Bambaren, Sergio Die Stimme des Meeres

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Übersetzung aus dem Englischen von Gaby Wurster

 

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 1. Auflage 2019
© Deutschsprachige Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2019 / ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2019
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee <br />
Covergestaltung: U1 berlin / Patrizia Di Stefano
Covermotiv: Robert Lyn Nelson with Copyright 2019

 

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Vorwort des Autors

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Manchmal versucht die Welt, es einem abzugewöhnen – aber ich glaube an Träume, so wie andere Menschen an Märchen glauben. Ich stelle mir gern vor, dass das, was ich sehe oder höre, von einem fernen Ufer kommt, weit weg von unserem Lebensraum und dem Ort, wo ich geboren bin. Vielleicht habe ich die Worte, die ich in der Stille meiner Einsamkeit höre, oder die Bilder, die ich in meinen Träumen sehe, bereits vor meiner Geburt gehört und gesehen. Womöglich haben sie mich auf diese Weise darauf vorbereitet, Ehrfurcht vor dem Zauber dieser Welt zu empfinden und mich in Geduld zu üben, denn alles hat seine Zeit. Den richtigen Zeitpunkt zu erwischen, ist das Wesentliche im Leben.

 

Ob ihr es glaubt oder nicht, diese Geschichte beginnt im Walt Disney World Resort in Orlando, Florida, im Land der Träume. Das liegt daran, dass es damals nach jahrelangen Versuchen endlich gelungen war, einen englischsprachigen Verlag für meine Bücher zu finden. Dafür geht mein herzlichster Dank an meine Literaturagentin Vicki Satlow, die mich nie aufgegeben hat. Wenn ich ganz verzweifelt war und dachte, alle Mühen seien vergebens, sagte sie immer: Dein Tag wird kommen, und der Zeitpunkt wird stimmen … Meine geschätzten Lektorinnen Bettina Feldweg und Stefania de Pasquale haben dies ebenfalls gesagt, und auch ihnen bin ich dankbar dafür. So wurde mein Traum nach vielen Jahren doch noch wahr. Danken möchte ich auch Steve Goodman, der immer geduldig meine Manuskripte korrigiert.

 

Vor einigen Jahren flog ich also nach Florida, um mein Buch The Dolphin (Der träumende Delphin) in der englischsprachigen Welt bekannt zu machen.

Ich war in Disney World eingeladen, wo ich in einem schönen Geschäft drei Tage lang las, meine Arbeit vorstellte und mit Menschen aus aller Welt zusammentraf. Es war ein wunderbares Erlebnis! Egal, woher man kommt, welchem Geschlecht, welcher Hautfarbe oder welcher Altersgruppe man angehört – dort wird jeder wieder zum Kind. Ich auch!

Erika, die hübsche junge Frau, die in dem Geschäft arbeitete, verriet mir das Geheimnis von Disney World, das, worum es in dieser Zauberwelt vor allem geht.

»Weißt du, was das Geheimnis dieses Ortes ist?«, fragte sie mich.

»Um ehrlich zu sein – nein«, erwiderte ich. »Aber ich spüre, dass hier etwas in der Luft liegt, man hat das Gefühl, als wäre hier alles möglich.«

»Volltreffer!«, gab sie zurück und sah mich an. »Aber warum ist das so?«

»Ja, warum?«, fragte ich.

»Wenn du dieses magische Reich betrittst, bestimmt sich dein Alter anders als in der Welt dort draußen. Wie alt bist du?«

»Siebenundvierzig.«

»Nun ja, so zählt man das außerhalb dieses Zaunes.« Sie lächelte. »Aber solange du hier bist, läuft es anders.«

»Wie meinst du das?«

»Hier in Disney World ist dein wahres Alter die Quersumme deines ›Erwachsenenalters‹.«

»Und was bedeutet das?«, fragte ich.

»Also, Sergio, du hast gesagt, du seist siebenundvierzig. Aber hier und jetzt, in diesem Augenblick und an diesem Ort, bist du so alt wie die Summe der beiden Ziffern deines Alters.« Sie strahlte mich mit ihren schönen blauen Augen an. »Vier und sieben, ja?«

»Ja.«

»Tja, hier bist du jetzt keine siebenundvierzig mehr, hier bist du vier plus sieben, also elf!«

Und sie hatte recht. Ich fühlte mich wie elf, und es war toll. Ich bin der Überzeugung, man sollte immer und überall das Disney-World-Alter haben. Wer neunundneunzig ist, wäre dort achtzehn – und achtzehn ist das höchste Alter, das man in dieser Zauberwelt erreichen kann!

Aber die Sache hat einen Haken: Die meisten Menschen fühlen sich in Disney World jung, doch wenn sie dieses Reich der Magie verlassen und wieder nach Hause gehen, hört der Zauber auf. Das werde ich niemals verstehen.

Wie ich anfangs sagte: Manchmal versucht die Welt, es einem abzugewöhnen – aber ich glaube an Träume, so wie andere Menschen an Märchen glauben.

 

Crystal River

Crystal-River

 

 

An der Westküste Floridas gibt es einen abgelegenen Ort – dies ist das echte Florida, nicht Miami, die geschäftige Großstadt, in der sich viele Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben in dieses Land gekommen sind, nicht mehr an ihre bescheidenen Wurzeln erinnern wollen. Sie fahren einen BMW und besitzen ein großes Haus, sind umgeben von hektargroßen Einkaufszentren und konsumieren unentwegt. Sie streben nach einem Glück, das sie jedoch in dem, was sie tun, niemals finden werden. Geblendet von riesigen Wolkenkratzern, den Symbolen finanziellen Erfolgs, die die Stadt dominieren, sind sie den ganzen Tag im Auto unterwegs, ziehen von A nach B und kommen doch nie irgendwo an. In ihrem tiefsten Inneren sehnen sie sich danach, dem System zu entfliehen und ihre Sicherheitszone zu verlassen, und wissen dabei nicht, dass die Lösung sehr viel näher liegt, als sie denken, nämlich verborgen in ihren Herzen, verschüttet unter Dingen, die ihre fehlende Spiritualität ersetzen sollen.

Aber nun gut, woher nehme ich mir das Recht zu sagen, was falsch und was richtig ist!

Wenn diese Menschen von Miami doch nur einmal ein paar Stunden Richtung Westen fahren würden!

 

Nach einigen Lesungen in Miami machte ich mich auf den Weg an die Westküste Floridas. Hunderte von Kilometern ging es durch Sumpfland, es gab Straßenschilder, die mit »Crocodile Crossing« vor Krokodilen warnten. Das echte Florida, wild und heiß. In den Wassertümpeln der Sümpfe leben Flamingos, schöne Vögel aller Art flattern in den Bäumen, Schildkröten strecken die Köpfe aus dem Wasser und verschwinden gleich darauf wieder. In kleinen Städten führen die Menschen ein ruhiges, einfaches Dasein, umgeben von einer ursprünglichen Flora, die sich bis zum Horizont erstreckt.

Doch erst an der Westküste in der Nähe von Tampa verändert sich die Landschaft tief greifend. Die Hitze weicht der leichten Brise, die vom Golf von Mexiko herüberweht, auf das Sumpfland folgen üppige grüne Wälder, durchzogen von kristallklaren Flüssen. Dort gibt es viele Naturschutzgebiete, Städtchen mit liebenswürdigen Menschen, die ein gemächliches Leben haben und keine Eile kennen. Alle Menschen und Tiere leben in Frieden und Eintracht in diesen Wäldern zusammen.

Nun ja, fast alle …

 

Dies ist das Land der Waschbären, der Fuchshörnchen, der Eulen und Steinadler, ja selbst Delfine schwimmen manchmal die Flüsse hinauf zu den vielen Seen und Tümpeln. Dort finden sie Fisch, den sie in den Wintermonaten zum Überleben brauchen, und sind vor den Raubfischen des Golfs von Mexiko sicher.

Vor allem aber ist es das Reich der zauberhaften Manatis. Manatis, auch Seekühe genannt, sind große Meeressäuger. Der Name Manati stammt aus der Sprache der Taíno, eines indigenen, präkolumbischen karibischen Volkes, und bedeutet »Brust« – in früheren Zeiten hielten Seeleute die Manatis für Meerjungfrauen.

Manatis sind vornehmlich Pflanzenfresser, die meiste Zeit grasen sie in seichtem Wasser in ein, zwei Metern Tiefe. Sie wiegen im Schnitt eine halbe Tonne, ausgewachsene Männchen mitunter mehr, und können bis zu viereinhalb Meter lang werden. Sie bewegen sich üblicherweise mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von drei bis sieben Kilometern pro Stunde, im Bedrohungsfall können sie aber bis zu fünfundzwanzig Kilometer pro Stunde erreichen. Sie leben sowohl in Salz- als auch in Süßwasser, bevorzugt in seichten, wärmeren Küstenabschnitten, aber auch in Flüssen, Lagunen und Mangroven. Sie bewegen sich frei zwischen Gewässern von unterschiedlichem Salzgehalt hin und her, schwimmen aber nie ins offene Meer hinaus.

Die Kälber sind in den ersten Monaten ganz von der Mutter abhängig und werden mit ihrer warmen, gehaltvollen Milch gesäugt, bevor sie beginnen, feste Nahrung in Form von Seegras und Algen vom Gewässergrund zu sich zu nehmen. Der Karibik-Manati kann bis zu sechzig Jahre alt werden.