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Julia Fritzsche, geboren 1983, ist Journalistin, sie schreibt für den Bayerischen Rundfunk, arte, analyse und kritik u. a. Sie lebt in München. Für ihr Hörfunk-Feature »Stell dich nicht so an!« Indizien für eine Rape Culture (zusammen mit Laura Freisberg) bekam sie den Juliane Bartel Medienpreis 2013. Ihr Feature »Prolls, Assis und Schmarotzer!« Warum unsere Gesellschaft die Armen verachtet (zusammen mit Sebastian Dörfler) wurde 2016 mit dem 2. Preis des Otto-Brenner-Preises sowie mit dem Deutschen Sozialpreis ausgezeichnet. Das Feature Das Pogrom von Hoyerswerda: Eine Reise in die Gegenwart (ebenfalls mit Sebastian Dörfler) erhielt den Pechmannpreis 2018.

JULIA FRITZSCHE

TIEFROT UND

RADIKAL

BUNT

FÜR EINE NEUE
LINKE ERZÄHLUNG

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Edition Nautilus GmbH

Inhalt

Bedrängende Gegenwart:
Eine Begegnung im Treppenhaus

Erfolgreiche Erzählungen:
Reality Check, Feedback und Frames

Wer sorgt für wen? Eine Spurensuche am Bett

Streik auf der Station

Die Idee der Care Revolution

Was wächst wie lange? Eine Spurensuche im Wald

Widerständische Dörfer

Die Idee des Buen Vivir

Wer zieht wohin? Eine Spurensuche am Bahnhof

Willkommensbewegung auf Attacke

Die Idee der Solidarischen Städte

Wer gehört wohin?
Eine Spurensuche am Kleiderschrank

Bärtige in Nylonstrümpfen:

Die Idee der Queerness

Wer erzählt was? Spuren zusammenführen

Anmerkungen

Danksagung

Bedrängende Gegenwart:
Eine Begegnung im Treppenhaus

»Wie geht’s?«, frage ich Paul beiläufig am Briefkasten. »Nicht gut«, sagt er. Ich bleibe stehen. »Die Arbeit?« »Ja«, sagt er. »Es wird ja alles immer schlimmer, die Pausen kürzer, die Kollegen unzuverlässiger und immer billiger.«

Paul ist Busfahrer, wir begegnen uns oft abends wie jetzt, wenn er zur Nachtschicht geht und ich nach Hause komme. Ich mag Paul. Er ist ein ruhiger Typ. Auch seiner Freundin Marilena begegne ich oft abends, wenn sie Arztpraxen putzen geht, eigentlich hat sie eine Ausbildung zur Mechanikerin für Brillenoptik in Bukarest gemacht.

Nach zwei Minuten Gespräch mit Paul am Briefkasten kommt, womit ich nicht gerechnet habe: »Und wenn du dann morgens um drei an der Haltestelle die Flüchtlinge in ihren Schlabberhosen siehst – ich bin wirklich kein Rassist, aber die kriegen eine Wohnung und Jobs und alles. Und wir?«

Paul guckt mich an.

Was jetzt antworten? Wo anfangen? Wie reagieren, ehe er weitergeht und das so im Raum stehenbleibt? Ich stelle meine Einkaufstüte ab, als würde ich zu einer Antwort ausholen. »Also …«

Die bedrängende Gegenwart ist auch bei mir im Treppenhaus angekommen. Andere erleben sie auf Familienfeiern oder in Facebook-Chats, wo fast alle plötzlich ihren slightly racist uncle oder Ähnliches haben. Welche Antworten bringen uns raus aus dieser bedrängenden Gegenwart, in der Migration und Islam zunehmend als Gefahren dargestellt werden. In der die Politik Rechte auf Asyl, Abtreibung, Seenotrettung in Frage stellt und immer autoritärer wird, indem sie Polizeiaufgaben und Überwachung in fast allen deutschen Bundesländern ausweitet, Gewaltenteilung aufhebt wie in Ungarn, Kontrolle durch kritische Medien behindert wie in Österreich. Bedrängend ist die Gegenwart schließlich vor allem durch Menschenjagden und Brandanschläge auf Menschen. Hate crimes gegen Marginalisierte gibt es zwar schon lange – seit dem Mauerfall starben mindestens 169 Menschen an rechtsextremer Gewalt, und an misogynem Hass stirbt jede dritte Nacht eine Frau in Deutschland –, in den letzten drei Jahren nimmt die Gewalt aber zu.1 Antworten auf die bedrängende Gegenwart sind schon lange nötig. Spätestens aber jetzt, im Angesicht von Menschenjagden, Bürgerwehren und Demokratiekrise. Paul, der mir gegenübersteht, ist friedvoll, er äußert seine Ressentiments nur verbal, trotzdem brauche ich jetzt und hier eine Antwort auf ebendiese. Und auf seine Sorgen. Denn seine Andeutungen zu Wohnungsnot und Lohndruck machen klar: Antworten brauchen wir auch auf die bedrängende kapitalistische Gesamtlage, die Paul nicht mal am schlimmsten trifft. Eine kapitalistische Gesamtlage, in der die ärmere Hälfte der Menschen in der Bundesrepublik über 2,4 Prozent des Vermögens verfügt.2 In der vor allem Marginalisierte, Frauen und Migranten, ein System am Laufen halten, das sie krank macht. In der Menschen an und unter der Armutsgrenze zehn Jahre früher sterben als Reiche. In der das Leben für Menschen im Globalen Süden so bedrängend ist, dass sie ihrer Welt entfliehen. Paul bedrängt die Gegenwart und ist bedrängt von ihr. Was da antworten?

Meine Einkaufstüte ist zusammengesackt. »Äh, naja, ich finde ja, nicht Flüchtlinge sind unser Problem, sondern Steuerflüchtlinge«, sage ich knapp. Mehr fällt mir nicht ein. Paul nickt. Puh. »Und an teuren Wohnungen und schlechten Löhnen sind ja auch eher Immobilienunternehmen, Arbeitgeber und Regierungen schuld«, sage ich. Paul nickt nochmal. Echt? Reicht das schon? Einfach ein bisschen über Verteilung sprechen?

Ich war mal bei Paul in der Wohnung, da stand Sarrazin im Regal. Paul fand nicht alles richtig, was da drinstand, vor allem nicht, dass »südlichere Menschen« einen niedrigeren IQ hätten.

Ich nehme meine Einkaufstüte, drehe mich zum Gehen. »Was wirst du wählen?«, frage ich noch. »AfD«, sagt Paul. Verdammte Axt. »Weil so kann es nicht weitergehen«, sagt er. »Was hast du denn früher gewählt?«, frage ich. »Rot, immer, aber die Roten kannst du ja heute vergessen, die vertreten uns doch nicht mehr.« Was mit Rot-Rot-Grün sei, will ich wissen. Die Linkspartei kenne er nicht gut, meint Paul, nur den Gysi. Aber die SPD wolle er nie wieder an der Regierung haben. In keiner Koalition.

Paul ist jetzt an der Haustür. »Du bist eher so Antikapitalist, oder?«, fragt er, öffnet die Tür. Ich reagiere nicht gleich, denn mein Gehirn braucht immer eine halbe Sekunde länger, wenn ich in der männlichen Form angesprochen werde. Ehe ich antworte, sagt Paul: »Das ist im Prinzip ja richtig. Aber da kannst du viel reden. Das ist doch total unrealistisch.«

Paul erwartet gerade keine Ideen von Linken, er hat eine Antwort rechts gefunden. Damit ist er nicht allein. Das hat zuletzt eindrücklich der Pariser Soziologe Didier Eribon in seinem Buch Rückkehr nach Reims beschrieben: Große Teile der Linken haben die arbeitenden Menschen vergessen. Eribon meint mit »Linken« vor allem die Mehrheit der linken Intellektuellen wie sich selbst und das linke parlamentarische Lager, die französische sozialistische Partei. Wie Sozialdemokratien in anderen Ländern habe sich diese kaum mehr um die Lebensbedingungen der arbeitenden Klasse geschert. Lebensbedingungen wie die von Eribons Mutter, einer Arbeiterin, mit einem »geschundenen, schmerzenden Körper, der fünfzehn Jahre lang unter härtesten Bedingungen gearbeitet hat – am Fließband stehen, Deckel auf Einmachgläser schrauben, sich morgens und nachmittags höchstens zehn Minuten von jemandem vertreten lassen, um auf die Toilette gehen zu können«.3 Solch geschundene Körper haben auch viele der »Gelbwesten«, die im Winter 2018/2019 begannen, gegen die Politik des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu protestieren. »Ich blickte in ausgemergelte Gesichter, sah gebeugte, gebrochene Menschen, schaute auf erschöpfte Hände«, schreibt der Pariser Schriftsteller Édouard Louis.4

Paul und Eribons Mutter, die beide früher leidenschaftlich links gewählt haben, wählen heute leidenschaftslos rechts, weil sich ihre früheren Vertreter*innen der neoliberalen Weltsicht von Eigenverantwortung und Wettbewerb, von Sozialstaatsabbau, Privatisierung und Steuerbefreiung für Wohlhabende und Unternehmen angeschlossen haben. Und nicht nur sie wählen heute rechts, Menschen aus vielen ökonomischen Milieus tun das. Denn die Erzählung, in einem globalen System aus Wettbewerb könne es jeder zu einem guten Leben bringen, die Geschichte der Fahrstuhlgesellschaft (Ulrich Beck), derzufolge Klassenunterschiede an Bedeutung verlieren, verfängt nicht mehr. Für Frauen, »Gastarbeiter« und Menschen im Globalen Süden traf sie ohnehin nie zu, und ab dem Wirtschaftseinbruch Mitte der 70er Jahre auch nicht mehr für weiße Männer der arbeitenden Klasse. Es gab und gibt kein Durchsickern des Wohlstands, kein Entkommen aus der Klasse: Arbeiterkinder, die es zu Reichtum und Ruhm schaffen, sind statistische Ausnahmen. Bildungssysteme hängen arme und migrantische Kinder ab, Sozialstaatsabbau und Schließungen von Bibliotheken treffen eben diese armen Kinder, Macht und Vermögen verfestigen sich bei wenigen. Die große Erzählung vom Aufstieg durch Leistung, die Idee der Meritokratie, der heute beide großen politischen Lager anhängen, wird immer unglaubwürdiger.

Dabei geben sich ihre neoliberalen Vertreter*innen viel Mühe, diese Erzählung am Leben zu erhalten. Vor allem bei ökonomischen Umbauten und in Krisen hilft ihnen dabei das Bild des faulen Arbeitslosen, wie unter anderem der Sozialwissenschaftler und Journalist Sebastian Friedrich erforscht.5 Danach sind nicht ökonomische Zyklen, konkrete politische Maßnahmen oder das Wirtschaftssystem schuld an Armut und Erwerbslosigkeit, sondern die Armen und Erwerbslosen selbst, weil sie »dumm, faul und unmoralisch« seien, wie auch der britische Autor Owen Jones in Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse (2013) beschreibt. Dieser Mechanismus zeigte sich auch beim neoliberalen Umbau in der Bundesrepublik: Die Regierung Kohl hatte ihre Politik der Deregulierung, Lohnkürzung und Lockerung des Kündigungsschutzes mit Bildern vom »Freizeitpark« Deutschland (Helmut Kohl 1993) und einer »sozialen Hängematte« (Wolfgang Schäuble 1994) illustriert. Kanzler Gerhard Schröder bereitete dann 2001 seine Agenda-Politik mit dem BILD-Interview »Es gibt kein Recht auf Faulheit« vor, das Wirtschaftsministerium unter Wolfgang Clement nannte im Jahr der Agenda-Einführung 2005 Erwerbslose in einem Atemzug mit »Parasiten«. Als in den Folgejahren Armut und Armutsgefährdung anstiegen,6 prägte ab 2006 die »Unterschichten«-Debatte das Bild von Armen als »einem Milieu, wo vielfach Verwahrlosung herrscht« (Historiker Paul Nolte) und als »white trash« (GEO Wissen). In der Wirtschafts- und Finanzkrise dann sprach Außenminister Guido Westerwelle 2010 von »spätrömischer Dekadenz«, und Medien reichten den stets rauchenden, trinkenden und Unterhemd tragenden erwerbslosen Arno Dübel herum (Maischberger, Kerner, BILD). 2018 zeichnete RTL in der Sendung Zahltag ein subtileres, aber noch gefährlicheres Bild von Erwerbslosen, indem Geldverprasser fleißigen Sparern gegenübergestellt wurden.7

Die neoliberale Erzählung vom Aufstieg für alle schreibt also denen, denen kein Wohlstand zuteil wird, ein außerordentliches Verhalten zu: Sie sind die Anderen, die Faulen. Auch die neoliberale Erzählung verfügt also über ein Othering. Damit ist sie der extrem rechten Erzählung mit ihrem Othering vor allem der Fremden nicht unähnlich. Die beiden haben vielmehr etwas Zentrales gemein. Wie in der rechten Erzählung mit ihren austauschbaren Denkfiguren der Anderendie Juden, die Migranten, die Türken, die Flüchtlinge8 – ist auch in der neoliberalen Erzählung das Bild der Faulen flexibel anwendbar und übertragbar. Auf alle, denen der Aufstieg durch Leistung nicht gelingt: Die wirtschaftliche Not von Menschen in Griechenland liegt dann nicht etwa am Wettbewerbsnachteil gegenüber deutschen Niedriglöhnen, sondern am »Gemüt des rauchenden, tanzenden, sonnenverbrannten Griechen«, wie ein SPIEGEL-Cover es 2015 suggeriert. Dass Frauen in der Bundesrepublik 21 Prozent weniger verdienen als Männer liegt dann nicht an Lohnintransparenz und fehlenden sozialstaatlichen Einrichtungen für Haus- und Familienarbeit, sondern am »geringen Verhandlungsgeschick« und an »mangelnder Durchsetzungsfähigkeit« einzelner Frauen. Und die Not von Menschen im Globalen Süden liegt so nicht an Landraub und Freihandelsabkommen, durch die westliche Industrien den afrikanischen Kontinent mit Tomatenmark und Hühnchenfleisch fluten, sondern an »unfähigen Regierungen und der generellen Rückständigkeit der Menschen dort«.

Theoretisch sind in der neoliberalen Erzählung alle gleich, und sie hat sich auch symbolisch und diskursiv stark für die Ausgeschlossenen eingesetzt: so in der Bundesrepublik mit einer Angleichung der Rechte von Frauen und Männern, Rechten für Homosexuelle, der doppelten Staatsbürgerschaft. Sie hat aber »in der Sache der Emanzipation auf halber Strecke haltgemacht«, wie der Publizist Raul Zelik schreibt und mit einem Witz veranschaulicht, den es nach dem Mauerfall gab: »Im Sozialismus sagten die Frauen: Ich bin Traktorist. Nach dem Anschluss an die BRD sagen sie: Ich war Traktoristin.« Das heißt nicht, dass eine symbolische und sprachliche Anerkennung der Ausgegrenzten nicht wichtig sind, ihre Anerkennung ist aber, so Zelik, »ohne materielle Grundlagen nicht allzu viel wert«.9

Wenn wir fragen, was heute fehlt, ist also festzuhalten: Die neoliberale Erzählung ist unglaubwürdig, weil Aufstieg durch Leistung den meisten nicht gelingt. Mit ihrem Othering ebnet sie der extrem rechten Erzählung auch den Weg: Die Behauptung, Geflüchtete würden den Sozialstaat ausnutzen, ist vor allem deshalb für viele spontan glaubhaft, weil die neoliberale Erzählung behauptet, Erwerbslose würden das auch tun, und Menschen seien generell nur auf den eigenen Nutzen bedacht, worauf vor allem der Soziologe Andreas Kemper immer wieder hinweist.10 Die neoliberale Erzählung ebnet der extrem rechten aber vor allem mit ihrem ökonomistischen Denken der Verwertbarkeit von Menschen den Weg, also mit der Idee, Menschen könnten unnütz oder nützlich sein, wie die Studie Deutsche Zustände 2011 feststellte. Danach sind ökonomistisch denkende Menschen im Verhältnis zu nichtökonomistisch denkenden Menschen häufiger feindlich gegenüber schwachen Gruppen, die sie verdächtigen, »keine verwertbare Leistung zu erbringen«. Sie sind unter anderem häufiger fremdenfeindlich (61 bzw. 21 Prozent), sexistisch (24 bzw. 7) und behindertenfeindlich (14 bzw. 5).11 Wenn rechte Ideen in ökonomistischen Krisen verfangen, liegt das also nicht nur an Abstiegsängsten, wie viele behaupten, sondern vor allem daran, dass auch die neoliberale Erzählung von Konkurrenz und Verwertbarkeit der Menschen in Krisen immer wieder neu belebt wird.

Für die Suche nach Antworten aus der bedrängenden Gegenwart ist es also hilfreich zu verstehen: Die neoliberale Erzählung unterscheidet sich zwar erheblich von der extrem rechten Erzählung – sie gewährt mehr Rechte für Marginalisierte, will mehr globalen Warenverkehr und mehr Zuzug von wirtschaftlich verwertbaren Menschen –, teilt aber mit ihr die Idee der Anderen und der Konkurrenz. In dieser Hinsicht handelt es sich letztlich um die gleiche Erzählung in zwei Varianten.

Die Ähnlichkeit zeigt sich auch im Detail: Mit »Wir schaffen das« suggerierte Merkel zwar Solidarität und eine Abgrenzung nach rechts. Gleichzeitig macht sie aber außerhalb Europas eine rechte Migrationspolitik, die den Tod von flüchtenden Menschen fördert: Im Mittelmeer erschwert die EU Seenotrettung, in Mali und Niger führt diese Politik dazu, dass binnenafrikanische Migration kriminalisiert wird und flüchtende Menschen auf wasserlose Routen durch die Wüste gezwungen werden, wo eine unbekannte Anzahl von ihnen stirbt.12 In der Praxis ist Merkels Migrationspolitik nicht glaubhaft unterscheidbar von der der extremen Rechten. Gleichzeitig offenbart die Inkaufnahme von Toten noch offensichtlicher, was die Einschränkung der Freizügigkeit durch Visapolitiken schon lange zeigt: Die liberale Erzählung von der freien Welt mit ihren grenzenlosen Möglichkeiten trifft nicht zu. Zwar postulieren westliche Industrienationen kaum mehr Grenzen innerhalb des europäischen Kontinents, gleichzeitig beleben sie die Vorstellung von Grenzen außerhalb des Kontinents und damit das Konstrukt Grenze an sich. So können Rechte auch die Idee von Grenzen innerhalb des Kontinents wieder stärken, wie die AfD, die im Sommer der Migration 2015 »ganz bewusst das Narrativ gesetzt hat, dass Merkel die Grenzen geöffnet hätte – das ist ja nie passiert«, wie Ex-AfDlerin Franziska Schreiber 2018 beschreibt.13

Auch andere jetzt wiederbelebte rechte Geschichten vom Untergang des Abendlandes oder vom Volkstod sind – so abstrus sie erscheinen – in Erzählungen und Sprachbildern aus dem Mainstream angelegt. Wenn Medien und Politik für Regionen wie den europäischen Kontinent, auf dem statt 700 Millionen auch die Hälfte oder doppelt so viele Menschen Fahrrad fahren, gärtnern, Häuser bauen, Steuerbeiträge leisten und Bier trinken könnten, das Bild eines »Bootes« verwenden, schaffen sie damit die Vorstellung eines Gefäßes mit endlichem Raum, das sich üblicherweise in Gewässern befindet und untergehen kann. Wenn Medien und Politik fliehende Menschen »Fluten« oder »Ströme« nennen, machen sie sie sprachlich zu nicht steuerbaren Naturgewalten. Auch die rechte Idee eines einheitlichen deutschen Volkes ist fest in unseren etablierten Erzählungen verankert. Dabei ist die Nation als Raum oder Kulturraum nicht an sich erfahrbar, und Menschen mit deutschem Pass haben außer diesem erstmal nichts gemeinsam – die einen empfinden beim Anblick der Alpen Geborgenheit im Sinne von Heimat, die anderen an der Meeresküste. Auch für Menschen mit anderen Pässen wiederum ist die Amtssprache Deutsch. Und trotzdem lehren uns Bildungspläne das Nationalhymnen-Singen, lehren uns Sportgroßevents das Fahnenschwenken und Bundespräsidentenreden die Deutsche Einheit. Durch dieses geistige nation building entsteht die Vorstellung der natürlichen Einheit eines Deutschen Volkes, dessen Untergang, Abschaffung, Ausrottung Rechte bang kommen sehen, wenn dunkelhaarige Menschen von Salzburg nach München laufen.

Menschen wie Paul mit Fakten zu antworten ist schwierig. Dabei ist Widersprechen wichtiger Widerstand und ein deutliches Zeichen, sich anders zu verhalten als viele Rechte, die mit den »Gegnern« nicht reden wollen. Aber trotzdem bleibt das Argumentieren oft folgenlos. Denn die Vorstellung der Anderen und der Konkurrenz zu diesen sitzt tief. Hinzu kommt, dass Fakten an Wert einbüßen. Denn wenn zum Beispiel keine Partei ernsthaft mehr Armut abschaffen will, eine Partei allerdings immerhin etwas weniger Armut möchte, streiten die Parteien über Armutsdefinitionen und darüber, ob der Armutsbericht stark oder leicht verfälscht ist. Sie ziehen dann unterschiedliche Studien, Zahlen und Auslegungen für eine nur in Nuancen unterschiedliche, letztlich aber gleiche Politik heran. Genau damit aber verlieren diese Studien, Zahlen und Fakten an Wert und ihre Vertreter*innen an Glaubwürdigkeit.

Im Schock über den Vorwurf von Fake News, im Entsetzen über Menschenjagden und »Zivilisationsbrüche«, in der erhitzten Diskussion über den Umgang mit Rechten (Mit ihnen reden oder nicht? Sie »faschistisch« nennen oder nicht? Sie im Bundestag schmähen oder nicht? Sie verstehen wollen oder nicht?) zeigt sich eine Leerstelle. Es scheint leichter, die Folgen der Idee von Ausgrenzung und Konkurrenz ein bisschen einzudämmen, als die Idee grundsätzlich in Frage zu stellen. Es scheint leichter, weiter in diesem Denken zu verharren, als eine eigene packende Geschichte zu entwerfen. Die bedrängende Gegenwart aus Menschenjagden und neuem Autoritarismus in der Politik zeigt aber: Genau das ist jetzt nötig.

Wir brauchen einen eigenen Entwurf, eine eigene Erzählung, eine eigene Idee von einem Leben, in dem möglichst viele Menschen gut zusammenleben und mehr als bislang aufeinander achtgeben. Eine eigene Geschichte, die Werte und Lebensweisen in Aussicht stellt, an denen möglichst viele Anteil haben wollen, die wir alle mitgestalten wollen. Einen Entwurf von einem Leben, der bessere Bedingungen für möglichst viele von uns darstellt. Einen Entwurf, der die Idee von Konkurrenz und Ausgrenzung in Frage stellt und ihr eine eigene Idee vom Zusammenleben entgegenstellt. Eine solche eigene Erzählung fehlt. Eine neue linke Erzählung.

Eine solche neue linke Erzählung bräuchte, verglichen mit den gegenwärtigen Erzählungen, vor allem zwei Elemente. Sie müsste einerseits die Idee der Anderen, der Migranten, der Schwarzen, der Frauen und weiterer Anderer, überwinden und zu vielfältigen selbstgewählten kollektiven Identitäten anregen. Das wäre der – in der neoliberalen Idee angelegte – bunte Teil der Erzählung. Allerdings in einer radikal bunten Variante mit fließenden Übergängen, worin unendlich viele diverse Identitäten Ausdruck finden. Und mit einem hohen Grün-Anteil, weil eine neue Erzählung die Natur nicht als ein weiteres Anderes, sondern als unsere Lebensgrundlage begreifen müsste. Eine neue Erzählung müsste zudem eine Idee für eine andere ökonomische Ordnung entwickeln, das wäre der rote Teil der Erzählung. Allerdings ein tiefroter, da es hier um mehr als höhere Mindestlöhne und die Förderung von Suppenküchen geht, sondern darum, wie wir unsere Lebens- und Produktionsweise an unseren Bedürfnissen ausrichten, statt an unserer Verwertbarkeit.

Eine neue Erzählung muss also tiefrot und radikal bunt sein, muss ökonomische Fragen und Fragen von diversity zusammen betrachten. Sie darf sie nicht gegeneinander ausspielen, wie viele das tun, wenn sie fragen, ob wir zu liberal sind, ob Unisex-Toiletten Schuld an Trump und Frauenquoten schuld an der AfD sind. Eine neue Erzählung muss vielmehr den Zusammenhang von Ausbeutung und Ausgrenzung aufzeigen, Klassenfrage und Minderheitenschutz verbinden. Denn »Migration, Geschlecht und Antirassismus sind Fragen der Arbeiterklasse«, wie die Professorin für African American Studies, Keeanga-Yamahtta Taylor erklärt.14 »Diese Kombination liefert die einzig prinzipientreue und aussichtsreiche Antwort auf die politische Herausforderung, vor der wir stehen«, ergänzt die Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser.15

Nur eine Kombination von tiefrot und radikal bunt würde unser Weltbild in ein konstruktives »Durcheinander« bringen, wie es auch die Germanistin und Theologin Ina Praetorius fordert. Sie analysiert, wie Bibelverfasser, Philosophen und VWL-Lehrbücher über Jahrhunderte die Welt erzählerisch in zwei Sphären geteilt haben. In der einen Sphäre Herrschaft, Männer, Politik, Geld, Markt, Vernunft, Öffentlichkeit. In der anderen Sphäre Frauen, Kolonisierte, Beherrschte, Soziales, Haushalt, Abhängigkeit, Liebe, Privates, Natur. In diesem dichotomen Weltbild werden bestimmte Arbeiten und die Menschen, die sie verrichten, als »systemextern gedacht, sentimentalisiert, naturalisiert und trivialisiert«, so Praetorius. Dieses Weltbild gelte es, durch »geduldige friedliche Arbeit an einem anderen Paradigma« zu durchbrechen. Denn die »Ausgeschlossenen stellen kein Sinnreservoir zur Verfügung, in das man nach Feierabend oder im Urlaub fliehen kann«.16

Wie eine solche Erzählung in tiefrot und radikal bunt aussehen könnte, dem möchte ich hier nachspüren. Ich möchte bereits bestehende praktische und theoretische Entwürfe zeigen, nach denen verschiedene Menschen und Bewegungen unser Leben anders gestalten wollen. Ich möchte fragen, welche Bedürfnisse von Menschen und Natur sich darin zeigen. Ob sich zwischen alten und neuen linken Ideen, zwischen feministischen, ökologischen, sozialen und migrationspolitischen Ideen Brücken schlagen lassen. Ich möchte herausfinden, was die Ideen gemeinsam haben. Und wie sich die schon jetzt existierenden Geschichten von Begehren und Aufbegehren bündeln lassen. Zu einer neuen linken Erzählung.

Erfolgreiche Erzählungen:
Reality Check, Feedback und Frames

Erzählen ist die universale Form, in der wir unsere Erfahrungen weitergeben. Wir erzählen am Lagerfeuer, am Kinderbett, am Stammtisch, am Handy, in Büros, Talkshows, Zeitungen, Theaterstücken, Filmen, Romanen, Reden, Predigten, Lehrbüchern, Parlamenten. Wir tauschen so Erfahrungen aus, dichten hinzu, lassen weg, verdichten zu Mustern. Darüber, wo wir herkommen, warum wir da sind, warum wir so sind, wie wir sind, was wir begehren, was wir witzig finden, was nicht, wie wir gut zusammenleben. Sinnstiftende Ideen über unser Zusammenleben übermitteln wir traditionell nicht säuberlich geordnet, sondern über Göttergeschichten, Heldengeschichten oder Schöpfungsgeschichten, schreibt der Literaturwissenschaftler und Erzähltheoretiker Eberhard Lämmert.17 Selbst die Konzeption des Menschseins an sich fußt »auf gemeinsamen Mythen und Geschichten unterschiedlicher Zeiten und Orte, Geschichten, die sowohl den Freunden als auch den Fremden erklären, was es bedeutet, ein Mensch und nicht etwas anderes zu sein«, wie die Philosophin Martha Nussbaum beschreibt.18 Aus diesen vielen kleinen Geschichten kann eine erfolgreiche Erzählung werden. Die Idee des American Dream, die biblische Geschichte vom Auszug aus Ägypten, die Geschichte der Befreiung von Sklaverei und Unterdrückung, die Geschichte vom Wiederaufbau nach dem Krieg, die Geschichte des friedfertigen Europa sind solche erfolgreichen Erzählungen. Der Kulturwissenschaftler und Erzähltheoretiker Albrecht Koschorke spricht in diesem Zusammenhang von »Erzählungen, die ein politisches Kollektiv zu stiften versuchen«19. In seinem Buch Hegel und wir (2015) beschreibt er, wie eine solche Erzählung entsteht und wann sie erfolgreich ist: Sie muss vor allem am Alltag der Menschen anknüpfen, sie »abholen«, also den Eindruck erwecken, sie beziehe sich auf gemeinsame Erfahrungen. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Erfahrungen tatsächlich gemacht wurden, es reicht, wenn sie »spontan evident« erscheinen. Besonders erfolgreich wird eine solche sinnstiftend gemeinte Idee, wenn sie oft wiederholt wird, die Leute müssen sie immer wieder hören, eine »Feedback-Schleife« nennt Koschorke das. Vor allem wenn die Idee tatsächlich mit den Erfahrungen der Menschen übereinstimmt, kann sie verfangen. Viele Menschen erzählen sie sich dann weiter, eine »zirkuläre Dynamik der Selbstverstärkung« entsteht, und damit eine erfolgreiche Erzählung. Stimmt die Idee eher nicht mit dem Erleben der Menschen überein, ist das Wiederholen umso wichtiger. Besonders gut schlagen Erzählungen außerdem ein, wenn sie von Menschen aus möglichst verschiedenen Milieus oder von Autoritäten erzählt werden.

Die Sprach- und Kognitionswissenschaftlerin Elisabeth Wehling beschreibt in ihrem Buch Politisches Framing. Wie sich eine Nation ihr Denken einredet – und daraus Politik macht (2016), dass politische Ideen vor allem dann erfolgreich sind, wenn sie geeignete Bilder, Rahmungen, sogenannte »Frames«, hervorrufen, die die politischen Wertvorstellungen der Erzählenden widerspiegeln. Wer von bestimmten Besteuerungen gern weniger hätte, sollte in diesem Zusammenhang, wie viele es tun, von »Steuerlast« sprechen und den Frame von Last, Belastung, Schwere hervorrufen, die einem Individuum auferlegt sind.20 Wer die in Frage stehenden Besteuerungen richtig findet oder auch mehr davon will, sollte eher von »Steuerbeiträgen« sprechen und den Frame »zu etwas beitragen« hervorrufen, der den Gemeinschaftssinn stärkt, da wir nur in Gemeinschaften überhaupt »zu etwas beitragen« können (zum Buffet, zur Diskussion, zur Stimmung). Insbesondere weist Wehling darauf hin, dass politische Konzepte dann schlecht verfangen, wenn sie nur gegen etwas sind, anstatt eigene Frames hervorzurufen, »die eigene Weltsicht zu propagieren«. Denn laut Wehling vermag unser Gehirn es nicht, »nicht« oder »anti« zu denken. Wer also ein politisches Konzept der globalen Freizügigkeit will, es aber »no border« nennt, bestätigt – auch wenn von Gegenteiligem überzeugt – die Idee der Grenze. Wer ein politisches Konzept des wirtschaftlichen Maßhaltens, der Genügsamkeit und Bedürfnisbefriedigung befürwortet, sprachlich aber nur »gegen Wachstum« oder für »Post-Wachstum« ist, stärkt – ob er oder sie will oder nicht – den Frame »Wachstum«. Natürlich können auch Konzepte, die gegen etwas sind, Erfolg haben. Die Bewegung PEGIDA beispielsweise spricht sich gegen eine »Islamisierung« aus und brachte damit 2014 und 2015 Zehntausende Menschen auf die Straße. Mittlerweile versammeln sich Rechte aber vor allem unter Namen, die für etwas sind, in der »Alternative für Deutschland«, auf »Demos für alle« (statt gegen das Recht auf Ehe für Homosexuelle), als »Lebensschützer« (statt als »Abtreibungsgegner*innen«).

Das Besondere am Konzept der »Erzählung« im Gegensatz zum – im Zusammenhang mit sinnstiftenden Ideen für eine Gemeinschaft auch gebräuchlichen – Konzept der »Ideologie« ist, dass sich an einer Erzählung, am Erzählen, viele beteiligen können. Unter einer Ideologie hingegen verstehen wir heute meistens ein Ideensystem (eines Staates oder Unternehmens), die Ideologie wird meist zentral konzipiert, oft von Mächtigen (Erdoğan oder Zuckerberg). Auch Ideologien werden natürlich von vielen Menschen mitgetragen, auch Erzählungen stark von Machthabenden und Autoritäten geprägt, die Übergänge sind also fließend, in der Tendenz aber ist die Ideologie eher ein System und starr, die Erzählung eher wabernd und wandelbar.

Das Konzept der Erzählung erkennt also an, dass wir die Welt unterschiedlich wahrnehmen, einzelne Ereignisse oder Erlebnisse aufgrund unseres Erfahrungshorizonts verschieden erleben, und diesen Erlebnissen dann gemeinsam, indem wir auf bestimmte Weisen darüber sprechen, eine Form geben, sie festhalten, rahmen. Natürlich gibt es auch hier Hierarchien, insbesondere Medien, Prominente und Politik haben eine hohe faktische Reichweite und prägen, sofern sie als glaubwürdig gelten, den Diskurs stärker als andere Personen. Um aber glaubwürdig zu sein, müssen auch diese Autoritäten am alltäglichen Erfahren der Menschen ansetzen und ihre Thesen immer wieder mit denen rückkoppeln. Am Erzählen sind wir also alle beteiligt, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Wir alle können, indem wir erzählen – und das tun die meisten unter uns ohnehin die ganze Zeit –, Ereignissen und Erlebnissen einen neuen Rahmen geben und unserem Zusammenleben einen bestimmten Sinn verleihen.

Aber wurde nicht längst das Ende der Ideologien und großen Erzählungen ausgerufen? 1992 meinte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, es gebe nach der Auflösung der Sowjetunion keine Auseinandersetzung der Systeme mehr, der Sozialismus habe verloren, die freie Marktwirtschaft in Form der liberalen Demokratie gesiegt, wir seien am »Ende der Geschichte«. Für die westlichen Industrienationen und ihre Kinder hörte sich das schlüssig an, der Kapitalismus war so normal, dass gar kein großes Aufhebens um ihn gemacht wurde, ja, er war so sehr Normalzustand, dass viele gar kein Wort für ihn hatten. Stimmt aber die Erzählung vom Ende der Geschichte? Diese Frage wurde nicht gestellt. Denn ja, die westlichen kapitalistischen Demokratien hatten gesiegt, in diesem historischen Moment. Sie waren auch für viele Menschen besser als Diktaturen, besser als Stalin, kannten keine Gulags, keinen Staatsterror, und tatsächlich hatte sich die Sowjetunion aufgelöst. Hat damit die laut Fukuyama einzig verbleibende Gesellschaftsform, die liberale kapitalistische Demokratie, für immer gesiegt? Wer weiß? Wir werden wohl noch weitere politische Epochen auf diesem Planeten erleben, wenn wir ihn und uns besser behandeln als jetzt.

Der Konservative Fukuyama war nicht der Einzige, der entpolitisierende Thesen verbreitete. Schon ein gutes Jahrzehnt vor ihm hatte der Pariser Philosoph Jean-François Lyotard ein Ende der großen Erzählungen postuliert. Die Welt des 20. Jahrhunderts sei komplex, so auch das Wissen über sie, vor allem durch die Wissenschaften, die seit dem 19. Jahrhundert entstanden waren, schrieb er in Das postmoderne Wissen (1979). Wissenschaftliche Analysen aber waren für Lyotard ein Gebiet des Machtspiels: »Man kauft keine Gelehrten, Techniker und Apparate, um die Wahrheit zu erfahren, sondern um die Macht zu erweitern.« Die Menschen hätten deshalb zu Recht eine »Skepsis gegenüber den Metaerzählungen«.21 Es gäbe nur noch viele nebeneinanderbestehende kleine Geschichten, so Lyotard.

Können diese aber nicht trotzdem zu einer großen Erzählung beitragen? Gibt es wirklich keine großen Erzählungen mehr? Nehmen wir die kapitalistische Grunderzählung, in einer politischen und ökonomischen Ordnung des globalen Wettbewerbs könne es jeder zu einem guten Leben bringen. Diese Geschichte der Fahrstuhlgesellschaft ist nicht mehr glaubhaft, es besteht große Skepsis ihr gegenüber, insbesondere seit der erneuten Wirtschafts- und Finanzkrise. Tot aber ist sie nicht. Sie läuft auf vielen bedeutenden Kanälen, nicht nur in FDP-Interviews, auch in Medien, Sport, Werbung, Kultur: Wer sich genug bildet, kann in der Quizshow Millionär werden, wer genug Steve-Jobs-Biografien liest, schafft es out of the garage, wer mutig genug ist, dem verleiht Red Bull beim Extremsportevent Flügel, wer dem Bildungsministerium glaubt, schafft trotz PISA-Studien Aufstieg durch Bildung, wer genug an seinem Körper arbeitet, dem verleiht Heidi Klum Topmodel-Ruhm, und wer die richtigen Coaches befragt, kann sich für den Durchbruch zu Erfolg oder mindestens zu persönlichem Glück selbstoptimieren. Wie die kapitalistische Erzählung Alle fahren im Fahrstuhl mit nach oben heute in der neoliberalen Variante Alle fahren im Fahrstuhl mit nach oben, wenn sie nicht faul sind am Leben bleibt, beschreiben in den letzten Jahren viele: Markus Metz und Georg Seeßlen in Kapitalismus als Spektakel (2012), Patrick Schreiner in Unterwerfung als Freiheit – Leben im Neoliberalismus (2015), Sebastian Friedrich in Lexikon der Leistungsgesellschaft – Wie der Neoliberalismus unseren Alltag prägt (2016). Die kapitalistische Großerzählung vermag es immer wieder, sich flexibel anzupassen und attraktiv zu machen, Ausgegrenzte wie Frauen, Schwarze oder Homosexuelle teilweise zu integrieren und neue Andere zu etablieren. Wenn nötig, nimmt sie die Begehren sozialer Bewegungen auf und macht sie sich nutzbar. Der Neoliberalismus »verkehrt die Autonomie der Arbeit in ihre Flexibilisierung, die Befreiung der Sexualität in ihre Konsumierbarkeit, die Selbstbestimmung in Selbstoptimierung«, schreibt die Berliner Künstlerin und Autorin Bini Adamczak in ihrem Buch Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende (2017).22 Die kapitalistische Großerzählung ist trotz Skepsis ihr gegenüber existent. Sie mag herumgeistern wie ein Zombie, aber sie ist da. Stört es sie, dass die Welt komplex ist? Nein. Gerade die Komplexität wird gerne herangezogen, um andere Alternativen als »vereinfacht« und »naiv« abzutun. Mindestens diese eine große Erzählung existiert also in den westlichen Industrienationen weiter in Form von vielen kleinen Narrationen.

Kein Grund also, sich einreden zu lassen, Menschen könnten nicht beginnen, sich neue Geschichten zu erzählen, ihre Erfahrungen neu zu betrachten, neu zu bewerten, neu zu ordnen, neu zu rahmen, sie gemeinsam zu einer neuen Erzählung zu verdichten und so neue Ideen für ein gutes Zusammenleben zu entwickeln.

Die Große Regression***