinem Finger.
»Ja. Doch!«, sagte Polnitz. »Aber sie musste abreisen. Wegen ihrer Mutter. Ihre Mutter ist die perfekte Kranke. Ich bin schon gespannt, wie der Tod es schaffen wird, diese unverwüstliche, leidende Person ins Jenseits zu befördern. Sie entschuldigen, dass ich das so sage. Aber Gabrielas Mutter ist achtzig, dreimal verwitwet und bekommt Krankheiten, von denen Sie noch nie ein Wort gehört haben. Sie scheint diese Krankheiten richtiggehend zu erfinden. Darum können ihr diese Krankheiten auch nichts anhaben. Na ja, und wenn sie ruft, weil sie wieder eine neue Krankheit erfunden hat, dann springt meine Frau sofort. Und ich sitze alleine an der Bar und belästige Sie.«
»Das geht schon«, meinte Cheng lachend.
»Ich habe noch zwei Tage hier«, sagte Polnitz, »und die will ich auch genießen, bevor wieder die Arbeit losgeht.«
»Ein neuer Film?«
»Wir sind zu zwei Drittel fertig und arbeiten jetzt am Schluss. Wieder im Studio in Hamburg. Aber Mitte März muss ich dann nach London. Ich treffe dort … Sie werden es nicht glauben, seit dreißig Jahren synchronisiere ich Andrew Wake. Nur zweimal ist es passiert, dass jemand anderer ihn gesprochen hat. Einmal, weil ich über einen längeren Zeitraum fürchterlich verkühlt war. Beim zweiten Mal aber gab’s das Problem, dass ich auch für den anderen Hauptdarsteller der Stammsprecher war. Und da hat sich die Produktion entschieden, ich solle dessen Rolle sprechen und die von Wake abgeben. Was ein fürchterlicher Fehler war. Jedenfalls bin ich von diesen zwei Ausnahmen abgesehen seit den späten Achtzigern die Stimme von Andrew Wake und bin ihm trotzdem noch kein einziges Mal persönlich begegnet.«
»Der Mann ist sicher viel unterwegs.«
»Das ist er ganz gewiss. Aber dennoch hätte es eine Menge Gelegenheiten gegeben, sich zu sehen. Alle anderen, die ich synchronisiere, habe ich längst kennengelernt. Und einer von denen war es ja auch, der … also er hat gemeint, Wake würde mir darum ausweichen, weil er mir meine Stimme neidet. Was man sich mal vorstellen muss!«
So weit hergeholt schien Cheng das gar nicht. Manche Zuseher und nicht wenige Kritiker fanden, PPs Stimme würde letztlich besser zu Andrew Wake passen als dessen eigene. Derartiges geschah. Man nehme nur Woody Allen. Oder den alternden Robert Redford, gesprochen von Kaspar Eichel. Oder Christian Bale, wenn er Batman spielt und »seine« deutsche Stimme, nämlich die von David Nathan, dem dunkel gebrochenen Wesen des Fledermausmanns so viel eher entspricht als seine eigene. Denn darum geht es ja, dass eine Stimme und ein Gesicht (oder die Maske über dem Gesicht, welche Maske auch immer) harmonieren, vereint sind, wozu es mitunter zwei Menschen braucht. Sicher auch im Falle nicht so berühmter Personen. Jemand hört wen reden und denkt sich: Verdammt, das ist doch meine Stimme. Das ist die Stimme, die ich verdient hätte.
Polnitz schränkte ein, dass der Schauspieler, der diese Behauptung aufgestellt habe, sich mit Wake zuerst wegen einer Filmrolle und dann wegen einer politischen Äußerung zerstritten habe. Somit ein Feind sei.
»Feinde sagen gerne die Wahrheit«, stellte Cheng fest.
Cheng hatte nie darüber nachgedacht. Aber jetzt, wo man es besprach, kam ihm ebenfalls vor, dass sich Polnitz’ deutsche Synchronstimme viel eindringlicher in Wakes Darstellung von Figuren füge. In seine Art des Gehens, seine Gestik, sein Mienenspiel, und auch darin, selbst in Momenten der Verzweiflung zu dominieren. Besser als die Originalstimme Wakes, die Cheng ja kannte, vor allem aus der Werbung. Der deutschen Werbung wohlgemerkt, in der Wake mit seiner englischen Originalstimme auftrat. Oder von den paar Malen, da er sich einen Wake-Film auf Englisch angesehen hatte. (Wobei es aber so war, dass wiederum PP für jenes erwähnte weltberühmte Auto nicht nur auf Deutsch warb, sondern dies auch in der englischen Version tat: This car is more than a car. It’s a driven spirit.)
Die Stimme PPs verlieh dem ganzen Wake den idealen klanglichen Körper. Nicht dass Wakes eigene Stimme etwa hässlich war, natürlich nicht, keine Pieps- oder Reibeisenstimme, auch keine irgendwie verletzte Stimme …
Aber das war es doch eigentlich, dass nämlich Wakes eigener Stimme so völlig ein Verletztsein abging, eine Wunde, während hingegen sein Gesicht, also Wakes Gesicht, bei aller maskulinen Attraktivität durchaus Spuren einer Läsion besaß. Nicht jedoch seine Stimme. Die von Polnitz schon. Keine lächerliche Verletzung, sondern eine elegante, männliche Verletzung, eine rätselhafte Narbe oder ein geradezu historisches Gebrechen.
Jedenfalls fand es Cheng nicht ganz abwegig, sich vorzustellen, der Superstar Andrew Wake sei so lange einem Mann ausgewichen, dessen Stimme ihn gerade dadurch beleidigt habe, genau die richtige zu sein.
Doch irgendetwas musste sich geändert haben.
Jedenfalls erklärte Polnitz, Wake wolle ihn darum in London treffen, weil dort eine Pressekonferenz anlässlich des im Herbst erscheinenden neuen Films stattfinden sollte. Die mit Spannung und einigem Getöse erwartete englisch-amerikanische Produktion A Man for Endings, für den natürlich Polnitz es übernommen hatte, Wakes deutsche Stimme zu sprechen.
»Ich werde ihm also endlich leibhaftig begegnen«, erklärte Polnitz, »schon komisch, nach drei Jahrzehnten, in denen ich ja viel Zeit hatte, ihn genau zu studieren, praktisch jeden Winkel in seinem Gesicht, und vor allem natürlich jede Bewegung seiner Lippen. Manchmal träume ich, er zu sein. Manchmal träume ich, ein kleiner Mann zu sein, der in seinem Mund steckt, mit einem Megafon in der Hand. So was träume ich bei keinem anderen. Dabei ist es ja nur ein Beruf, oder? Ihn jetzt aber zu sehen … allerdings, man hat mich gewarnt. So freundlich und umgänglich er nach außen hin und vor der Presse auftritt, dürfte er unter vier Augen auch zu der einen oder anderen Grobheit fähig sein. Nun, man wird sehen, ob er mir meine Stimme verzeiht.«
»Wo treffen Sie ihn?«
»Im Hotel. Zum Frühstück in seiner Suite. Im Beaumont. Kennen Sie das Beaumont?«
»Um ehrlich zu sein«, sagte Cheng, »bin ich froh, das Hotel zu kennen, in dem wir beide uns gerade befinden. Es ist teuer genug.«
»Sie haben recht, Hotelpreise zeugen vom Grad der Unanständigkeit, die in einer Gesellschaft waltet. Das Zimmer, in dem ich Wake treffe, kostet pro Nacht zweitausend Euro. Nun, es ist natürlich kein Zimmer, sondern wohl eher … ich weiß nicht, wenn es zweitausend Euro kostet, wohl eher des Teufels Adresse, wenn er gerade in London ist.«
(Das konnten weder Polnitz noch Cheng wissen, aber das Zimmer, in dem Andrew Wake absteigen würde, war in der Tat etwas sehr Besonderes, besonderer als jegliche Präsidentensuite, die es im Beaumont natürlich ebenso gab. Und wenn Polnitz spaßeshalber den Teufel ins Spiel brachte, so lag er zumindest in einem ästhetischen Sinn gar nicht so falsch.)
Vorerst aber einmal wollte Polnitz doch etwas über das Detektivgeschäft erfahren. Nicht ohne sich zu erkundigen, ob er Cheng auf einen Drink einladen dürfe.
»Einen Kaffee«, bat Cheng, der seinen Averna kaum angerührt hatte. Alkohol war nicht so seine Sache. Früher schon, jetzt nicht mehr. Er bestellte ihn zwar hin und wieder, wie aus einer alten Gewohnheit heraus, aber wenn dann die vom Glas eingefasste alkoholisierte Flüssigkeit vor ihm stand, fiel ihm wieder ein, dass die Liebe zum Alkohol eine verflossene war. Gleich anderen Lieben. Er war ein Mann ohne Liebe. Aber nicht ohne Liebesgeschichte. Er war ein Mann, der von den Liebesgeschichten seines Lebens zehrte. Und der in dieser Hinsicht weder eine Gegenwart noch eine Zukunft, nur eine Vergangenheit kannte.
Als Detektiv lebte er freilich in Gegenwart, Zukunft wie auch Vergangenheit. Aus dem einen simplen Grund des Geldverdienens und dem anderen simplen Grund, nichts anderes zu können. Wie viele Menschen seines Alters schien er in der einmal begonnenen Tätigkeit gefangen und alternativ zu dieser nur ein Leben ohne Arbeit denkbar.
»Wissen Sie«, fragte Cheng, »was Chesterton über den Wert der Detektivgeschichte gesagt hat? Dass sie die bis jetzt einzige Form volkstümlicher Literatur ist, in welcher sich ein gewisser Sinn für den poetischen Gehalt des modernen Lebens ausdrückt.«
»Wie? Sie schreiben über Ihre Fälle?«
»Nein, Gott behüte!«, antwortete Cheng mit einem Lächeln, das aber nicht von seinem Mund stammte, sondern aus seinen schmalen Augen mit den kleinen Angelhaken am inneren Rand trat. Lider, die sich im Moment des Lächelns zu zwei leicht geschwungenen Bögen schlossen. Als er die Augen wieder öffnete, erklärte er: »Fürs Schreiben fehlt mir die Kraft, ehrlich. Von der Sprache einmal abgesehen. Aber was ich sagen will, ist, dass ich in meiner Arbeit als Detektiv versuche, den poetischen Gehalt modernen Lebens festzuhalten. Immerhin bin ich damit beschäftigt, Leute zu beobachten. Manchmal auch Leute, die gar nicht mehr leben, genauer gesagt, ich beobachte die Auswirkungen ihres Totseins.«
»Sie sprachen zuvor auch von der Langeweile mancher Aufträge.«
»Was nicht bedeuten muss, es fehle die Poesie. Ein Mann, der meint, seine Frau betrüge ihn, und darum ihre Observation in Auftrag gibt, ist ja nicht nur von Zorn erfüllt, sondern auch von Angst und Liebe und dem Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit. Und der tiefen Scham, jemanden wie mich zu beauftragen.«
»Ist Scham poetisch?«
»Sie besitzt sicher mehr Poesie als … zum Beispiel der Straßenverkehr.«
Polnitz wendete ein, gerade der Verkehr würde einen recht prägnanten Ausdruck des modernen Lebens darstellen.
»Hätte ich Autoverkäufer werden sollen«, fragte Cheng, »weil mich die Poesie so kümmert?«
Polnitz erklärte, nicht behaupten zu wollen, Autoverkäufer seien ausgesprochen poetisch veranlagte Wesen, doch die Autoschlangen, die unsere Erde beherrschen …
»Wenn man sich vorstellt«, sagte er, »irgendein fremdes Wesen würde die Welt von oben betrachten. Was sieht dieses Wesen? Autoschlangen! Und würde von deren Schönheit berichten, wenn in der Nacht die Lichterketten über die Kontinente ziehen.«
»Das stimmt schon«, sagte Cheng, »aber ich spreche ja vom Leben der Menschen, das zwar teilweise auch hinter Steuerrädern stattfindet und Schlangen hervorbringt, sich aber doch viel stärker in der Scham äußert.«
»Ehepartner haben einander schon immer betrogen.«
»Richtig. Aber deswegen einen Detektiv zu beauftragen ist doch neu.«
»Ist das Ihr Spezialgebiet, der Ehebruch?«
»Nicht unbedingt. Meine Aufträge ergeben kein Muster. Ich habe ein Leben lang versucht, ein Muster darin zu entdecken. Umsonst. Vielleicht bin ich darum auf den Begriff der Poesie gekommen. Als das einzige Muster, das ich erkennen kann.«
»Man müsste Poesie definieren«, sagte Polnitz, »Sie meinen schließlich keine Gedichte.«
»Es gibt da einen alten Spruch«, sagte Cheng, »und zwar, dass der Poesie anheimfällt, was im Leben untergeht. Doch das gilt natürlich für die Poesie eines Lebens, wie man es früher kannte. Der Poesie des modernen Lebens hingegen fällt eher das anheim, was im Leben überläuft. Würde ich sagen. Der viele Hass und das viele Ungemach, das die Menschen im Überfluss gerade dort verbindet, wo es ihnen besonders gut geht. Weshalb Detektive existieren.«
»Das haben Sie aber schön gesagt. Sind Sie vielleicht doch ein bisschen ein Schriftsteller?«, fragte Polnitz, dessen Stimme von mehreren Whiskys leicht gefärbt war, logischerweise mit einer honiggelben Tönung. Aber auch so, als hätte sich eine verlangsamende Wachsschicht über seine Stimmbänder gelegt. Er redete in Zeitlupe.
Noch einmal meinte Cheng: »Gott behüte!«
Sie ließen das Thema bleiben und unterhielten sich noch eine Weile über das Hotel, über Palma und über den Tourismus. Dabei kamen sie auf das Verhältnis zwischen Deutschen und Österreichern zu sprechen. Polnitz fand, dieses sei weniger von der Kultur, der Geschichte oder der viel zitierten »gemeinsamen Sprache, die trennt«, bestimmt, sondern simplerweise von dem Umstand eines vom großen Weltreich zum kleinen Urlaubsort verwandelten Landes, auf dessen Bergen und Pisten, in dessen Seen und Opernhäusern, in dessen Wirtshäusern und selbst noch in dessen Universitäten die Deutschen das Gefühl hätten, sich in einer Märchenwelt zu befinden. Keine Feenwelt wie etwa auf Island, auch kein Reich aus Monstern wie vielleicht dort, wo die Großmächte, der Nahe Osten oder die lateinamerikanischen Drogenkartelle zu Hause waren, sondern tatsächlich von jener Art Märchen, wie die Gebrüder Grimm sie aufgezeichnet haben.
»Ich finde«, sagte Polnitz, »Österreich hat etwas Schneeweißchenhaftes und etwas Rosenrotes sowieso. Auch in seinen schlimmsten Momenten.«
Er lallte nicht, aber seine Stimme strauchelte ein wenig. Und auf solche Weise im Straucheln begriffen, wollte er nun von Cheng wissen, ob er etwas von der Frau gehört habe, die heute verschwunden sei.
»Welche Frau?«
»Dabei sind Sie doch der Detektiv«, erinnerte Polnitz.
»Ach so, Sie meinen die Schwimmerin. Also ehrlich, ich habe keine Ahnung. Aber ich denke, sie hat sich auf den Weg zu einem anderen Ort gemacht.«
»Das sagt man aber auch, wenn Leute sterben«, erklärte Polnitz.
»Was von einem Ort zu halten ist, weiß man halt wirklich erst, wenn man dort war. Das gilt für Jedlesee genauso wie für das Jenseits.«
»Jedlesee?«, fragte Polnitz.
»Soll das heißen, Sie kennen sich zwar im Jenseits aus, haben aber noch nie von Jedlesee gehört?« Immerhin war Cheng so gütig zu erklären, es handle sich bei Jedlesee um einen im Norden Wiens gelegenen Stadtteil.
Leider konnte Polnitz im Gegenzug so gar nichts über das Jenseits erzählen. Aber doch einiges über Karlsruhe, wo er zusammen mit seiner Frau lebte, ohne Kinder, aber mit vielen Hunden.
»Ach darum«, sagte Cheng und meinte natürlich Polnitz’ Fähigkeit, einen Hund zu sehen, der gar nicht da war.
Kurz nach Mitternacht verabschiedete sich Cheng von Polnitz, der sich noch einen allerletzten Drink genehmigen wollte. Seine Stimme war nun ausgereifter und dunkler und inmitten der Dunkelheit geschmeidiger denn je. Bei aller Zeitlupenhaftigkeit. Fast ein Sakrileg, sich jetzt von diesem Mann und seiner Stimme zu verabschieden.
Doch Cheng ging und trat noch einen Moment auf die Terrasse. Es war kühl. Nur ein paar Raucher standen draußen, die Kälteforscher der neuen Zeit. Cheng sah hinaus aufs Meer, auf die schwarz bewegte Fläche.
Vom Meer her ein Klang, als hätte Gott sich verschluckt.
A Man for Endings
Mitte März in Wien. Und eine der wichtigsten Meldungen war die folgende: Seit mehr als vierzig Jahren gibt es den Pollenwarndienst.
Vor Hasel und Erle wurde gewarnt. Sowie eine überdurchschnittliche Eschenblüte angekündigt, die wohl einige Leute in den Wahnsinn treiben würde.
Aber davon erfuhr Cheng nichts. Aus dem einfachen Grund, weil er keine Nachrichten hörte. Immerhin war Fastenzeit, und so wenig Cheng ein religiöses Empfinden dazu trieb, sich auf Ostern vorzubereiten, so wollte er auch in diesem Punkt einer Regel folgen. Der allgemeinen Praxis, einen Verzicht zu üben.