Monika Loerchner
Hexenherz
Glühender Hass
Loerchner, Monika : Hexenherz. Glühender Hass, Hamburg, acabus Verlag 2019
Originalausgabe
PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-636-0
ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-637-7
Print: ISBN 978-3-86282-635-3
Lektorat: Sina Eilers, acabus Verlag
Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag
Covermotiv: pixabay.com
Karte: © Carl Wilckens und Monika Loerchner
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Für die, die gehen mussten, obwohl sie bleiben wollten
und die, die geblieben sind, obwohl sie hätten gehen können;
wir werden Euch immer lieben.
Antrittsrede des neuernannten Hexenministers seiner Majestät Kaiser Alexeii Cel Mare, Herrscher über das Große Moldawische Reich, Uwe Helmut de Gravenhage, Ratshaus Lybid am 20.02.1985.
Eure Majestät, meine sehr verehrten Herren!
Ich stehe vor Ihnen als der jüngste Hexenminister, den es in der Geschichte des Großen Moldawischen Reiches je gegeben hat. Ich bin mir dessen bewusst, dass einige von Ihnen der Ansicht sind, dass es mir an Erfahrung, Disziplin, Führungsqualität und Durchsetzungsvermögen mangelt.
Sie irren sich.
Ich habe bereits jetzt mehr Hexen im Kampf getötet oder gefangen genommen und unter den Pflock gebracht, als die meisten Hexenjäger in ihrer gesamten beruflichen Laufbahn.
Wie Sie wissen, stammt meine Familie ursprünglich selbst aus dem sogenannten Goldenen Reich, dessen skrupellose und teuflische Hexenherrschaft so viele Länder in den Abgrund gerissen hat. Das Land meiner Urahnen war eine niederländische Provinz namens Südholland, ein Paradies, das die dämonischen Hexenweiber 1578 mit Krieg überzogen haben. Als dann eine Provinz nach der anderen fiel, offenbarte sich erst das wahre Ausmaß der teuflischen Hexen, die das Land fortan mit Irrglaube, Mord und Terror regierten. Wie überall unter ihrer verdorbenen Herrschaft wurden gute, brave Frauen zum satanischen Hexentum verführt, sie wurden mit der Macht der unnatürlichen Magie ausgestattet und zu willigen Werkzeugen unendlicher Gräueltaten an Männern, Frauen und Kindern gemacht.
Bereits 1526 gab es Männer hierzulande, die so klug und so weitsichtig waren, sich gegen die dämonischen Furien zur Wehr zu setzen und die Ihren zu schützen: Sie taten es den Chinesen gleich und bauten eine kolossale Mauer, um ihre Familien und ihr Land zu sichern.
Mein eigener Vorfahr, Vaandrig de Gravenhage, kämpfte in zahlreichen Schlachten gegen die Hexenweiber, so auch in der berühmten Schlacht von Leparta 1571. Als die Hexen Europa endgültig in Flammen und Verdammnis aufgehen ließen, beschloss er, den Kampf von hier aus weiterzuführen. Er begründete im Großen Moldawischen Reich ein neues Geschlecht an tapferen, treuen und aufrechten Männern.
Hier stehe ich nun vor Ihnen, meine Herren, und dasselbe hexenhassende, kämpferische Blut fließt in meinen Adern. Ich dulde keine Nachlässigkeit, denn Nachlässigkeit ist Wasser auf den Mühlen der Hexen. Ich dulde keine Dummheit, denn Dummheit ist anfällig für die Einflüsterungen der teuflischen Weiber. Und ich dulde keine Schwäche, denn wer schwach ist, kann von der dämonischen Magie verführt werden.
Ich werde mit aller Härte gegen die Hexenweiber und ihre Terrorherrschaft vorgehen! Längst wütet der Feind nicht mehr nur außerhalb unserer Mauer, sondern hat bereits seine Boten ausgesandt, auch unsere Frauen zu verderben. Heimtückisch und unter dem Mantel von Rechtschaffenheit und Demut nisten sie sich bei uns ein und flüstern ihre giftigen Worte in die Ohren unserer jungen, unwissenden und leichtgläubigen Ehefrauen und Töchter.
Sie haben Europa infiltriert und sich ausgebreitet, tödlicher als die schlimmste Seuche, und brüten weitere finstere Pläne aus. Mit List, Tücke und ihrer widernatürlichen Magie ist es ihnen sogar schon gelungen, einige unserer eigenen Frauen in ihr dunkles Reich zu locken!
Das muss ein Ende haben! Nicht übermorgen und auch nicht morgen, sondern heute!
Ich als neuer Hexenminister verspreche Ihnen, dass wir alles tun werden, um das Übel der Hexerei mit Stumpf und Stiel auszurotten! Weder werden wir es in unseren eigenen Reihen dulden noch werden wir tatenlos dabei zusehen, wie sich das Übel, das sich in Europa eingenistet hat, weiter festsetzt und seine gierigen Augen auf weitere Länder wirft, um sie mit seinen verdorbenen Gedanken zu infizieren. Und auch wenn dieses Pack weiter die natürliche Ordnung, nach der die Frau unter dem Manne zu stehen hat, zu zerstören versucht, bleiben wir einig und standhaft.
Es ist an uns, liebe Freunde, den Wahnsinn der Schreckensherrschaft der Hexen aufzuhalten, den afrikanischen Norden und Europa aus ihren schmutzigen Krallen zu befreien und unsere eigenen Frauen und Kinder mit aller Härte vor den Gefahren dieser Seuche zu beschützen!
Es lebe unser Kaiser Alexeii Cel Mare, es lebe die Allianz der Ostländer und es lebe das Große Moldawische Reich!
Es kommt mir vor wie ein Traum, dass ich dieses Versteck hier gefunden habe. Es soll ganz allein mir gehören! Niemand wird mich hier finden, ich muss nur schnell sein. Ich kann jeden Samstag herkommen, wenn ich mich beeile. Vater würde nie auf die Idee kommen, mir ausgerechnet am Überprüfungstag nachzuspionieren. Wozu auch? Keine Frau im ganzen Reich würde es wagen, nicht zur Magieüberprüfung zu erscheinen. Jeder weiß, was mit denen passiert, die unter Verdacht stehen, sich in eine Hexe verwandelt zu haben. Nein danke!
Und jetzt bin ich hier. Das ist Schicksal. Letzten Samstag war dem neuen Händler beim Einladen seiner Sachen auf unserem Hof dieses Buch hier herausgefallen. Ich hätte warten sollen, bis er weg ist, aber es war so schön, dass ich es sofort aufgehoben habe. Natürlich hat er mich dabei erwischt, so dumm wie ich mich angestellt habe. Was, wenn er mich bei Vater verpetzt hätte? Mir taten noch vom letzten Mal die Rippen weh. Aber er hat kein Wort gesagt. Hat mich nur angeschaut mit langweiligen blaugrünen Augen. Dann hat er plötzlich gezwinkert, in seine Jacke gegriffen und mir etwas zugeworfen. Einen Stift. Kaum dass der Händler vom Hof war, habe ich die Sachen schnell versteckt. Und heute dann finde ich diesen Platz hier, das kann doch kein Zufall sein! Jetzt kann ich jede Woche schreiben, was immer ich will – niemand wird es je zu lesen bekommen!
Aber was soll ich schreiben? Es passiert ja nichts. Oder das: Der Sohn vom alten Rogaciov hat mir gestern Blumen geschenkt. Ich habe ihn gefragt, was ich damit anfangen soll und ob er meint, ich hätte den ganzen Tag Zeit, zu Hause irgendwelche blöden Schneeglöckchen anzuschmachten, die es nach so milden Tagen gibt wie Sand am Meer. Er ist wie immer rot geworden und weggelaufen. So ein Schwächling! Ich habe ihm hinterhergerufen, wie er denn eines Tages einer Frau Kinder machen will, wenn er ihr nicht mal in die Augen schauen kann, oder ob er sie sich dafür dann einfach andersrum hinlegt. War das ein Spaß! Mutters Ohrfeige war saftig, aber sie kann auch härter, daher weiß ich, dass sie insgeheim meine Meinung teilt. Wäre Rogaciov nicht Vaters Freund, würde sie es sicher nicht dulden, dass mich sein Sohn andauernd besuchen kommt. Und das war so ziemlich das Aufregendste, was in letzter Zeit passiert ist. Das ist so armselig! Die einzigen Veränderungen sind die, wenn Vater wieder einmal »der Politik wegen« in die Hauptstadt reist. Nächste Woche ist es wieder so weit. Dann muss ich Mutter wieder Vaters Anweisungen vorlesen und mir ihr Genöle anhören, wie gut ich es doch habe, dass ich immerhin bis ich zwölf war zur Schule gehen durfte. Ich frage mich, warum Vater immer alles aufschreibt. Er wird ja sowieso wieder Onkel Vadim sagen, dass er jeden Tag nach uns schauen soll. Ob Vater eigentlich weiß, wie gründlich Onkel Vadim dann immer nach Mutter schaut? Dabei ist Tante Zinovia ja auch andauernd schwanger. Die Arme. Vier Blagen hat sie schon und kaum hat sie eins unter Schmerzen zur Welt gebracht, schiebt ihr Onkel Vadim das nächste hinterher. Dabei kann jeder Idiot sehen, dass es mit ihrer Gesundheit langsam bergab geht. So will ich auf keinen Fall enden!
Werde ich aber: Nicht mehr lange und ich werde 16 und Vater wird mich verheiraten. Und selbst wenn mein Mann wie durch ein Wunder nicht alt oder fett oder hässlich oder grausam oder dumm oder alles zusammen ist, wird er schon am Tag unserer Hochzeit versuchen, ein Balg in mich reinzumachen. Immer und immer wieder, bis ich von all den Schwangerschaften und Geburten verbraucht und ausgeleiert bin. Außer natürlich ich habe Glück und bekomme so wie Mutter nur zwei Kinder bei sechs oder sieben Schwangerschaften.
Halt, zurück: Das Leben meiner Mutter als Glück zu bezeichnen … Mir wird schlecht. Lieber bringe ich mich eines Tages um, als so zu enden. Nur Arbeit, Vorwürfe und Schläge, wann immer es Vater in den Sinn kommt. Mutter sagt immer, vor meiner Geburt war alles besser. Da hatte sie Vater immerhin schon einen Sohn geschenkt, und es gab noch Hoffnung auf einen zweiten. Aber bei meiner Geburt ist dann etwas in ihr kaputtgegangen, und das war es dann.
Manchmal denke ich darüber nach, dass die Zeit in Mutters Bauch bestimmt die beste meines Lebens war. Weil ich die Welt da noch nicht gekannt habe und vor allem, weil mich meine Eltern da noch nicht kannten. Es muss ja eine Zeit gegeben haben, in der sie beide sich über mich gefreut haben, weil sie dachten, dass ich vielleicht ein Junge werde. Es muss also eine Zeit gegeben haben, in der sie mich geliebt haben.
Ein Mann schreit. Dann nur noch Wimmern. Dazwischen laute, aggressive Stimmen, die dem Ton nach Fragen stellen. Fragen von denen ich weiß, dass der Mann sie ebenso wenig verstehen kann wie ich.
Sie wechseln in seine Sprache, aber die Fragen bleiben unverständlich: Der Mann war sein Leben lang Förster, hat sich zusätzlich ein bisschen was mit seinem Geigenspiel dazuverdient. Er war zu keiner Zeit Staatsangestellter und erst recht nie Spion.
Sie glauben ihm nicht.
Der Mann schreit wieder.
Fast gegen meinen Willen gehe ich in Richtung des Zeltes, in dem sie ihn festhalten und befragen. Wieder ein Schrei, der abbricht und in ein Wimmern übergeht.
Als ich die Zeltplane zurückschlage und das Innere betrete, schaut der Mann zu mir auf. Er liegt auf dem Boden, doch als er mich erkennt, findet er die Kraft aufzustehen und seine Hände flehend nach mir auszustrecken.
»Hilf mir, Kolja!«, röchelt er und weint Tränen aus Blut.
Ich erwache von meinem eigenen Schrei.
»Mojserce, alles in Ordnung?«
Obwohl mein Herz rast und meine Nachtsachen klatschnass an mir kleben, muss ich lächeln. Meine Mutter mag eine Menge verloren haben, nicht aber ihren Kampfgeist: In jeder Hand ein Messer schaut sie sich misstrauisch in meinem Zimmer um, bereit, jede Einbrecherin und jede Gefahr für mich bis aufs Blut zu bekämpfen. Allein ihr Anblick lässt mein Herz wieder langsam zur Ruhe kommen; solange Mama in meiner Nähe ist, droht mir keine Gefahr. Helena Rinasdother von Smaleberg würde sich mit der Göttin höchstselbst anlegen, um mich zu beschützen.
»Es geht mir gut«, bringe ich schließlich hervor. »Es war nur ein Albtraum.«
Innerhalb eines Wimpernschlages lässt Mama ihre Messer verschwinden. Wüsste ich es nicht besser, ich würde sagen, da ist Magie im Spiel.
»Ging es wieder um deinen Vater?«
Mama kann in Menschen lesen wie keine Zweite. Wie oft schon habe ich mir gewünscht, sie wäre normaler. Doch was ist schon normal? Ich bin in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der die Frauen den Männern Untertan sind – hier im Goldenen Hexenreich undenkbar! Ich war der Stolz meines Vaters, der Stammhalter, sollte eines Tages den von ihm verschmähten Platz in Opas Geschäft und überhaupt in der Welt einnehmen. Es war mir damals nicht klar, aber ich wollte hoch hinaus. Hier bin ich weniger als nichts. Ein Junge nur, schwach geboren und von der Göttin dazu verdammt, ohne Magie durchs Leben zu gehen.
»Kolja?«
Ich nicke.
Sehe den Kummer in Mamas Augen, aber auch ihren Stolz, dass ich ihr nichts vormache. Wir haben keine Geheimnisse voreinander. Das wird sich bald ändern.
Ich atme tief durch. Ich weiß, dass es mir nichts nützen wird zu warten. Dieser Zeitpunkt ist so gut wie jeder andere, es noch länger aufzuschieben würde es mir nur noch schwerer machen. Was ich in Erwägung ziehe, ist so gefährlich wie unvernünftig. Ich bin mir des Wahnsinns meines Vorhabens durchaus bewusst – und das meine ich ernst, eine Helena Rinasdother zieht keinen Vollidioten heran – und dass meine Mutter, wenn ich sie nicht von meinem Plan überzeugen kann, nicht zögern wird, mir den Hintern zu versohlen, obwohl ich schon fast 15 bin und wie sie es auch in zwanzig, dreißig oder sechzig Jahren noch ohne mit der Wimper zu zucken tun würde.
»Mama, ich muss mit dir reden.«
Falls meine Mutter überrascht ist, dass ich mitten in der Nacht ein Gespräch mit ihr führen will, lässt sie es sich nicht anmerken. Sie zuckt nur mit den Schultern und setzt sich dann zu mir aufs Bett. Behutsam streicht sie mir eine schweißnasse Strähne aus dem Gesicht.
»Du solltest dir erst etwas Trockenes anziehen, Kolja«, sagt sie und runzelt die Stirn. »Ich möchte nicht, dass du krank wirst, jetzt da Frau Dr. Novaczek Großmutter geworden ist.«
Sie hebt ihre Hände und macht eine bittende Geste zur Göttin.
Gute Heilmagie ist selten und die Goldene Frau, die oberste und mächtigste Hexe des Goldenen Reiches, hat unserem Dorf noch keine neue Ärztin zugewiesen. Zweifellos ihre ganz spezielle Art von Rache an meiner Mutter. Dass auch andere darunter leiden müssen, schert die Goldene nicht, aber wann hätte es das auch je getan?
»Selbst ich kann eine einfache Erkältung heilen«, grummele ich dennoch. Im Gegensatz zu Mama bin ich in einem Land ohne Magie aufgewachsen und was ihr absurd erscheint, ist für mich noch immer normal. Ich schließe kurz die Augen und überlege, wie sich die Aussagen des großmoldawischen Merkverses auch auf Deutsch reimen lassen: »Jungsüß, Kamille, Sonnenhut / tuen bei Erkältung gut. / Kratzt der Hals, benutze scheu / dicken Saft vom Wildefeu.«
Doch so einfach lässt mich meine Mutter nicht davonkommen. Sorge steht in ihren müden Augen. »Kräuter, von mir aus, aber die können keine Magie ersetzen.«
»Bist du sicher? Immerhin leben im Großen Moldawischen Reich tausende Menschen nach wie vor ohne Magie. Ebenso in China, im Türkisch –«
»Ja«, fällt mir Mama ins Wort, »weil die Männer sich erdreisten, sich über die Schöpfung und den Willen der Göttin zu stellen und es ihren Mädchen verbieten, ihre Magie erwecken zu lassen.«
Ihr Zorn ist greifbar. Bevor sie sich noch mehr aufregt, fahre ich schnell fort: »Anis, Holunder, Thymian / nehme jede, wie sie kann / außerdem den Hals macht frei / ein schöner Sud aus dem Salbei.«
Ich habe es geschafft: Mama lacht.
»Der Rhythmus ist grauselig, aber immerhin haben sie euch Jungs da drüben auch etwas Sinnvolles beigebracht.« Sie runzelt die Stirn. »Vielleicht wäre es gar nicht mal verkehrt, das auch hier zu machen. Eine Schule für Jungen«, sie schüttelt den Kopf und lacht. »Das klingt irgendwie absurd.«
»Tun das neue Ideen nicht immer?« Ich grinse. »Außerdem bin ich doch sozusagen schon bei dir zur Schule gegangen. Wenn du mal überlegst, was du mir alles beigebracht hast?«
»Dir beigebracht?«
»Kämpfen, mit und ohne Waffe, Wundversorgung, Geschichte, Politik und wie es in der Hauptstadt zugeht, jagen, zerlegen, kochen …«
Mama verzieht das Gesicht. »Jetzt mach mir keinen Appetit! Und sieh endlich zu, dass du trockene Sachen anbekommst. Und dann wird geschlafen, wir können auch noch morgen weiterreden. Nein, keine Widerrede, du brauchst deinen Schlaf!«
Sie schaut aus dem Fenster. »Kein Wunder, dass du Albträume hast: Die Mondin ist heute Nacht voll – in einer solchen Nacht schenkt die Göttin uns Träume, die uns Klarheit bringen sollen, heißt es.«
»Na siehst du«, grinse ich, »jetzt hast du mir schon wieder etwas beigebracht!«
Mit einem Schnauben steht Mama auf und geht zur Tür. »Pass bloß auf, du kleiner Besserwisser! Sonst mache ich dir heute Abend mal einen Tee, und zwar einen aus Melisse, Karinakraut und Lavendel!«
Ich tue so, als würde ich erschaudern.
Mama lächelt, setzt sich wieder und nimmt mich in den Arm. Ich bin der Einzige, dem gegenüber sie sich solche Zärtlichkeiten erlaubt. Aber auch nicht oft, daher sind mir solche Momente besonders kostbar. Sie riecht nach Bettwärme und Geborgenheit. Mama drückt mich einen Augenblick lang an sich, dann steht sie auf. »Ich hole dir noch schnell frisches Bettzeug. Soll ich dir dann helfen oder …?«
»Ich schaffe das schon allein«, sage ich hastig.
Mama nickt und geht dann, ohne ein weiteres Wort über meine eingenässte Decke zu verlieren. Dafür liebe ich sie. Und morgen werde ich sie fragen, ob sie während der Folter meines Vaters etwas Nützliches erfahren hat.
Keine kann Mama etwas vormachen. Sie schaut eine an und weiß sofort, wenn etwas nicht stimmt. Auch jetzt braucht sie mich nur kurz zu mustern, um dann mit einem schweren Seufzen in ihren Lieblingssessel zu sinken. Sie kann unmöglich wissen, was ich vorhabe, und dennoch weiß sie auf eine instinktive Art und Weise, dass ihr nicht gefallen wird, was ich zu sagen habe.
»Also, was gibt es?« Sie hebt die Augenbrauen. »Was ist so wichtig, dass du es gestern mitten in der Nacht mit mir besprechen wolltest, Mojserce?«
Die Härte, die in ihrer Stimme mitschwingt, versetzt mir einen Stich. Ich weiß, dass sie mit etwas Schlimmem rechnet. Mama rechnet immer mit etwas Schlimmem. Ich verstehe das vollkommen, jedoch macht mir das die Sache dummerweise nicht einfacher. Ebenso wenig, dass sie mich mit »Mojserce«, was in meiner Heimatsprache »mein Herz« bedeutet, anspricht.
»Ich heiße Kolja«, sage ich und starre an die Wand, an der Mama ein paar Bilder aufgehängt hat.
Ihr eigenes Zimmer ist recht kahl, aber hier in der Küche zieren ein paar abstrakte Bilder die Wände. Eine Künstlerin namens Vera von Ork hat sie gemalt. Mein Blick schweift zu Mutters Lieblingsbild, der »Nummer 383«, einem wilden Durcheinander aus schwarz, rot, weiß und ganz viel gelb; obschon es keinen Titel trägt – und ich beim besten Willen nichts darin erkennen kann – nennt Mama es »die Göttin«. Sie lächelt jedes Mal, wenn sie es anschaut.
Sie lächelt auch jetzt. »Ganz wie du willst, Kolja.«
Verflixt.
Ich knabbere an meiner Unterlippe. Meine Hände unter dem Tisch fühlen sich feucht an, als ich sie aneinanderreibe, meine Füße scheinen wie von einer fremden Macht gesteuert zu sein, ständig rutschen sie hin und her.
»Möchtest du etwas trinken? Einen Tee?«
»Von mir aus. Aber nicht Kamille.«
Mama geht zum Herd und öffnet so beiläufig die Hand, dass es mir weh tut. Ein winziges Stutzen, dann streckt sie den Arm aus und nimmt sich den Kessel.
Wer Helena von Smaleberg nicht kennt, hätte diesen Hauch eines Innehaltens sicher übersehen. Für Mamas Mutter Rina und deren Mutter Mamu sind dies die Momente, in denen sie stets einen gequälten Blick wechseln, während Mama versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Jede Frau kommt eines Tages in die Situation, über keine Magie mehr zu verfügen. Jedoch tritt die Magielosigkeit in der Regel erst mit den Wechseljahren ein, und die Frau konnte sich darauf vorbereiten. Mama dagegen ist gerade einmal 31 Jahre alt und sollte noch keine magielose Großmutter sein, die jede noch so alltägliche Bewegung ohne Magie ausüben muss. Sie sollte auch nicht hier sein, sondern mittlerweile Oberste der Ostgarde. Ich sollte nicht hier sein. Aber ich bin es, weil eine Frau namens Ada beschlossen hat, mich im Stich zu lassen.
»Also, Kolja, was gibt’s?« Mama stellt zwei dampfende Tassen Tee auf den Tisch und nimmt wieder mir gegenüber Platz. Aus Erfahrung weiß ich, dass es noch eine ganze Weile dauern wird, bis das Getränk ausreichend kühl ist. Mama weiß das auch und wir wissen beide, dass sie sich jedes Mal darüber ärgert, nichtmagische Zubereitungen noch immer nicht im Griff zu haben. Fünfzehn Jahre lang hat sie sich bei fast jedem Handgriff ihrer Grundmagie bedient. Die gnadenlose Strafe der Goldenen Frau trifft Mama jeden Tag aufs Neue, malträtiert sie wie unzählige winzige Nadelstiche. Ich hasse die Goldene dafür.
»Kolja?« Ich stelle mich ihrem fragenden Blick. »Wenn du etwas zu sagen hast, sag es. Mach es nicht noch schlimmer, indem du ausgerechnet jetzt nochmal darüber nachdenkst. Das hast du schon zur Genüge getan, sonst wärst du jetzt nicht hier. Spuck’s aus und bring es hinter dich!«
Mein Mund verzieht sich von ganz allein zu einem Lächeln. So ist Mama, genau so – und ich bin ihr Sohn!
Ich hebe den Kopf und schaue ihr fest in die Augen. »Mama, ich werde von hier fortgehen.«
Sie nickt, als hätte sich ihr ein Verdacht bestätigt. Was vermutlich auch der Fall ist. Keine bringt es zur Zweiten der Ostgarde, ohne ein verdammt gutes Gespür für Menschen zu entwickeln.
»Das ist aber noch nicht alles.«
Fasziniert verfolge ich den Tanz, den der Dampf auf meinem Tee vollführt. »Woher weißt du das?«
»Du siehst keinen Millimeter erleichterter aus als vorhin.«
»Ach so.« Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Wusste ja gar nicht, dass die Leute hier sowas in Millimetern messen!«
Aber Mama lässt sich nicht ablenken. »Du hast etwas vor, das mir nicht gefallen wird, Mojserce. Ich weiß es, und du weißt es auch.«
Ich zucke mit den Schultern. Die Männer im Dorf sagen, das hätte ich mir von Mama abgeschaut.
»Also gut.« Dieses Mal traue ich mich nicht, ihr in die Augen zu schauen. »Ich will von hier weggehen und meinen Vater suchen.«
Mama nickt. »Ich wusste, der Tag würde kommen. Hätte nur nicht gedacht, dass es so bald sein würde.«
»Ich bin fast fünfzehn.«
»Du bist vierzehn, und du siehst jünger aus. Als ich dich damals traf, dachte ich, du wärst erst zehn.«
»Ach, Mama!« Ich spüre, wie mein Blick weich wird und meine Entschlossenheit schwindet. Ich liebe Mama so sehr, ich würde alles für sie tun!
»Kolja …« Zu meiner Überraschung dreht Mama den Kopf und schaut zur Seite. »Du weißt, dass ich alles in meiner Macht stehende getan habe, um deinen Vater ausfindig zu machen. Mutter und Mamu auch, aber …«
»Ich weiß.« Es ist nun einmal so, dass selbst der Name der einst so mächtigen Rina Linasdother keine Türen mehr öffnet; der Hass der Goldenen Frau auf Mama hat sie alle verschlossen. Niemals wird die Goldene verzeihen, dass meine Mutter versucht hat, ihre Intrige aufzudecken. Die oberste Hexe des Landes hatte vor, zumindest in einer Hinsicht unschuldige Aufständische zum angeblichen Wohl des Reiches zu opfern. Nicht nur hat Helena Rinasdother die Verräter befreit und so ihre Pläne durchkreuzt, es ist der Goldenen Garde auch bis heute nicht gelungen, die Überlebenden um Adrian Samo wieder dingfest zu machen. Dieser Umstand sitzt wie ein garstiger Dorn im Gemüt der Goldenen Frau und stachelt ihre Bösartigkeit meiner Mutter gegenüber immer wieder aufs Neue an. Es muss ihr ein geradezu perfides Vergnügen bereiten, jeden Versuch meiner Familie, etwas in dieser Angelegenheit herauszufinden, zu vereiteln.
»Ich mache euch keinen Vorwurf, wirklich nicht«, beeile ich mich daher zu sagen. »Aber ich muss wissen, was mit Papa geschehen ist. Vielleicht …«
»Vielleicht ist er noch am Leben. Ja, das könnte sein.« Mama seufzt, dann sagt sie leise: »Während seiner … Befragung hat er immer nur wiederholt, dass er aus einem kleinen Dorf im Großen Moldawischen Reich kommt und sich hier mit Ada und dir ein neues Leben aufbauen wollte. Zumindest ist es das, was Nihan mir übersetzt hat. Wie du weißt, hatte ich zu dem Zeitpunkt keine Magie und konnte deinen Vater nicht verstehen. Ich gab Anordnung, ihn zum weiteren Verhör nach Annaburg zu bringen. Franzi hat deinen Vater ohne Frage hart angefasst, aber nicht verletzt. Du solltest also bei deiner Suche nach ihm in der Hauptstadt beginnen. Ebenso, was Ada betrifft. Wen von beiden möchtest du überhaupt zuerst suchen?«
Ich zögere kurz. Bislang habe ich nicht darüber nachgedacht, ebenfalls meine Gebärerin aufzuspüren, aber ja, Mama hat natürlich recht: In meinem Kopf, in meiner Erinnerung, in meinem Schmerz kann ich meinen Vater nicht sehen, ohne auch an sie zu denken, sie, die uns all das angetan hat. Wir hatten ihr vertraut, sie hatte uns ein besseres Leben im Goldenen Reich versprochen. Doch der einzige Grund, weshalb Ada mit Papa und mir hierher fliehen wollte, war, dass sie ihre Magie erwecken lassen wollte. Während Ada damals von den Hexenfrauen des Goldenen Reiches willkommen geheißen wurde, hatten sie Papa wie einen feindlichen Spion behandelt. Es war natürlich Pech, dass Mama ausgerechnet an diesem Tag in eine Falle geriet und weggeschickt wurde, sodass sie nicht mehr über Papas Verbleib erfahren konnte.
»Also Ada«, sagt Mama und verzieht das Gesicht. »Soweit wir wissen, ist es gut möglich, dass sie inzwischen zu einer sehr einflussreichen Frau aufgestiegen ist.« Daran, dass im Goldenen Reich der Begriff »Frau« gleichbedeutend mit »Hexe« ist, habe ich mich inzwischen gewöhnt.
»Umso besser. Sie wird mir helfen, Papa zu finden.«
Mutter lacht bitter. »Mächtige Frauen haben viele Vorzüge, aber Hilfsbereitschaft gehört nicht dazu!«
Meine Stimme ist ruhig, aber ich spüre eine Kälte in mir, hart und fest wie Eis, die keinen Raum für Zweifel lässt. »Dann werde ich sie dazu zwingen.«
»Hm.« Mama lehnt sich zurück und mustert mich. Es ist unser altes Ritual, wenn ich sie um etwas bitte: Wir schauen einander tief in die Augen, erneuern unsere Verbundenheit. Plötzlich frage ich mich, was ich für ein Idiot gewesen bin, mich vor dem Gespräch mit ihr zu fürchten. Sie ist meine Mama, die alles für mich gegeben hat, die alles außer mir verloren und dennoch weitergemacht hat. Meine Mama, der ich als einziger Grund weiterzuleben ausgereicht habe. Ihre Liebe für mich ist grenzenlos, und Göttin, ebenso ist es meine für sie. Damals, als sie wegen einer Intrige ihrer Konkurrentin vor ihren eigenen Gardeschwestern fliehen und mich dabei durch Zufall mitnehmen musste, hat sie mich genauso wenig im Stich gelassen wie später. Stattdessen hat sie mich adoptiert und mir ein Zuhause gegeben.
Mama greift nach meinen Händen. »Ich verstehe deinen Wunsch sehr gut, keine Frage. Nur sag mir, wie du das anstellen willst, Kolja? Selbst wenn du eine Ahnung hast, wo sich dein Vater und Ada aufhalten könnten – wie willst du an sie herankommen? Du bist schließlich …«
»Nur ein Junge«, ergänze ich. »Ich weiß.«
»Du bist mein Junge!« Mamas Augen sind hart. »Und so wie du körperlich jünger aussiehst, bist du geistig deinem Alter weit voraus. Du besitzt die Bildung, die Intelligenz und die Stärke, für dich allein zu sorgen.« Mamas Stolz ist unüberhörbar, dann wird ihre Stimme sanft. »Du bist mein Sohn, Mojserce. Aber du hast nun einmal nicht die Möglichkeiten, die eine Frau hat.«
»Was soll ich denn tun, hm? Warten, bis meine Cousinen zu Frauen herangewachsen sind und mir helfen können?« Ich schüttele den Kopf. »Selym ist jetzt drei. Erwartest du allen Ernstes von mir, dass ich vielleicht noch neun oder zehn Jahre warte? Du weißt selbst ganz genau, dass, sollte mein Vater noch am Leben sein, die Chancen mit jedem Tag schwinden.«
Mama nickt langsam. »Du hast recht, Kolja, du kannst nicht so lange warten. Außerdem glaube ich nicht, dass mein Bruder damit einverstanden wäre, seine Töchter auf so eine gefährliche Mission zu schicken. Sie sind alles, was ihm von Jessica geblieben ist. Aber warte noch zwei Jahre, wenigstens eins. Noch hast du den weichen Körper eines Kindes, du warst ja noch nicht einmal im Stimmbruch. Dein Geist ist der eines Kämpfers, aber dein Körper ist noch nicht so weit. Eines Tages wirst du auch körperlich zum Mann werden – aber jetzt? Göttin, die richtigen Klamotten und das Haar zusammengebunden, und ich könnte dich glatt für eine junge Frau halten!«
Jetzt ist er da, der Moment, in dem ich mein gesamtes Leben hinter mir lassen werde. Seltsamerweise verspüre ich weder Aufregung noch Furcht. Ich schaue Mama ruhig in die Augen. Ich spüre, wie sie meine Hände fester drückt.
»Nein.« Sie schüttelt den Kopf. »Das kann doch nicht dein Ernst sein!«
»Doch, Mama. Das ist genau das, was ich vorhabe: Ich werde mich als Hexe ausgeben.«
»Bist du verrückt geworden?« Mama lässt meine Hände los, springt auf und beginnt, in der Küche hin und her zu gehen. »Ein Junge, der sich als Frau verkleidet, hast du sie nicht mehr alle? Wie soll das gehen?«
Sie hält kurz inne, um mich zu mustern. »Die Äußerlichkeiten sind Schnickschnack, das wäre ja vielleicht sogar noch machbar. Aber der Rest?« Kurz scheint es, als hätte sich Mama beruhigt, aber da ich sie kenne, weiß ich, dass das noch nicht alles gewesen ist. Sie lacht ungläubig. »Hast du eigentlich schon mal was von Magie gehört? Jener Fähigkeit, über die nach dem Willen der Göttin nur Frauen verfügen? Oder willst du die auch vortäuschen?«
Mama schaut mich herausfordernd an, doch ich begehe nicht den Fehler, ihren Vortrag zu unterbrechen.
Sie schüttelt den Kopf, geht noch ein paar Mal auf und ab und bleibt dann an den Herd gelehnt stehen. »Oder willst du dich als Fräulein tarnen, ist es das? Wenn das so ist, könnte das sogar klappen, Kolja. Aber das würde dir auch nicht viel weiterhelfen. Nie und nimmer wirst du es als eine, die ohne Magie geboren wurde, weit bringen. Du weißt doch wie die sind, vor allem in den Städten. Alles was da zählt, ist die Macht der Magie, die du hast. Ob du da als Junge Nachforschungen anstellen willst oder als Fräulein, das ist gehopst wie gesprungen, nur mit einem einzigen Unterschied: Wenn sie dich dabei erwischen, wie du dich als weiblicher Mensch ausgibst, werden sie dich töten.«
»Ich werde mich nicht als Fräulein, sondern als Frau verkleiden«, sage ich sanft. »Und du wirst mir dabei helfen.«
»Ich?« Mama schnaubt. »Wie sollte ausgerechnet ich dir dabei helfen können? Ich weiß ja nicht, ob du’s vergessen hast, aber die Goldene Frau hat mir meine Magie genommen.«
Bei diesen Worten legt Mama eine Hand auf ihren Unterleib, eine unbewusste Geste, die ich an ihr schon öfter beobachtet habe und die mir jedes Mal einen Dolch ins Herz jagt. Schnell rede ich weiter.
»Meinst du nicht, dass ich an alles gedacht habe?«
»Ich denke, dass du den Verstand verloren hast«, schimpft Mama. »Ein Junge, der sich als Frau ausgibt, das habe ich ja noch nie gehört. Eine Frau mag sich als junger Mann ausgeben, ein Fräulein auch, ist ja nicht viel dabei, aber andersherum? Wie zu den Sieben Finsterhexen willst du das anstellen?«
Jetzt, da ich den ersten Schritt gemacht und Mama von meinem Vorhaben erzählt habe, spüre ich die Aufregung wie winzige Ameisen durch meine Adern krabbeln. »Es geht! Nur weil es noch keine gemacht hat, bedeutet das nicht, dass es unmöglich ist.« Ich grinse.
Mama schnappt nach Luft und will etwas sagen, aber ich fahre ihr schnell dazwischen. »Du hast doch selbst gesagt, dass meine Stimme noch nicht tief geworden ist. Das wird sich bald ändern. Und wenn ich erst mal im Stimmbruch bin, werde ich vielleicht auch einen riesigen Mannsstopfen bekommen, und den werde ich unmöglich verstecken können. Es muss also jetzt sein!«
Die Vorstellung, wie ich magerer Bursche mit einem übergroßen Mannsstopfen aussehen würde, entlockt uns beiden ein Lächeln. Dann werde ich wieder ernst.
»Mama«, ich gehe zu ihr hin und strecke meine Hand nach ihr aus. Ihre Miene wird weich, als sie sie nimmt. »Ich habe an alles gedacht, ehrlich. Ich werde mir so ein Oberteilding für untendrunter nähen, das ich mit zehn Kilo Wolle vollstopfe.«
»Besser nur mit einem Kilo, du bist zu zierlich für Riesenhupen«, kommentiert Mama trocken. »Außerdem ist Watte das völlig falsche Material, viel zu leicht und viel zu weich.«
In diesem Moment weiß ich, dass ich sie auf meiner Seite habe.
»Alles klar, wir können ja verschiedene Sachen ausprobieren«, sage ich eifrig. »Außerdem brauche ich Unterhosen aus steifem Leder, um …«
»… gewisse Formen zu verbergen, schon klar.« Mama seufzt. »Das alles ist ja gut und schön, Kolja, und ich denke auch, dass wir das äußerlich hinbekommen könnten. Vor vielen Jahren habe ich mal eine Aufführung im Fleet Theater in Hamburg gesehen. Ohne die gelben Stirnbänder, die als Frau verkleidete Männer laut dem Goldenen Gesetz tragen müssen, hätte ich so manchen Schauspieler dem weiblichen Geschlecht zugeordnet, machbar ist das also. Vor allem, solange du noch so ein junges, glattes Gesicht hast. Ich kann dir beibringen, wie eine Frau zu gehen: viel schwungvoller und energischer! Dass du im Großen Moldawischen Reich aufgewachsen bist, könnte dir zum Vorteil gereichen: Tief in deinem Inneren hältst du immer noch die Männer für das herrschende Geschlecht und bist daher nicht so zurückhaltend und sanft wie es sich eigentlich für einen Mann gehört. Ich kann dich lehren, dich zu verstellen, ein Lügennetz zu entwerfen, ohne dich darin zu verfangen. Ich kann dir beibringen, einer Folter zu widerstehen oder selbst eine Befragung durchzuführen. Doch du kannst dich ohne Magie nicht dauerhaft als Frau ausgeben, das ist absolut unmöglich! Du kannst dich verkleiden und ich werde dir dabei helfen. Wenn du bereit bist, dieses Risiko einzugehen, um deinen Vater zu finden, ist es das Mindeste, dass ich alles tun werde, um dieses Risiko so klein wie möglich zu halten. Aber nie und nimmer wirst du dich über einen längeren Zeitraum als Frau ausgeben können. Denn was dir kein Mensch auf der Göttin Erdboden geben kann, ist Magie.«
Ich bin ganz ruhig. »Oh doch: Du kannst es.«
Ich wünschte, es würde endlich etwas passieren, worüber ich schreiben kann. Woraus ich eine Geschichte machen kann. Sonst muss ich mir einfach etwas ausdenken.
Ich hatte mal eine Lehrerin, die ich sehr gern hatte, Frau Viira. Sie kam nicht aus dem Großen Moldawischen Reich, sondern aus irgendeinem fremden Land. Sie hatte ein Buch aus ihrer Heimat mitgebracht, und auf dem Buchdeckel war eine wunderschöne Prinzessin mit langen goldenen Haaren abgebildet, ihr kostbares Kleid war von demselben Grün wie ihre Augen. Weil sie lächelte, sah man ihre weißen Zähne. Sie trug goldenen Schmuck und sah unfassbar glücklich aus. Hinter ihr standen ihre Eltern, König und Königin eines reichen Landes. Beide hatten jeweils eine Hand auf die Schulter der Prinzessin gelegt und schauten lächelnd auf ihre Tochter herunter.
Frau Viira hütete dieses Buch wie ihren Augapfel, und keine von uns durfte darin lesen. Die anderen nahmen das einfach so hin, aber ich fragte mich, warum sie das Buch dann überhaupt mit in die Schule gebracht hatte. Aus Angst, dass ihr Mann es ihr sonst wegnehmen würde? Bis zu dem Tag hatte ich lesen immer langweilig gefunden, aber jetzt wollte ich unbedingt wissen, was in dem geheimnisvollen Buch stand.
Ich wurde die beste Leserin der Klasse und nervte Frau Viira so lange, bis sie nachgab und mir erlaubte, jeden Tag ein wenig unter ihrer Aufsicht in dem Buch zu lesen.
Die Geschichte begann mit der Geburt der Prinzessin. Niemand schämte sich dafür, dass sie nur ein Mädchen war, im Gegenteil, sie war für das Königreich besonders kostbar, weil alle Prinzen und Helden sie heiraten wollten und sich der König somit einen Verbündeten verschaffen konnte. Der Geburtstag der Prinzessin wurde sogar zum landesweiten Feiertag erklärt.
Kein Wunder, dass meine Lehrerin dieses Buch in der Schule versteckt hielt! Allein dass es Menschen gibt, die ein Mädchen als so kostbar ansehen, verschlug mir die Sprache. Nicht, dass ich da vorher groß drüber nachgedacht hätte, aber irgendwie war ich immer davon ausgegangen, dass es überall auf der Welt so wäre wie bei uns. Außer natürlich im finsteren Hexenreich jenseits der Mauer.
Was habe ich dieses Buch geliebt! Jeden Tag sehnte ich die letzte Schulstunde herbei, in der ich, sofern ich mich benommen und alle Aufgaben gewissenhaft erledigt hatte, weiterlesen durfte. Im Nachhinein ist die Geschichte der schönen Prinzessin schnell erzählt, aber damals kam es mir vor wie eine Ewigkeit. Die Prinzessin wuchs heran und lernte nach und nach all die Dinge, die von einer Prinzessin erwartet wurden. Dann kam der Tag, an dem ein böser Zauberer die Königin tötete und das Königreich mit einem furchtbaren Fluch belegte: Keine Frucht und keine Pflanze, keine Beere und keine Wurzel, kein Fleisch und kein Getreide, kein Vogel und kein Fisch im gesamten Königreich sollte fortan die Menschen sättigen können. Der böse Zauberer hatte es natürlich auf den Thron abgesehen, dazu forderte er die Hand der Königstochter. Der König weigerte sich, denn er wollte sein Volk nicht einem grausamen Herrscher überlassen. Genauso wenig aber wollte er es hungern lassen. Also verkündete er, dass derjenige seine Tochter heiraten und das Land erben würde, der den bösen Fluch brechen und den Zauberer besiegen würde.
Angetan von der Schönheit und Tugendhaftigkeit der Prinzessin wagten sich viele Helden in den Kampf, aber alle scheiterten. Dann trat ein Krieger aus einem fernen Land vor den König und seine Tochter. Er sah die Prinzessin, und als er die Farbe ihrer Zähne mit Milch und die ihrer Haare mit Honig verglich, kam ihm der rettende Gedanke: Der böse Zauberer hatte nämlich vergessen, Milch und Honig ebenfalls zu verfluchen. Mithilfe der Kuhbauern, Ziegenhirten und Imker gelang es dem Krieger nicht nur die Menschen vor dem Verhungern zu retten, sondern auch die Soldaten des Königs so weit zu stärken, dass sie mit ihm an der Spitze den bösen Zauberer schließlich in einer großen Schlacht besiegen konnten.
Der Krieger bekam die Prinzessin zur Frau, wurde fortan »der Honigprinz« genannt und sollte nach dem Tod des Königs über das Land herrschen.
Und die Königstochter? Die wurde zur »Milchprinzessin« und hatte nach der Hochzeit nichts weiter zu tun, als Kinder zu bekommen, um die Thronfolge zu sichern. Das tat sie dann auch und das Buch endete damit, dass sie einen Sohn zur Welt brachte.
Am Ende war also auch die hübsche Prinzessin nichts weiter als eine ganz gewöhnliche Frau, die ihrem Gatten gefälligst ein Kind nach dem anderen zu gebären hatte, am besten natürlich Söhne. Dabei hätte sie ihr Leben im Gegensatz zu mir doch so einfach selbst in die Hand nehmen können! Sie hätte weglaufen können. Ihren Schmuck verkaufen und sich woanders ein Leben aufbauen. Oder sie hätte sich selbst etwas einfallen lassen können, um gegen den Zauberer zu kämpfen. All die Jahre, in denen sie Unterricht bekommen hatte – wozu? Wenn ihr dann doch nichts einfiel! Sie hätte sich auch zum Schein dem Zauberer ausliefern und ihn dann in der Hochzeitsnacht umbringen können, so hätte ich es gemacht. Aber nein. Sie saß einfach nur da mit ihrer Schönheit und in ihren kostbaren Kleidern, als wäre sie eine Puppe, sie saß da und lächelte und wartete, bis der König einen Mann fand, der das Königreich rettete und sie bis an ihr Lebensende schwängern würde. Sie würde ein Kind nach dem anderen bekommen, bis ihr alle Zähne und Haare herausgefallen wären und sie alt und verschrumpelt auf den Tod warten würde, wenn sie nicht schon vorher im Kindbett gestorben wäre.
Ich habe das Buch zerrissen. Meine Lehrerin war entsetzt. Es war ihr letztes Erinnerungsstück an ihre Heimat gewesen. Sie hatte Tränen in den Augen, als sie die zerrissenen Seiten an sich drückte, aber schließlich lächelte sie und verzieh mir. Von dem Tag an habe ich sie verachtet, denn sie war genauso wie die Prinzessin in ihrem Buch, sie lächelte und tat nichts.