Yngra Wieland
Nachtschwarz bis Blütenweiß
Rosen, Rilke und der Krieg
Roman
Wieland, Yngra : Nachtschwarz bis Blütenweiß. Rosen, Rilke und der Krieg. Hamburg, acabus Verlag 2019
Originalausgabe
ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-585-1
PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-584-4
Print: ISBN 978-3-86282-583-7
Lektorat: Elena Kunz, acabus Verlag
Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag
Covermotiv: #220387796, Floral seamless pattern with watercolor roses © lesia_a, fotolia.com
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Für meine Mutter in Liebe
Der Schrei brach den Zauber der Frühsommernacht, verklang im maigrünen Duft der Linden im Garten. Ida presste ihre Hände auf die Ohren und verkroch sich tiefer im Sessel. Am liebsten wäre sie davongelaufen. Mit angehaltenem Atem beobachtete Ida, wie ihre weiße Katze Minou draußen durch das Gras schlich. Wieder schrie Alice qualvoll auf. So schreit ein Tier, wenn es weiß, dass es sterben muss, dachte Ida. Die Härchen auf ihren Armen richteten sich auf. Energisch schob sie die Gedanken an Tod und Sterben weg. Im Sommer würde sie siebzehn werden. In ihren Adern fühlte sie die Lebenslust kraftvoll und intensiv strömen. Sie wollte das Leben in vollen Zügen genießen, mit ihrem Motorrad, einer Herkules, über die Feldwege brausen, dabei Wind im Gesicht spüren, bis ihre Wangen brennen, tanzen, lachen und vor allen Dingen malen. Den Rausch genießen, wenn die Farben genau die Leuchtkraft entwickelten, die in ihrer Vorstellung längst existierte; wenn sie die Stimmung des Bildes fühlen konnte, als wäre sie ein Teil davon! Die Vorhänge vor den geöffneten Flügeltüren bauschten sich, als ihr Vater den Wintergarten betrat. Sein Gesicht war bleich, der Blick voll Schatten. Ida richtete sich auf.
Ist es da?, fragten ihre Augen. Ein stummes Kopfschütteln war die Antwort. Ihr Vater ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen, stützte die Ellbogen auf den Tisch und rieb sich mit den Händen das Gesicht. Sein weißes Hemd war zerknittert. Ida fand den Anblick beunruhigend, sie hatte ihren Vater nie anders als untadelig gekleidet gesehen, egal, ob er bei der Arbeit mit den Bienen war oder Apfelbäume beschnitt, oder ob er an seinem Schreibtisch saß und seinen Studien nachging.
»Ida, sei ein gutes Mädchen und hole mir ein Glas Wein.«
Sie stand zögernd auf. Die Qual des Vaters machte ihr Angst, sie fühlte sich mit einem Mal klein und hilflos. Sie trat hinter ihn, schlang die Arme um ihn und legte die Wange an seinen Rücken.
»Vater …« Sie zögerte, spürte, dass ihre Frage nicht hier her gehörte, trotzdem konnte sie sie nicht zurückhalten.
»Ist es immer so?«
Ihr Vater machte eine abwehrende Handbewegung. Sie löste sich von ihm, machte einen Schritt zurück.
»Der Wein, Ida …«
Sie wandte sich ab und lief in die Küche. Die Fliesen waren kalt unter ihren nackten Füßen. Sie stellte einen Fuß auf den anderen und rieb ihn heftig auf und ab, während sie ein Glas aus der Anrichte nahm und Wein eingoss. Als Ida die Diele betrat, stürzte ein weiterer Schrei aus dem oberen Stockwerk auf sie herunter, heftiger als alle davor. Das Herz krampfte sich zusammen, ihr Blick flog nach oben wie ein aufgescheuchter Vogel. Eine Tür ging auf und Ida vernahm dünnes Wimmern, gefolgt von gedämpften Stimmen. Ihre Mutter eilte die Treppe herunter. Wie besorgt sie aussieht, dachte Ida. Die Mutter bemerkte sie, ein angestrengtes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.
»Es ist ein Junge! Ida, wo ist dein Vater?«
Ida war derartig erleichtert, dass sich alle Anspannung mit einem Mal aus ihrem Körper zu lösen schien. Das Glas glitt ihr aus den Händen, zerschellte auf den Fliesen. Ihre Füße standen in einer Lache, der weißleinerne Stoff ihres Nachthemdes war mit roten Sprenkeln übersät. Wie Blut, dachte Ida, als sie an sich heruntersah. In den Scherben spiegelte sich das Licht des Kristalllüsters. Langsam, wie in Trance, streckte sie ihren Fuß aus, zögerte einen Augenblick. Ob es zu spät war, die Schmerzen der Schwester zu teilen? Sie holte tief Luft und drückte ihre Sohle entschlossen in den größten Splitter. Der Schmerz brannte sich durch ihren Körper, bis er als Keuchen heftig zwischen ihren Lippen hervorbrach.
»Ida, um Gottes Willen!«
Ihre Mutter, die auf der Treppe stehen geblieben war, rannte die letzten Stufen herunter und fasste sie am Arm, bemüht, nicht in das Desaster zu treten. Ida stand steif inmitten der Scherben, den verletzten Fuß hochgezogen wie ein Reiher. Blut tropfte von ihrer zerschnittenen Sohle herunter, mischte sich auf den schwarzweißen Fliesen mit Wein. Warme Ruhe breitete sich in ihr aus und sie versuchte, die Erinnerung an die unterschiedlichen Rottöne in ihrem Gedächtnis aufzubewahren.
»Ausgerechnet jetzt! Doktor Bentlin muss doch Alice versorgen!«
Ihre Mutter strich sich fahrig eine Haarsträhne aus dem Gesicht, rang die Hände.
»Geht es ihr gut?«
Ida schaute ihre Mutter prüfend an. Der Schmerz pochte gleichmäßig, ihr Fuß schien sich in dem Pulsieren aufzulösen. Ein Schatten glitt über das Gesicht der Mutter, begleitet von einer vagen Handbewegung.
»Sie hat sehr gelitten, das Kind ist groß, zu groß für sie. Aber es wird ihr bald besser gehen«, setzte sie beschwichtigend hinzu, als wolle sie durch die Schnelligkeit ihrer Antwort die Panik in Idas Blick vertreiben. Sie verschwand in der Küche, kehrte mit einem sauberen Geschirrtuch, einem Lumpen und einer Kehrschaufel zurück. Geschickt wickelte sie das Tuch locker um Idas Fuß, fasste sie unter und brachte sie ins Wohnzimmer zur Chaiselongue.
»Ich sage Doktor Bentlin Bescheid, damit er sich um deine Wunde kümmert, sobald er oben fertig ist.«
Mitten in der Bewegung hielt sie inne.
»Ach du lieber Himmel, dein Vater …« Sie ließ Ida auf das Sofa gleiten, drehte sich um und hastete in den Wintergarten, um ihrem Mann Paul die frohe Nachricht über die Geburt seines ersten Enkelsohnes zu überbringen.
Ida blieb im Halbdunkel zurück. Nachdenklich drehte sie an ihrem Zopf. Ihre Schwester hatte jetzt ein Kind. Ob Alice sie genauso lieben würde wie bisher? Es war schlimm genug, dass Alfred sie weggeheiratet hatte. Nun war zu allem Überfluss das Baby da und würde Alice für sich beanspruchen. Idas Brauen zogen sich zusammen und im gleichen Augenblick meinte sie innerlich die Stimme Frau von Hoheneggers zu hören:
»Fräulein Ida, eine glatte Stirn, wenn ich bitten darf, Dackelfalten schaden der Schönheit!«
Mechanisch fuhr sie sich über die Stirn, wischte Runzeln und Ermahnung weg. Morgen würde sie zurück ins Pensionat nach Konstanz fahren. Sie freute sich auf ihre Freundin Hanna, trotzdem – sie biss sich auf die Lippen und konnte nicht verhindern, dass Tränen in ihre Augen traten. Ida fühlte sich hin- und hergerissen. Einerseits wäre sie gerne daheim geblieben. Frau von Hohenegger drillte ihre Schützlinge mit unnachgiebiger Strenge, um Ida und ihre Gefährtinnen aus guten oder wenigstens wohlhabenden Häusern zu perfekten Ehefrauen zu machen. Idas Mutter war die Triebfeder gewesen, sie ins Pensionat zu schicken. Damals hatte Ida mit zornheißen Wangen ein Gespräch der Eltern belauscht.
»Ich setze meine Hoffnung darauf, dass sich Idas wilder Geist etwas beruhigt, wenn sie Zeit in Gesellschaft junger Damen aus gutem Hause verbringt und lernt, eine angenehme Atmosphäre für ihren zukünftigen Ehemann zu erschaffen.«
Ida verzog das Gesicht. Sie hatte wahrlich besseres zu tun, als sich um einen perfekten Haushalt zu kümmern und einem Mann die Pantoffeln nachzutragen. Außer dem Lernpensum, das die jungen Frauen auf das Abitur vorbereiten sollte, lernten sie für ein behagliches Heim zu sorgen, kochen und handarbeiten und wie man sich souverän in der Gesellschaft bewegte. Zuhause war sie frei, musste nicht übermäßig auf ihre Kleidung und ein makelloses Äußeres achten, solange keine Gäste kamen, in dem Fall kannte ihre Mutter allerdings kein Pardon. Ida konnte Stunden in einem farbverschmierten Kittel an ihrer Staffelei verbringen, versunken in eine andere Welt, die Welt der Farben und der Träume. Früher, bevor Alice zum Studium nach Hohenheim gegangen war, hatte die Schwester oft am Klavier gesessen, während Ida malte. Oder sie hatte Gedichte vorgelesen, Gedichte ihres gemeinsamen Lieblingsdichters Rainer Maria Rilke, manchmal ihre eigenen.
»Wie erfüllt ist dein Leben,
du herrliche Rose!
Jeder Tag, den du erblickst,
ist ein Geschenk für dich!
Der frische Tau,
der klare Morgen …«
»Das Geschenk« war eines von Idas Lieblingsgedichten ihrer Schwester. Doch damit war es vorbei und vielleicht war es besser, nicht hier zu sein, wenn sich ohnehin niemand um sie scherte, sondern das Kind die Hauptperson war. Ida stiegen erneut Tränen in die Augen, diesmal waren es Tränen des Zorns. Wäre Alice nicht studieren gegangen, hätte sie Alfred nicht getroffen, wäre alles geblieben wie es war. Hätte, wäre, würde! Sie setzte sich jäh auf und unterdrückte einen Schmerzenslaut, als sie an ihre Wunde stieß.
Ida stellte ihre Gobelintasche auf dem hellen Kies des Vorplatzes ab. Wie jedes Mal, wenn sie ins Pensionat zurückkehrte, genoss sie für einen Moment den malerischen Anblick des alten, von Efeu umrankten Patrizierhauses, in dem Frau von Hohenegger das Mädchenpensionat führte. Für Ida war das Haus mit seinen Erkern und Türmchen ein verwunschenes Schloss, der Park mit riesigen Blutbuchen, Ulmen und im Sommer vor Blüten sprühenden Rosenbüschen ein Zaubergarten, in dem man jeden Moment einem Feenwesen oder einem Elf gegenüberstehen könnte. Der Park war eine unerschöpfliche Quelle an Motiven für ihre Bilder. Manchmal, in warmen Sommernächten, schlich sie sich mit Hanna heimlich aus dem Haus. Sie liefen kichernd die Treppe hinab, öffneten die schwere Tür, die von der Küche in den Park führte. Wie aus einer Gefangenschaft befreit rannten sie im Nachthemd durch die Dunkelheit, spielten ausgelassen Fangen, pressten sich an raue Baumrinde und stellten sich vor, mit Feen zu tanzen. Ein heftiger Windstoß fuhr in die Zweige der blühenden Kastanie über Ida, das Rauschen der Blätter riss sie aus ihrem Tagtraum. Sie schnappte ihre Tasche, humpelte die Steinstufen hinauf, die sich in elegantem Halbrund unter dem Eingang bogen und zog mehrmals ungestüm am Glockenzug. Kurze Zeit später hörte sie drinnen in gemessenem Rhythmus Absätze über den Steinboden klacken und die Tür öffnete sich sanft. Die Pensionatsleiterin musterte Ida schweigend von Kopf bis Fuß. Ida stellte sich unwillkürlich vor, was die Lehrerin sah – eine zierliche Gestalt, die vor Erwartung zu vibrieren schien, lange dunkle Locken, die keck unter dem Hut hervorschauten, graue Augen, erwartungsvoll geweitet.
»Fräulein Förster, wer sonst. Wann kann ich damit rechnen, dass Sie die Tugend der Geduld verinnerlicht haben werden?«
Frau von Hohenegger stand in einem dunkelblauen Kleid vor ihr, Manschetten und Kragen vorbildlich glatt und strahlend weiß, die Miene streng, das kleine Zwinkern in den Augen milderte die Strenge ihrer Worte. Ida verzog zerknirscht die Lippen.
»Verzeihung, Frau von Hohenegger, aber ich freue mich so auf Hanna. Ist sie schon angekommen?«
Ein Anflug von Sorge – oder war es Traurigkeit? – überzog das Gesicht Franziska von Hoheneggers.
»Hanna ist auf ihrem Zimmer.«
Ida deutete auf das Haus.
»Kann ich hinein?«
Frau von Hohenegger schüttelte zerstreut den Kopf, als wollte sie ihre düsteren Gedanken vertreiben und machte eine nervöse Geste.
»Natürlich, kommen Sie.«
Sie trat zur Seite und gab den Eingang frei. Ida durchquerte die geräumige Halle. Ihr Blick streifte das herrliche Arrangement von Flieder in einer Bodenvase, registrierte die Schattierung der zarten Blüten. Sie war die halbe Treppe hinauf, als Frau von Hoheneggers Stimme sie aufhielt.
»Ida, herzliche Glückwünsche zur Geburt Ihres Neffen. Ihre Mutter hat mich über das freudige Ereignis in Kenntnis gesetzt.«
Ida wandte sich um, ihre Miene verdüsterte sich.
»Danke.«
Brüsk drehte sie sich weg und rannte die restlichen Stufen hinauf, trotz der Schmerzen im Fuß. Dieses Kind verfolgte sie bis hierher! Der mahnende Seufzer der Institutsleiterin glitt an ihrem Rücken hinab. Als Ida die Tür aufriss, war Hanna damit beschäftigt, ihre Sachen in den Schrank zu stapeln. Das wellige, haselnussbraune Haar lag wie gewöhnlich akkurat zu einem Chignon aufgesteckt an ihrem Hinterkopf und stand damit in völligem Gegensatz zu Idas halb aufgelöster Frisur. Ida schleuderte ihre Tasche in die Ecke und fiel der Freundin stürmisch um den Hals.
»Hanna, endlich! Ich habe mich wahnsinnig auf dich gefreut! Daheim war es dieses Mal überhaupt nicht schön!«
Sie zog einen Flunsch, ließ sich auf Hannas Bett plumpsen. Ida streifte ihre Schuhe ab und betastete den verletzten Fuß. Die Mutter hätte sie wegen der Wunde beinahe nicht fahren lassen. Hanna schob ihren Koffer zur Seite und setzte sich neben sie.
»Erzähl, was war los?«
Ihre Stimme klang seltsam flach.
»Das Baby ist da. Es war furchtbar. Alice hat geschrien und geschrien, die ganze Nacht. Mein Vater ist davon fast verrückt geworden. Ich will niemals ein Kind haben, wenn es so ist. Ich hatte furchtbare Angst …«
Ida ließ sich melodramatisch nach hinten in die Kissen fallen. Verträumt sah sie hinauf zu der stuckverzierten Decke.
»Ich will mit dem Motorrad herumfahren, reisen und malen, malen, malen!«
Hanna schwieg. Ida setzte sich auf und sah sie prüfend an. Das feingeschnittene Gesicht der Freundin wirkte abwesend, bedrückt, auf seltsame Weise fremd. Bei Idas Eintritt ins Pensionat vor gut einem Jahr, war sie sofort von der Ruhe und dem tiefgründigen Humor der etwas älteren Hanna fasziniert gewesen, während Hanna Idas impulsive, fantasievolle Art bewunderte. Seitdem waren sie nahezu unzertrennlich.
»Was ist mit dir?«
Hanna krampfte die Finger im Schoß zusammen. Ida sah, wie ihre Fingerknöchel weiß wurden, die zarten Adern schimmerten violett auf dem Handrücken. Hannas Gesicht verzerrte sich zu einer gequälten Grimasse.
»Meine Mutter hat mir eröffnet, dass ich zu einem Viertel jüdisch bin.« Sie schluchzte trocken auf. »Ein jüdischer Mischling bin ich. Sie konnten es nicht länger geheim halten. Wir müssen ihren Mädchennamen annehmen. Ich werde Hanna Löwengart heißen.«
Sie schlug ihre Hände vors Gesicht und weinte still. Ida glaubte, sich verhört zu haben. Sie wusste, dass Juden seit November des letzten Jahres immer weniger Rechte hatten, dass sie enteignet und verfolgt wurden, unsinnigen Schikanen ausgesetzt waren. Vor manchen Geschäften in der Stadt standen Leute der SA und beschimpften die Kunden, die den Laden betreten wollten. Es war ohnehin erstaunlich, dass es Hannas Eltern so lange gelungen war, ihre Herkunft zu verheimlichen. Ida setzte sich auf, rutschte neben die Freundin und nahm sie in den Arm.
»Und? Es ist mir gleich, wie du heißt. Und Frau von Hohenegger bestimmt ebenfalls. Sie predigt uns doch ständig, dass Politik nichts für Damen ist. Wir behalten es für uns. Du warst regelmäßig beim Bund Deutscher Mädel ganz brav, wie es sich gehört, das muss sich nicht ändern …«
Sie schnitt eine Grimasse.
Hanna sah sie verärgert an.
»Ida, sei nicht kindisch. Wo lebst du denn?«
Sie stand auf. Ihre Hände zitterten, während sie fortfuhr, den Koffer auszuräumen.
»Meine Eltern versuchen Passagen nach Amerika für uns zu beschaffen. Sobald sie welche bekommen, muss ich fort.«
Ein Pullover glitt ihr aus den Händen. Hanna kauerte sich auf den Boden.
»Eigentlich darf ich dir das gar nicht sagen, niemandem darf ich etwas sagen, niemandem mehr trauen.«
Sie schluchzte leise, den Pullover im Schoß zusammengeknäult.
»Kannst du dir vorstellen, wie ich sonntags mit euch zum Tanztee gehe, mit der Marie von Seydlitz und der Gisela Borsfeld?« Unter Tränen lachte Hanna hart auf. »Wie ich mit ihnen patriotische Lieder singe? Sie werden mich in der Luft zerreißen, wenn sie es herausbekommen, schikanieren werden sie mich, wie Sarah – weißt du nicht mehr? Ich jedenfalls erinnere mich sehr gut daran!«
Sie rappelte sich hoch, lehnte kraftlos am Schrank.
Ida schwieg betroffen. Daheim im verschlafenen Herrlingen kümmerten sich die Menschen nicht weiter um die politischen Vorgänge. Die Geschehnisse in der Reichskristallnacht hatten Ida zutiefst entsetzt. Im nahen Ulm brannte damals die Synagoge am Weinhof, Ulmer Bürger hatten in jener Nacht brutale Übergriffe auf jüdische Mitbürger verübt. Die bedauernswerten Menschen waren gezwungen worden, bei eisiger Kälte in den Brunnentrog am Weinhof zu steigen, um danach auf das Schlimmste misshandelt zu werden. Voll Zorn hatte Paul Förster am nächsten Morgen am Frühstückstisch auf die Tageszeitung geschlagen. »Gerechter Volkszorn – in Ulm kamen 56 Juden in Schutzhaft« titelte das Blatt und fuhr fort: »Wenn auch die Entjudung in Ulm seit der Machtübernahme große Fortschritte gemacht hat, so wollen wir durch unsere Disziplin dazu beitragen, dass das restliche jüdische Pack noch rascher unserer Stadt den Rücken kehrt.«
In betroffenem Schweigen wurde das Frühstück beendet, aber nach dem zunächst scheinbar unerträglichen Gefühl der Ohnmacht und des Schams war man im Försterschen Haushalt wieder zum Alltag übergegangen. In Idas Heimatort gab es keine Vorfälle gegen die jüdischen Mitbürger, die geblieben waren. Man lebte und ließ leben, nur wenige Leute waren der Partei beigetreten oder bekannten sich zu den Nationalsozialisten. Da Ida die meiste Zeit in Konstanz verbrachte, war sie nur sporadisch beim BDM im Ort gewesen. In ihrem Elternhaus gab es keinen Raum für politische oder religiöse Dogmen. Ihr feinsinniger Vater liebte Mythologie und die Natur, verbrachte Zeit mit seinen Bienenvölkern und Obstbäumen, wollte vor allem in Ruhe seinen Studien nachgehen, die Ida ein ewiges Rätsel waren.
Hier in Konstanz war es anders. Braunhemden waren allgegenwärtig, aber Ida interessierte sich nicht für ihre Ideologien. Die regelmäßigen Pflichtveranstaltungen des BDM ließ sie über sich ergehen, nahm es als Gelegenheit, sich in der Natur Motive zu suchen und die Seeluft zu genießen. Hannas Ausbruch konfrontierte sie zum ersten Mal mit der grausamen Realität, zwang sie, hinzusehen. Mit Hanna war ein Mensch betroffen, den sie liebte, der zu ihr gehörte. Vor einem halben Jahr war Sarah Katz über Nacht verschwunden. Sie sei von ihren Eltern nach Hause geholt worden, hatte es lapidar geheißen. Zufällig hatten Ida und Hanna herausgefunden, dass Marie und Gisela das stille Mädchen seit geraumer Zeit bei jeder sich bietenden Gelegenheit gequält hatten. Die beiden hatten sich kichernd im Waschraum darüber unterhalten, ohne zu bemerken, dass sich Ida und Hanna ebenfalls dort aufhielten.
»Gut, dass sie fort ist, die Judensau!«, hatte die dickliche Gisela im Brustton der Überzeugung getönt.
»Das Pensionat ist nichts für solche Untermenschen, die haben hier nichts verloren. Das sagt auch mein Vater! Er will nicht, dass ich in schlechter Gesellschaft bin. Immerhin gehört unsereins zur Herrenrasse.«
»Gestunken hat sie außerdem«, hatte Marie dümmlich lachend beigepflichtet.
Das war der Moment gewesen, in dem Ida der Kragen geplatzt war und sie ihren Lauschposten aufgegeben hatte.
»Wenn hier jemand stinkt, dann ist das deine unfassbare Dummheit!«, war sie auf Marie losgefahren, »und du würdest uns allen einen großen Gefallen tun, wenn du uns von deiner schlechten Gesellschaft erlösen würdest.«
Verächtlich hatte sie auf Gisela gezeigt.
»Die bleiche Made hier kannst du gleich mitnehmen!«
»Du musst gerade reden«, hatte Marie zurückgeschnappt, »wohnst auf einem Gut und der feine Herr Vater ist Privatier. Wo er sein Geld her hat, will ich gar nicht wissen! Neureiche Emporkömmlinge nennt man solche Leute in meinen Kreisen!«
Zornig war Marie mit Gisela im Schlepptau davon gestampft. Seitdem mieden sich die Mädchen, wenn es möglich war, oder feindeten sich stumm an. Idas Versuch, sich bei Frau von Hohenegger über die beiden zu beschweren, war ins Leere gelaufen. Franziska von Hohenegger, die einer verarmten Adelsfamilie angehörte, nahm die Situation zur Kenntnis und in Kauf, wie Ida bitter feststellen musste. Querelen und Skandale könne sie sich nicht leisten, hatte Frau von Hohenegger mit einem müden Blick gesagt. Das Pensionat hatte einen guten Ruf und den würde sie bewahren, koste es, was es wolle. Das letztere hatte sie zwar nicht ausgesprochen, aber Ida konnte es in ihrem Schweigen hören.
Sie fror plötzlich. Das Leben schien vor ihren Augen zu zerfallen. Erst verlor sie die Schwester an Ehemann und Kind, nun würde die beste Freundin aus ihrem Leben verschwinden. Warum verließen sie alle? Was würde aus ihr werden? Alle Unbeschwertheit, alle Leichtigkeit wurde zur Illusion, zu einem verzerrten Trugbild. Die gerade noch schillernd in der Frühlingsbrise schwebende Seifenblase war geplatzt. Ida sah auf, in die verzweifelten Augen der Freundin und schämte sich. Sie war selbstsüchtig. Hanna war deutlich schlimmer dran. Ida stand auf und fasste nach Hannas Händen. Leicht wie Federn und eiskalt lagen sie in ihren. Sie suchte nach tröstenden Worten, fand keine. Heftig schlang sie die Arme um ihre Freundin, hielt sie, weinte mit ihr, bis die Tränen versiegten.
Sie löste sich sanft von Hanna, legte ihr die Hände auf die Schultern.
»Hanna, sei nicht dumm. Niemand muss davon erfahren, solange du noch hier bist. Du machst alles wie immer.«
Hanna warf ihr einen Blick zu, in dem gleichzeitig Hoffnungsschimmer und Zweifel lag.
»Meinst du, das geht?«
Ida nickte nachdrücklich.
»Komm, wir gehen in den Park.«
Die nächsten Wochen zogen sich schleppend dahin. Ida und Hanna ließen sich von der Routine des streng festgelegten Tagesablaufes einlullen und taten mit verzweifelter Fröhlichkeit, als wäre alles normal.
Sie wurden unterwiesen, wie man ein Haushaltsbuch führt, stellten Menus für Abendeinladungen zusammen, lernten Socken stopfen und Säume nähen, sticken, stricken und häkeln, alles stets unter dem strengen Gebot der Sparsamkeit, um die Volksgemeinschaft nicht zu schädigen, aber elegant genug, um sich vom weniger vornehmen Rest abzuheben. Sie spielten Krocket und Tennis. Sie bekamen Unterricht in Französisch und Englisch, musizierten auf dem Piano und malten. Der Musikunterricht fiel Ida leicht, sie hatte seit ihrer Kindheit Klavier- und Cembalounterricht gehabt und Malen war ihr Lebenselixier. Stricken verabscheute und kochen hasste sie, besonders an einem schönen Junitag wie heute, der einlud, im Park zu träumen oder die in voller Blüte stehenden Rosen zu malen. Ihr Blick wanderte sehnsuchtsvoll zur weißlackierten Fensterbank, auf der Sonnenflecken tanzten. Der Versuch, eine Vanillesoße herzustellen, trieb Schweißperlen auf ihre Stirn.
»Fräulein Ida, da sind Klümpchen!«
Der pummelige Zeigefinger von Mamsell Schreyer schoss über ihre Schulter und deutete unerbittlich auf die Batzen in der hellgelben Creme, mit der Ida sich seit geraumer Zeit abmühte.
»Das sehe ich selbst.«
Ida fuhrwerkte so heftig mit dem Schneebesen im Topf herum, dass ein Spritzer der Soße auf der blütenreinen Schürze von Mamsell Schreyer landete.
»Tststs, meine Liebe, mäßigen Sie sich!«
Die Köchin entwand den Schneebesen Idas verkrampften Fingern und rückte den Klümpchen mit kleinen schnellen Bewegungen zu Leibe.
»Sehen Sie her, so macht man das. Ganz locker, aus dem Handgelenk.«
Verzückt von ihrer eigenen Fingerfertigkeit, mit der sie die Creme in eine samtglatte Delikatesse verwandelte, die auf der Zunge schmelzen würde, summte Mamsell Schreyer vor sich hin. Ida sah zu Hanna hinüber, die verbissen Rhabarber schälte und verdrehte die Augen.
»Fräulein Förster, Sie sollen zu Frau von Hohenegger kommen, jetzt gleich!«
Das Hausmädchen stand in der Küchentür, verlegen die Hände ineinander verknotet. Die Fräuleins aus gutem Hause nahmen das Mädchen in der Regel kaum zur Kenntnis. Frau von Hohenegger lehrte sie, dass Personal, sofern man welches hatte, übersehen werden sollte, außer wenn man ihm Anweisungen gab, aber die Dringlichkeit in der Stimme des Mädchens ließ Ida augenblicklich reagieren.
»Verzeihung, Mamsell Schreyer, ich werde gebraucht!«
Eilig band sie die Schürze ab und warf sie im Hinauslaufen auf die Anrichte. Die verärgerte Aufforderung der Köchin, die Schürze ordentlich an den dafür vorgesehenen Haken zu hängen, ignorierte sie geflissentlich.
Die Institutsleiterin erwartete sie in ihrem Büro. Ihre Miene war bekümmert. Sie wies auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch. Idas Blick heftete sich auf die Schale mit weißen Rosenblüten.
»Ida, setzen Sie sich.«
In Idas Nacken begann es zu kribbeln.
»Ich fürchte, ich habe keine guten Nachrichten. Sie müssen unverzüglich nach Hause fahren.«
Der panische Tonfall in der Stimme Frau von Hoheneggers ließ Idas Kehle eng werden.
»Warum? Was ist geschehen?«, presste sie hervor.
»Ihre Schwester, es steht schlecht um sie.«
Frau von Hoheneggers Stimme wurde sanft.
»Packen Sie das Notwendigste, ich habe einen Wagen bestellt, der Sie zum Bahnhof bringen wird.«
Franziska von Hohenegger stand auf und ging um den zierlichen Biedermeierschreibtisch herum. Das Mitleid in ihrer Stimme brachte Ida beinahe zum Weinen, es fühlte sich an, als wäre das Todesurteil über Alice bereits gesprochen. Franziska von Hohenegger fasste Ida an beiden Händen.
»Sie müssen stark sein und daran glauben, dass alles gut wird.«
Das Rattern der Eisenbahn schläferte Ida ein. Jedes Mal, wenn ihr Kopf heruntersackte, schreckte sie hoch, fragte sich, was in aller Welt mit ihrer Schwester geschehen sein konnte. Alice. Ida sah ihre Gestalt vor sich, hochgewachsen und schlank, dunkelblonde Haare, im Nacken zu einem lockeren Knoten geschlungen. Alice, mit dem liebevoll spöttischen Zug um die Mundwinkel. Es war nur wenige Wochen her, seit Ida Herrlingen verlassen hatte. Die Schwester war von der anstrengenden Geburt geschwächt gewesen, aber auf ihren Wangen hatte rosiger Schimmer und in den veilchenblauen Augen ein besonderer Glanz gelegen, als sie Ida das Baby entgegengehalten hatte.
»Paul heißt er, nach Vater. Schau, ist der Kleine nicht süß?«
Ida hatte befremdet auf das winzige, sabbernde Wesen geschaut.
»Mhm.«
Trotz des geöffneten Fensters roch es im Raum nach Schmerz, neuem Leben und etwas Anderem, Fremdem. Der Geruch nahm Ida den Atem, verursachte Übelkeit.
»Ida, was machst du für ein Gesicht, du wirst seine Patentante sein, komm schon, nimm ihn!«
Ida hatte schnell den Kopf geschüttelt und das Zimmer verlassen. Erneut fuhr sie hoch, meinte Alices Stimme zu hören, die ein Gedicht rezitierte. »Heute Abend erweckt mein Herz seiner gedenkender Engel Gesang …« Es musste ein Irrtum sein, dass es Alice so schlecht ging, bestimmt hatte Frau von Hohenegger etwas falsch verstanden. Nach dieser Feststellung kuschelte Ida sich in die Ecke, ließ Blick und Gedanken von der vorbeifliegenden Landschaft mitziehen und träumte von ihrem zukünftigen Studium an der Kunstakademie. In Ulm stieg sie um in den Bummelzug nach Herrlingen. Sie kletterte aus dem Zug, fand kein bekanntes Gesicht auf dem kaum belebten Bahnsteig. Niemand war gekommen, um sie abzuholen. Zornig packte sie den Henkel ihrer Tasche. Ihre Schritte, die sie in Richtung des Elternhauses trugen, waren langsam und schwer, es war, als würde sie versuchen, durch Grütze zu waten. Das Gutshaus lag still in den Obstgärten, Fliederduft machte die Luft träge und süß. Alices Hühner staksten geschäftig unter den Apfelbäumen herum, gackerten leise, pickten nach Leckerbissen. Ida öffnete die Tür.
»Mutter? Vater?«
Sie zögerte, ging durch die Diele, auf die Treppe zu, nahm Stufe für Stufe, langsamer als je zuvor, schlich den Flur entlang, beinahe widerstrebend setzte sie einen Fuß vor den anderen, als würde sie von einer unsichtbaren Hand geschoben. Vor Alices Zimmer hielt sie inne, griff sachte nach der Türklinke, drückte sie herunter und schob die Tür auf. Das Bild, das sich ihr bot, würde sie niemals in ihrem Leben vergessen, es brannte sich unwiderruflich in ihr Bewusstsein. Der Vater saß auf einem Stuhl am Kopfende des Bettes, gebeugt, niedergedrückt von einer unsichtbaren Last. Er hielt die Hand seiner Tochter in den Händen geborgen, als würde er einen Vogel, der gegen die Scheibe geflogen war, behüten, bis er wieder bei Bewusstsein war und weiterfliegen konnte. Die Mutter stand auf der anderen Seite des Bettes, den Säugling im Arm, schuckelte das Kind mechanisch, ihr Blick schien auf etwas nicht Sichtbares gerichtet. Alfred saß auf dem Bett, dicht bei Alice, hielt die andere Hand der Schwester. Ida stand in der Tür, alle drei Gesichter wandten sich langsam zu ihr, niemand sprach, niemand hieß sie willkommen. Für einige schreckliche, endlos erscheinende Sekunden nahm ihr die Stille die Luft zum Atmen, sie sahen sie mit diesem entsetzlich leeren Blick an, der alles und nichts sagte, sahen sie an, als hätte sie unvermittelt aus einer anderen Welt dieses Zimmer betreten. Ida wagte kaum, sich zu bewegen, zu atmen, zu sprechen. Ihre Stimme, die sie nach scheinbar endlos langer Zeit mit Mühe von irgendwo her holte, klang hoch und piepsig.
»Alice? Was ist mit dir?«
Langsam und vorsichtig ließ sie sich auf das Bett nieder. Das Gesicht ihrer Schwester war gelblich und eingefallen, unter ihren Augen lagen blauschwarze Ringe. Ida hielt entsetzt den Atem an. Ihre Schwester, ihre immer nach Früchten, Erde, Verbene und Lavendel duftende Schwester strömte einen unangenehmen Geruch aus. Sie roch nach Fäulnis und Tod. Ida konnte kaum das Würgen zurückhalten, das unaufhaltsam in ihre Kehle kroch.
»Ida. Du bist da. Gut.«
Diese brüchige Stimme einer alten Frau konnte unmöglich von Alice stammen.
»Ja, Alice, ich bin da. Jetzt wird alles gut, du wirst sehen, ich …«
Alices Blick brachte sie zum Schweigen, die Schwester schüttelte unmerklich den Kopf.
»Paul.«
Ihr Atem ging schwer. »Du musst dich um Paul kümmern. Und um Alfred. Du bleibst bei ihnen. Versprich es!«
Ihr Schwager machte eine hilflose Gebärde, ließ die Hand wieder sinken.
Alices Stimme wurde drängender, fast drohend. Ihre Finger krampften sich überraschend kraftvoll um Idas Handgelenk.
»Versprich es!«
»Natürlich kümmere ich mich um Paul, solange du krank bist. Ich bin schließlich seine Patentante!«
Ida versuchte ein kleines Lachen und schaute gleichzeitig mit angstgeweiteten Augen zu ihrer Mutter hoch, die ihrem Blick auswich. Alice ließ einen kleinen Laut hören, ihre Brust hob sich, suchte nach Atem, sank herab wie ein fallendes Blütenblatt, ein winziges Lächeln schmolz in den rissigen Mundwinkeln. Dann wurde sie still und die Zeit hielt an. Ida lauschte. Woher kam dieser eigenartig hohe Ton? Entsetzt starrte sie auf die bebenden Schultern ihres Vaters, das kreideweiße Gesicht Alfreds und auf ihre Mutter, die monoton summte und das Kind schuckelte. Sie schmeckte Galle in ihrem Mund, sprang auf, stürzte hinaus.
Später wusste Ida nicht mehr, wie sie die Tage bis zur Beerdigung verbracht hatte. Sie fühlte nichts. Sie hatte weder Hunger noch Durst, ihre Bewegungen und die der Welt um sie herum waren langsam und dumpf, wie unter Wasser. Sie hatte keine einzige Träne vergießen können. Alle Gefühle waren tief in ihr drinnen zu einem steinharten Klumpen gefroren, an der Stelle, wo sich normalerweise das Herz befinden müsste. Das Schlimmste war die Stille im Haus. Außer dem dünnen Weinen des Kindes und dem ununterbrochenen Summen der Mutter war nichts zu hören. Selbst die große Standuhr in der Diele hatte jemand angehalten, ihr Ticken verstummen zu lassen, weil der Atem ihrer Schwester verstummt war. Einmal hatte Ida sich ans Klavier gesetzt und leise zu spielen begonnen, ein Impromptu von Schumann, welches Alice besonders geliebt hatte.
»Ida! Nicht!«
Ihr Vater war hinter sie getreten, hatte ihre Finger von den Tasten genommen und mit einer endgültigen Bewegung den Klavierdeckel geschlossen. Leise, ohne ihn anzusehen war sie an ihm vorbeigeglitten, nach draußen gegangen, zu den Korbstühlen unter den Linden, einst ihr Lieblingsplatz, an dem sie viele sonnige Nachmittage und laue Abende mit der Schwester verbracht, von ihrer Zukunft als Malerin geträumt und Alices gutmütige Neckereien abgewehrt hatte.
»Du wirst sehen, wenn ich im Sommer Unterricht bei Professor Steinhoff nehme, wird er mich fördern! Ich werde es schaffen, ihn mit meinen Bildern zu überzeugen! Nach meinem Abitur bewerbe ich mich an der Kunstakademie in Stuttgart oder in München!«
»Ida Försters Kunst wird in den berühmtesten Museen hängen! Sammler werden sich um deine Werke reißen! Die Welt wird dir zu Füßen liegen! Ob du noch mit mir sprechen wirst, wenn du berühmt bist?«, hatte Alice gescherzt, wenn Idas Höhenflüge zu fantastisch wurden, und ihr einen liebevollen Nasenstüber versetzt.
Heiseres Schluchzen drang aus Idas Kehle. Die Katze Minou sprang mit einem geschmeidigen Satz auf ihren Schoß und begann zu schnurren. Ida kraulte abwesend das weiche weiße Fell. Sie legte die Stirn an den warmen Tierkörper.
»Minou, Minou, was soll ich nur machen?«
Die offensichtliche Hilflosigkeit und unbändige Verzweiflung ihrer Eltern ängstigte sie. Der starre Blick der Mutter, die seit Alices Tod kaum ein Wort gesprochen hatte. Nur mit dem Säugling redete sie, mit einer Stimme, die aus weiter Ferne zu kommen schien. Ida konnte die Nähe des Säuglings nicht ertragen, fühlte nichts als Wut und Schmerz, wenn sie das Kind ansah, das ihre Schwester umgebracht hatte. Der Vater schloss sich in seinem Arbeitszimmer ein. Wenn Ida das Ohr an die Tür legte, konnte sie hören, wie er unablässig hin und her ging, mit seinem leichten Hinken. Tante Marthe, die sich im Gasthof Rössle einquartiert hatte, schleppte Lebensmittel an und kochte jeden Tag einen Topf Suppe, die niemand aß.
»Ach Gott, Kindchen, was für eine Tragödie, eine Tragödie ist das!«
Alfred regelte mit wachsbleichem Gesicht und verbissenem Kiefer die Dinge, die notwendig waren, um seine junge, schöne Frau beerdigen zu lassen. Auf Ida wirkte er, als hätte er über Nacht das Alter ihres Vaters erreicht, dabei war er gerade zweiunddreißig Jahre alt. Der Pfarrer kam, redete leise auf die Eltern ein, bis ihr Vater aufstand und wortlos das Zimmer verließ. Ida starrte den Pfarrer mit zusammengekniffenen Augen an. Er war mit Schuld an Alices Tod, hatte sie beschlossen, schließlich war er Gottes Vertreter auf Erden. Wieso ließ Gott ihre Schwester mit vierundzwanzig Jahren sterben? Gott war nicht barmherzig, er war es nicht wert, sich mit ihm abzugeben. Ida ballte die Fäuste und schwor sich, nach Alices Beerdigung nie wieder in die Kirche zu gehen. Sie ging in ihr Zimmer, nestelte mit zitternden Fingern ihr Taufkreuz aus dem Samtkästchen und schleuderte es aus dem Fenster.
Die Beerdigung fand an einem verregneten Junimorgen statt. Ida rutschte unruhig auf der Kirchenbank herum, entdeckte einen Farbklecks auf ihrer Hand, versuchte ihn abzukratzen, bevor Mutter ihn sah und ihr einen dieser wunden Blicke zuwarf, als hätte sie keine Worte mehr, sie zu tadeln, als wäre ihre Sprache mit Alices letztem Atemzug verklungen. In solchen Momenten fragte sich Ida, ob es ihrer Mutter lieber wäre, wenn ihre jüngere Tochter an Alices Stelle gestorben wäre. Ida, die Ungestüme, die lieber in Traumwelten entwischte, anstatt sich mit den wichtigen Dingen des Lebens zu befassen, die mehr für einen kunstvoll arrangierten Blumenstrauß auf dem Klavier übrig hatte, als für die Staubmäuse darunter, sie, die Unberechenbare, die in einem Augenblick schallend lachen konnte und im nächsten Moment in tränenreicher Melancholie versank, wenn sie ein berührendes Musikstück oder Gedicht hörte. Wie Alices letztes Gedicht, eine unheimliche Vorahnung?
»Rose – Freude unter dem Himmel
Musik für die Augen
Balsam für alles Weh …«
Ida war im Morgengrauen aufgestanden, hatte wie im Fieber begonnen zu malen, als könnte sie die Schwester wieder lebendig machen, indem sie ihr lächelndes Gesicht auf die Leinwand bannte. Alice würde nie wieder lächeln, sie lag bleich und teilnahmslos dort vorn in dem glänzend schwarzen Sarg, der kaum zu sehen war unter den Bergen von weißen Päonien, Rosen, Flieder und Efeuranken. Der Pfarrer sprach den Segen und alle erhoben sich. Alfred ging hinter dem Sarg, gefolgt von den Eltern, ihre Mutter klammerte sich an den Kinderwagen, in dem der Säugling schlief und nichts von den salbungsvollen Worten gehört hatte, die der Pfarrer über den schmerzlichen Verlust blühenden Lebens sprach. Ida schleppte sich hinter den Eltern her. Ihr war übel, sie hatte das Gefühl, jeden Augenblick könnten ihre Knie einknicken und sie würde auf den Kiesweg fallen, der Schritt für Schritt zu Alices Grab führte. Nachgeben, fallen und nicht mehr aufstehen, nicht mehr denken, nicht mehr fühlen müssen. Die Leute, die hinter ihr gingen, Freundinnen und Freunde von Alice, Verwandte, von denen Ida die meisten kaum kannte, Nachbarn und Freunde ihrer Eltern würden weiter gehen und Ida würde sich einfach auflösen, zu Staub werden. Als der Sarg in die Grube gelassen wurde, schrie Ida auf. Die Mutter langte ohne den Kopf zu wenden nach ihrem Arm, drückte ihn. Trost oder Tadel? Ida machte sich los, trat vor das Grab, vergaß, dass alle Augen auf ihr ruhten, stand da und starrte in die Erdgrube, schloss langsam die Faust um die Rose, die sie heute früh im Garten von Alices Lieblingsstrauch geschnitten hatte. Ein Dorn bohrte sich in die Innenfläche ihrer Hand. Sie atmete scharf den Geruch nach Tod und Endgültigkeit ein, den die kalte, feuchte Erde verströmte, spürte Zorn auf die Schwester, die sie alleine zurückließ, fühlte mehr Schmerz, als ein Mensch je aushalten konnte. Matt ließ sie die gelbe Blüte mit den zartorangenen Rändern in die Tiefe fallen, wandte sich ab und ging mit hölzernen Schritten davon, ohne sich noch einmal umzusehen.
Der Leichenschmaus im Gasthof zum Kreuz zog an ihr vorüber; Ida war, als säße sie unter einer gläsernen Glocke. Sie sah Münder, die sich bewegten, stumme Worte von sich gaben oder Braten und Kuchen verschluckten. Sie sah ihren Vater, der hinter einer dunklen Brille und seinem Weinglas saß. Sie sah das versteinerte Gesicht ihrer Mutter, das Kind im Arm. Ihr Blick fiel auf Alfred, der gefasst Beileidsbezeugungen und Zuspruch entgegennahm.
Ein heftiger Schreck durchzuckte sie, drohte, sie auseinanderzureißen. Das Versprechen! Sie hatte Alice versprechen müssen, sich um das Kind und Alfred zu kümmern. Wie sollte sie das machen? Was genau erwartete Alice von ihr? Der letzte Blick ihrer Schwester formte sich in ihrer Erinnerung. Alices Augen sahen sie an, drängend, fordernd und zugleich unendlich hilflos.
»Kümmere dich um Paul und Alfred!«
Es war eine Anordnung gewesen, die die Antwort »Nein« nicht zuließ. Was hatte Alice sich dabei gedacht? Ein Hirngespinst, eine Fieberphantasie musste das gewesen sein. Ida schüttelte den Kopf, als könnte sie damit den Klang der zersprungenen Stimme der Schwester aus ihren Ohren vertreiben. Angst würgte sie und sie wusste, sie musste fort. Hastig stand sie auf. Ohne sich zu verabschieden stahl sie sich aus dem Gastraum und lief nach Hause. Gedankenlos warf sie einige Habseligkeiten in einen Rucksack, kritzelte ein paar Worte für ihre Eltern auf ein Blatt Papier. Sie entledigte sich des schwarzen Kostüms, schlüpfte in den Overall, stülpte die eng anliegende Kappe über ihr Haar und holte die Herkules aus dem Schuppen. Entschlossen trat sie den Kickstarter durch und raste in einer Kiesfontäne davon.