Wiseman, Kate Gangster School – Gruffel in Gefahr

Bücher für coole Mädchen.
www.piper.de/youandivi

 

Übersetzung aus dem Englischen von Michaela Link

 

© Kate Wiseman 2018
Titel des englischen Originalmanuskripts: »The School for Scumbags«
© you&ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2019
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagabbildung: FinePic®, München

 

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Für (Bad)Penny
Danke für deine verrückten Einfälle

Kapitel 1

»Wir werden alle STERBEN!« Die Feststellung endete in einem schrillen Kreischen.

Edgar Borgia, Blaggard’s Lehrer für Professionelles Lügen, kämpfte mit dem Lenkrad des Schulbusses. Ungebremst wie ein Vampir beim Metzger schlingerte der Kleinbus eine schmale Landstraße entlang, auf eine Schafherde zu, die nach allen Seiten davonstob. Borgia schwitzte noch stärker als sonst und seine Hände waren so glitschig, dass sie immer wieder vom Lenker abrutschten.

»Jetzt reiß dich doch mal zusammen! Hier, nimm das Taschentuch!«, fuhr Jane Vipond ihn an, seine übellaunige Freundin und Lehrerin für Trotz und Unhöflichkeit im Alltag. Sie zog einen Hauch von Spitze aus dem Ärmel ihres gestreiften Gehrocks und hielt ihn Borgia hin. »Wisch dir die Schweißflossen ab, du Depp! Dann hast du auch das Lenkrad im Griff.« Miss Vipond war nie nett. Nicht einmal dann, wenn sie Hand in Hand mit dem Mann, den sie gerade anfauchte, durch den Wald von Blaggard’s streifte. Selbst nicht einmal dann, wenn sie vielleicht bald alle tot waren.

»Ich kann die Spitze nicht nehmen, weil ich dann das Lenkrad loslassen muss«, stöhnte Borgia. »Und dann sind wir erst recht tot. Dieser Minibus ist – dämonisch!« Während er sprach, machte der Bus einen Schlenker über das holperige Gras. Borgia riss das Lenkrad herum und beförderte das Fahrzeug wieder auf die Straße.

Hinter ihm rappelte sich Milly Dillane vom Boden hoch und drehte sich zu Charlie Partridge um, ihrem besten Freund.

»Kannst du irgendetwas tun?«, stieß sie hervor. »Ich glaube nicht an dämonische Kraft, schon gar nicht von Schulbussen.«

Charlie war ein Genie, wenn es um elektronische Geräte oder Fahrzeuge ging. Sein technisches Geschick hatte sie in den letzten Monaten aus einigen wirklich vertrackten Situationen gerettet, seit er und Milly sich an ihrem ersten Schultag in Blaggard’s Schule für Große Gangster begegnet waren. Wenn einer dieses Problem lösen konnte, dann er.

Charlie strich sich das lange Haar aus den Augen und runzelte die Stirn. »Irgendetwas kontrolliert den Bus von außen. Wenn ich vorn wäre, könnte ich vielleicht …«

Er kämpfte sich auf die Füße und beugte den schlaksigen Körper über den Vordersitz. Im selben Moment schwenkte der Kleinbus plötzlich nach rechts und Charlie flog wieder zurück.

Milly hörte hinter sich ein Stöhnen und drehte sich um. Die drei Hauskapitäne von Blaggard’s – Jet Mannington, Jezebel Jackson und Seth Daggersby – hatten verschiedene Grünschattierungen angenommen. Jet Mannington war der Grünste von allen. Sein Gesicht zeigte jenes Smaragdgrün, das Milly an die satten Kaninchenwiesen in den Comics der Ahnungslosen erinnerte. Er hatte sich die Hand vor den Mund geschlagen und würgte wie eine Katze an einem Haarball.

»Mach das Fenster auf und kotz da raus!«, kreischte Jezebel Jackson und schleuderte ihr rotes Haar aus der Schusslinie. Seth Daggersby, der auf ihrer anderen Seite saß, schloss die Augen und schien die Gefahr verschlafen zu wollen.

Jet zog das Fenster auf und streckte den Kopf hinaus. Eine Mikrosekunde später aß er sein Frühstück zur allgemeinen Begutachtung rückwärts. Nicht, dass irgendjemand es genauer betrachten wollte, doch der Luftzug trug die unbeschreiblichen Brocken an Jezebel Jackson vorbei, bevor sie auf Seth Daggersbys schwarz-weißen Gehrock spritzten. Er öffnete ein Auge und rümpfte die Nase.

»Ich muss schon sagen, ungeachtet der Gefahr, in der wir schweben, ist die frische Luft die reinste Wohltat. Seit wir losgefahren sind, herrscht hier hinten ein abscheulicher Gestank.« Das kam von William Proctor, einem angehenden Superschurken, der von dem Schulgründer Sir Thomas Blaggard besessen war. Gerüchten zufolge las William am liebsten Lexika. Er saß ganz hinten.

Neben ihm beugte sich das naturwissenschaftliche Wunderkind der Schule, Tessa Brindle, allen bekannt als Tess Tube, zum offenen Fenster hinüber und rang nach Luft. Von dem Gestank tränten ihr die Augen.

Vor ihnen erhob sich ein hoher Hügel, auf dem ein unheimliches Gebäude stand. Der Minibus nahm noch mehr Fahrt auf.

»Gleich krachen wir gegen den Hang!«, kreischte Borgia.

»Nein, tun wir nicht.« Milly war überrascht, dass ihre Stimme so ruhig klang. »So weit kommen wir gar nicht. Davor liegt ein großer Graben. Wir steuern genau darauf zu.«

Borgia stieß einen weiteren langen, spitzen Schrei aus.

Er nahm die Hände vom Lenkrad und hielt sich die Augen zu, um den drohenden Unfall nicht mitansehen zu müssen. Eigentlich hätte der Minibus dadurch wieder von der Straße abkommen müssen, aber er blieb auf seinem gefährlichen Kurs. Es sah so aus, als hätte der Bus einen eigenen Willen entwickelt und wäre fest entschlossen, in den Graben zu stürzen, der immer näher kam.

Charlie hatte zurück auf die Füße gefunden und wollte wieder über den Vordersitz klettern.

Zwanzig Meter vor ihnen erwartete sie der Graben. Er war mit spitzem Schilf und öligem schwarzem Wasser gefüllt.

»Zu spät«, murmelte Milly mit trockenem Mund. »Uns bleibt keine Zeit mehr.«

Kapitel 2

Charlie ließ sich in den Sitz zurückfallen, zog den Kopf ein und wappnete sich gegen den Sturz, die Splitter der zerberstenden Windschutzscheibe und das Hereinströmen von kaltem Wasser.

Milly hatte das Fenster neben sich öffnen wollen. Erst kürzlich waren sie während einer Fluchtstunde in alten Autos in einem abgelegenen See versenkt worden. Die Autos waren zu zerbeult gewesen, um in Praktisches Fluchtfahren noch von Nutzen zu sein.

»Solltet ihr jemals in diese Lage geraten, öffnet die Fenster, bevor sie unter die Wasseroberfläche sinken«, hatte Mister Weiss, ihr Fluchtlehrer, sie angewiesen und dabei seine Schnurrbartspitzen gezwirbelt. »Ist das Auto erst mal bis zum Dach unter Wasser, wird der Druck zu groß und ihr kriegt die Fenster nicht mehr auf. Ihr wollt doch nicht so enden wie Georgie Pickles.«

Georgie Pickles war ein ehemaliger Blaggardianer, der wegen eines einzigen Raubzugs mit unglücklichem Ausgang berühmt geworden war. Er hatte ein Weingut ausgeraubt, das seinen Wein in einem riesigen künstlichen See lagerte, und sich anschließend in seinem Fluchtwagen davonmachen wollen. Möglicherweise war sein Navi defekt gewesen, denn es hatte ihn geradewegs in den Alkoholsee geführt. Wohl in der irrigen Hoffnung, dass sein Wagen dann nicht untergehen würde, hatte er dessen Fenster geschlossen gehalten. Der Alkohol hatte Georgie in seinem blechernen Gefängnis wunderbar konserviert, und in Blaggard pflegte man zu sagen, der Glückspilz sei randvoll mit Wein gestorben.

Beim letzten Mal hatte Milly ihr Fenster mühelos öffnen und sich hindurchwinden können, bevor der Wagen auf den Grund des Sees gegluckert war. Diesmal rührte sich das Fenster nicht. Dann mach dich besser für den Aufprall bereit. Sie duckte und wappnete sich und schenkte Charlie ein verängstigtes, flüchtiges Lächeln.

Vorn im Bus war Edgar Borgia vor Schreck ohnmächtig geworden und Miss Vipond fluchte in einem fort, während sie über ihn gebeugt mit dem Lenkrad rang.

Milly machte sich nicht die Mühe, sich umzudrehen und nachzusehen, was mit den Blaggardianern los war. Das brauchte sie auch gar nicht, denn sie schrien laut. Milly wusste nicht, wer es war, aber einer von ihnen hatte einen hysterischen Anfall.

Milly ergriff Charlies Hand und schloss die Augen.

Und wartete.

Und wartete etwas länger.

Und noch länger.

Nach einem gefühlten Jahrtausend öffnete sie ein Auge.

Charlie tat das Gleiche.

»Wir sind nicht tot«, bemerkte er mit einem zittrigen Grinsen.

Milly öffnete beide Augen, um sich ein Bild von der Lage zu machen. »Immer noch besser, als im Graben zu liegen.«

Der Minibus hing schwankend über der Böschung, die steil zum Wasser hin abfiel. Die kleinste Bewegung der Fahrgäste, und er wippte gefährlich.

»Leute, ihr dürft euch auf gar keinen Fall bewegen!«, übertönte Milly mit lauter Stimme das Stöhnen der bleichen und verängstigten Blaggardianer. »Wir können immer noch kippen.«

Alle zuckten zurück. Es geschah instinktiv. Edgar Borgia erwachte aus seiner Ohnmacht, erkannte die Situation, kreischte vor Entsetzen und stürzte zur Fahrertür. Jane Vipond zerrte ihn zurück und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. »NICHT BEWEGEN!«, knurrte sie ihn an.

Er ließ sich auf den Sitz sinken und biss sich auf die Unterlippe.

»Hätte ich doch nur Dynamit mitgenommen, dann könnte ich jetzt die Türen absprengen«, meinte Miss Vipond bedauernd.

Darauf hatte niemand etwas zu sagen.

»William!«, rief Milly hinter ihr, ohne sich zu bewegen. »Sieh mal ganz vorsichtig nach, ob die hinteren Türen verschlossen sind. Wenn nicht, brauchen wir kein Dynamit.«

»Ausgezeichneter Vorschlag. Das ist wahrscheinlich unsere einzige realistische Fluchtmöglichkeit …«

Milly drehte langsam den Kopf. Charlie ebenfalls. Mit unendlicher Vorsicht streckte William die Hand nach der Türklinke aus. Er umfasste sie und zog.

»Ich kann bestätigen, dass sie unverschlossen ist!«, rief er leise.

»STOPP!«, schrie Miss Vipond Jet Mannington an. Als der hörte, dass es einen Ausweg gab, sprang er von seinem Platz auf und wollte zur Hintertür. Jet erstarrte und sank zurück auf den Sitz. Er wirkte gekränkt und verlegen zugleich.

»Zunächst einmal müssen die vorn sitzenden Leute nach hinten«, wies Jane Vipond sie an. »Sonst ist der Bus vorn zu schwer und kippt über. Edgar, steh auf, stell für ein paar Sekunden das Schwitzen ein und geh in den hinteren Teil des Busses … SACHTE! Und nicht jammern. Denk daran, du bist ein Blaggardianer. Benimm dich ausnahmsweise einmal wie einer!«

Borgia tat wie geheißen und zitterte bei jedem Schritt.

Jane Vipond folgte ihm.

Als sie ihren Platz verließ, knarrte der Bus und schwankte.

Alle hielten den Atem an.

Der Bus beruhigte sich. Ein bisschen.

Alle atmeten wieder.

Milly nickte Charlie zu. Er war oft etwas unbeholfen, als fühle er sich nicht ganz wohl in seinem langen Körper, doch jetzt glitt er geschmeidig wie ein Fassadenkletterer von seinem Sitz. Als er hinten angekommen war, folgte ihm Milly.

»Langsam wird es eng«, maulte Charlie und schob Jet Manningtons Ellbogen von seinen Rippen.

Milly runzelte die Stirn. »Tess, ich finde, wir sollten die Türen so weit wie möglich öffnen, und dann … stürzen alle gleichzeitig raus. Was denkst du?«

Nachdenklich kniff Tess Tube die Augen zusammen. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte sie und rieb sich das spitze Kinn, während sie über das Problem nachgrübelte. »Die Gesetze der Physik legen nahe …«

POCH! POCH!

Ein Furcht einflößender Mann klopfte an die Hintertüren des Minibusses. Die Tatsache, dass er feixte, verstärkte seine Wildheit.

»Hattet ihr genug?«, formte er mit den Lippen durch die Scheibe. »Augenblick.«

Er trat zurück und Milly sah, dass er einen kleinen schwarzen Kasten mit Schaltern trug. Als er sie betätigte, drehten sich die Räder des Minibusses.

Die Blaggardianer im Bus schrien laut und klammerten sich an den Sitzen und ihren Nachbarn fest.

Draußen stieß der Mann ein fieses Lachen aus. Er legte einen Schalter um. Die Räder standen still. Dann schnippte er mit den Fingern nach hinten.

Aus einer Garage schräg gegenüber rollte ein Panzer. Er war halb schwarz, halb rot gestrichen und schien einem Comic entsprungen zu sein. Er wirkte albern und böse zugleich und rumpelte auf den Minibus zu. Mehrere Jugendliche kletterten aus der Luke. Sie trugen seltsame Anzüge in den gleichen Farben wie der Panzer, halb rot und halb schwarz. Es war, als hätte jemand Unmengen roter und schwarzer Anzüge in der Mitte durchgeschnitten und dann falsch wieder zusammengenäht.

Mit geübten Griffen befestigten sie ein Abschleppseil an dem Kleinbus. Der Panzer fuhr zurück und zog den Bus langsam vom Rand des Grabens.

Nachdem diese Aufgabe vollbracht war, reihte sich die Brigade rot-schwarzer Retter rasch neben dem Mann mit der Fernsteuerung auf. Er gab sie an einen von ihnen weiter. Ein anderer reichte ihm einen gedrehten grauen Stock. Der Mann schien ihn in seine behandschuhte linke Hand zu schrauben.

Der Panzer wendete und holperte zurück in seine Garage.

Der Mann schlenderte zu den Hintertüren des Minibusses und zog sie auf. Blass und keuchend stürzten die Blaggardianer heraus.

Sie bildeten eine kleine Gruppe, richteten ihre förmlichen Gehröcke und banden sich die Einbrechermasken vor die Gesichter. Jet schien eine Ewigkeit zu brauchen. Für den besonderen Anlass hatte er sich bei Mantel und Degen, der Boutique für den eleganten Gangster, eine besondere Maske gekauft. Von ihren Bändern baumelten seine silbernen Initialen.

»Sie hat ein kleines Vermögen gekostet«, prahlte er. »Aber ich kann es mir leisten … Ich betrachte sie als Investition. Es ist eine große Chance für mich und ich will so gut wie nur möglich aussehen.« Seinem Lächeln nach zu urteilen, hielt er so gut wie nur möglich in seinem Fall für wirklich sehr gut.

Der grimmige Mann wartete und klopfte mit dem Fuß, bis Jet endlich fertig war. »Willkommen in Crumley’s Schule für Kleine Kriminelle!« Seine Stimme grollte wie Donner in einem kahlen Tal. »Ich hoffe, euch hat diese Vorführung crumleianischer Überlegenheit gefallen. Wir hätten euch mühelos mit unserer Autofernbedienung töten können. Stattdessen haben wir euch eine Lektion erteilt. Blaggard’s mag zwar früher einmal die beste kriminelle Schule gewesen sein, aber diese Tage sind vorbei. Heutzutage ist Crumley’s die Nummer eins.«

Kapitel 3

Es gab gemurmelten Widerspruch unter den Blaggardianern. Miss Vipond stieß ein Schnauben aus.

»Träumt weiter!«, empfahl sie.

Der Mann zog die Augenbrauen hoch – zumindest zog er die Stellen hoch, an denen seine Brauen gewesen wären, wenn er welche gehabt hätte.

Da das Schlimmste vorbei war, hatte Milly Zeit, ihn näher zu betrachten. Er sah aus wie ein Gargoyle in einem rot-schwarzen Clownskostüm. Er war ungewöhnlich groß und krummbucklig und sein zerklüftetes Gesicht wurde von einer Geierschnabelnase beherrscht. Seine harten Augen waren schwarze Nadelspitzen. Milly erkannte gleich, dass er eine Perücke trug, und fragte sich, warum er sich die Mühe machte. Das falsche Haar war blauschwarz wie ein Krähenflügel und fiel ihm bis auf die Schultern.

»Meinst du, er trägt die Perücke wegen einer Wette?«, murmelte sie.

»Falls ja, hat er hoffentlich nicht viel Geld gesetzt«, witzelte Charlie mit leiser Stimme.

Nicht weit entfernt befand sich eine alte Zugbrücke – der einzige Weg über den Graben. Daneben stand ein großes weißes Schild in Form eines Schafs. Darauf war in goldener Schnörkelschrift zu lesen:

Baggingtons Schaftrainingsschule
(nein, keine Schäferhunde, du taube Nuss, Schafe)

 

 

»Das klingt viel netter als Schule für Verrückte«, überlegte Milly laut.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Kinder, die hinter dem Gargoylenmann lauerten. Einige schienen etwa im gleichen Alter zu sein wie sie und Charlie, nämlich zwölf, während andere ein paar Jahre älter waren.

»Glaubst du, die Schreckenskammer eines Wachsfigurenkabinetts ist hier zum Leben erwacht?«, flüsterte Charlie Milly ins Ohr.

Milly verstand, was er meinte. Da war ein dünner Junge mit zurückgeöltem schwarzem Haar; zwei Mädchen, die sich so ähnlich sahen, dass sie Zwillinge sein mussten, nur dass eins schwarzes Haar hatte und das andere fast durchsichtig weißes; und ein dicker Junge, der so stark behaart war, dass Milly ihm am liebsten Stöckchen geworfen hätte.

Der Rest des Haufens bestand aus einem klein gewachsenen Mädchen mit einem derart unbändigen Wust an rotem Haar, dass Charlies eigener Wuschelkopf daneben geradezu fadenscheinig wirkte. Und dann gab es ein weiteres Mädchen, das fehl am Platz zu sein schien, ein Mädchen mit vertrauensvollen braunen Augen und dichten Locken. Sie sah aus, als sei sie einer der romantischeren Kunstfälschungen von Millys Dad entstiegen.

Plötzlich zuckte wie von selbst die linke Hand des Gargoylenmannes hoch. Sein Gehstock peitschte durch die Luft.

Millys Augenbrauen verschwanden unter ihrem Pony.

»Haltet euch von diesem Gehstock fern!«, zischte Miss Vipond ihren Schutzbefohlenen zu. »Ich wische das Blut nicht auf, wenn ihr ihm in die Quere kommt.«

Als Miss Vipond ihnen den Rücken zukehrte, sah Milly Charlie an und verdrehte die Augen.

»Ich weiß«, sagte er, als hätte er Gedanken gelesen. Kürzlich war herausgekommen, dass Miss Vipond mit einer zwielichtigen Bande superböser Blaggardianer unter einer Decke steckte. Milly und Charlie hatten gedacht, dass man sie zur Strafe feuern, wenn nicht sogar verstümmeln würde. Bis vor Kurzem war es ihnen völlig rätselhaft gewesen, wie sie bei Ms Martinet weiterhin gut dastehen konnte.

Edgar Borgia, der schmollend im Hintergrund gestanden hatte, trat jetzt vor. »Ihr seid alle in Sicherheit. Ich werde euch beschützen. Ich habe einen schwarzen Gürtel in Oregano.«

Sämtliche Blaggardianer seufzten angesichts der offensichtlichen Lüge, selbst Jet Mannington, der nicht der hellste Stern am Firmament war. Konnte Borgia wirklich so unfähig sein, wie es schien? Milly bezweifelte es.

»Sind Sie ganz sicher, dass Sie Oregano meinen?«, fragte William Proctor mit seinem messerscharfen Tonfall. »Ich glaube, das ist ein Küchenkraut, das man zur Verfeinerung von Speisen verwendet und das in Italien und auf der iberischen Halbinsel besonders beliebt ist.«

»Ich Rindvieh!«, stieß Borgia mit bebender Stimme hervor. »Ich muss es mit dem Kochbuch Spaß am Vergiften verwechselt haben, das ich mir aus der Bibliothek ausgeliehen hatte. Darin habe ich gestern Abend gelesen. Ich meine natürlich Origami.«

Charlie runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht, dass es in unserer Bibliothek Bücher übers Vergiften gibt. Das klingt eher nach Crumley’s als nach Blaggard’s. Und Origami ist das Falten von einem Blatt Papier zu kleinen Fröschen und Molchen. Wedeln Sie damit etwa Ihrem Feind vor der Nase herum und hoffen, dass er eine Froschphobie hat?«

Für einen Moment wirkte Borgia verwirrt. »Ah! Ich habe mit dem Gedanken gespielt, mir ein Origamischwert zu machen, das jeden Metalldetektor überwindet …«

»Oh, halt die Klappe, Edgar!«, befahl Miss Vipond. »Niemand glaubt dir. Nicht einmal ich.«

Borgia war eingeschnappt.

»Miss Vipond. Borgia«, sagte der Gargoylenmann mit funkelndem Blick. Er streckte die kalte rechte Hand aus, die an die einer Schaufensterpuppe erinnerte. »Willkommen.« Miss Vipond betrachtete die Hand, als bekäme sie gerade eine leere Klopapierrolle angeboten. Sie schlug sie weg.

Er blickte über den Rest der Blaggardianer hinweg. »Ich bin Doktor B L Zeebub, Direktor von Crumley’s.«

Man hatte die Blaggardianer ermahnt, nicht über den seltsamen Namen des crumleianischen Direktors zu lachen. Milly und Charlie hatten sich vorgenommen, nicht darauf zu reagieren, wenn es so weit war, aber wie sich herausstellte, fühlte sich Milly nach dem Zwischenfall mit dem Minibus nicht einmal ansatzweise fröhlich gestimmt.

Ohne eine Spur von Freundlichkeit in den Augen setzte Zeebub hinzu: »Willkommen zur Krimikon.«

Kapitel 4

Krimikon war die jährliche Konferenz für vielversprechende junge Straftäter. Sie fand weltweit an verschiedenen kriminellen Orten statt und es war eine große Ehre für aufstrebende Schurken, als Teilnehmer ausgewählt zu werden. Üblicherweise herrschte unter den Blaggardianern, die bei der Wahl gegeneinander antraten, ein erbittertes Hauen und Stechen.

Doch als verkündet wurde, dass in diesem Jahr Crumley’s der Gastgeber wäre, blieb die sonst übliche Begeisterung aus. Als das Ereignis näherrückte, häuften sich die Krankmeldungen bei Mrs Christie, der Hausmutter. Mit Blaggard’s Schulleiterin sprach sie sogar schon darüber, ob man den nationalen Notstand ausrufen oder die ganze Schule unter Quarantäne stellen sollte. »Von Lepra bis Beulenpest scheinen sie so ziemlich alles zu haben«, erklärte sie besorgt und zupfte an den Druckknöpfen ihres geblümten Hauskleids.

Griselda Martinet schnaubte und trug Mrs Christie auf, jedem kranken Schüler eine Riesendosis Lebertran zu verabreichen. Nachdem die ersten ihre Medizin geschluckt hatten und würgend zu den Toiletten gestürzt waren, kam es an der Schule zu einer wundersamen Massenheilung.

Der Grund für diese Zurückhaltung lag auf der Hand: Crumley’s und Blaggard’s waren Todfeinde und die Crumleianer wollten bestimmt Rache für die Demütigung üben, die sie erlitten hatten, als die Krimikon vier Jahre zuvor in Blaggard’s stattgefunden hatte. Damals waren drei Crumleianer mit schweren Schürfwunden vom Teppich im Krankenhaus gelandet und Crumley’s Lehrer für Rache und Demütigung hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten. Er arbeitete jetzt angeblich in einer Igelstation.

Nun bedachte Miss Vipond Crumley’s Direktor mit ihrem grimmigsten Blick. »Ihre kleine Demonstration ist vermutlich eine kindische Rache dafür, dass wir damals die Krimikon ausgerichtet haben. Lassen Sie sich gesagt sein, Zeebub, dass wir nicht beeindruckt sind. Und wir haben auch keine Angst.«

Der Gargoylenmann linste an seiner knochigen Nase entlang. Er zeigte den gleichen verächtlichen Gesichtsausdruck, wie Milly ihn vor Kurzem bei Miss Vipond gesehen hatte. Auf einem Schulausflug nach London, bei dem Theorien für den Raub der Kronjuwelen erarbeitet werden sollten, war sie von einem Hippie in einem orangefarbenen Pullover angetanzt worden, der ihr ein Gänseblümchen hingehalten und sie gebeten hatte, für den Weltfrieden zu spenden. Miss Vipond, der der Abscheu ins hübsche Gesicht geschrieben stand, hatte die welkende Blume an sich gerissen, sie dem Hippie in die Nase gesteckt und ihm gesagt, dass sie sich eher die Nasenlöcher mit einer stumpfen Nadel zunähen würde.

»Er schon«, sagte Zeebub und deutete mit dem Kopf auf Edgar Borgia. »Er hatte solche Angst, dass er sich fast in eine Pfütze auf dem Rasen aufgelöst hätte. Und was den Rest Ihrer Teilnehmer betrifft, sehen sie zu dumm aus, um sich vor irgendetwas zu fürchten. Sie werden wohl kaum die Grenzen des Verbrechens erweitern.« Er ließ den Blick über sie alle hinwegwandern, bis er schließlich bei Jet Mannington hängen blieb. »Ich gebe es nur ungern zu, aber dieser junge Straftäter sieht vielversprechend aus. Dein Name?«

Jet antwortete ihm mit selbstgefälliger Miene. »Ich halte am letzten Tag die Ansprache für Blaggard’s. Für diesen Anlass habe ich mir extra diese Maske gekauft«, fügte er hinzu und vollführte eine kleine Drehung, damit Zeebub das silberne JM sehen konnte, das ihm vom Hinterkopf herabbaumelte.

Jede Schule hatte einen Abgesandten bestimmen müssen, der eine Rede hielt, und Jet hatte Ms Martinet irgendwie dazu überredet, ihm diese Aufgabe zuzuweisen. Millys Vermutung, dass Bestechung im Spiel war, hatte sich später bestätigt.

»Sehr einprägsam.« Zeebub rieb sich so kräftig die Hände, dass sein Gehstock wackelte. »Mister Mannington. Ich hätte es wissen sollen. Willkommen.«

Milly kniff die Augen zusammen und bedachte Charlie mit einem vielsagenden Nicken.

Jane Vipond schenkte der Gruppe der Crumleianer einen geringschätzigen Blick.

»Ihr Haufen sieht noch schlimmer aus, wenn ich das mal so sagen darf. Oder auch nicht. In einer rechtschaffenen Krabbelgruppe habe ich schon mehr schurkisches Potenzial entdeckt und so weiter und so weiter und so weiter.« Sie gähnte unverhohlen und sah auf die Armbanduhr. »Das ist genug Unhöflichkeit für den Moment, nicht wahr? Können wir reingehen? Es ist kalt. Ich glaube, es wird bald schneien. Das wäre für diesen Scheißtag die Krönung.«

Zeebub nickte. »Ich glaube, Sie haben recht. An Halloween wird es wunderbar kalt sein.«

Miss Vipond gähnte abermals. »Na, wenn schon«, murmelte sie.

Unter der Führung von Zeebub und in sicherem Abstand voneinander überquerten die beiden Gruppen die Zugbrücke.

In der Zwischenzeit fuhr Borgia Blaggard’s schwarzen Schulbus rückwärts in eine der Garagen. Selbst aus der Entfernung sah sie so dunkel aus und hing so voller Spinnweben, dass Milly darin schon fast Victor Frankenstein herumschleichen und Schreckliches mit Elektrizität anstellen sah.

Als Borgia den Bus geparkt hatte und zu ihnen herübereilte, stiegen alle den steilen Pfad hinauf.

»Es war sehr merkwürdig«, sagte Borgia zu seiner Freundin. »Erinnerst du dich an die Schafe, die wir beinahe plattgemacht hätten? Eins davon muss uns gefolgt und in den Bus gesprungen sein, als Zeebub uns rausgelassen hat. Vor lauter Angst haben wir es nicht bemerkt. Es ist gerade rausgehüpft und davongehuscht.« Er sah sich um. »Keine Ahnung, wo es hin ist.«

Milly warf einen Blick über die Schulter. Charlie hatte Borgias Worte offenbar nicht gehört. Sie deuteten möglicherweise auf eine besorgniserregende Entwicklung hin – höchst besorgniserregend, vor allem, wenn man sie mit William Proctors Bemerkung über den grässlichen Geruch im Minibus verband.

Sie öffnete den Mund, um Charlie etwas zu sagen, dann schloss sie ihn wieder. Wenn sie endgültig darüber nachgedacht hatte und nicht mehr belauscht werden konnte, würde sie es später erwähnen. Sonst würde Charlie das mögliche Problem sofort lösen wollen und das konnte in einer Katastrophe enden. Milly drückte die Daumen und hoffte, dass sie sich irrte.

Argwöhnisch näherten sich Blaggardianer und Crumleianer.

Die ungewöhnlichen Zwillinge traten auf Jezebel Jackson zu. »Ich bin Angelica«, sagte die schwarzhaarige Zwillingsschwester. »Das ist meine Schwester Diabola. Wir finden dein Haar so schön.« Milly betrachtete das Trüppchen mit den Augen einer Künstlerin und musste zugeben, dass die Kombination der drei zusammengesteckten Köpfe ein eindrucksvolles Bild abgab – einer schwarz, einer weiß und einer rot.

William Proctor schien zu dem Schluss gekommen zu sein, dass das kleine Mädchen mit der roten Mähne eine mögliche Seelengefährtin war. »Ich bin William. Wie heißt du? Petrina Bullock? Das ist ein wirklich schöner Name. Meine Eltern waren Crumleianer, musst du wissen …«

Milly blendete seine Stimme aus.

Sie bemerkte, dass das hübsche Mädchen mit den Locken ernst mit Jet Mannington sprach. »Man hat euch doch gewarnt, oder? Dass ihr so tun sollt, als würdet ihr Zeebubs dämonische linke Hand nicht bemerken?« Sie hakte sich bei ihm unter. »Tut einfach so, als wäre alles vollkommen normal.«

Jet schien es die Sprache verschlagen zu haben. Er lächelte schwach.

»Ich habe von dir gehört«, fuhr das Mädchen fort. »Du bist berühmt. Ich bin sehr erfreut, dich kennenzulernen. Mein Name ist Trickery. Trickery Hackett. Du darfst mich Trixie nennen. Ich hoffe, wir können ganz viel Zeit miteinander verbringen.«

Jet errötete. »Das klingt toll«, murmelte er.

Milly seufzte. Sie ließ sich ein wenig zurückfallen und zog Charlie mit sich. »Denkst du, dass ein verliebter Jet weniger unausstehlich ist als ein normaler Jet?«, fragte sie.

»Das bezweifle ich.« Charlie verzog das Gesicht.

Milly beobachtete für einen Augenblick Tess Tube, die den Werwolfjungen nach seiner Haarfülle fragte, dann bemerkte sie, dass der dünne Junge mit dem geölten Haar auf sie zukam. Er bewegte sich so anmutig und lautlos wie ein Schlittschuhläufer auf einem zugefrorenen See.