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Für Sheila, die Lilien und das Lesen liebte
Aus dem Englischen von Ursula C. Sturm
© Kayte Nunn 2018
Titel der australischen Originalausgabe:
»The Botanist’s Daughter« wurde erstmals 2018 in Australien
von Hachette Australia Pty Ltd veröffentlicht und
die deutschsprachige Ausgabe wird in Absprache mit
Hachette Australia Pty Ltd. veröffentlicht.
© der deutschsprachigen Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2019
Redaktion : Lisa Caroline Wolf
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: Alison Burford / Arcangel (Lupe mit Farn);
FinePic®, München (Struktur, Schlüssel, Schere);
GettyImages / © Daniel Day (Blüten)
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Ich liebe dich gleich der Pflanze,
die niemals blüht,
doch in sich trägt das Leuchten
verborg’ner Blumen.
Sydney, 2017
Als Anna die Haustür öffnete, standen ihr drei Männer gegenüber. Ganz vorne der größte von ihnen, daneben ein etwas kleinerer im mittleren Alter, der einen Blaumann trug, und hinter ihm der jüngste und kleinste, der jedoch erstaunlich muskulöse, tätowierte Unterarme hatte.
»Wie bei Goldlöckchen und den drei Bären«, murmelte sie leise.
Ihr Blick streifte den Türpfosten, von dem die Farbe abblätterte – ein sattes Dunkellila, über dessen Namen »Big Boss« ihre Großmutter Augusta, auch Granny Gus oder Gussie genannt, beim Kauf mitten im Baumarkt in schallendes Gelächter ausgebrochen war. Gussie war damals erst seit ein paar Monaten Witwe und auf der Suche nach Ablenkung und Aufheiterung gewesen. Anna strich mit dem Daumen über eine der abstehenden Farbzungen in dem vergeblichen Versuch, sie wieder anzudrücken.
»Wie bitte?«, fragte der Größere der drei. Sein Hemd spannte über dem Bauch, und das zerzauste blonde Haar umrahmte seinen Schädel wie einen Heiligenschein. Papa Bär, ganz eindeutig. »Sind wir hier richtig bei …« Er klappte ein Notizbuch auf, fuhr mit dem kurzen, dicken Zeigefinger über die Seite und musterte sie. »Jenkins?«
»Äh, ja. Verzeihung.« Anna lief rot an. Hatte er gehört, was sie gesagt hatte? »Kommen Sie rein.« Sie wich einen Schritt nach hinten und ließ sie an ihr vorbei.
Die drei Männer sahen sich um. Die Schritte ihrer klobigen Schuhe hallten von den Wänden des leeren Hauses wider. Als Anna sie in die winzige, uralte Küche führte, die das Zentrum des kleinen Reihenhauses bildete, hielt sie kurz die Luft an. Hier hatte sich in den letzten Jahrzehnten kaum etwas verändert. Ihr Blick wanderte über die zitronengelbe Resopalarbeitsplatte, die Vollholzküchenschränke und den orangebraunen Linoleumboden, dessen Muster unter Millionen Schritten verblasst war. Sie musste daran denken, wie aufregend sie ihre Besuche hier in Paddington als Kind immer gefunden hatte. Die Anfahrt aus dem grünen Vorstadtviertel jenseits der Brücke war ihr oft erschienen wie eine Reise in eine andere Welt, in der sich schmale Straßen endlos lang dahinwanden, flankiert von Häuserfassaden mit aufwendig gestalteten schmiedeeisernen Balkonen. Sie hatte es geliebt, hier am Küchentisch zu sitzen, Unmengen an Marmeladebroten zu verdrücken und dazu kalte rosarote Milkshakes aus beschlagenen Gläsern zu trinken. Ebenso wie die Spaziergänge zum Laden an der Ecke mit ihrem Großvater und ihrer Schwester Vanessa, bei denen sie selbst meist vorausgelaufen war, über die Risse im gepflasterten Bürgersteig hopsend in Vorfreude auf die Schokoriegel mit Himbeer- oder Karamellgeschmack, die sich in den Regalen des Ladens stapelten. Im Sommer hatte es süßes, klebriges Wasser- und Milcheis am Stiel gegeben oder, wenn sie richtig Glück hatten, auch mal ein Eiscremesandwich.
Süße Erinnerungen, jede einzelne davon.
Papa Bär richtete das Wort an sie. »Okay, Miss Jenkins, wir holen gleich mal unser Werkzeug und legen los. Sollte nicht allzu lange dauern.« Er ging hinaus zum Wagen, die beiden anderen Männern folgten ihm schweigend.
Ein paar Minuten später waren sie wieder da, bewaffnet mit Brechstangen und einem Vorschlaghammer. Anna ließ die drei in Ruhe ihre Arbeit tun und ging nach oben ins ehemalige Schlafzimmer ihrer Großeltern, das zur Straße hin lag. Der Teppich war abgetreten, die Nachmittagssonne hatte die geblümte gelbe Tapete an etlichen Stellen ausgebleicht. Als sie in der Mitte des Raumes stand, stieg ihr ein Hauch von Youth Dew in die Nase, jenem Parfüm, das ihre Großmutter auch im fortgeschrittenen Alter großzügig und ohne jegliche Ironie benutzt hatte. Anna war, als müsste Gussie jeden Moment aus dem angeschlossenen Bad kommen, die grauen Locken ordentlich frisiert, ein Frotteetuch in den Händen, mit dem sie sich die Finger abtrocknete. Sie hätte sie bestimmt gerügt, weil sie ohne anzuklopfen eingetreten war, aber mit jenem breiten Lächeln im Gesicht, das ihr stets Grübchen auf die Wangen zauberte.
Anna war noch ein Teenager gewesen, als ihr Großvater gestorben war; nicht nur deshalb war Gussies Tod für sie deutlich schwerer zu verkraften, wenngleich die alte Dame sie in den letzten Jahren immer öfter mit Annas Mutter verwechselt oder bisweilen gar nicht mehr erkannt hatte.
Anna ließ den Finger über eine staubige Fensterbank gleiten und öffnete dann die Glastüren des französischen Balkons, um etwas frische Luft hereinzulassen. Das Haus war monatelang unbewohnt gewesen und nach dem unerträglich schwülen Sommer erfüllt von einem unangenehmen, muffig-feuchten Geruch.
Ihre Großeltern hatten eine Vorliebe für dunkle, sperrige Möbel mit kräftigen, geschwungenen Beinen gehabt. Sämtliche Räume waren vollgestopft gewesen mit diesen tonnenschweren Ungetümen, jeder kleinste Fleck zugestellt. Doch seit in der Vorwoche ein Entrümpelungsunternehmen da gewesen war, herrschte eine nie gekannte Leere im Haus. Fort waren die Kommoden mit den Häkeldeckchen, dem geblümten Porzellan, den verstaubten gläsernen Nippfiguren, fort auch die Vitrinen mit den Sammlerpuppen in den Nationaltrachten aller möglichen Länder, die die beiden nie bereist hatten. So gut wie alle Spuren der ehemaligen Besitzer waren ausradiert, einzig die melancholisch vor sich hin tickende Uhr auf dem Kaminsims war noch da. Anna spürte, wie ihr heiße Tränen in die Augen stiegen, als die Trauer sie übermannte.
Nichts von diesem ganzen Kram hätte Gussie wieder zum Leben erwecken können, sagte sie sich streng. Ihre Großmutter war in diesem Haus geboren und aufgewachsen; hier hatte sie ihre Kinder großgezogen und bis zu ihrem Tod gelebt. Dass sie es Anna vermacht hatte, war für diese mindestens ebenso überraschend gekommen wie Gussies Tod. Die alte Dame war bis zum Schluss sehr rüstig gewesen und hatte hartnäckig darauf bestanden, hier wohnen zu bleiben, obwohl ihr Gedächtnis sie immer öfter im Stich gelassen hatte. »Was soll ich denn in der Gesellschaft wildfremder Greise, die in ihren Tee sabbern und sich die Hose vollkacken?«, hatte sie gebrummt, wann immer Annas Mutter Eleanor in den letzten Jahren – insbesondere nach der Alzheimer-Diagnose – vorsichtig angeregt hatte, ob sie nicht doch in ein Altersheim ziehen wolle.
Mit einem Mal kamen Anna Zweifel. Hatte sie das Richtige getan? Hätte sie noch etwas warten sollen? Und würde sie es schaffen, so ganz ohne fremde Hilfe?
Sei nicht albern, dachte sie sich. Die Entscheidung war gefallen, jetzt würde sie es auch durchziehen.
Sie marschierte zur Treppe, stieg ganz automatisch über die Stufe hinweg, die schon seit Ewigkeiten knarzte, und sah kurz nach den Bauarbeitern, die mit ihren Arbeiten im Wohnzimmer begonnen hatten, dem »Salon«, wie Gussie es immer genannt hatte. Bei der Erinnerung daran huschte ein Lächeln über Annas Gesicht. Sie lief durch den zugigen Anbau, in dem sie und ihre Schwester als Kinder übernachtet hatten, öffnete die Hintertür und stieß einen brunnentiefen Seufzer aus.
Der Garten ihrer Großmutter, kaum größer als eine Briefmarke und einst Gussies ganzer Stolz, befand sich in einem erbärmlichen Zustand, was nicht weiter verwunderlich war, nachdem Anna ihn so lange vernachlässigt und sich stattdessen um die Gärten anderer Leute gekümmert hatte. Verwildert war gar kein Ausdruck – überall spross Unkraut und überragte die einst so sorgfältig gepflegte Bepflanzung.
Anna hatte es schon als kleines Mädchen geliebt, mit ihrer kleinen Harke und Schaufel hier herumzuwerkeln und ihrer Großmutter beim Gießen und Unkrautjäten zu helfen. Doch in den Monaten vor Gussies Tod war sie vollauf mit dem dahinschwindenden Leben im Haus beschäftigt gewesen und hatte keinen Gedanken an den Garten verschwendet, und danach hatte sie es hier nie lange genug ausgehalten.
Jetzt war der Orangenjasmin, der sich am Zaun an der Ostseite entlangzog, völlig verwahrlost, seine Blüten, die sonst einen herrlichen, schweren Duft verströmten, waren verdorrt und braun. Der Gehweg war fast zur Gänze von den Stauden der Dreimasterblume überwuchert, die Kreppmyrte lief Gefahr, von Efeuranken erstickt zu werden, und die Glyzinie am hinteren Gartenzaun war komplett in sich zusammengefallen. Anna murmelte halblaut die Namen von Gussies Lieblingspflanzen vor sich hin, gerade so, als handle es sich dabei um eine Beschwörungsformel mit beruhigender Wirkung: leuchtend orangerote Strelitzien, auch Paradiesvogelblumen genannt, violette Astern, eine Bougainvillea in leuchtendem Pink, dazwischen Ritterstern, Nieswurz, Kamelien und Pelargonien und dort im Schatten ein paar zarte Stiefmütterchen … Verhalten zählte sie eine Blumensorte nach der anderen auf, der vertraute Klang der Namen Balsam für ihre Seele.
Sie schlenderte zu der wettergegerbten, verschnörkelten Holzbank, die in der hintersten Ecke des Gartens stand, wischte ein paar vertrocknete Blätter von der Sitzfläche und ließ sich darauf nieder. Dabei blieb ihr Blick an einem Spinnennetz hängen, das sich in der Brise blähte wie ein kleiner Fallschirm, die hauchdünnen Fäden zum Zerreißen gespannt. Hatte sie tatsächlich schon beinahe ein halbes Jahr nicht mehr hier gesessen? Seitdem bewegte sie sich sozusagen ferngesteuert durchs Leben. Jeden Morgen riss der Wecker sie aus dem Tiefschlaf, tagsüber erledigte sie wie in Trance die immer gleichen Aufgaben, vertiefte sich ins Umgraben, Jäten, Rasenmähen und konnte sich hinterher kaum je an die Gespräche mit ihren Kunden erinnern. Den ganzen Sommer über hatte sie es vermieden, in den Garten ihrer Großmutter zurückzukehren, der früher einer ihrer liebsten Orte in Sydney gewesen war.
Sie blinzelte in die Sonne, die nun schon etwas höher am Himmel stand, und sah dann zu dem Apfelbaum in der Ecke hinüber, an dessen Ästen noch die verschrumpelten Früchte der vergangenen Saison hingen. Dieser Garten war der Beweis: Auch wenn so manches Leben endete, der Rest der Welt marschierte unerbittlich weiter, und sie aufhalten zu wollen war ebenso zwecklos wie der Versuch, mit einem Sieb Wasser zu schöpfen.
Sie saß noch immer auf der Bank, in die Betrachtung ihrer Umgebung vertieft, als sie ein Krachen hörte, das deutlich lauter war als die bisherigen Abrissgeräusche. Dann gab es einen Aufschrei. Hatte da jemand ihren Namen gerufen? Anna sprang auf und eilte quer durch den Garten zurück zum Haus.
Aus den drei kleinen Zimmern im Erdgeschoss war inzwischen ein einziger großer Raum geworden, der größer wirkte als erwartet. Das war ja wirklich schnell gegangen. Der alte Teppich stand zusammengerollt und in der Mitte eingeknickt an der Haustür, der Boden war übersät mit Ziegelbrocken, Mörtel und Gipsverputz, weiße Staubwolken hingen in der Luft.
»Ah, da sind Sie ja.« Der Chef der Truppe kam auf sie zu. »Hier, das sollten Sie sich mal ansehen.« Er deutete auf die gegenüberliegende Wand, wo er und seine Leute mit der Demontage der Einbauregale begonnen hatten. »Eigentlich schade drum«, bemerkte er. »Das ist noch richtige Qualitätsarbeit. So was findet man heutzutage nur noch selten.«
»Und?«, fragte Anna etwas irritiert. Stellten diese Männer etwa ihre Anweisungen infrage? Außerdem konnte sie nichts Ungewöhnliches erkennen.
»Sehen Sie genau hin. Dort drüben«, sagte er und deutete zu dem Regal, das am weitesten vom Fenster entfernt war.
Sie trat näher, um es genau unter die Lupe zu nehmen, und da entdeckte sie es: ein Loch in der Wand, etwa auf Hüfthöhe.
»Hier«, meldete sich der kleinste der drei Arbeiter, der links hinter ihr stand, mit krächzender Stimme zu Wort und hielt ihr ein ramponiertes graues Notizbuch hin, das von einer dicken Staubschicht bedeckt und mit Spinnweben überzogen war. »Das haben wir gefunden. Keine Ahnung, was das ist, aber wir dachten, es interessiert Sie vielleicht.«
»Danke.« Anna griff nach dem Buch und pustete einmal kräftig auf den Einband, womit sie eine dicke Staubwolke aufwirbelte. »Seltsam.« Sie wischte mit dem Daumen über die Oberfläche und erkannte erst jetzt, dass es gar nicht grau war, sondern dunkelblau. Vorsichtig schlug sie es auf und betrachtete die krakeligen Buchstaben, mit denen die vergilbten, eng beschriebenen Seiten gefüllt waren.
Der kleinste Bauarbeiter reckte neugierig den Hals. »Und, was steht drin?«
»Keine Ahnung. Jemand muss es dort hinten eingemauert haben, bevor die Regale angebracht wurden. Ich seh’s mir nachher mal genauer an.«
Sie ging wieder zurück in den Garten. Doch kaum hatte sie es sich auf der Bank gemütlich gemacht und das Buch neben sich gelegt, hörte sie erneut ein lautes Poltern, gefolgt von einem Schrei. Was war denn jetzt schon wieder los?
Sie marschierte zum Haus zurück. Diesmal war es der Mittlere, der eine Überraschung für sie in den Händen hielt: ein längliches graues Behältnis, ungefähr so groß wie ein Schuhkarton für ein Paar Stiefel.
»Das war da drin?« Anna stierte ungläubig auf das Loch in der Wand. Es erschien ihr kaum groß genug dafür. Sie ging in die Knie, um in die schwarze Öffnung zu spähen, die sich nach oben hin etwas erweiterte, und schauderte unwillkürlich bei dem Gedanken an die großen Spinnen und die Überreste verwester Kellerasseln, vor denen es dort oben garantiert wimmelte.
»Sehen Sie selbst.« Der Boss nahm eine Taschenlampe zur Hand und leuchtete damit nach oben.
Erst jetzt erkannte Anna, dass es sich um eine Art Schacht handelte, in dem sich etwa einen halben Meter weiter oben eine regalartige Nische in der Wand befand.
Er nickte. »Ganz genau, dort oben. Ich war einfach neugierig, ob da vielleicht noch mehr versteckt ist. Mein Arm war gerade lang genug, um das Teil etwas nach vorn zu kippen, und dann kam es auch schon runter. Hat sich verkeilt, aber ich hab’s geschafft, es rauszufriemeln.«
Anna drehte sich zu dem Bauarbeiter um, der das Fundstück in den Händen hielt, und musste ordentlich die Armmuskeln anspannen, um es nicht gleich fallen zu lassen, als er es ihr übergab. Es war überraschend schwer und genauso voller Staub und Spinnweben wie das Notizbuch. Sie stellte das Teil auf den Boden und wischte den Dreck vom Deckel. Darunter kam eine angelaufene Metalloberfläche mit detailreichen Verzierungen zum Vorschein, darunter Bienen, Vögel und allerlei verschnörkelte Pflanzen und Blüten sowie in jeder Ecke ein vierblättriges Kleeblatt. »Wie merkwürdig«, murmelte sie.
»Das können Sie laut sagen.« Der Boss kratzte sich am Kopf. »Ein Glück, dass Nathan sich nicht den Arm gebrochen hat, als er das Ding da rausgeholt hat.«
»Ja, vermutlich«, murmelte Anna abwesend, noch immer in die Betrachtung des Deckels vertieft. Sie versuchte, ihn anzuheben, doch er bewegte sich keinen Millimeter, was zweifellos an dem kleinen, herzförmigen Vorhängeschloss lag, das an der Vorderseite angebracht war. Es sah aus, als wäre es aus Messing gefertigt, wenngleich es inzwischen genauso schwarz angelaufen war wie der Rest. »Hm, was da wohl drin ist?«
Der Boss nahm den Vorschlaghammer zur Hand. »Soll ich …?«
»Nein!« rief Anna, die noch immer über die Metallkassette gebeugt dastand. »Bloß nicht. Ich will nicht, dass sie beschädigt wird.«
»Ich hätte auch eine Brechstange«, meldete sich Nathan zu Wort.
»Ich bringe sie lieber gleich zu einem Schlosser«, sagte Anna und fügte, weil das etwas abfällig geklungen hatte, rasch hinzu: »Aber danke für das Angebot.«
»Na gut, wie Sie wollen. Dann machen wir hier mal weiter. Ich schätze, bis heute Abend haben wir den größten Teil der Abbrucharbeiten erledigt.«
Anna betrachtete die Überreste der Einbauregale und nickte. »Okay, danke.«
Sie hob die Metallkassette vom Boden auf, mit halb ausgestreckten Armen, um sich nicht schmutzig zu machen, und ging damit zur Treppe. Durch die offene Tür wehte eine Windböe herein, und sie schauderte. Wie um alles in der Welt war dieses Ding in das Haus ihrer Großmutter gelangt? Durch den Schmutz hindurch hatte sie erkennen können, dass es sich um ein besonders schönes, möglicherweise sogar ziemlich wertvolles Stück handelte. Aus welchem Grund würde jemand eine solche Antiquität in eine Wand einmauern? Nun, zweifellos um zu verhindern, dass sie entdeckt wurde – aber warum? Und wer hatte das getan? Konnte es Granny Gus gewesen sein? Anna griff zum Telefon. Sie musste mit ihrer Mutter reden.
Cornwall, 1886
Die Stiefel waren erst kürzlich aus London eingetroffen, die Bestellung in glücklicheren Zeiten erfolgt. Elizabeth mühte sich eine ganze Weile vergeblich mit den zwölf widerspenstigen Knöpfen ab, in dem Bestreben, ihre geschwollenen Füße zu befreien. Obwohl sie die Schuhe noch nicht lange trug, hatte sie bereits Blasen, dabei war der Schuhmacher, der sie angefertigt hatte, angeblich einer der besten des Landes und das marokkanische Leder das weichste, das es gab. Wäre sie jetzt zu Hause, könnte ihr Daisy mit dem Knopfhaken zur Hand gehen, hier draußen aber war sie auf sich gestellt. Sie nestelte erneut mit ungeduldigen Fingern an den Knöpfen herum und fragte sich dabei, ob der Schuster auch die richtigen Leisten verwendet hatte.
Ein paar Minuten später gelang es ihr endlich, das einengende Schuhwerk abzulegen. Sie wackelte erleichtert mit den befreiten Zehen und begutachtete dann den Schaden. »Herr im Himmel, da ginge ich ja lieber barfuß, wenn ich denn die Wahl hätte«, brummte sie verhalten, obwohl weit und breit kein Mensch zu sehen war, und rieb die wunden, roten Stellen an den Fersen.
Vor einer knappen Stunde war es ihr gelungen, sich unbemerkt davonzustehlen und so der lähmenden nachmittäglichen Hitze zu entfliehen, die im Sommer mit schöner Regelmäßigkeit in sämtliche Ecken von Trebithick Hall kroch und die wenigen Bewohner des weitläufigen Anwesens in einen Zustand ermatteter Gleichgültigkeit versetzte. Als sie bei den düsteren Stallungen angekommen war, hatte sie Banks, dem Stallmeister, befohlen, Achilles zu ihr zu bringen – »Mit dem Sattel meines Vaters, wenn ich bitten darf«, hatte sie nachdrücklich gesagt, damit er gar nicht erst in Versuchung geriet, sich ihrem Befehl zu widersetzen, und ihn mit einem knappen »Danke, Sie dürfen gehen« entlassen, sobald er den schwarzen Hengst zum Aufsitzblock geführt hatte. Sie konnte weiß Gott darauf verzichten, dass er ihr dabei zusah, wie sie sich mit ihren Röcken abmühte oder gar – Gott bewahre! – einen Blick auf ihre Unterkleider erhaschte. Die Regeln der Etikette mochten zwar im Augenblick etwas weniger streng gehandhabt werden, trotzdem wollte sie Banks nicht noch mehr Unbehagen bereiten, als er ganz offensichtlich ohnehin bereits empfand.
Sie raffte den schwarzen Bombasin, kletterte unbeholfen auf den Rücken des schwitzenden Pferdes und gab ihm die Fersen. Dabei versuchte sie, nicht daran zu denken, dass sie zum ersten Mal auf Achilles ritt. Wäre ihr Vater noch am Leben, so wäre ihr das zweifellos nie und nimmer gestattet worden, schon gar nicht mit seinem Sattel.
»Der Seitsitz ist die einzig schickliche Art zu reiten für eine Dame, die etwas auf sich hält«, hatte John Trebithick stets betont. In anderen Bereichen waren seine Ansichten durchaus fortschrittlicher gewesen – so hatte er Elizabeth und ihre Schwester beispielsweise ermutigt, Latein und Altgriechisch zu erlernen –, doch in dieser Angelegenheit hatte er nicht mit sich handeln lassen. Für einen Damensattel war heute allerdings nicht der richtige Zeitpunkt.
»Auf, auf, Achilles! Es geht los!«, rief sie. Das musste sie dem stattlichen Ross nicht zweimal sagen. Elizabeth umklammerte die Zügel, als es sich, wohl wegen des ungewohnten Gewichts auf seinem Rücken, aufbäumte und lospreschte, durch den Innenhof und auf das Seitentor zu. Ähnlich wie sie selbst war Achilles monatelang zu Untätigkeit verdammt gewesen, nachdem ihr Vater zu schwach geworden war, um das Haus zu verlassen, von einem Ausritt ganz zu schweigen. Kein Wunder also, dass er Bewegungsdrang verspürte, wenngleich Banks erst gestern wieder sämtliche Pferde auf die Koppel geführt hatte, damit sie sich ein wenig die Beine vertreten konnten. Auf dem Reitweg angekommen, der an der östlichen Grenze des Anwesens entlangführte, galoppierte Achilles, ehe sie ihn daran hindern konnte, drauflos, so blitzschnell wie eine Feuerwerksrakete und ebenso unkontrolliert, was die Richtung anging, und Elizabeth wurde bei der Erkenntnis, dass sie das muskulöse Tier bei Weitem nicht so gut unter Kontrolle hatte wie anfangs angenommen, sowohl von Angst als auch von Ekstase erfasst.
»Brrr! Ganz ruhig, mein Junge!«, rief sie, doch ihre Worte verhallten im Wind, ungehört von Mensch und Tier. Sie krallte verzweifelt die Finger in die Mähne und hielt sich krampfhaft fest, konnte allerdings nicht verhindern, dass der Wind ihr den Hut vom Kopf riss. Sie kam weder dazu, die Weizengarben zu bewundern, die wie betrunkene Hochzeitsgäste krumm und schief auf den Feldern standen, noch das kräftige Rosarot der Kornrade, die am Rand der Äcker spross. Sie war nur froh, dass ihre Strümpfe sie vor den Brennnesseln schützten, die rechts und links des Weges hüfthoch wucherten. Erst nach einer guten Meile schien Achilles ihr Flehen endlich zu vernehmen, hatte inzwischen wohl auch ihr heftiges Zerren an den Zügeln bemerkt, denn er wurde eine Spur langsamer, sodass sie etwas verschnaufen und sich geistig ein wenig sammeln konnte.
Der Reitweg führte zu einer kleinen Bucht, der Lady Luck Cove, und als hätte er das Meer gewittert, beschleunigte der Hengst ganz plötzlich erneut und raste mit einer derartigen Geschwindigkeit auf die Klippen zu, dass sich Elizabeth fragte, ob er noch rechtzeitig zum Stehen kommen oder ob sie im nächsten Moment mit ihm in die Tiefe stürzen würde. Wieder zerrte sie an den Zügeln und bohrte ihm mit aller Kraft die Knie in die Flanken, bis Achilles unvermittelt stehen blieb, nur noch einen knappen Fuß vom Abgrund entfernt. Mit einem vorwitzigen Schnauben schüttelte er den Kopf, als wollte er fragen: Nun? Zufrieden?
Schwer atmend nach der Anstrengung griff Elizabeth mit zitternden Händen nach dem Sattelknauf und beugte den Oberkörper nach vorn, dann warf sie ein Bein über den Rumpf des Pferdes, wie sie es bei den Männern gesehen hatte, und ließ sich zu Boden gleiten. Prompt strauchelte sie und beschmutzte sich dabei das Kleid, doch sie sprang sogleich wieder auf und führte Achilles zu einer Ulme in der Nähe, um die Zügel um einen der unteren Äste zu schlingen. Ihre Hände wollten nicht aufhören zu zittern, weshalb es entsprechend lange dauerte. Unten glitzerte einladend das kristallblaue Wasser, als hätte jemand unzählige Diamanten auf der Oberfläche verstreut, und der Horizont verschwamm in der mittäglichen Hitze zu einem blauen Strich. Die Küste Cornwalls war unter Seeleuten als tückisch verschrien; Schiffsunglücke waren hier keine Seltenheit.
Elizabeth kannte sich in der Gegend hervorragend aus, hatte sie doch in ihrer Kindheit so manchen Tag damit zugebracht, hier über die Felsen zu klettern oder die kleinen, unverwüstlichen Pflänzchen zu bestaunen, die dazwischen wuchsen. Über eine Reihe rauer Stufen, die der Legende nach von längst verstorbenen Schmugglern in den Felsen gehauen worden waren, gelangte man hinunter zum Strand. Der Weg war steil, aber trocken, und nachdem sie wieder ein wenig zu Atem gekommen war, stieg Elizabeth mit der Grazie einer Elfe die steinerne Treppe hinab.
Sie verschwendete keinen Gedanken daran, was ihre große Schwester wohl zu ihrem Vorhaben zu sagen hätte. Georgiana und ihr Ehemann Robert waren vor drei Wochen aus Plymouth angereist – zu spät für den Abschied, aber rechtzeitig zum Läuten der Kirchenglocken, die den Tod ihres geliebten Vaters verkündet hatten: zuerst neun Schläge, wie es bei Männern üblich war, gefolgt von siebenundfünfzig weiteren, für jedes Jahr seines Lebens einen. Aller Wahrscheinlichkeit nach waren sie in dieser Minute wieder einmal damit beschäftigt, das Haus nach Gegenständen von Wert zu durchforsten und jene Möbelstücke und Gemälde zu kennzeichnen, auf die sie später Ansprüche erheben wollten. Elizabeth war es einerlei. Für sie hatte es nichts Wertvolleres gegeben als ihren geliebten Papa, und kein Geld der Welt konnte ihn von den Toten zurückbringen. Sie unterdrückte ein Schluchzen. Tränen hatte sie weiß Gott genug vergossen.
In den Tagen nach dem Dahinscheiden ihres Vaters war sie wie in Trance stundenlang rastlos draußen im Park umhergewandert und hatte darüber nachgesonnen, wie es nun weitergehen sollte. Für Handarbeiten fehlte ihr die Geduld, und ihre Fähigkeiten am Pianoforte waren fragwürdig. Selbst in ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Malen, hatte sie zuletzt keinen Trost gefunden. Vorbei waren die Zeiten, da sie ihrem Vater beim Katalogisieren von Pflanzen zur Hand gehen konnte, eine fesselnde Tätigkeit, die ihr stets große Freude bereitet hatte.
Nach der Ankunft von Georgiana und Robert hatte sie zwei geschlagene Wochen lang im Gesellschaftszimmer gesessen und die Kondolenzkarten der Besucher gelesen, von denen ihr mit wenigen Ausnahmen die meisten gleichgültig und einige wenige insgeheim zuwider waren. Viele der Absender kannte sie nicht persönlich, von manchen hatte sie gar noch nie zuvor gehört. Elizabeth war zwar dankbar für die Gesellschaft ihrer Schwester, die in den sechs Jahren seit ihrer Eheschließung nur ein paarmal zu Besuch hier gewesen war, doch mit der Zeit war der Drang, dem Haus zu entfliehen, die Lungen mit salziger Luft zu füllen und den Wind auf der Haut zu spüren, schier unbändig geworden. Aus diesem Grund hatte sie, als sie heute Nachmittag wider Erwarten kurz allein gewesen war, die Gelegenheit sogleich beim Schopf gepackt und war zu den Stallungen geeilt.
Vor dem Tod ihres Vaters hatte sie das Haus über einen Monat lang nur höchst ungern für längere Zeit verlassen. Sie war lediglich ab und an in den Garten gegangen, um Kräuter für Wickel zu holen, die seine Schmerzen lindern sollten, und sie hatte sich – sehr zum Missfallen der Köchin – immer wieder in die Küche begeben, um die Zubereitung von Kalbfleisch in Aspik und ähnlich nahrhafter Gerichte zu überwachen, zu deren Verzehr sie ihren Vater dann nur mit viel Überredungskunst hatte bewegen können. Einmal war sie mit der Kutsche nach Padstow gefahren, wo es einen neuen Apotheker gab, in der Hand ein Rezept für ein uraltes Hausmittel, auf das schon ihre Urgroßmutter geschworen und das Georgiana von einer Kinderkrankheit geheilt hatte.
Tagtäglich war der Arzt gekommen, um ihrem Vater die sogenannte Hirudotherapie, die Entgiftung mittels Blutegeln, angedeihen zu lassen. Danach war der Patient jedes Mal erschöpft in die Kissen gesunken, weiß wie ein Laken und von grässlichen Hustenanfällen geschüttelt, nach denen sein Taschentuch jedes Mal blutgetränkt war.
Doch all das hatte nichts genützt – bei der Schwindsucht bestand nun einmal kaum Hoffnung auf Genesung.
Elizabeth hatte in dem leichenblassen, schwächlichen Kranken kaum noch den geliebten Vater wiedererkennen können, den Mann, der er einst gewesen war – stark wie ein Bär und doch so sanft wie ein Lamm im Umgang mit Georgiana und ihr; ein Mann, der das Abenteuer gesucht hatte, ein Blütensammler, der die Welt bereist und nicht nur ungewöhnliche, ja, exotische Pflanzen, sondern auch unglaubliche Geschichten von fernen Ländern und ihren Bewohnern mitgebracht hatte. Georgiana und Elizabeth hatten mit großen Augen gelauscht, wenn er von Ausritten auf majestätischen Elefanten im Himalaja berichtet und ihnen uralte Metropolen oder sichelförmige Kähne beschrieben hatte. Oft hatten sie ihn darum gebeten, ihnen von den dunkelhäutigen Frauen mit den mandelförmigen Augen zu erzählen, von den Dieben, den Schamanen, den heiligen Männern, von den Schlangenbeschwörern und ihren zischelnden Kobras, die sich mannshoch aufrichten konnten. Sie hatten gejuchzt und gejohlt, wenn er sie kitzelte, während von tellergroßen Spinnen mit haarigen Beinen die Rede war. Nie hatten sie genug bekommen können, wenn er ihnen das Salzfisch-Aroma der Aronstäbe geschildert hatte und den Geschmack saftiger Früchte, so süß wie ein Kuss. Ja, er war oft viele Monate am Stück unterwegs gewesen, doch solange er zu Hause gewesen war, hatte er ihnen seine gesamte Aufmerksamkeit geschenkt in dem Bemühen, ihnen die fehlende Mutter zu ersetzen.
Am Fuße der Felsen angekommen, musste sich Elizabeth mit ihren rutschigen Stiefeln vorsichtig über die von den unbarmherzigen Wellen des Atlantiks glatt geschliffenen Kieselsteine hangeln, bis sie den feinen goldenen Sandstrand erreichte, wo sie einen sichereren Stand hatte. Schon auf dem Weg zur Lady Luck Cove begegnete man kaum je einer Menschenseele, und hier unten war man mit großer Wahrscheinlichkeit ungestört. Trotzdem vergewisserte sich Elizabeth erst, dass sie allein war, ehe sie sich auf dem Ast eines angeschwemmten Baums niederließ und damit begann, sich zu entkleiden.
Die neuen Stiefel waren zweifellos nicht das geeignete Schuhwerk zum Reiten gewesen, wie sie nun feststellte, doch darüber hatte sie sich bei ihrem überstürzten Aufbruch vorhin nicht lange den Kopf zerbrochen. Sie kämpfte eine Weile mit den Knöpfen des Kleides, und nach einigen Verrenkungen gelang es ihr, die obersten zu öffnen, sodass sie sich den Stoff über die Schultern streifen konnte. Als Nächstes löste sie die Schnürung von Mieder und Korsett, um sich auch davon zu befreien. Als kleines Mädchen hatte sie oft hier in ihren Unterkleidern gebadet, doch nie als junge Frau, weshalb ihr Herz nun heftig pochte angesichts dieses gewagten – verbotenen – Vergnügens.
Im Grunde hätte Elizabeth auf das Korsett ebenso gern verzichtet wie auf jegliche gesellschaftliche Konventionen, aber ihr blieb nichts anderes übrig, als eines zu tragen, obwohl sie in der Times letzthin einen Artikel über die zunehmende Verbreitung der Reformkleidung in den Großstädten gelesen hatte und die Rational Dress Society im Stillen zu ihren Erfolgen beglückwünschte. »Wenn wir Frauen doch nur nicht immer so durch unsere Kleidung eingeschränkt wären!«, hatte sie sich erst neulich beschwert, von Mam’zelle Violette jedoch nur ein ungerührtes »Wir können uns schon glücklich schätzen, dass die Wespentaillenschnürung nicht mehr en vogue ist« zu hören bekommen.
Endlich war sie nackt bis auf die Leibwäsche. Eine kühle, salzige Brise kitzelte ihre Haut und ließ den dünnen Stoff flattern. Sie streckte die Arme zur Seite, wobei ihr Blick das schmetterlingsförmige Muttermal auf ihrer Schulter streifte, das Mam’zelle Violette »Café au Lait« nannte. Für Elizabeth war es eine allgegenwärtige Erinnerung an ihre Mutter, die exakt das gleiche Mal an exakt der gleichen Körperstelle gehabt hatte – sie hatte es auf dem Gemälde gesehen, das im Gesellschaftszimmer hing.
Ein ungewohntes Gefühl der Freiheit, wie sie es seit Jahren nicht empfunden hatte, erfasste sie. Es erinnerte sie an ihre Kindheit, in der sie oft mit ihrem Vater hergekommen war, um an der Küste nach Muscheln und Krabben zu suchen, nach winzigen durchsichtigen Garnelen und nach Seetang, dessen Blasen man platzen lassen konnte. Sie trat an das säuselnde, gurgelnde Wasser, spürte, wie es ihr über die Zehen leckte und, als sie einen Schritt nach vorn machte, schäumend weiß wie Spitzenborten ihre Knöchel umspülte. Weiter draußen war es indigoblau und bedrohlich dunkel, und die weißen Wellenkämme ließen darauf schließen, dass dort ein kräftiger Wind wehte, doch hier in der geschützten Bucht war das Wasser an diesem glutheißen Sommernachmittag so klar wie Gin. Sie watete tiefer hinein, schnappte nach Luft, als es ihr an die Knie reichte, ließ sich jedoch nicht beirren. Bald stand ihr das Wasser bis zur Brust und zerrte an ihrem Unterhemd, dessen Stoff sich blähte und um sie herumwirbelte. Die eisigen Temperaturen raubten ihr fast den Atem, die Füße schmerzten erst noch, dann wurden sie taub. Wenigstens taten ihr nun die wunden Zehen und Fersen nicht mehr weh. Sie schob entschlossen das Kinn vor, stieß sich vom Untergrund ab und machte ein paar Schwimmzüge.
Dann drehte sie sich auf den Rücken und ließ sich treiben, vom kühlen Atlantik umfangen, das Gesicht zum Himmel gewandt. Sie schloss die Augen, sodass die warmen Sonnenstrahlen die Innenseiten ihrer Lider rot färbten.
Zum ersten Mal seit dem Tod ihres Vaters fühlte sie sich wieder lebendig.
Cornwall, 1886
Elizabeth blieb deutlich länger als geplant in der kleinen Bucht. Nach dem Bad legte sie sich zum Trocknen in die Sonne, verfiel ins Grübeln und vergaß darüber ganz die Zeit. Insbesondere dachte sie darüber nach, wie sie Georgiana und Robert dazu bewegen konnte, ihrem Plan zuzustimmen – jenem Vorhaben, mit dessen Ausführung ihr Vater sie betraut hatte.
Sie fragte sich, ob die beiden in Erwägung zogen, nach Trebithick Hall zu ziehen, machte sich allerdings keine großen Hoffnungen. Wie sie Robert und Georgiana kannte, wollten sie lieber in Plymouth bleiben, wo sich das Leben deutlich kosmopolitischer gestaltete, denn hier im hintersten Zipfel von Cornwall waren gesellschaftliche Ereignisse denkbar selten.
Ihr Vater hatte nie viel Wert auf große Empfänge gelegt. Wenn er zu Hause war, hatte er es vorgezogen, sich mit seinen Töchtern zu beschäftigen, und nur gelegentlich Besuch von einem Wissenschaftler oder Forschungsreisenden erhalten. Elizabeth waren Geschichten von Tanzbällen und ähnlichen Feierlichkeiten zu Ohren gekommen, zu denen die Gäste sogar aus dem entfernten London angereist waren – damals, zu Lebzeiten ihrer fröhlichen Mutter Augusta, deren Lachen, Gesang und Musik jede Ecke des Hauses erfüllt hatten, wie Georgiana zu berichten wusste. Sie war vier Jahre älter und hatte einige wenige, kostbare Erinnerungen an diese Zeiten, die sie nachts im Kinderzimmer flüsternd mit ihr geteilt hatte – Geschichten, in denen das Haus mit Blumengirlanden geschmückt war und im großen Saal ernst dreinblickende Musiker zum Tanz aufgespielt hatten, zum Entzücken der anwesenden Damen in ihren raschelnden bunten Seidenkleidern.
Elizabeth war erst ein paar Tage alt gewesen, als ihre Mutter gestorben war, und danach hatte es keine Bälle mehr gegeben. Ihr Vater hatte sie der Obhut von Mam’zelle Violette anvertraut und war zu immer längeren Reisen in ferne Länder aufgebrochen. Stets war er mit einer Vielzahl an Pflanzen zurückgekehrt, sei es in seinem Vasculum, einem länglichen Metallbehältnis, das er sich an einem Gurt über die Schulter hängen konnte, sei es sorgfältig zwischen zwei Blättern Papier gepresst oder lebendig im sogenannten Ward’schen Kasten, einem tragbaren Miniaturgewächshaus. Oft hatte er auch Samen mitgebracht, die dann in Cornwall, fern ihrer Heimat, in die Erde gesetzt und gewissenhaft umsorgt wurden. Waren die Anpflanzversuche von Erfolg gekrönt, so konnten die herangewachsenen Exemplare für exorbitante Summen an Sammler verkauft werden. Die Nachfrage nach exotischen Gewächsen war groß und der Handel damit ein einträgliches Geschäft, wenngleich John Trebithick dieser Tätigkeit in erster Linie aus Liebe zur Materie nachgegangen war und nicht, um sich daran zu bereichern.
Königin Victoria hatte sich begeistert gezeigt von der Frucht der chilenischen Guave, die er von einer Reise in den Regenwald nahe Valdivia mitgebracht und erfolgreich auf dem heimatlichen Anwesen angebaut hatte. Es hieß, ihre Majestät sei sehr angetan vom Erdbeeraroma des süßen Fruchtfleisches, weshalb zur Erntesaison von Padstow aus mit dem Zug regelmäßig Pakete an den königlichen Haushalt geliefert wurden. Die verbliebenen Früchte verarbeitete ihre Köchin zu Georgianas Lieblingsmarmelade.
Seine Ehrfurcht vor allem, was wuchs und gedieh, hatte John Trebithick an seine Töchter weitergegeben, und insbesondere Elizabeth war eine eifrige Schülerin gewesen.
In Ermangelung eines männlichen Nachkommen hatte ihr Vater testamentarisch verfügt, dass das Haus samt dem dazugehörigen Anwesen auf Georgiana und Robert übergehen sollte, sich aber für beide Schwestern gleichermaßen ein lebenslanges Wohnrecht auf Trebithick ausbedungen. Elizabeth war froh darüber, dass sie keine entfernten Vettern hatte, die sie aus dem Domizil vertreiben konnten, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte. Trotzdem war sie verunsichert, was ihre Zukunft anging.
Vor dem Ausbruch seiner Krankheit hatte John Trebithick eine weitere Reise geplant, die ihn nach Südamerika führen sollte, und Elizabeth hatte ihn beharrlich immer wieder angefleht, sie mitzunehmen. »Denk doch nur, wie nützlich ich dir sein könnte, Papa«, hatte sie argumentiert. »Um nicht zu sagen unentbehrlich – ich werde alle Pflanzen malen und dir auch ganz gewiss keine Bürde sein!«
Monatelang hatte sie von nichts anderem geträumt, hatte sich ausgemalt, wie sie die Pflanzen der Länder, die sie bereisen würden, porträtieren und ihrem Vater bei der Untersuchung und Katalogisierung der Flora von Chile und Argentinien zur Hand gehen könne. Doch er hatte nichts davon wissen wollen. »Du gehörst hierher, Elizabeth, nicht in die exotische Wildnis. Ich habe Dinge erlebt und durchgestanden, bei denen selbst gestandene Männer Reißaus nehmen würden. Das ist nichts für eine Dame, schon gar nicht für ein so zartes Wesen wie dich.«
Nur ein paar Tage vor Ausbruch der Krankheit hatte er noch die Überfahrt für sich selbst und seinen Kammerdiener arrangiert, hatte Kojen auf einem Dampfschiff gebucht, das in Liverpool auslaufen sollte. Ziel der Seereise war Valparaíso, eine Hafenstadt an der chilenischen Westküste. Elizabeth hatte sich zu diesem Zeitpunkt damit abgefunden, zu Hause bleiben zu müssen. Sie würde sich wohl oder übel damit begnügen müssen, ihre Fähigkeiten als Pflanzenmalerin zu perfektionieren, indem sie porträtierte, was im weitläufigen Park rund um Trebithick Hall gedieh, oder die botanischen Illustrationen von William Hooker kopierte, wie ihr Vater es ihr aufgetragen hatte. »Übung macht den Meister, und es gibt keinen besseren, von dem du lernen könntest«, hatte er gesagt. Abgesehen davon gab es nicht allzu viele Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben, außer vielleicht mit dem Besticken von Fußkissen für die Pfarrkirche, und davon bekam sie erfahrungsgemäß schlechte Laune.
Obwohl es ihr gelungen war, durch den Dienstboteneingang unbemerkt ins Haus zu schleichen, wurde Elizabeth auf dem Weg ins Obergeschoss von ihrer Schwester ertappt.
»Elizabeth! Wo um alles in der Welt hast du gesteckt?«
»Georgiana! Ich dachte, du hättest dich zurückgezogen wegen deiner Kopfschmerzen. Fühlst du dich besser?«, fragte Elizabeth in der Hoffnung, damit von ihrem derangierten Äußeren ablenken zu können. Sie hatte es geschafft, mithilfe eines Mauerübertritts in der Nähe der Klippen wieder in den Sattel zu steigen und den Weg zu den Stallungen ohne weitere Pannen zu bewältigen, ihren Hut jedoch hatte sie nicht wiedergefunden. Nun hing ihr das lange Haar, das von der Farbe reifen Weizens war und sich aus dem Knoten gelöst hatte, in feuchten Strähnen über die Schultern, und da es nicht geregnet hatte, würde es schwierig werden, diesen Umstand zu erklären.
»Ja, es geht mir besser, danke. Trotzdem möchte ich wissen, wo du warst. Wir haben stundenlang nach dir gesucht. Bingley sagte, du wärst draußen im Park unterwegs, doch wir haben dich dort nicht angetroffen, dabei haben wir überall nachgesehen.«
»Seltsam. Wir müssen uns verpasst haben. Ich war sehr ausgiebig spazieren«, sagte Elizabeth, dankbar für die Aussage des Butlers. Es war nicht ganz gelogen, schließlich hatte sie den Park auf dem Weg zu den Stallungen durchquert. »Aber jetzt entschuldige mich bitte, ich muss mich dringend umziehen, sonst komme ich zu spät zum Dinner.« Damit eilte sie die Treppe hinauf, ehe ihrer Schwester womöglich auffiel, dass der Saum ihres Kleides voller Sand war.
»Überaus unklug von dir, ohne Hut vor die Tür zu gehen«, rief Georgiana ihr nach. »Du wirst dir noch deinen Teint ruinieren, und was soll dann aus dir werden?«
Elizabeth blieb ihr die Antwort schuldig. Der Schutz ihrer porzellanweißen Haut kümmerte sie kein bisschen. Als Kinder hatten Georgiana und sie oft den ganzen Sommer draußen zugebracht, und ihr Vater hatte es nicht für nötig gehalten, dafür zu sorgen, dass ihre Gesichter bedeckt waren, weshalb nun etliche verräterische Sommersprossen Elizabeths perfekte Stupsnase zierten.
Hatte ihre Schwester das etwa schon vergessen? Seit der Verlobung und anschließenden Vermählung mit Robert Deverell, »dem schneidigsten Mann von ganz Cornwall«, wie Georgiana ihn atemlos beschrieben hatte, nachdem sie ihn kennengelernt hatte, war sie wie ausgewechselt. Sie hatte eine regelrechte »volte-face« vollzogen, wie ihre französische Gouvernante es genannt hätte. Aus der unbeschwerten Spielkameradin war seither ein wahrer Ausbund an Tugend und Achtbarkeit geworden, und zwar ein reichlich aufgeblasener, dachte Elizabeth verdrießlich.
Kaum hatte sie ihr Schlafgemach betreten, da klopfte es auch schon leise an der Tür. Elizabeth wusste gleich, wer draußen stand. »Nur herein, Daisy«, sagte sie. »Ich bin schrecklich spät dran.«
Elizabeths Hausmädchen trat ein und stieß beim Anblick der Wasserflecken auf ihrem Kleid ein verhaltenes »Herrjemine« hervor.
»Ja, ich weiß. Aber es ist schließlich nur ein Kleid«, sagte Elizabeth gereizt. Sie ärgerte sich darüber, dass Georgiana sie ertappt hatte. »Der Schaden wird sich schon irgendwie beheben lassen. Mrs Pascoe weiß bestimmt ein Mittel gegen solche Flecken, und danach ist es wie neu.«
»Sind Sie ausgeritten, Ma’am?«, fragte Daisy.
»Ja, ich war mit Achilles bei der Bucht.«
Daisy schnappte nach Luft. »Mit Achilles?«
Elizabeth nickte mit einem stolzen Lächeln. »Ich reite beinahe ebenso gut wie du, Daisy.«
Daisy war auf einer Farm auf dem Trebithick-Anwesen aufgewachsen und hatte, ehe sie in den Dienst der Familie getreten war, unzählige Male auf dem Rücken eines Pferdes die Wiesen und Küsten der Umgebung erkundet. Elizabeth hatte sie manchmal begleitet und wusste, was für eine geschickte Reiterin Daisy war, selbst ohne Sattel.
»Schon, aber auf Achilles, diesem großen, kräftigen Tier? Haben Sie sich denn nicht geängstigt?«
»Ein wenig«, gab Elizabeth leichthin zurück. »Aber das war es wert.«
»Sie sind bedeutend mutiger als ich, Miss«, stellte Daisy fest und begann, die Knöpfe an ihrem Kleid zu öffnen. »Wenn wir noch ein klein wenig Zeit haben, bringe ich auch Ihre Frisur wieder in Ordnung.«
»Das wirst du wohl müssen, wenngleich nur Georgiana und Robert zugegen sein werden.« Elizabeth seufzte und verdrehte die Augen. »Weiß der Himmel, wozu jeden Abend diese Charade vonnöten ist, zumal wir alle keinen großen Appetit haben. Ehrlich gesagt weiß ich nicht einmal, weshalb ich so bestrebt bin, beizeiten bei Tisch zu erscheinen. Es ist ja nun wirklich nicht mehr von Bedeutung, nicht wahr?« Wieder seufzte sie tief. »Nichts ist mehr von Bedeutung.«
»Sie Ärmste«, sagte Daisy, darum bemüht, sie zu trösten. »Es ist wahrlich ein großes Ungemach. Jeder hier trauert um Ihren Herrn Papa und Sie zweifellos am allermeisten.«
»In der Tat, Daisy. Er fehlt mir wirklich sehr!«
Wenig später hatte sie mithilfe ihrer geschickten jungen Dienerin das arg in Mitleidenschaft gezogene schwarze Kleid gegen ein sauberes ausgetauscht, dessen Mieder reich mit Spitzenborten verziert war. Daisy hatte ihr außerdem die wirren Locken ausgebürstet, sie zu einem schlichten Knoten im Nacken zusammengefasst und ihr ein einfaches schwarzes Perlenhalsband umgelegt, sodass Elizabeth nun wieder aussah wie eine respektable junge Frau aus gutem Hause und nicht wie eine sandverkrustete Herumtreiberin.
»Danke, Daisy«, sagte Elizabeth. »Ich wüsste nicht, was ich ohne dich täte.«
Dann ertönte auch schon die Essensglocke, deren sonorer Klang zum Nachtmahl rief. Daisy knickste und verließ den Raum.
Beim Betreten des Gesellschaftszimmers erblickte sich Elizabeth im Spiegel über dem Kamin. Ihre blauen Augen funkelten keck, die Wangen waren gerötet, was teils von der Nachmittagssonne herrührte, teils von einer inneren Erregung, denn sie hatte vorhin, als sie unten in der Bucht im eiskalten Wasser geschwommen war, eine Entscheidung getroffen. Ihr Vorhaben war so kühn, so wagemutig, dass sie jedes Mal, wenn sie nur daran dachte, nach Luft schnappte, als hätte man ihr einen Schlag in die Magengrube versetzt.
Nach all den Wochen des Müßiggangs, des Abwägens von Für und Wider fühlte sie sich nun von neuer Energie erfüllt. Sie war entschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Jetzt galt es nur noch, ihre Schwester von ihrem Plan zu überzeugen – und die Nerven zu behalten.
Sydney, 2017
»Du könntest das Haus doch schon mal bei Airbnb einstellen«, schlug Vanessa vor, sichtlich entschlossen, ihrer kleinen Schwester mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.
Es war Freitagabend, Vanessa hatte Anna zum Essen eingeladen, und die hatte die Einladung gerne angenommen – es war weiß Gott nicht so, als hätte sie sonst irgendwelche wichtigen gesellschaftlichen Verpflichtungen, und außerdem war sie gerne mit Vanessas Töchtern zusammen. Vor allem Fleur, die Jüngste, hatte sie in ihr Herz geschlossen. Mit ihrer Stupsnase, den süßen Wangengrübchen und dem herzförmigen Gesicht wirkte die Kleine, als wäre sie einem romantischen Gemälde des 19. Jahrhunderts entsprungen, abgesehen davon war sie jedoch unverkennbar ein Kind der Gegenwart. Ivy, die Älteste, war vor Kurzem dreizehn geworden und hatte seit Neuestem einen Jugendslang drauf, der aus dem Mund einer Privatschülerin von der North Shore ziemlich seltsam klang. Anna wusste nie so recht, wie sie reagieren sollte, wenn Ivy sie mit »Was geht ab, Sista?« begrüßte oder eine ihrer Aussagen mit »Krass cool, ey« kommentierte und ihr dazu die geballte Faust hinstreckte. Vanessa schüttelte dann lediglich den Kopf und zuckte die Achseln. Jasmine, das Sandwichkind, war die Ruhigste des Trios und zog Bücher der Gesellschaft von Menschen vor. Eine Gemeinsamkeit gab es immerhin: Alle drei Mädchen waren wie ihre Mutter und ihre Tante blond und in letzter Zeit in die Höhe geschossen wie Setzlinge nach einem sommerlichen Regenschauer.
Zu Annas Verwunderung gönnten ihr sowohl Vanessa als auch ihre Mutter Eleanor Gussies Haus von ganzem Herzen. Eleanor hatte mehrfach betont, sie habe bereits alles, was sie benötige, und darauf beharrt, es sei schon in Ordnung, dass Anna und Vanessa die Begünstigten seien. Vanessa wiederum hatte Gussies Urlaubsdomizil geerbt, das sich etwas weiter südlich an der Küste befand, und dazu ein paar ihrer Schmuckstücke, darunter einen mit haselnussgroßen Diamanten und Smaragden besetzten Ring. Trotzdem war Anna unwohl bei dem Gedanken, dass der Großteil von Gussies Vermögen an sie gegangen war, denn das Haus in Paddington war garantiert doppelt so viel wert wie das Ferienhaus. Sie hatte versucht, mit Vanessa darüber zu reden, doch diese hatte abgewunken. »Wenn es jemand verdient hat, dann du, Anna«, hatte sie gesagt. »Schon weil du von uns allen am meisten für sie da warst, besonders zum Ende hin.«
»Na ja, du musstest dich schließlich um Harvey und die Mädels kümmern, und Mum … Also, ich hatte eindeutig den kürzesten Anfahrtsweg«, hatte Anna abgewehrt.
»Trotzdem. Gussie wollte es so, und daran wird nicht gerüttelt. Und überhaupt, das fehlte mir gerade noch, dass wir uns wegen so was in die Haare kriegen.«
Vanessas Ehemann Harvey sah die Angelegenheit allerdings nicht ganz so locker, da war sich Anna ganz sicher, zumal er immer wieder betonte, was für ein großes Los sie mit dieser Erbschaft gezogen habe. Anna war anderer Ansicht. Ihr wäre es hundertmal lieber gewesen, wenn Granny Gus noch unter ihnen gewesen wäre, quicklebendig wie eh und je und bereit, es mit jedem aufzunehmen, der es wagte, sich mit ihr anzulegen.
»Bei Airbnb einstellen?« Anna quittierte den Vorschlag ihrer Schwester mit einem Schnauben. »In dem Zustand? Wohl kaum.«
»Okay, du wirst ein bisschen Arbeit reinstecken müssen, aber mit frisch gestrichenen Wänden und abgeschliffenen Bodendielen sieht die Sache gleich ganz anders aus«, sagte Vanessa. »Das Haus hat Charakter, und es liegt sehr zentral.«