Steve Ayan
Ich und andere Irrtümer
Die Psychologie der Selbsterkenntnis
Klett-Cotta
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Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg
unter Verwendung eines Fotos von © Dutchuncle/SHOUT
Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde
Printausgabe: ISBN 978-3-608-96353-3
E-Book: ISBN 978-3-608-11555-0
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
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Für alle, die sich noch
über sich selbst wundern
»Der Intellekt, als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums, entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung.«
Friedrich Nietzsche
»Wenn alles nur eine Illusion ist, habe ich
entschieden zu viel für meinen Teppich bezahlt.«
Woody Allen
Es gibt Bücher, die sprechen ihren Lesern aus der Seele. Sie erzählen schöne Geschichten von Bäumen, die fühlen können, oder vom Kontakt mit dem Jenseits oder davon, wie man Lügner durchschaut oder alles schafft, was man will. Und dann gibt es Bücher, die schildern ihren Gegenstand so, wie es sich damit tatsächlich verhält. Erstere – sozusagen die Abteilung Mythen und Märchen – sind oft erfolgreicher, letztere jedoch näher an der Wahrheit. Sie, liebe Leserin oder lieber Leser, müssen sich entscheiden. Wollen Sie hören, wie Sie Ihr wahres Ich(1) entdecken und in vollkommener Harmonie mit sich leben können? Dann schlagen Sie dieses Buch besser wieder zu. Wenn sie aber erfahren wollen, was sich über unsere Fähigkeit zur Selbsterkenntnis wissenschaftlich fundiert sagen lässt, auch wenn dies manchmal ernüchternd wirkt, dann sind Sie hier goldrichtig.
Wer ein Buch über die Psychologie der Selbsterkenntnis aufschlägt, hat gewisse Erwartungen. Eine könnte sein, eine Anleitung zur Selbsterforschung zu erhalten, samt Fragenbogen und Tipps, die einem zeigen, wie und wer man wirklich ist. Damit kann ich leider nicht dienen. Von solchen Fahrplänen zum Ich gibt es erstens mehr als genug, und zweitens liefern sie meist fragwürdige Resultate. Denn wer Sie wirklich sind, weiß niemand. Am wenigsten wohl Sie selbst!
Wir machen uns nirgends so viel vor wie auf dem Feld der Selbsterkenntnis. Wo, wenn nicht hier, sollten wir aufrichtig sein? Und wo, wenn nicht hier, fällt uns gerade das unsagbar schwer? Wenn man uns fragt, was uns persönlich auszeichnet, sind wir zwar kaum um eine Antwort verlegen. Wir meinen zumeist recht genau zu wissen, woran wir bei uns sind. Doch es gibt keinen absoluten Maßstab dafür, was das wahre Wesen eines Menschen ist. Wie klug, mutig oder mitfühlend ich bin, hängt von den Leuten ab, mit denen ich mich vergleiche. Unter Nobelpreisträgern, Drahtseilartisten oder Seelsorgern stehe ich entsprechend schlecht da. Und um genau das zu vermeiden, wähle ich einen für mich günstigeren Vergleich »nach unten«. Die Selbstbetrachtung soll uns in erster Linie beruhigen und Sicherheit spenden: Brust raus, Bauch rein – du bist gut so, wie du bist!
Forscher wissen um diese nur zu menschliche Schwäche und messen die Selbsturteile ihrer Probanden daher an weiteren Parametern: Etwa am Verhalten des Betreffenden, an den Einschätzungen seiner Freunde oder Verwandten sowie an verdeckten Persönlichkeitstests. Doch keine dieser Quellen liefert eine objektive Wahrheit. Wie wir sind, ist nichts Feststehendes, Absolutes, sondern fußt stets auf einer Bewertung, einer Norm, die sich aus dem Verhältnis zu anderen ergibt. So gilt ein witziger Westfale unter Franken leicht als humorlos und ein extrovertierter Emsländer unter Kölnern als verschlossener Kauz. Selbsterkenntnis ist keine Frage von richtig oder falsch, sondern eine Zuschreibung, die mal mehr und mal weniger für sich hat, mal mehr und mal weniger hilfreich ist. Der Wunsch, sich auf bestimmte Eigenschaften festzulegen, birgt dabei eine Gefahr: Er lässt uns leicht übersehen, wie wandlungsfähig unser Ich tatsächlich ist. Und das kann uns viele Chancen verbauen statt sie zu eröffnen.
Eine andere, häufige Erwartung an Bücher wie dieses lautet, sie mögen eine griffige Theorie der Persönlichkeit präsentieren. An solchen Modellen herrscht ebenfalls kein Mangel. Allerdings pressen sie die menschliche Persönlichkeit oft in Schablonen – von der anthroposophischen »Leibertheorie«, wonach wir alle sieben Jahren eine höhere Seinsstufe erklimmen, bis zu jener auf die antike Säftelehre zurückgehenden Typologie der Choleriker, Melancholiker, Sanguiniker und Phlegmatiker. Im Folgenden geht es nicht um solche holzschnittartigen Klischees, sondern um den Blick der Forschung, die zunächst einmal konstatiert, wie Menschen das eben machen: sich selbst betrachten, sich erklären und sich für den Alltag wappnen. Denn dies ist der eigentliche Zweck unseres Selbstbilds: Es soll uns helfen, das Lebens zu meistern. Realismus ist dabei zwar nicht ganz unnütz, aber zweitrangig.
Doch gehört es nicht gerade zum hehren Ideal der Selbsterkenntnis, dass man hart arbeiten und manche Kröte schlucken muss, um es zu erreichen? Das Ego zu überwinden und die eigenen Defizite einzusehen, kostet Überwindung. Dafür aber, so heißt es, winke umso reicherer Lohn: Einklang mit dem Ich. Klare, erreichbare Ziele. Ein authentisches, glückliches Leben. – Schön wär’s! Die Forschung legt eher das Gegenteil nahe. Ein gewisses Maß an Selbstüberhöhung, eine etwas zu rosige Vorstellung davon, wie kompetent, integer oder beliebt wir sind, oder was uns die Zukunft bringen mag, sind eher dazu angetan, dass wir forsch und frei zu Werke gehen.[1] Mit breiter Brust nehmen wir Herausforderungen an und bewältigen Krisen besser. Lassen Sie sich nicht einreden, Sie müssten sich selbst ganz genau analysieren, bevor Sie mit dem guten Leben beginnen könnten! Um erfolgreich und zufrieden zu sein, ist eine Portion Ignoranz und Übermut oft dienlicher. Was nicht heißt, dass man der Verblendung freien Lauf lassen sollte. Hochmut kommt vor dem Fall, weiß der Volksmund; und in der Tat macht zu viel Überheblichkeit mitunter einsam oder sogar krank. Die Gefahren der Hybris werden uns im Folgenden ebenso beschäftigen wie die der exzessiven Selbstprüfung.
Kein Fahrplan zum Ich, keine Charakterkunde – was erwartet Sie in diesem Buch stattdessen? Kurz gesagt, eine Reise durch die moderne Selbsterkenntnisforschung und ihre aufregenden Befunde. Diese lehren uns vor allem zwei Dinge: Erstens wurzeln die Kurzschlüsse und Verzerrungen unseres Selbstbilds tiefer in uns, als wir glauben. Und zweitens sollten wir sie nicht vorschnell als Fehler betrachten, die es auszumerzen gelte, sondern als durchaus nützliche Kniffe. Unser Geist ist nicht dafür geschaffen, sich selbst zu erkennen, sondern um zu funktionieren – also das Überleben des Individuums zu sichern. Weil ein allzu abgehobenes Selbstbild dabei hinderlich wäre, verfügen wir über Mittel, um uns kritisch und distanziert zu betrachten. Allerdings ist es quasi unumgänglich, dass wir uns für anders und das heißt in der Regel für besser halten, als wir sind. Es kommt auf die Balance an zwischen dem schönen Gefühl, kompetent, belastbar oder liebenswert zu sein, und der Einsicht, dass einem doch noch ein Stück zur Vollendung fehlt. Ich hoffe, die hier versammelten Arbeiten und Erklärungsmodelle sind Ihnen auf diesem Weg Stütze und Orientierung zugleich.
Die folgenden Kapitel gliedern sich in fünf Abschnitte. In »Sich betrachten« geht es darum, wie wir uns selbst wahrnehmen und eine Vorstellung vom eigenen Ich bilden. Hier betrachten wir das subtile Wechselspiel von bewussten und unbewussten Prozessen ebenso wie die Lücken und Verzerrungen der Introspektion, unserer subjektiven Innenschau. Der zweite Teil »Sich finden« behandelt den Mythos vom authentischen Ich und die subtile Kraft unserer Erinnerungen und Überzeugungen. In »Sich vertrauen« gehen wir den dahinterstehenden Motiven auf den Grund, wie etwa dem Wunsch nach Vertrauen, Kohärenz und einer moralisch weißen Weste. Der vierte Abschnitt »Sich erfinden« erklärt, warum unser Selbstbild stets sozial konstruiert ist, also auf den Erzählungen von und den Vergleichen mit anderen beruht. Und im fünften Teil »Sich überwinden« blicken wir schließlich über den Tellerrand unserer vermeintlich stabilen Persönlichkeit und lernen Methoden kennen, mit deren Hilfe man sich neu justieren und verändern kann.
Heidelberg im Januar 2019
Gnothi seauton, »Erkenne dich selbst!«, ist einer der berühmtesten Sätze der Philosophiegeschichte. Er zierte neben anderen Ratschlägen wie »Nichts im Übermaß« und »Bürgschaft bringt Unheil« die Vorhalle des Apollon-Tempels von Delphi am Berg Parnass. Hier befand sich etwa ab dem 7. Jahrhundert vor Christus eine Orakelstätte, in der die Hohepriesterin Phytia(1) Besuchern die Zukunft weissagte. Laut antiken Quellen galt der Appell »Erkenne dich selbst!«(1) ursprünglich allerdings nicht dem Ausloten persönlicher Eigenarten. Vielmehr sollte der Ratsuchende beim Betreten des Heiligtums die eigene Sterblichkeit und die Hinfälligkeit des Menschen bedenken. Sich in diesem Sinn als schwach und begrenzt zu erkennen, dieser Akt der Demut galt als Gegengift zur verbreiteten Hybris, dem Hochmut. »Erkenne dich selbst!« war somit dem Ursprung nach die Antithese zu jener egozentrischen Selbstbespiegelung, für die diese Maxime heute oft steht.
Die Idee, man müsse seine individuellen Eigenarten und Talente möglichst gut ergründen und ausschöpfen, war den alten Griechen eher fremd. Ihr Ideal des »dem eigenen Wesen gemäßen« Lebens, die Eudaimonie(1), zielte noch nicht auf Selbstverwirklichung und die Optimierung der eigenen Potentiale, sondern auf einen Zustand der Seelenruhe, eine Art glückseligen Stillstand, den wir uns heute, in einer Zeit der permanenten Veränderung, kaum noch vorstellen können. Gleichwohl stand der Appell zur Selbstvergewisserung, zum Nachdenken darüber, was den Menschen ausmache, am Beginn der abendländischen Kultur. Und dieses Erbe wirkt bis heute fort.
Zu wissen, wer man ist, so glauben wir, sei die beste Gewähr, das für einen selbst Richtige zu tun. Viele Weichenstellungen der persönlichen Lebensgestaltung, etwa bei der Berufs- oder Partnerwahl, machen wir von den Eigenschaften, Fähigkeiten und Bedürfnissen abhängig, die wir an uns und anderen entdecken. Schließlich klappt es mit dem Job oder mit der Beziehung wohl nur dann, wenn das Matching stimmt, wenn Profil und Anforderung, Wunsch und Wirklichkeit zusammenpassen. Selbsterkenntnis soll uns hierbei als Kompass dienen. Mit ihrer Hilfe wollen wir sicher durch die stürmischen Gewässer des Lebens navigieren. Wer sich selbst genau kenne und sich von äußerlichen Zwängen und Täuschungen freimache, wer also selbstbestimmt und authentisch handele, der werde quasi unvermeidlich glücklich. Für manche besteht darin gar der tiefere Sinn des Lebens.
Doch wie macht man das – sich selbst erkennen? Eine sichere Methode dafür gibt es nicht. Zwar mangelt es kaum an Leuten, die uns Antworten auf die große Frage »Wie bin ich?« versprechen. Zu allen Zeiten wurden Theorien darüber ersonnen, wie sich unser Charakter erfassen und beschreiben lasse. Doch die meisten davon halten einer näheren Prüfung kaum stand. So zum Beispiel die vom Schweizer Tiefenpsychologen Carl Gustav Jung(1) (1875–1961) entworfene Typenlehre(1), die zwischen in sich gekehrten, introvertierten sowie geselligen, extrovertierten Denk-, Fühl-, Empfindens- und Intuitionsmenschen unterscheidet. Demnach gibt es etwa den »extrovertierten Empfindenstyp«, der vor Lebenskraft strotzt und nach Genuss strebt, oder den »intuitiven Denktyp«, der den Kopf in den Wolken hat und wenig praktisches Geschick besitzt. Jungs(2) Panoptikum der Klischees ließ Katherine Briggs(1) (1875–1968), eine US-amerikanische Hausfrau mit einem Collegeabschluss in Agrarwirtschaft, zusammen mit ihrer Tochter Isabel Myers(1) (1897–1980) in das Modell des Myers-Briggs-Typenindikators (MBTI)(1) einfließen. Es kombiniert vier von Jung(3) inspirierte Begriffspaare wie »Fühlen versus Denken« oder »Urteilen versus Wahrnehmen« derart miteinander, dass unter dem Strich 24 = 16 Charaktertypen herauskommen. Allerdings scheiterten sämtliche seriösen Versuche von Persönlichkeitsforschern, dieses Schema als trennscharfe, reproduzierbare Beschreibung echter Menschen zu verwenden.[1] Es ist, kurz gesagt, reine Psychofolklore.
Dennoch fand der MBTI Eingang etwa in die Personalauswahl und in die Lebenshilfe und wird von Coaches und Therapeuten bis heute immer wieder aufgebrüht.[2] Schließlich kommen griffige Labels bei deren Kunden meist besser an als sperrige wissenschaftliche Fakten. In diesem Buch lasse ich derlei Küchenpsychologie bewusst beiseite. Es geht hier vielmehr um jenen Fundus an empirisch gesicherten Hypothesen und Effekten, die die Erforschung der Persönlichkeit und Selbsterkenntnis zutage förderte. Mit den blumigen Erklärungen der Ratgeber hat das eher wenig zu tun. Denn anders als diese liefert die Forschung zahlreiche Hinweise darauf, wie schwierig, ja geradezu unmöglich es ist, sich selbst unvoreingenommen zu betrachten. Unser Bild vom eigenen Ich ist lückenhaft und systematisch verzerrt. Doch das ist tatsächlich auch gut so!
Wir haben ein sonderbar gespaltenes Verhältnis zur Selbsterkenntnis. Wir schätzen sie so hoch wie kaum etwas anderes, und gleichzeitig meiden wir sie wie der Teufel das Weihwasser. Wir wünschen uns nichts sehnlicher, als uns selbst zu durchschauen, und haben doch einen Heidenrespekt davor. Wer weiß, was für unangenehme Wahrheiten dabei herauskämen? Beschlich Sie auch schon einmal der Verdacht, Sie sollten mancher Annahme über sich selbst besser nicht zu sehr auf den Zahn fühlen? Zum Beispiel der, Sie seien ein guter Freund oder ein verständnisvoller Partner? Eine gute Mutter oder ein guter Vater? Sind Sie wirklich so hilfsbereit, ehrlich oder großzügig, wie Sie meinen? Ich schätze, es geht Ihnen damit ähnlich wie mir. Wenn man mich fragt, sage ich: »Klar bin ich das, was sonst!« Und sicher fallen mir auch ein paar passende Beispiele ein: Wie ich einem Kumpel einmal aus der Patsche half oder die gefundene Geldbörse an den Eigentümer zurücksandte. Davon abgesehen drücke ich mich aber vor genauerem Nachbohren. Ein Quantum Ignoranz sich selbst gegenüber ist nicht umsonst so oft vorzufinden – es erweist sich als überaus nützlich.
Eine zentrale Erkenntnis der Psychologie besagt, dass wir stets bewusste und unbewusste Anteile in uns vereinten. Dieser doppelte Boden ist der Grund dafür, dass rationale Überlegung und Vorurteil, bewusster Wunsch und Täuschung zugleich in uns am Werk sind. Ein zweiter verblüffender Befund lautet: Sich Illusionen über das eigene Ich zu machen, ist kein Defekt, sondern unvermeidlich – und gesund. Denn die Fähigkeit, andere wie auch sich selbst hinters Licht zu führen, hat eine Menge für sich. In vielen Lebensbereichen sind wir nur dann erfolgreich, wenn wir Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit ausstrahlen. Das wiederum gelingt deutlich besser, wenn man sich selbst für kompetent und vertrauenswürdig hält und über anders lautende Hinweise hinwegsieht. Warum sonst, meinen Sie, gibt es so viele Egomanen und Schönredner auf der Welt? Weil ihre Masche zieht! Und dieselben Tricks, mit denen wir unsere Nächsten bezirzen, wenden wir auch auf uns selbst an. Wir täuschen uns und unsere Mitmenschen laufend, wir können gar nicht anders, denn der schöne Schein, die gefühlte Sicherheit helfen uns, jene Ziele zu erreichen, die wir uns vornehmen. So wird die Täuschung zur unentbehrlichen Zutat für ein gelingendes Leben.
Zugegeben, das ist starker Tobak für all jene, die von einem authentischen Leben träumen. Für sie liegt der Weg zum Glück darin, unter allen Umständen wahrhaftig zu sein. Sie wollen sich vom Unechten befreien, von den Maskeraden, den auferlegten Pflichten und Ansprüchen. Die allgegenwärtige Verstellung hindere sie nur daran, ihrer wahren Bestimmung zu folgen. Doch womöglich gehen sie dabei von einer falschen Prämisse aus. Vielleicht gibt es jenen festen Wesenskern, das wahre Ich, dem sie treu sein wollen, gar nicht.
Natürlich sind Selbstbeobachtung und -reflexion nicht grundsätzlich zwecklos. Man kann sich mit ihrer Hilfe sehr wohl ein Stück besser kennenlernen. Selbstkritik ist dabei ebenso dienlich wie eine distanzierte Sicht auf das eigene Denken, die man etwa bei der Achtsamkeitsmeditation einübt, oder der Blick in den Spiegel, den uns enge Freunde bisweilen vorhalten. Allerdings: Negative oder unangenehme Seiten gestehen wir uns nur ungern ein. Ausgerechnet diese auszublenden, kann jedoch kaum Zweck der Übung sein. So führt intensive Ich-Beschau häufig zu Frustration und Unbehagen.
Die meisten Menschen wollen das nicht. Folglich richten sie ihr Selbsturteil danach, was sich gut anfühlt und ihren vorgefassten Meinungen entspricht. So kommt es, dass sie oft nur das bemerken und sich nur an das erinnern, was in ihr geschöntes Selbstbild passt. Halte ich zum Beispiel viel auf meine Intelligenz, bleiben mir Erfolgserlebnisse eher im Gedächtnis haften. Dass ich einst durch die Examensprüfung gerauscht bin, lässt mich hingegen kaum an meinen Geistesgaben zweifeln – das lag schließlich bloß an den dummen Fragen des Prüfers. Auch was ich mir zutraue oder welche Ziele ich mir stecke, unterliegt solchen Beschönigungen. Das geht deshalb oft gut aus, weil das Bild, das ich von mir habe, die Macht besitzt, sich wie eine selbsterfüllende Prophezeiung(1) zu bestätigen. Wir sind zu einem Gutteil, wie wir sind, weil wir glauben, so zu sein.
Ist genaue Selbstprüfung also gar nicht empfehlenswert? Jein! Sich meditativ ins eigene Ich zu versenken, innere Zwiesprache zu halten oder ein intimes Tagebuch zu führen, aber auch Fragebögen zu wälzen oder digitales Self-tracking zu betreiben, all dies kann interessante Einblicke gewähren, keine Frage. Doch wie der britische Philosoph Quassim Cassam(1) betont, ist der Versuch, Selbsterkenntnis zu erlangen, etwas grundlegend anderes als der Zustand, sie zu besitzen.[3] Sich selbst gut zu kennen, mag von Vorteil sein, etwa wenn es darum geht, realistische Ansprüche an sich zu stellen. Das heißt aber noch lange nicht, dass es ebenso hilfreich wäre, sich selbst auszukundschaften. Dies kann die Psyche vielmehr auch belasten, auf Abwege führen oder die Spontanität hemmen.
Hohe Selbstaufmerksamkeit geht mit emotionalen(1) Kosten einher. Sich andauernd einen Spiegel vorzuhalten, fördert beispielsweise Reue, Scham oder Ängste. Genauso wichtig, wie sich gut zu kennen, ist mithin die Fähigkeit, sich selbst ein Freund zu sein und gnädig auf die eigenen Mankos zu blicken.
Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch(1) (1911–1991) kann uns hierbei als Vorbild dienen. Er treibt in seinem Tagebuch ein hintersinniges Spiel mit dem Leser, indem er diesen etwa fragt: »Überzeugt Sie Ihre Selbstkritik?«[4] Denn es ist eine Sache, selbige zu äußern, und eine andere, es auch zu meinen. Wir geben uns zwar gern selbstkritisch, wie wir uns auch oft zielstrebig oder weltgewandt geben. Doch das hat häufig nur Symbolwert – wir demonstrieren damit: Seht her, wie reflektiert ich bin! Was davon hängen bleibt, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Sind Sie ein gerechter Mensch? Sind Sie geduldig? Sensibel? Mitfühlend? Wenn ja, woran machen Sie das fest? Oder ist etwa der Wunsch Vater des Gedankens? Tatsache ist: Die meisten Menschen halten sich für besser, als sie sind. Natürlich gibt es auch solche, die notorisch ihr Licht unter den Scheffel stellen und mit sich hadern; nur sind die deutlich seltener. Und erstaunlicherweise geht ein besonders realistisches Selbstbild vielfach mit einer Neigung zu milder Schwermut einher.[5] Das lässt erahnen, was unser Selbstbild im Normalfall leistet: Es ist ein Schutzschild fürs Ego, eine vertrauensbildende Maßnahme.
Ich möchte Sie in diesem Buch zu einem gelasseneren, nicht so bierernsten Umgang mit sich selbst einladen. Statt nach dem eigenen wahren Ich zu schürfen, sollten wir eher Freundschaft mit uns selbst schließen. Wie die psychologische Forschung zeigt, ist das Ich kein klar umrissenes, stabiles Ding, vielmehr passt es sich fortwährend an wechselnde Gegebenheiten an. Jeder ist viele. Erfreuen wir uns doch an dem heiteren Versteckspiel, das wir mit uns selbst treiben! Eines können wir so sicherlich vermeiden: uns selbst allzu ernst zu nehmen.
Warum wir uns schlechter kennen, als wir meinen
Ihr Ich liegt vor Ihnen wie ein offenes Buch. Sie müssen nur hineinsehen, um darin zu lesen. Was Sie als Person ausmacht, was Sie gut können und was nicht, was Sie lieben und was Sie hassen, wovon Sie träumen und wovor Sie sich fürchten – all das offenbart sich Ihnen unmittelbar, quasi mühelos. Sie (nur Sie) wissen genau, was in Ihnen vor sich geht. So selbstverständlich uns diese Annahme erscheint, sie ist höchst wahrscheinlich falsch! Forschern zufolge haben wir keinen direkten Zugang zum Ich. Wenn wir uns selbst betrachten, stochern wir vielmehr genauso im Nebel wie bei einem Fremden. Nur dass wir bei diesem auf das sichtbare Verhalten achten, denn wir können nicht in die Köpfe anderer hineinblicken. Was wir für unser Ich halten, beruht dagegen vor allem auf Einbildungen. Und das macht es so wenig verlässlich.
Emily Pronin(1) von der Princeton University nennt das die Introspektionsillusion(1).[1] Laut der Psychologin ist unsere subjektive Innenschau lückenhaft und verzerrt, nur bemerken wir davon nichts. Die Inhalte unseres bewussten Denkens – unsere Meinungen, Urteile, Absichten, Empfindungen und Wünsche – sie nehmen uns derart ein, dass es kaum vorstellbar erscheint, wir könnten uns über sie täuschen. Doch häufig leiten sie unser Handeln weit weniger, als wir meinen. So kann ich zum Beispiel trotz Eiseskälte einfach an einem Obdachlosen am Straßenrand vorübergehen und zugleich meinen, ich sei äußerst mitfühlend und großzügig. Oder ich halte mich für einen sehr guten Freund, bin aber sturzbeleidigt, weil sich Christian oder Susanne schon eine Woche lang nicht mehr gemeldet haben. Wie jemand zu sein glaubt, hat oft wenig mit seinem realen Fühlen und Verhalten zu tun. Wie kommt das?
Laut Pronin(2) haben solche Diskrepanzen einen einfachen Grund. Weil wir nicht knauserig, hochmütig, nachtragend oder rechthaberisch sein wollen, gehen wir davon aus, wir seien es auch nicht. So fallen uns unsere Macken und Vorurteile schlichtweg nicht auf. Würden wir beachten, was wir tun oder sagen, könnten wir sie wahrnehmen. Tatsächlich aber kennen wir uns selbst oft schlechter als unsere Mitmenschen.
Nehmen wir den Bürokollegen, bei dem ich problemlos bemerke, wie das Sich-Verzetteln in Details den Berg seiner Aufgaben immer weiter anwachsen lässt. Anders bei mir selbst: Weil ich mir vornehme, meinen Job gut und effektiv zu machen, komme ich nicht auf die Idee, ich könnte genauso ablenkbar sein. Denn das hieße, mir die Fähigkeit abzusprechen, das eigene Tun im Griff zu haben. »Was ich will, das mach ich auch, ist doch klar!« Egal, wie schlecht ich de facto organisiert bin, ich sehe darüber hinweg. Und staune Bauklötze, wenn mir mal wieder die Zeit davonläuft.
Warum fällt uns diese Verzerrung nicht auf? Laut Pronin(3) liegt das am blinden Fleck der Selbstbetrachtung: Wir besitzen ein erstaunliches Talent, selbst offenkundige Vorurteile und tendenziöse Ansichten auszublenden.[2] Die Forscherin ließ Probanden unter anderem einen fiktiven Intelligenztest absolvieren. Anschließend erklärte man den Teilnehmern, sie seien durchgefallen, und bat sie, Schwächen des Verfahrens zu benennen. Bei ihrem Urteil waren sie also eindeutig voreingenommen – sie hatten mit dem Test nicht nur eine Rechnung offen, sondern waren auch noch ermuntert worden, ihn zu kritisieren. Dennoch glaubten die meisten, ihr Fazit sei ziemlich neutral ausgefallen. Nicht anders beim Bewerten von Gemälden: Trotz des Auftrags zu begründen, warum ein vorgelegtes Bild »ästhetisch dürftig« sei, fanden die Kritiker ihr negatives Urteil ausgewogen. Anscheinend gestehen wir uns ungern ein, was nicht sein soll – dass wir oft gar nicht so fair sind, wie es sich eigentlich gehört. Wir machen uns etwas vor und stehen voller Überzeugung hinter dieser Selbsttäuschung(1).
Das ist eine sehr moderne Einsicht. Jahrhunderte lang glaubten Philosophen und andere Gelehrte, das denkende Subjekt sehe sich selbst klar und unverstellt. Das Ich besitze unumschränkten Zugriff auf seine innere Welt. Die eigenen Gedanken oder Wünsche mag man anderen mitteilen oder für sich behalten, manchmal verrät man sich auch versehentlich, weil etwa Wut oder Angst mit einem durchgehen. Doch davon abgesehen, bleibe unser Inneres jedem anderen verborgen, so wie das der anderen uns.
Der französische Philosoph René Descartes(1) (1597–1650) vertrat sogar die Ansicht, der Mensch könne »nichts leichter und augenscheinlicher erfassen« als seinen eigenen Geist.[3] Die Introspektion erschien ihm als Quelle unbezweifelbaren Wissens. Wie sollte man sich über seine eigenen Empfindungen auch täuschen? Verspüre ich Hunger, kann es in Wahrheit nicht Durst oder Müdigkeit sein. Descartes hielt die Selbsterkenntnis für das Feld par excellence, auf dem wir zu reiner Erkenntnis gelangen. Sein berühmter Satz »cogito ergo sum« heißt frei übersetzt: An allem kannst du zweifeln, nur nicht an deinem eigenen Denken. Daher auch die Wortbedeutung von »con-scientia«, was so viel bedeutet wie »mit Gewissheit«. Als Lehnübersetzung aus dem Lateinischen wurde daraus unser Ausdruck Bewusstsein(1).
Der Berliner Philosoph Michael Pauen(1) hält Descartes’ Gleichsetzung von Erleben und Wissen für einen folgenschweren Irrtum.[4] Man müsse unterscheiden zwischen einer Erfahrung – zum Beispiel der, Hunger zu haben – und dem Urteil über diese Erfahrung wie dem Gedanken »ich habe Hunger«. Urteile können richtig oder falsch sein; Erfahrungen sind einfach, was sie sind. Und auch wenn es unwahrscheinlich klingt, so können wir durchaus Hunger haben, ohne es zu bemerken. Wer war nicht schon einmal missmutig oder leicht reizbar, bis er feststellte, dass ihn die ganze Zeit über ein Loch im Bauch plagte?
Laut Pauen zählt das Erkennen der eigenen inneren Zustände zu den Überzeugungen, nicht zu den Erfahrungen. Ähnlich sah es bereits sein berühmter Vorgänger Gottfried Wilhelm Leibniz(1) (1646–1716), der die Perception, also die unmittelbare Sinneserfahrung, von der Apperception, dem bewussten Gewahrsein derselben, unterschied. Wie die psychologische und neurowissenschaftliche Forschung inzwischen bewies, wird alles, was wir wahrnehmen, vom Gehirn konstruiert. Das erfordert aufwendige Berechnungen, in die zahlreiche Vorannahmen und kreative Deutungen einfließen. Nicht viel anders als beim Sehen, Hören oder Tasten geht es uns auch beim Sichten unserer eigenen Gefühle(1), Ansichten und Wünsche: Wir können uns sehr wohl über sie täuschen. Und wir tun es andauernd.
Ist der Ausdruck Introspektion(1) (von Lateinisch »introspicere« für hineinblicken) also nur eine hübsche Metapher? Blicken wir nicht wirklich in uns hinein, sondern zeichnen mit mehr oder weniger Geschick und mit allerlei Hintergedanken ein schräges Bild unserer selbst? Diesen Verdacht legen die Ergebnisse der Selbsterkenntnis-Forschung nahe. Wir meinen zwar, wir könnten uns direkt und ungeschönt betrachten. Doch die Prozesse, die uns zu denjenigen machen, die wir sind, bleiben zum größten Teil unbewusst.
Nun beruhen die Vorstellungen, die wir über uns bilden, nicht allein auf geistiger Innenschau. Wir beobachten zum Beispiel auch unser eigenes Verhalten und ziehen manche Schlüsse daraus. Ich plaudere gern mit anderen und amüsiere mich auf Partys – offenbar bin ich ein extrovertierter Typ. Was andere über uns sagen, unsere Reputation, spielt ebenfalls eine Rolle. Hoffentlich kommst du auch zu Julias Geburtstag, mit dir ist es immer lustig! Solche Kommentare beeinflussen unser Selbstbild. Laut einer Untersuchung von Hirnforschern schenken wir dem Urteil von anderen häufig sogar mehr Augenmerk als dem eigenen.[5] Probanden, die sowohl sich selbst mit einer Reihe von Adjektiven beschreiben sollten, als auch von Freunden beschrieben wurden, widmeten den Fremdeinschätzungen mehr kognitive Ressourcen, wie die Hirnstrommuster im Elektroenzephalogramm (EEG)(1) offenbarten.
Da unsere Mitmenschen uns ihre ehrlichen Ansichten jedoch nicht unbedingt auf die Nase binden, kommt ein weiterer Faktor ins Spiel: das, was andere wohl eigentlich über uns denken. Unsere Mutmaßungen darüber können der eigenen Selbsteinschätzung zuwiderlaufen. Tom hält mich bestimmt für eingebildet, weil ich gern von mir erzähle – dabei suche ich doch nur Bestätigung. Zugegeben, das ist schon ein recht fortgeschrittenes Stadium der Selbstreflexion. Richtig kompliziert wird es, wenn man anfängt zu spekulieren, was andere glaubten, wie man sich selbst sehe oder weshalb man so handele: Tanja meint sicher, ich würde mich in den Vordergrund drängen, weil ich so unsicher sei. Aber das stimmt gar nicht. Dieses Spiel lässt sich beliebig weitertreiben. So prägt am Ende das, was ich meine, was sie glaube, was ich glaube, wie sie mich sehe, mein Selbstbild.
Die Quellen unserer Ich-Urteile sind offenbar vielfältig. Eine Forscherin, die diesen Wirrwarr zu ordnen versuchte, ist Simine Vazire(1). Die Psychologin von der University of California in Davis fragte sich in einer Reihe von Studien: Wie gut kennen Menschen sich selbst? Und woher stammt dieses Wissen?[6] Will man die erste Frage beantworten, stößt man rasch auf ein Problem: Denn um zu beurteilen, wie adäquat das Selbstbild eines Menschen ist, müsste man wissen, wie der Betreffende wirklich ist. Wie geht das? Forscher behelfen sich hier mit verschiedenen Methoden. Erstens vergleichen sie die Selbsteinschätzung von Probanden etwa damit, wie sich diese in Testsituationen, ob im Labor oder im realen Leben, verhalten. Sich selbst für gesellig oder intelligent zu halten, ist das eine – es konkret unter Beweis zu stellen, freilich etwas Anderes. Zweitens bitten Forscher den Versuchsteilnehmern nahestehende Menschen wie Verwandte oder Freunde um ihre Einschätzung. Markante Unterschiede zwischen der Eigen- und Fremdwahrnehmung verraten zwar noch nicht, welche Seite recht hat. Allerdings dürfte es Gründe für solche Differenzen geben. Und drittens erkunden Psychologen mit verdeckten Verfahren jene unbewussten Neigungen, welche uns selbst oft verschlossen bleiben.
Um dieses implizite Selbst(1) zu messen, eruiert man zum Beispiel, wie eng ich-relevante Begriffe mit bestimmten Konzepten im Kopf verknüpft sind. Als entscheidendes Maß dient dabei die Reaktionszeit. Der Proband soll zum Beispiel, so schnell wie möglich, eine von zwei Tasten drücken, wenn auf dem Bildschirm ein Begriff erscheint, der eine extrovertierte Eigenschaft beschreibt (»gesprächig«, »ausgelassen«, »aktiv« und so weiter). Dieselbe Taste ist gefragt, wenn ein selbstbezügliches Wort wie »mein« oder »ich« eingeblendet wird. Die andere Taste hingegen ist für die Reaktion auf Wörter reserviert, welche soziale Zurückgezogenheit beschreiben (»schüchtern«, »passiv«) oder eben solche, die sich auf andere Menschen beziehen (»du«, »er«). Bei einem solchen Verfahren werden die Begriffe und Tastenkombinationen natürlich immer wieder getauscht. Entscheidend ist die Doppelbelegung der Taste für »ich/extrovertiert« gegenüber den »du/introvertiert«-Varianten. Wird erstere Verknüpfung schneller aktiviert, ist sie im Selbstbild des Probanden offenbar stärker präsent. Das Kalkül dahinter: Blitzschnelles Tastendrücken lässt keine Zeit zum Nachdenken und bringt die unbewussten Anteile der Persönlichkeit ans Licht.
Diese Methode, auch Impliziter Assoziationstest (kurz: IAT)(1) genannt, wurde Ende der 1990er-Jahre von Anthony Greenwald(1) und Kollegen an der University of Washington in Seattle entwickelt.[7] Die Forscher wollten so die geheimen oder unerwünschten Einstellungen und Vorurteile von Versuchspersonen ergründen. Inzwischen nehmen neuere Varianten des IAT auch die emotionale Ausgeglichenheit, Impulsivität oder Geselligkeit ins Visier. Vergleicht man die Resultate solcher impliziten Tests mit den per Fragebogen erhobenen Selbsteinschätzungen von Menschen, ergeben sich meist nur schwache Übereinstimmungen. Das Bild, das wir nach außen vermitteln, hat mit den Blitzreaktionen auf Reizwörter im Schnitt eher wenig zu tun. Sind letztere einfach nicht besonders aussagekräftig? Das ist unwahrscheinlich, denn sie lassen sich relativ stabil reproduzieren. Wären die Reaktionszeiten purer Zufall, müssten bei einer Wiederholung jedes Mal andere Messwerte herauskommen. Doch das ist nicht der Fall. Vor allem aber sagt das implizite Profil eine Menge über das Handeln der Person aus, mitunter mehr als die bewussten Selbsturteile. Das wiesen Forscher in Studien etwa für Eigenschaften wie Ängstlichkeit und Schüchternheit nach.[8] Über die Gewissenhaftigkeit und Offenheit einer Person geben direkte Befragungen hingegen oft besser Auskunft. Dies erklärt Mitja Back(1) von der Universität Münster so: Implizite Verfahren(1) wie der IAT kitzeln automatische Impulse hervor; daran gekoppelte Züge wie der Drang, sich vor anderen zu produzieren, lassen sich folglich in verdeckten Tests gut ausloten. Dagegen spielt sich eine gewissenhafte oder neugierige Ader auf anderer, eher gedanklicher Ebene ab. Folglich kommt man ihnen durch Anregung zur Selbstreflexion und offene Befragung auf die Spur.[9]
Ob Fragebogen, verdeckte Reaktionstests oder Fremdurteile, keine Methode ist die allein seligmachende. Doch in Kombination decken sie interessante Diskrepanzen auf, etwa zwischen der Eigen- und Fremdwahrnehmung oder zwischen expliziten und impliziten Urteilen einer Person. Und am Ende zählt natürlich, was diese konkret tut. Die Forschung der vergangenen Jahre widerlegte so, wovon wir meist intuitiv ausgehen – dass wir selbst unsere besten Kenner seien. Häufig durchschauen uns andere, zum Beispiel gute Freunde oder Verwandte, besser als wir uns.
Wie Simine Vazire(2) in ihren Experimenten zeigte, haben unsere Mitmenschen vor allem unter zwei Bedingungen mehr Durchblick: erstens, wenn sich eine Eigenschaft äußerlich ablesen lässt, und zweitens, wenn sie mit einer starken Wertung verbunden ist.[10] Äußerlich ablesbar sind Charakterzüge, die das Verhalten prägen. Geselligkeit etwa drückt sich darin aus, dass jemand gesprächig ist und sich unters Volk mischt. Schüchternheit und Nervosität darin, dass man schnell rot wird, sich die Hände knetet oder dem Blick des Gegenübers ausweicht. Dagegen ist zum Beispiel die Neigung zum Grübeln schwerer ersichtlich. Man kann schließlich auch aus anderen Gründen stumm dasitzen oder zaudern – etwa, weil man antriebsschwach oder müde ist.
Das zweite Kriterium, das der Bewertung einer Eigenschaft, ist meist noch wichtiger. Intelligenz, Willensstärke und Kreativität gelten als höchst erstrebenswert, anders als zum Beispiel Konformität oder Egoismus. Was niemand gern für sich in Anspruch nimmt, weisen wir entsprechend weit von uns; Positives dagegen schreiben wir uns bereitwillig zu. Neutrale Züge wie Gutmütigkeit oder Pünktlichkeit sind vor solchen Erwünschtheitseffekten eher gefeit, weshalb die Selbst- und die Fremdurteile hier meist ähnlicher ausfallen.[11]
Doch nicht nur die Attraktivität einer Eigenschaft bestimmt darüber, ob wir sie an uns zu erkennen meinen. Die Introspektion(2) weist zudem Lücken auf. So besitzen wir für die Signale unserer Mimik, Gestik oder Körpersprache kein gutes Sensorium. Ob ich vor Zorn Flecken im Gesicht habe oder ob meine gebückte Haltung verrät, wie sehr etwas auf mir lastet, nehme ich selbst kaum wahr. Gerade weil wir so große Schwierigkeiten haben, automatische körperliche Reaktionen zu bemerken, kommt unseren Mitmenschen eine Schlüsselrolle zu. Frei nach dem Motto: Woher soll ich wissen, wer ich bin, bevor du mir sagst, wie du mich siehst?
Laut einer weitverbreiteten Ansicht müssen wir uns auf uns selbst konzentrieren und in uns hineinhorchen, um uns besser kennenzulernen. Belege dafür sind allerdings rar. Eine penible Selbstbeschau verändert zwar durchaus die Art, wie wir uns betrachten, sie macht unser Selbstbild jedoch nicht unbedingt genauer. Es fällt uns einfach schwer, unsere inneren Zustände objektiv zu beurteilen, daran ändert auch erhöhte Selbstaufmerksamkeit nichts.[12] Wir kommen darauf später noch zurück.
Zuvor möchte ich noch eine andere Lücke unserer Selbstwahrnehmung ansprechen: Auch die Quellen der Gefühle(2), die uns umtreiben, entgehen häufig unserer Aufmerksamkeit. Ein Klassiker der experimentellen Psychologie ist jene Studie, die zeigte, dass Personen eine künstlich ausgelöste, körperliche Erregung je nach Kontext verschieden interpretieren.[13] Die Versuchsteilnehmer tranken einen als »Vitamindrink« getarnten Adrenalincocktail und waren durch diese Extradosis Stresshormon binnen weniger Minuten aufgekratzt. Brachte man sie nun mit einem Menschen zusammen, der sich fürchterlich über die Warterei und die unverschämten Fragen der Forscher aufregte, waren die Probanden selbst ebenfalls rasch ungehalten. Ohne den Hormonschub ließen sie sich dagegen kaum vom gespielten Missmut anstecken.
Anderes Beispiel: Wanderer, die auf einer Hängebrücke in schwindelerregender Höhe von einer Studentin angesprochen wurden, zeigten mehr Interesse an der Telefonnummer der Dame als Männer, die man ebenfalls anbaggerte – jedoch auf einem niedrigen Ufersteg.[14] Erstere deuteten ihre Höhenangst offenbar als amouröses Interesse.
Aus dem Alltag sind uns ähnliche Dinge vertraut. Haben Sie im Stop-and-go des Berufsverkehrs auch schon einmal ins Lenkrad gebissen, obwohl der Stau sie doch eigentlich nur wegen des Familienstreits am Frühstückstisch so nervte? Und hat Sie die lahme Kassiererin im Supermarkt letztens rasend gemacht, dabei knurrte Ihnen nur der Magen und Sie wollten schnell nach Hause? Wir wissen oft nicht so genau, woher unsere Stimmungen und Impulse rühren, und suchen im Zweifelsfall irgendeine Erklärung – oder einen Sündenbock.
Zwei häufige Schnitzer, die ebenfalls zu unserem verzerrten Selbstbild beitragen, finden sich in jedem Lehrbuch der Denkpsychologie: die Verfügbarkeitsheuristik(1) und der Bestätigungsfehler(1). Erstere besagt, dass uns vertraute Dinge leichter in den Sinn kommen, und wir sie allein deshalb schon wichtiger nehmen. Denn was wir bereits öfter gehört haben, ist im Schnitt auch bedeutsamer. Welche Aktie würden Sie kaufen, die von Mercedes-Benz oder die der SAIC Motor Corporation? Keine Frage. Doch während 2016 gut zwei Millionen Fahrzeuge von Mercedes verkauft wurden, fanden 6,5 Millionen Autos des chinesischen Herstellers einen Besitzer. Vielleicht geht es Ihnen ja ähnlich mit der Annahme, sie seien ein kluger Kopf oder ein sensibler Partner? Weil Sie das schon oft dachten, kommt es Ihnen leichter in den Sinn – und wirkt allein schon dadurch überzeugend.
Laut dem Bestätigungsfehler(2)will