Cleverly, Sophie Das Geheimnis von Rookwood - Flüsternde Wände

 

Bücher für coole Mädchen.
www.piper.de/youandivi

 

Übersetzung aus dem Englischen von Andreas Decker

 

© Sophie Cleverly 2015
Titel der englischen Originalausgabe: »Scarlet and Ivy. The Whispers in the Walls«, bei HarperCollins Children's Books, London 2015
© you&ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: zero-media.net, München
Coverabbildung: FinePic®, München

 

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Im Gedenken an Sir Terry Pratchett

 

»Wisst ihr denn nicht, dass ein Mann nicht tot ist,
solange sein Name noch erwähnt wird?«

 

ALIS GRAVE NIL

Für die, die Flügel haben, ist nichts zu schwer.

 

DAS SCHULMOTTO VON ROOKWOOD

Prolog

Mein Name ist Scarlet Grey, und bis heute glaubte ich, für alle Ewigkeit verloren zu sein.

Mitten in der Nacht verschleppte man mich aus der Rookwood School, sperrte mich in eine Anstalt und gab mir einen neuen Namen. Man sagte mir, ich sei verrückt. Man sagte mir, ich hätte mir alles, was geschehen war, nur eingebildet.

Alle anderen vergaßen mich.

Alle außer meiner Zwillingsschwester Ivy . . .

 

Ich traute meinen Augen nicht. Im Fenster glaubte ich, mein Spiegelbild zu sehen. Und dann bewegte sie sich.

Sie legte die Hand an die Scheibe. Eine Minute lang konnte ich nur hinstarren. Unsere Blicke trafen sich durch das Fenster und ich hob meine Hand – ein perfektes Spiegelbild.

Ich war gerettet!

Ich riss die Tür auf und rannte hinaus. Schwester Joan rief mir etwas nach. Rutschend kam ich zum Stehen und schlang die Arme um meine Zwillingsschwester.

»Ivy! Bist du es wirklich?«

Sie sah mich nur an und brach in Tränen aus.

Vielleicht hätte ich auch weinen sollen, aber das konnte ich nicht. Noch nie zuvor war ich so glücklich gewesen. In diesem Augenblick hätte ich vom Boden abheben und schweben können. Sie hatte mich gefunden, ich war gerettet, ich kam raus aus der Anstalt. Ich war frei!

Also lachte ich stattdessen. Ich lachte und wirbelte meine Schwester herum, bis auch sie keine andere Wahl mehr hatte, als trotz der Tränen zu lachen. Beide sackten wir neben dem Teich zu Boden.

»Ach, Scarlet«, schluchzte sie. »Miss Fox hat mir gesagt, du wärst tot. Und das hab ich ihr geglaubt, das hab ich wirklich. Auch Vater hält dich für tot. Aber dann hab ich dein Tagebuch gefunden und alles zusammengesetzt, trotzdem hätte ich nie . . . ich hätte nie geglaubt . . .«

In dem Moment wurde mir bewusst, dass wir nicht mehr allein waren. Die Schwester und die Sekretärin waren gekommen, aber nicht nur sie.

»Miss Finch!« Ich sprang auf. »Warum sind Sie hier?«

Meine ehemalige Ballettlehrerin starrte mich an. In ihren großen Augen mischten sich Freude und Entsetzen. »Hallo, Scarlet.« Sie fuhr sich mit der Hand durch das rote Haar und atmete laut aus. »Ich kann es einfach nicht glauben. Du lebst. Ich muss mich setzen.«

Ich führte sie zu einer Bank, auf der sie sich unbeholfen niederließ. »Wenn ich meine Mutter je in die Finger kriege . . .«, murmelte sie.

Ihre Mutter?

Ivy stand vom Boden auf. Sie zitterte noch immer am ganzen Leib und wusste offensichtlich nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. »Wir holen dich hier raus«, sagte sie.

Die Realität stürzte wieder auf mich ein. Und wenn mich die Ärzte nicht gehen ließen? Wenn sie mich auch weiterhin für verrückt hielten?

Ich wandte mich an meine Zwillingsschwester. »Ist das wirklich alles passiert?«, fragte ich leise. »Das alles? Violets Intrigen? Der Kampf auf dem Dach? Dass Miss Fox sie weggeschafft hat?«

Ivy starrte mich einen Augenblick lang an, dann nickte sie. »Das alles und noch viel mehr.«

 

Miss Finch begleitete die Sekretärin zurück ins Gebäude. Beinahe hätte ich versucht, sie aufzuhalten. Ich wurde die Angst nicht ganz los, man würde sie überreden, mich hier zurückzulassen. Doch sie meinte, sie würde die Dinge richtigstellen und meine Entlassung bewirken.

Ivy und ich saßen Schulter an Schulter auf der Bank neben dem Teich. Genau wie wir es so oft als Kinder bei unserer Tante Phoebe getan hatten, lange bevor Ivy bei ihr einzog.

Sobald ich Ivy davon überzeugt hatte, dass ich unversehrt war, erzählte sie mir alles, was geschehen war. Ich erfuhr, wie man sie gezwungen hatte, nach Rookwood zu gehen und sich für mich auszugeben, hörte alles über ihre Suche nach den Tagebucheinträgen, ihre neue Freundin Ariadne, die böse, geldgierige Miss Fox und ihre heimliche Tochter: Miss Finch.

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich sprachlos.

Als sie geendet hatte, schnappte ich nach Luft wie einer der Goldfische. Schließlich gelang es mir, etwas zu sagen.

»Du weißt, was das bedeutet?«

»Was denn?«

»Ich bin ein GENIE. Mein Plan hat tatsächlich funktioniert! Du hast die Spur gefunden, die ich dir hinterlassen habe!«

Ivy warf mir einen finsteren Blick zu. »Du bist das Genie?«

Ich grinste.

»Wie ist es dir ergangen?« Plötzlich war ihre Miene wieder besorgt. »Dieser Ort, ich kann mir gar nicht vorstellen . . .«

Auf diese Frage war ich nicht vorbereitet. Ich runzelte die Stirn. Mir war schlecht. Trotz allem war ich jetzt doch frei, und allein das war wichtig, oder?

»Bitte«, beharrte sie. »Ich muss es wissen.«

Mir kam ein Gedanke. In der Tasche des schrecklichen grauen Kittels, den hier alle tragen mussten, hatte ich etwas, das sämtliche ihrer Fragen beantwortete. Wortlos gab ich es ihr.

 

Ich bin wahnsinnig.

Zumindest sagen sie mir das. Zuerst habe ich es nicht geglaubt. Natürlich war ich nicht wahnsinnig. Ich wusste, was ich gesehen hatte. Sie hieß Violet und Miss Fox hat sie verschwinden lassen. Ich war dabei. Ich habe alles niedergeschrieben, oder etwa nicht?

Mir kommen Zweifel. Sie sagten mir, ich hätte Wahnvorstellungen, hätte mir einen Zwischenfall auf dem Dach ausgedacht, bei dem eine Lehrerin ein Mädchen einfach verschwinden ließ. Dr. Abraham erklärte mir, dass das nicht die Wahrheit sein konnte. Warum sollte eine Lehrerin so etwas tun?
Es ergab nicht den geringsten Sinn. Ihm zufolge war es nur eine Wahnvorstellung, hervorgerufen von meiner Abneigung gegenüber Miss Fox. Ich müsste nur zugeben, dass ich die ganze Sache erfunden hätte, dann würde man in Betracht ziehen, mich nach Hause zu schicken.

Offensichtlich wollte ich es aber nicht zugeben. Und ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt nach Hause will. Natürlich möchte ich diese Hölle hier verlassen, aber weder mein Vater noch meine Stiefmutter haben mir auch nur einen Brief geschrieben. Falls sie wissen, dass ich hier eingesperrt bin, interessiert es sie nicht besonders. Die einzige Person, die es interessiert, ist Ivy, und sie kann unmöglich davon wissen. Denn dann würde sie kommen und mich holen.

Oder nicht?

Wie dem auch sei, die Tage vergehen. Sie nennen mich hier Charlotte, ganz egal, wie oft ich ihnen versichere, dass das nicht mein Name ist. Ich habe ein winziges Zimmer, das wie eine Zelle aussieht, mit Gittern vor dem Fenster. Es ist in diesem schrecklichen Minzgrün gestrichen, bei dessen Anblick ich mich am liebsten übergeben würde. Mittlerweile habe ich die Wände so lange angestarrt, dass ich ein Bild von jedem Riss, jeder Farbblase und allen Spinnweben malen könnte.

An Werktagen muss ich um zwölf zu Dr. Abraham. Er behauptet, ich würde unter einer »Geisteskrankheit« leiden. Doch ehrlich gesagt scheint es für ihn schon eine Geisteskrankheit zu sein, dass ich ein Mädchen bin. Bei den ersten paar Sitzungen habe ich ihn nur angeschrien, seine Papiere vom Schreibtisch gefegt und verlangt freigelassen zu werden. Dazu hatte er immer nur eines zu sagen: »Charlotte, du bist hysterisch!«

Hysterisch! Ich würde ihn gerne mal sehen, wenn man ihn hier einsperrte und sich alle so verhielten,
als wäre das nur zu seinem Besten. »SCARLET!«, brüllte ich zurück. »Mein Name ist Scarlet!« Es schien nichts zu helfen.

 

Ich habe kein Tagebuch mehr. Mein altes Tagebuch, das schön in Leder gebundene mit meinen Initialen »S. G.« auf dem Einband, ist jetzt in Einzelteilen über ganz Rookwood verteilt, und ich bete, dass meine Zwillingsschwester Ivy es findet. Einst hatte Ivy das gleiche Buch, nur mit ihren Initialen, aber sie war immer zu sehr damit beschäftigt, die Nase in anderer Leute Bücher zu stecken, um ihre eigene Geschichte niederzuschreiben.

Ich habe die Krankenschwestern ständig um ein Notizbuch angebettelt, in das ich etwas schreiben kann, und schließlich hatte Schwester Agnes ein Einsehen und brachte mir das hier, von dem sie bisher nur ein paar Seiten benutzt hatte. Das waren nur Einkaufslisten und langweilige Dinge wie »nicht vergessen, Tante Marie in Dover das Paket schicken«, also riss ich diese Seiten raus und baute Papierflieger daraus, was mir an diesem Ort, an dem die Tage lang und leer sind, eine gute halbe Stunde vertreiben half.

Ich wünschte, ich wüsste, wie lange ich schon hier bin. Bis heute hatte ich keine Möglichkeit, die Tage zu zählen. Ich habe versucht, Striche in die Wandfarbe zu kratzen, aber das haben schon so viele Insassen vor mir getan, dass ich mir meine Zeichen einfach nicht merken konnte.

Aber . . . Ich bin nicht wie sie. Einige von ihnen sind wirklich gestört, sie kreischen und weinen die ganze Zeit, und das tue ich nicht.

Es ist nur . . . manchmal, da denke ich, dass der Arzt vielleicht, nur vielleicht, recht hat. Warum sollte ich in einem Irrenhaus sein, wenn ich geistig völlig gesund bin? Vielleicht habe ich das alles ja wirklich nur erfunden.

Ich habe nur geträumt, eine Zwillingsschwester zu haben, die immer für mich da sein wird. Ich habe nur geträumt, ich wäre Daddys kleines Mädchen und er würde nicht zulassen, dass mir jemand etwas antut. Ich habe nur geträumt, dass es da ein Mädchen namens Violet gab, das sich in Luft aufgelöst hat.

Es gibt nur eine Möglichkeit, jemals zu erfahren, ob alles real war. Wenn Ivy mich findet. Aber es ist schon so viel Zeit vergangen . . . Es könnte zu spät sein. Die Spur, die ich hinterlassen habe, könnte zerstört worden sein. Miss Fox könnte sie gefunden und ins Feuer geworfen haben.

Doch ich darf die Hoffnung nicht aufgeben.
Ivy wird mich finden. Sie wird kommen.

Ich weiß es.

 

Ich sah Tränen über Ivys Gesicht strömen.

»Du hast es geschafft«, sagte ich. »Du hast mich gefunden!«

Sie warf das zerknitterte Notizbuch zur Seite und umarmte mich so fest, dass mir die Luft wegblieb.

»Ich werde dich nie wieder verlieren«, versprach sie.

1. Kapitel

Scarlet

Es ist nicht einfach, wenn man dem eigenen Vater sagen muss, dass man nicht tot ist, wenn er vom Gegenteil überzeugt ist. Aber konzentrieren wir uns auf das Positive: Zumindest war ich am Leben, um ihm das sagen zu können.

Am Tag nach diesem ersten Anruf aus der Irrenanstalt (auf eine lange Stille folgte langes Gebrüll) klopften Ivy und ich an der Tür des Hauses unserer Kindheit. Miss Finch hatte die Schule überredet, ein Zimmer in einer Pension zu bezahlen, bis alles geklärt und Vater aus London zurückgekommen war.

Es war ein kalter Tag Anfang November und wir standen zitternd auf den Stufen des Hauses.

Eine schreckliche Trollhexe öffnete die Tür.

»Oh. Da seid ihr wieder zu zweit«, höhnte sie.

»Wie schön, dich zu sehen, liebste Stiefmutter«, erwiderte ich und drängte mich an ihr vorbei.

Empört blies sie sich auf, während Ivy mir folgte. »Scarlet, wenn du glaubst, du könntest dich wegen dem, was passiert ist, hier benehmen, als würde dieses Haus dir gehören, dann irrst du dich gewal. . .«

Das Geräusch schwerer Schritte auf den Treppenstufen ließ sie mitten im Satz verstummen. Unvermittelt setzte sie, wie eine Maske, eine andere Miene auf und zog uns in ihre Arme. »Ach, ihr Mädchen«, säuselte sie. »Ich bin ja so froh, euch unbeschadet zu Hause zu haben.«

Vater betrat den Korridor. Als sich unsere Blicke trafen, holte er tief Luft und richtete den Knoten seiner Krawatte.

»Scarlet«, sagte er.

»Vater.«

»Ich kann es einfach . . . Ich kann es nicht glauben. Du bist hier.« Seine sonst so kalte Fassade zeigte ein paar Sprünge – Tränen funkelten in seinen Augen. Ich riss mich von meiner Stiefmutter los, rannte zu ihm und umarmte ihn. Er legte die Arme um meinen Hinterkopf, ohne mich dabei aber richtig zu berühren. Dennoch standen wir so nahe beieinander wie schon seit Jahren nicht mehr.

Ivy blieb zurück. »Wir müssen dir alles erzählen«, sagte sie. »Rookwood ist nicht nur schrecklich, es ist gefährlich. Und was Miss Fox getan hat . . .«

Unsere Stiefmutter schnaubte. »Das ist doch jetzt alles vorbei, oder nicht? Diese Miss Fox ist geflüchtet. Es besteht keine Notwendigkeit, euren Vater mit solchen Dingen zu behelligen.«

Vater richtete sich auf und sah seine Frau an. »Nein, Ivy hat recht. Ich will verstehen, wie das passieren konnte. Gehen wir ins Arbeitszimmer.«

Er führte uns von ihr fort, und trotz allem amüsierte mich ihr entsetzter Blick, weil man sie von dieser Unterhaltung ausgeschlossen hatte. Aber warum hatte sie überhaupt vermeiden wollen, dass wir über das sprachen, was geschehen war?

Der Weg durch das Haus führte uns vorbei an vertrauten Türen, Kaminen und Möbeln. Die Umgebung meiner Kindheit. Harry, einer meiner kleinen Stiefbrüder, spähte hinter einer Tür hervor und streckte mir die Zunge heraus. Was für eine Art, die eigene Schwester wieder im Reich der Lebenden willkommen zu heißen! Ich wollte ihm eine Ohrfeige geben, aber Ivy schnappte sich mein Handgelenk und zerrte mich weiter.

Das Arbeitszimmer meines Vaters war noch immer spärlich und langweilig möbliert; es gab einen Schreibtisch aus Mahagoni, einen Stuhl und ein paar Aktenschränke. Ivy und ich setzten uns neben dem Kamin, in dem ein Feuer halbherzig glühte, auf den Boden.

Vater ließ sich auf seinem Stuhl nieder und fing an, seine Brille zu putzen.

»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Ivy.

»Ich schon«, meinte ich.

Ich erzählte ihm alles, was geschehen war. Ich erzählte ihm von der gemeinen Violet, meiner Zimmergenossin, die mich herumkommandiert und mir nachspioniert hatte, wenn sie mir nicht gerade meine Sachen stahl. Ich erzählte ihm, wie die böse Miss Fox Violet einfach weggebracht hatte, nachdem sie oben auf dem Dach gedroht hatte, ein finsteres Geheimnis zu enthüllen. Ich erzählte ihm, wie ich danach versucht hatte, Miss Fox zu konfrontieren, und sie mich aus der Schule geschmuggelt hatte und in der Anstalt wegsperren ließ.

Vater starrte konzentriert auf einen Fleck an der Wand über meinem Kopf, aber sein scharfes Einatmen bei jedem Schockmoment in meiner Erzählung verriet mir, dass er zuhörte.

Am Ende ergriff auch Ivy das Wort und erzählte ihm, was sich in der Zwischenzeit auf Rookwood zugetragen hatte. Ich hatte einiges davon bereits in der Pension und während der Zugfahrt gehört. Wie Miss Fox mich versteckt hatte, um ihre eigene Haut zu retten, wie sie verhindert hatte, dass irgendjemand von der Existenz ihrer unehelichen Tochter erfuhr. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie ihren Lebensstil mit dem finanzierte, was die Eltern als Schulgeld zahlten (was vielleicht erklärte, warum das einzige Gericht auf dem Speiseplan immer Eintopf gewesen war).

»Es war ein Albtraum, Vater«, sagte ich zum Abschluss, »und ich bin so froh, wieder zu Hause zu sein. Wir können also bleiben?«

Er schaute mich an. »Nein.«

»Warum denn nicht?« Ich starrte ihn an.

Er nahm die Brille ab und legte sie auf den Schreibtisch. »Scarlet, das weißt du genau. Ihr müsst zurück auf die Schule.«

Eine Woge des Unbehagens stieg in mir auf.

»Aber Vater, jemand aus dieser Schule hat Scarlet in eine Irrenanstalt gesperrt und behauptet, sie sei tot«, sagte meine Zwillingsschwester. »Du kannst uns doch nicht wieder dorthin zurückschicken!«

Ich sah sie überrascht an. Die schüchterne, zaghafte Ivy hatte diesmal ihren Mund aufgemacht. Aber unser Vater schien das gar nicht zu bemerken. »Das war nur diese Miss Fox. Und die kommt nie wieder zurück.«

Mit geballten Fäusten stand ich auf. »Ich gehe nicht wieder dorthin zurück! Du kannst mich nicht zwingen!«

Vater ließ sich nicht aus der Reserve locken. »Edith hat nicht die Zeit, euch beiden hinterherzuräumen. Sie muss an die Jungs denken.«

Edith. Unsere Stiefmutter. Ich hasste die Art, wie er ihren Namen aussprach. Es war offensichtlich, dass sie ihm mehr bedeutete als seine Töchter.

Ich hörte, wie Ivy auf dem Teppich etwas murmelte.

»Was war das?«, fragte Vater.

Sie stand auf. »Ich sagte, bist du dir sicher, dass Edith nichts damit zu tun hatte? Sie war diejenige, die uns gesagt hat, dass Scarlet . . . du weißt schon . . . Sie hat doch die Leiche identifiziert, oder? Sie hat angeboten, sich um die Beerdigung und alles andere zu kümmern . . .«

Unser Vater schwieg, und eine Sekunde lang glaubte ich, er würde sie schlagen. Aber dann atmete er nur zittrig aus, bevor er wieder sprach. »Sei nicht albern. Sie sorgt sich um euch. Das tun wir beide. Darum wollen wir ja, dass ihr eine gute Schulbildung erhaltet und zu unabhängigen jungen Damen werdet.«

Ivy starrte zu Boden, und ich wusste, dass sie sich daran erinnerte, wie er das zum ersten Mal gesagt hatte. Wie er mich zum ersten Mal fortgeschickt hatte.

»Vater«, sagte ich leise. »Tu das nicht. Schick uns nicht zurück nach Rookwood. Bitte.«

Er schüttelte den Kopf. »Ihr hattet es schwer, das ist mir bewusst. Ich denke darüber nach.«

Er drängte uns aus seinem Arbeitszimmer und ließ uns im Korridor stehen. Ich biss die Zähne zusammen und zog in Betracht, ordentlich gegen seine Tür zu treten. Aber dann entdeckte ich Harrys dämliche Visage aus der Wohnzimmertür zu uns herüberstarren.

Ich rannte auf ihn zu. Er wollte sich hinter einem Sessel verstecken, aber ich packte ihn am Kragen und zog ihn in die Höhe.

»Was hast du vor, du kleine Ratte?«, wollte ich wissen.

»Nichts!« Er versuchte, sich loszureißen und abzuhauen.

»Jede Wette, dass du gelauscht hast!«

Er trat mich gegen das Schienbein. Einen Augenblick lang war ich abgelenkt und ließ ihn los. »Ich wünschte, du würdest wieder verschwinden!«, brüllte er, rannte auf die andere Seite des Zimmers und versuchte, sein unordentliches Haar zu glätten. Was völlig sinnlos war, weil es immer wie ein Vogelnest aussah.

»Du kleiner . . .« Ich hob die Faust. Ivy packte meinen Arm.

»Mummy hasst euch«, rief er. »Wir waren viel besser ohne euch dran. Wir hatten sogar Geld und ich bekam neue Schuhe und . . .«

Vermutlich hätte er weitergesprochen, aber ich stürmte auf ihn los. Ich wollte ihn mir erneut schnappen, doch er duckte sich unter meinem Griff weg und rannte schreiend hinaus. Ugh. Was für ein schrecklicher Stinker.

In dem plötzlich so stillen Wohnzimmer meldete sich Ivy zu Wort.

»Scarlet«, flüsterte sie. »Ich glaube, ich hatte recht. Unsere Stiefmutter war bestimmt in die Sache verwickelt. Wenn sie mehr Geld hatten, dann weil Miss Fox sie bestochen hat mitzumachen.«

Ich ballte die Fäuste so fest, dass sich die Nägel in meine Haut gruben. »Darauf kannst du Gift nehmen. Diese widerliche Trollhexe. Ich bringe sie um! Ich . . .«

Ivy unterbrach mich. »Aber einmal angenommen, es stimmt. Wie konnte Miss Fox wissen, dass unsere Stiefmutter uns aus dem Weg räumen wollte?«

Hitze stieg in meinen Wangen auf. Natürlich. Da gab es etwas, das ich vergessen hatte. »Oh. Mein erster Schultag. Möglicherweise hatten wir da eine kleine Meinungsverschiedenheit vor versammelter Mannschaft, Miss Fox eingeschlossen. Möglicherweise war ich zu unserer lieben Stiefmutter etwas beleidigend, und vielleicht hat sie gebrüllt, dass ich ein Parasit bin und es besser wäre, wenn ich für immer verschwinde.«

Ivy ließ sich auf den Sessel fallen und begrub den Kopf in den Händen. »Scarlet«, sagte sie schließlich mit gedämpfter Stimme, »willst du damit sagen, dass ein Teil dieses Schlamassels nur passiert ist, weil du dich nie beherrschen kannst?«

Ich zuckte mit den Schultern. Woher hätte ich wissen sollen, dass Miss Fox so abscheulich sein könnte, jeden von meinem Tod zu überzeugen?

 

Nachdem Ivy eine gefühlte Ewigkeit damit verbracht hatte, mich zu beruhigen, wollte ich raus in den Garten. Hinter den Dornenbüschen führte ein gewundener Pfad zwischen ein paar Bäumen hindurch zu einer Lichtung und einem sprudelnden Bach. Für uns war das ein ganz besonderer Ort. Eine gute Zuflucht.

Als wir am Arbeitszimmer vorbeikamen, hörte ich laute Stimmen. Es waren Vater und Edith. Ich blieb stehen und Ivy wäre um ein Haar in mich hineingelaufen.

» . . . MUSST sie zurückschicken.« Die Stimme unserer Stiefmutter drang durch die Tür. Ich legte das Ohr daran und Ivy folgte zögernd meinem Beispiel. »Sie müssen erwachsen werden.«

»Ich bin mir einfach nicht sicher, meine Liebe.« Das war Vater. »Können wir wirklich davon ausgehen, dass sie dort sicher sind?«

»Ihnen wird es gut gehen«, fauchte unsere Stiefmutter. »Es ist doch nur eine Schule! Ich komme hier einfach nicht mit ihnen KLAR, das weißt du. Sie müssen gehen.« Es folgte der letzte Schlag. »Entweder sie oder ich!«, kreischte sie.

»Sag du«, flüsterte ich. »Sag du!«

Eine unerträgliche Pause folgte.

Als Vater antwortete, war seine Stimme leiser, und ich musste mich anstrengen, sie zu verstehen. »Ich bringe sie morgen früh zurück«, verkündete er.

 

Wir durften zum Essen bleiben und bekamen ein Bett für die Nacht, aber das war auch schon alles. Gleich am nächsten Morgen würde uns Vater nach Rookwood zurückbringen, eine Tatsache, die mich vor Zorn schäumen ließ, während Ivy versuchte, mich zu trösten. Vater ließ mich einfach stehen, damit ich »mich an den Gedanken gewöhne«. Er hatte Glück, dass ich ihm nicht seine dämliche Brille zerbrach.

Unsere Stiefmutter tischte einen angebrannten Lammbraten mit verkochtem Gemüse zum Abendessen auf, während sie sich darüber ausließ, was für tapfere Mädchen wir doch gewesen waren. Harry und seinen Brüdern Joseph und John schien es egal zu sein, dass wir überhaupt weg gewesen waren, sie benahmen sich so schrecklich wie immer, schnitten Grimassen und bewarfen uns mit Erbsen. Ich schimpfte einen von ihnen aus, und die Trollhexe starrte mich mit aufgeblähten Nasenlöchern an, als hätte ich ihn angegriffen. Doch in Vaters Anwesenheit wagte sie kein Wort zu sagen.

Erschöpft entschuldigten sich Ivy und ich und wir stiegen die Treppe zu unserem Schlafzimmer hinauf. Ich betätigte den kleinen Lichtschalter aus Messing, sodass die beiden nebeneinanderstehenden Betten und der große Spiegel dazwischen erhellt wurden. Es gab noch eine Kommode und ein paar Gardinen, doch abgesehen davon war der Raum kahl.

Ich trug meinen Koffer hinein, einen kleinen Lederkoffer, der meine wenigen Besitztümer enthielt. So widerwärtig die Hexe Miss Fox auch gewesen war, zumindest das hatte sie mir mitgegeben, als sie mich in den Anstaltskerker von Rosemoor geworfen hatte. Sie musste den Ärzten so viele Lügen über mich erzählt haben, um sie davon zu überzeugen, dass ich eine hysterische Lügnerin war, die zu ihrem eigenen Schutz und dem anderer weggeschlossen werden musste. Wild schüttelte ich den Kopf. Dorthin würde ich nie wieder zurückkehren.

»Ach, Scarlet«, sagte Ivy und ließ sich auf ihr Bett sinken. Eine kleine Staubwolke stieg aus den weißen Laken auf. »Was sollen wir nur tun?«

Ich stellte mich vor mein Bett. »Edith vergiften? Weglaufen?«

»Vergiften kommt nicht infrage, Scarlet. Und wir können nicht immer davonlaufen. Wir haben weder Geld noch ein Auto. Man würde uns einfach einfangen und auf dem kürzesten Weg nach Rookwood bringen.«

»Dann graben wir uns eben dort einen Fluchttunnel«, sagte ich. Doch ich war albern und das wusste ich auch. Wir hingen fest.

Meine Zwillingsschwester betrachtete die Decke. »Es könnte schlimmer sein.«

Ich hasste Rookwood. Jeder Zentimeter dieses Ortes war mit schrecklichen Erinnerungen gefüllt. »Wie könnte es denn bitte schlimmer sein?«

»Ich könnte allein sein.«

Da lächelte sie mich an, ein Lächeln, das aus der Tiefe ihrer Traurigkeit emporstieg, und ich fühlte einen Teil meiner Wut schwinden.

»Du hast recht«, sagte ich. »Wir sind zusammen. Nur das ist wichtig.«

Ich sprang aufs Bett, mit Schuhen, aber das war mir egal.

»Wenn uns keine andere Wahl bleibt, als dorthin zurückzukehren, dann gehen wir eben zurück. Rookwood wird gar nicht wissen, wie ihm geschieht.«

2. Kapitel

Ivy

Monatelang hatte ich geglaubt, meine Schwester sei für alle Ewigkeit von uns gegangen. Und jetzt saß sie neben mir in dem Automobil, das uns zu einem Ort zurückbrachte, an den keiner von uns einen Fuß setzen wollte. Und ich musste mich davon überzeugen, dass sie real war. Ständig tastete ich deshalb nach ihrem Arm.

Vaters Auto war bequem, roch aber stark nach seinem Pfeifentabak – er bestand darauf, die ganze Strecke über zu rauchen. Unbeholfen versuchte er, sich mit uns zu unterhalten. »Wie bist du im Unterricht mitgekommen, Ivy? Was macht das Ballett?« Als gäbe es keine anderen Themen.

Je näher wir Rookwood kamen, umso nervöser wurde ich. Ich war nur wenige Tage fort gewesen, aber seit ich wusste, was dort passiert war, schien mir der Ort noch einschüchternder und unheilvoller als zuvor. Ich musste mir immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass alles in Ordnung war: Ich hatte Scarlet, ich hatte Ariadne, und Miss Finch war auf unserer Seite. Miss Fox war weg und kam auch nicht zurück.

Der Wagen rollte durch das Schultor. Die Steinkrähen auf den Säulen griffen mit ihren Krallen nach uns. Scarlet drückte meine Hand fest, aber als ich sie musterte, war ihr Ausdruck so entschlossen wie immer. Die hohen Bäume beugten sich über uns, ihre spröden Blätter raschelten im spätherbstlichen Wind.

Als wir vor dem Eingang anhielten, rückte Scarlet von mir ab und stieg wortlos aus. Ich beugte mich vor und sah zu, wie sie mit ihrem Koffer die Stufen emporstieg. Ich vermochte nicht zu sagen, ob sie Vater das jemals verzeihen würde.

Ich blieb im Auto sitzen. Wenn das meine einzige Chance war, um mit Vater zu sprechen, musste ich sie ergreifen. »Gibt es denn keine andere Möglichkeit? Musst du uns hier lassen?«

Er wandte den Kopf nach hinten und musterte mich. Ich blieb auf dem Ledersitz hocken. »Wir haben das doch besprochen, Ivy.«

»Ich weiß, aber es muss eine andere Möglichkeit geben. Und wenn wir bei Tante Phoebe wohnen? Sie ist bestimmt einsam.«

Vater stieg aus und öffnete ruckartig meine Tür. Dann ging er vor mir in die Hocke und schaute zu mir hoch, eine Geste, bei der ich mich wieder wie ein kleines Mädchen fühlte. »Ich weiß, du hast Angst, die Dinge werden wieder so schlimm wie zuvor.« Er warf Scarlet einen Blick zu, die demonstrativ auf die Steinfriese über dem Eingang starrte. »Aber das ist jetzt alles Vergangenheit. Wir müssen nach vorn blicken. Der Schuldirektor, Mr. . . .«

»Bartholomew.«

»Bartholomew, richtig. Er hat mir und deiner Stiefmutter versichert, dass alles in Ordnung kommt, dass alles geregelt ist. Du brauchst eine Schulbildung und diese Einrichtung ist der beste Ort dafür. Deine Schwester kann so lange schmollen, wie sie will, aber eines Tages wird sie begreifen, dass wir das Richtige getan haben.«

Ich schaute auf ihn herunter, wie er dort auf dem Kies kniete, auf die grauen Strähnen in seinem Haar und den zerknitterten Anzug. Das kleine Mädchen in mir wollte ihn umarmen und ihm sagen, wie sehr ich ihn vermisst hatte. Aber dieses Mädchen war ich nicht mehr.

Also sagte ich stattdessen: »Du irrst dich.«

Ich schnappte mir meinen Koffer und drängte mich an ihm vorbei. Dabei hörte ich sein schockiertes Keuchen, aber ich würde nicht nachgeben. Diesmal nicht.

»Ich liebe euch, Mädchen«, rief er mir hinterher.

Ich schaute nicht zurück. Ich stieg die Steinstufen hinauf und nahm Scarlets Hand. Sie zog mich durch den Eingang und wir ließen Vater weit hinter uns.

 

»WIE KANN ER ES WAGEN?«, brüllte Scarlet, während die Tür hinter uns ins Schloss fiel. »Wie kann er es wagen, so zu tun, als wäre das alles nur zu unserem Besten?«

Rookwoods besorgte Sekretärin schaute auf und flüsterte: »Pst«, aber es war eines der zaghaftesten »Psts«, die ich je gehört hatte.

Meine Zwillingsschwester ignorierte sie einfach. »Dieser alte Heuchler! Die Jungs können bei ihm machen, was sie wollen, aber wir sollen hier verrotten. Nach allem, was passiert ist!« Sie trat gegen die Wand. »Das ist so unfair!«

»Ähem . . .«

Ich wandte den Kopf. Es war Mrs. Knight, die Leiterin von Richmond House, die auf der anderen Seite der Eingangshalle stand.

»Bitte lassen Sie die Wand in Ruhe, Miss Grey. Und könnten Sie wohl unser aller Ohren schonen, indem Sie die Stimme senken?«

»Es tut mir leid, Miss«, sagte ich. Scarlet runzelte lediglich die Stirn.

»Wir haben Sie erwartet: Mr. Bartholomew hat die nötigen Vorkehrungen getroffen. Ich bringe Sie jetzt in sein Büro.« Sie schenkte mir ein Lächeln, doch es wirkte unsicher. »Miss Carver wird jemanden damit beauftragen, Ihre Koffer in Ihr Zimmer zu bringen.« Sie meinte die Sekretärin, die Scarlet misstrauisch beäugte.

Ich warf meiner Schwester einen Blick zu, um zu sehen, ob sie das verstanden hatte: Sollten wir uns ein Zimmer teilen? Sie sah mich fragend an.

»Hier entlang«, sagte Mrs. Knight, während wir unsere Koffer vor dem Schreibtisch abstellten. Es war Sonntagmorgen, darum waren die Unterrichtsräume, an denen sie uns vorbeiführte, leer und stumm, als würden sie schlafen. Mit gesenkter Stimme fügte sie hinzu: »Ich hoffe, Sie können vergessen, was Sie durchgemacht haben, Scarlet, und noch einmal von vorn anfangen. Wir waren alle so entsetzt, als wir erfuhren, was Miss Fox getan hat.« Scarlet verzog das Gesicht, antwortete aber nicht.

Als wir uns Miss Fox’ Büro näherten, pochte mein Herz, aber zu meiner Überraschung stand die Tür weit geöffnet. Männer in Anzügen stöberten in ihren Akten herum. Die schrecklichen ausgestopften Hunde standen noch immer dort, mit glasigem Blick und grotesk.

Miss Fox war Gott sei Dank weg. Ich hoffte, dass Vater recht hatte und Mr. Bartholomew alles für uns verbessern würde.

Bevor ich Zeit hatte, länger darüber nachzudenken, waren wir vor einer weiteren schweren Holztür angelangt, auf deren Schild in strengen Großbuchstaben DIREKTOR stand.

Mrs. Knight klopfte schüchtern. Ein Husten antwortete ihr, gefolgt von einem rasselnden »Herein«. Sie bedeutete uns hineinzugehen, und ich hoffte, sie würde sich uns anschließen, stattdessen schloss sie nur schnell die Tür hinter uns.

Dieses Büro war groß. Doppelt so groß wie das von Miss Fox. Ein gewaltiger Steinkamin in der Ecke enthielt ein tosendes Feuer, vor den holzgetäfelten Wänden erhoben sich dunkle Möbel. Fenster gab es keine.

Ein Eichentisch nahm fast den ganzen Platz ein. Dahinter stand ein hoher Lederstuhl, mit einem grauhaarigen Mann, der sich stark vornüberbeugte. Mit zitternder Hand zog er eine Taschenuhr an ihrer Kette aus der Jackentasche. »Sie kommen spät.« Seine Stimme rasselte schrecklich.

Scarlet und ich blickten einander entsetzt an.

Er bedeutete uns, auf den beiden Stühlen vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen, und wir gehorchten sofort.

Er sprach langsam, ohne uns dabei richtig anzusehen, als würde er über jedes Wort sorgfältig nachdenken. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen. »Meine Damen, willkommen zurück auf Rookwood. Wie ich gehört habe, war die letzte Zeit . . . schwierig. Aber ich kann Ihnen versichern, dass das nun vorbei ist.«

Er schwieg. Sollte ich etwas sagen? »Vielen Dank, Sir?«, flüsterte ich.

Er fuhr fort, beinahe so, als führe er ein Selbstgespräch. »Ich habe mich immer gefragt, ob es richtig von mir war, einer Frau die Leitung meiner Schule anzuvertrauen. Jetzt kenne ich die Antwort.«

Ich packte Scarlets Hand unter dem Tisch, nur für den Fall, dass sie gleich anfangen würde, ihn anzubrüllen. Aber sie presste die Lippen zusammen.

»Sie müssen verstehen, es geht um die Schule. Lehrer und Schüler kommen und gehen, aber die Schule bleibt. Das ist alles, was zählt.«

Wir nickten. Worauf wollte er eigentlich hinaus?

»Wenn die Rookwood School überleben will, muss ihr Ruf unbeschadet sein. Wir sind nichts als das Bild, das wir der Welt präsentieren.«

Offensichtlich hatte Scarlet genug davon, sich auf die Zunge zu beißen. »Und was hat das mit uns zu tun, Sir?«

Mr. Bartholomew richtete sich auf seinem Stuhl auf. Da wurde mir klar, dass er in Wirklichkeit ein sehr großer Mann war. Er richtete den Blick auf meine Zwillingsschwester und kniff dabei die Augen zusammen. »Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen eine Frage gestellt zu haben, Miss Grey.«

Ich zuckte zurück, aber Scarlet ließ sich nicht einschüchtern. »Das haben Sie auch nicht, Sir.«

»WARUM REDEN SIE DANN?«, brüllte er sie an.

Scarlet blinzelte. Ich hatte das Gefühl, mein Herz wäre stehen geblieben.

Und dann sackte der Schuldirektor wieder in sich zusammen und hustete.

Als er schließlich sprach, war seine Stimme zu ihrer vorherigen Lautstärke zurückgekehrt. »Rookwood ist stolz auf sein Schulsystem, seinen hohen Unterrichtsstandard und die Sicherheit seiner Schüler. Sie werden nichts tun, um das zu gefährden. Aber«, ein weiteres Husten, »ich versichere Ihnen, dass sich das, was Ihnen geschehen ist, nicht wiederholen wird. Nicht, solange ich hier den Befehl habe.«

Wir saßen da und wollten kein Wort sagen.

»Das ist alles. Sie dürfen gehen.«

 

»Was hatte das denn zu bedeuten?«, fragte ich Scarlet, nachdem ich meinen Schock überwunden hatte.

»Frag mich nicht.« Als wir zur Treppe gingen, überfiel mich wieder dieses seltsame Gefühl und ich bezweifelte, dass meine Zwillingsschwester wirklich bei mir war. Nie zuvor war ich mit ihr durch diese Korridore gegangen. »Glaubst du, wir können ihm vertrauen?«, fragte ich, während wir die Stufen hinaufstiegen.

Scarlet lachte sarkastisch. »Ihm vertrauen? Er sieht aus wie ein Vampir

Ich riskierte ein Lächeln. »Wenigstens ist er nicht Miss Fox. Und offensichtlich mag er sie nicht. Vielleicht deckt er alles auf, erzählt allen in der Schule, was wirklich geschehen ist.«

»Möglicherweise. Schließlich werden die Leute bestimmt merken, dass es plötzlich zwei von mir gibt.«

Wir waren gerade oben an der Treppe angekommen, als jemand gegen mich prallte und mich rücklings auf den Teppich stürzen ließ.

»IvydumeineGütedubistzurück!«

Verblüfft schaute ich auf und entdeckte ein vertrautes, lächelndes Gesicht.

»Ariadne!«, schrie ich.

»Hallo!« Meine Freundin schob sich den Ring aus schwach braunen Haaren aus der Stirn. »Ich freue mich ja so, dich zu sehen! Und . . .« Sie drehte sich um und nahm meine Zwillingsschwester wahr, die echt verblüfft aussah. »Scarlet! Scarlet ist hier! Du hast sie gefunden, du hast es tatsächlich geschafft!«

wir