ROMAN
Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler
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Eigentlich hasse ich Tagebücher, trotzdem habe ich eins und schreibe sogar etwas hinein. Wo zum Teufel soll ich es verstecken? Zum Glück ist meine Mutter nicht neugierig, meine Großmutter allerdings schon, sie steckt ihre Nase überall rein, auch wenn sie mich niemals verraten würde, sie tickt so wie ich. Aber ich möchte nicht, dass sie mein Tagebuch liest, was da drin steht, geht niemand etwas an, also muss ich es verschwinden lassen! Ich habe mit dem Hammer ein Loch in die massive Wand in meinem Zimmer geschlagen und eine Eisenplatte davor befestigt, die man auf- und zuklappen und auch verschließen kann. Dann habe ich ein Bild darüber gehängt, und das war’s dann schon. Lesen und Schreiben haben mich schon mein ganzes Leben begleitet, selbst als ich noch ganz klein war und kaum einen Stift halten konnte. Ich wusste, wie wichtig das für meine Mutter war, ihr zuliebe habe ich geschrieben und gemalt, kaum leserliche Worte in krakeliger Schrift, wir haben alle keine schöne Handschrift, bis heute. Schreiben lag in der Familie, eine Art Erbkrankheit, die unglücklicherweise auch mich angesteckt hat, wie eine Virusinfektion. So was gibt’s doch, oder? So war es mit meiner Großmutter und danach mit meiner Mutter, und jetzt bin ich dran. Obwohl meine Großmutter, die viele Jahre als Schauspielerin auf der Bühne stand, lieber spricht als schreibt. Deshalb hält sie ihre Gedanken mit einem Diktiergerät mit Kassette fest, eine Art Hörtagebuch. Auch mein Großvater hat vor seinem Tod Gedichte geschrieben und meine Großmutter bestärkt, ihre Gedanken festzuhalten, egal wie. Mein Vater war Sportreporter und hat Artikel für die Zeitung geschrieben, bevor er mit 38 an Leukämie gestorben ist. So hat es jedenfalls meine Mutter erzählt, ich kann mich kaum an ihn erinnern, bei seinem Tod war ich gerade mal drei. Meine Mutter musste danach selbst Geld verdienen, und was lag näher, als ihr Sprachtalent zu nutzen? Sie wurde Übersetzerin. Sie schuftete pausenlos, auch heute noch sitzt sie dreizehn Stunden täglich am Schreibtisch und vergisst dabei manchmal sogar zu essen, so sehr ist sie in ihre Arbeit vertieft, die Wörter saugen sie regelrecht auf. Trotzdem reicht das Geld hinten und vorne nicht. Zum Glück verdient Großmutter noch etwas dazu, sie hat ein Talent, schmerzlos und sanft Spritzen zu setzen, und kann sich vor Patienten kaum retten, sogar über die Grenzen unseres Stadtviertels hinaus.
Lieber François,
eben gerade hat mich meine Tochter Lori gefragt, warum wir uns schreiben, so viele Jahre schon. Was hättest du ihr geantwortet? Mir kommt diese distanzierte, althergebrachte Form der Kommunikation ganz natürlich vor. Schreiben ist doch etwas Schönes, oder? Die neuen Technologien, von denen es heißt, sie würden das Leben einfacher machen, sind mir zuwider. Sie machen alles nur komplizierter, die Intimität geht verloren, der Umgang miteinander wird oberflächlicher und zur Pflichterfüllung. Und dann dieses Monster im Alurahmen, das ewige Starren auf einen Computerbildschirm, der sich für allmächtig hält, nach außen blinkend und strahlend, im Inneren ein seelenloses Wirrwarr von Kabeln und Drähten.
Aber Mama, Mails kommen blitzschnell an, in einem Wimpernschlag sind sie da, findest du die Post etwa besser, wo alles Tage dauert?, meinte Lori.
Genau das ist ja das Schöne, das Tiefgründige, das Nachdenkliche, die Langsamkeit der zu Papier gebrachten Worte: ein Privileg in unserer rastlosen, oberflächlichen Zeit. Die Langsamkeit ist der Samen, aus dem Wurzeln entstehen, Pflanzen wachsen und sich Blätter und Blüten entwickeln, die zum Atem der Welt werden. Das war meine Antwort und ich weiß, dass du genauso denkst.
Mama, du fliegst zu hoch, pass auf, dass du dir nicht weh tust, wenn du wieder landest. Wenn ich das so lese, kommst du mir älter vor als Großmutter. Die nutzt mit ihren sechzig die modernen Medien, mailt und chattet am laufenden Band, hat einen PC und ein Smartphone! Nun gut, meine Tochter will eben immer das letzte Wort haben.
Wenn es ihr Freude macht, dann lass sie doch, habe ich geantwortet. Jeder Mensch ist frei und kann tun und lassen, was er will.
Was hat das denn mit Freiheit zu tun, du kriegst eben einfach nichts mit, meinte sie, du verkriechst dich in der Literatur, von der wahren Welt weißt du nichts und hast vielleicht auch noch nie etwas davon gewusst. Aber gehört zur wahren Welt nicht auch, dass man für seine Familie sorgt und Verantwortung übernimmt?, habe ich geantwortet.
Da schwieg meine ach so vorlaute Tochter, ich hatte ihren wunden Punkt getroffen. Denn ihr ist klar, dass sie ohne mich kein Dach über dem Kopf hätte, keine Vespa und kein Geld für Schulbücher. Das soll kein Vorwurf sein, ich möchte nur, dass sie sich dessen bewusst wird und dass sie das, was ich tue, wenigstens ein kleines bisschen wertschätzt. Aber sie ist ja noch jung, gerade mal siebzehn. Mit der Zeit wird die Einsicht schon kommen.
Im Moment übersetze ich gerade Madame Bovary. Je tiefer ich in den Text eindringe, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass die menschlichste Person in diesem Roman tatsächlich Charles Bovary ist, der von Flaubert als naiver und einfach strukturierter Mann beschrieben wird. Und doch ist er der Einzige, der Gefühle zeigen kann, der Einzige, der wegen Emmas Tod leidet, der Einzige, der sie wirklich geliebt hat. Wenn er von Flaubert nicht den Stempel des unbeholfenen Trottels aufgedrückt bekommen hätte und auf jeder Seite lächerlich gemacht würde, wäre er ein Mensch, den man gern haben könnte. Wenn wir uns an Weihnachten sehen, möchte ich dir die übersetzten Seiten gerne vorlesen. Leider klingt der Text auf Italienisch anders, vieles von der subtilen, fast sinnlichen Poesie Flauberts geht verloren.
Ich habe mir die Fotos unserer letzten Ägyptenreise angesehen, kurz vor dem Ausbruch des arabischen Frühlings. Man konnte damals schon erahnen, dass etwas in der Luft lag, du hast ihn sofort gespürt, diesen Duft der Freiheit, und verstanden, dass etwas Revolutionäres bevorstand. Schade, dass es so ausgegangen ist. Erinnerst du dich an den Abend auf dem Nil, wir aßen im Schiffsrestaurant mit deinen Freunden zu Abend, deine Augen strahlten vor Freude. Ich mag es, wenn du glücklich bist, dann bin auch ich glücklich. Das nachtschwarze Wasser des Stroms floss ruhig dahin, die Lichter der Stadt reflektierten auf der Oberfläche und du zitiertest ein Gedicht von Baudelaire. Ich erinnere mich noch an die ersten Zeilen, die sich unauslöschlich in mein Gedächtnis gebrannt hatten: Sous une lumière blafarde / Court danse et se tord sans raison. / La vie, imprudente et criarde.* Wir haben aus der Ferne Stimmen gehört und du meintest, dass genau in diesem Moment großartige Dinge geschehen würden, viele junge Menschen sind auf der Suche nach Freiheit und niemand kann sie aufhalten, erinnerst du dich? Aber sie wurden leider doch aufgehalten, und zwar endgültig. Ist das Freiheitsgefühl in der Kultur verankert oder ist es jedem Menschen angeboren?, habe ich dich damals gefragt und deine Antwort lautete: Selbst ein Vogel im Käfig weiß, was Freiheit ist, auch wenn er sie nicht erklären kann.
Heute Nacht habe ich geträumt, dass du mich angerufen und gesagt hast, du könntest nicht schlafen, weil dir ein Vogel mit dem Schnabel in die Leber pickt. Wie bei Prometheus?, habe ich ganz naiv gefragt, ich lese einfach zu viel. Und du, der ebenso viel liest wie ich, meintest, dass Prometheus auf Griechisch der Vorausdenkende bedeutet. Aber hätte er dann den Göttern das Feuer gestohlen? Ich frage mich, wie viele Menschen erst überlegen, bevor sie handeln. Du zum Beispiel gehörst meiner Meinung nach nicht dazu. Während du handelst, vielleicht schon. Ist das ein Reflex oder ein Wink des Unterbewussten? Es hat gewiss nicht nur Vorteile, wenn man erst nachdenkt, bevor man aktiv wird. Nachdenken führt zu Zweifeln, man wägt ab, verschiebt, verzichtet vielleicht sogar. Das hat Vor-, aber auch Nachteile, Erfolg oder Misserfolg hängt vom Resultat ab. Wenn man wie du während der Handlung nachdenkt, wird das Überlegen als bewusstes Instrument eingesetzt, nicht als Mechanismus des Zweifels. Und jetzt höre ich deine Stimme, die sagt: Woher willst du das wissen? François, ich liebe deine Stimme, sie ist einzigartig, ich würde sie aus Tausenden heraushören. Sie ist wohlklingend, vielleicht etwas oberflächlich, aber dann, wenn man genauer hinhört, erkennt man das Timbre, das aus der Tiefe kommt, sich fächerförmig ausbreitet und zu einer faszinierenden Melodie erblüht. Du hättest auch Schauspieler werden können, ein richtig erfolgreicher sogar, das meine ich ernst. Deine Stimme ist vertrauenserweckend und lebendig zugleich, imstande, Wichtiges gelassen klingen zu lassen. Du hättest auch Philosoph oder Psychiater werden können. Mit dieser Stimme wärst du sogar in der Lage, einen Amokläufer zu beruhigen. Aber stattdessen hast du dich für Wirtschaft und Finanzen entschieden und beschäftigst dich mit Zahlen. Ich weiß, dass dich deine Kollegen für einen etwas durchgeknallten Träumer halten, der intellektuell anspruchsvolle Bücher liest und sinnlose romantische Gedichte schreibt. Aber tatsächlich bist du ein Gefangener dieser geistlosen Gesellschaft, und deine freien Tage sind begrenzt.
Als ich vor Kurzem einen deiner Briefe las, habe ich deine Stimme klar und deutlich hören können, deine Stimme, die mich auch heute noch erzittern lässt. Wenn ich nur an deine Rezitationen von Rimbaud, Baudelaire und Verlaine denke. Du springst mitten in die Poesie hinein, wie meine Tochter Lori immer sagt, und tauchst triefnass und zufrieden wieder auf. Dabei kommen mir die Erinnerungen eines Überlebenden der Vernichtungslager der Nazis in den Sinn, die ich vor einigen Jahren übersetzt habe.
Nach einem furchtbar langen, kräftezehrenden Arbeitstag traf er sich mit einigen Gleichgesinnten an dem einzigen Ort, an dem sie vor den Nazis sicher waren: in der Latrine. Dort stank es bestialisch, der Boden war mit Blut und Urin getränkt, ein Ort des Grauens. Die SS-Offiziere hatten Angst, dass ihre glänzenden Stiefel und Uniformen beschmutzt werden könnten. Und deshalb trafen sich die Verzweifelten genau dort und trugen Gedichte vor, die sie als Kinder gelernt hatten. Es klang wie Singen, ein stiller Gesang, ein rhythmisches Flüstern, das man außerhalb der Latrine nicht hören konnte. Das gab ihnen die Kraft weiterzumachen, verstehst du? Es war wie ein Wunder. Gedichte hatten die Kraft, an diesem Ort des Todes und der Qualen das Überleben zu sichern.
Das hat mich tief beeindruckt und ich glaube verstanden zu haben, welche Kraft Worte haben können. Poesie als Überlebensstrategie.
In Liebe, deine Maria
*Unter blassem lichte schwärmend, / Tanzt und stürzet ohne grund, / Sich das leben schamlos lärmend .. / Doch sobald am himmelsrund (übersetzt von Stefan George)
Heute Morgen war ich bei Mario, der hochkonzentriert auf dem Schemel saß und mir die elektrischen Nadeln in den Rücken bohrte. Er hat Augen wie ein Huhn, goldgelb und kalt, an seinen Nasenlöchern hingen Tropfen, in der Hand hielt er die Tätowiermaschine, die nach und nach das Bild vollendete: ein rot-schwarzer, geflügelter Drache, aus dessen Maul Flammen zucken und aus dessen Nüstern Rauch quillt, genau wie ich es wollte. Mario beißt sich bei der Arbeit auf die Lippen, er knirscht mit den Zähnen, sein Atem riecht nach Tabak und Kaffee. Mit ihm würde ich nicht mal ins Bett gehen, wenn er der einzige Mann auf Erden wäre. Aber er ist ein genialer Tätowierer, der beste weit und breit. Warum ein Drache?, hatte er mich mit seiner piepsigen Stimme gefragt. Warum nicht? Tut es weh? Ein bisschen. Ich wollte gegenüber dem Drachen auf meiner Haut keine Schwäche zeigen. Ich konnte den beißenden Rauch aus seinen Nüstern spüren, das reichte. Schmerzen? Scheißegal!
11 Uhr
Mit dem frisch tätowierten Drachen auf dem Rücken schleppte ich mich zu Tulù, um mich verarzten zu lassen. Ich hatte mich von einem gutaussehenden Typen ablenken lassen, war mit der Vespa in ein Schlagloch gefahren und dann zehn Meter durch die Luft geflogen. Das war kein Loch im Asphalt, das muss ein Abgrund gewesen sein, meinte Tulù und lachte, als ich ihm davon erzählte. So ein Arsch. Ich musste drei Mal klingeln, bevor er sich bequemte, zur Tür zu gehen, die Klinke herunterzudrücken und vorsichtig durch den Spalt zu blicken, um festzustellen, wer da ist. Vielleicht die Polizei? Ich bin’s, mach auf! Ach du bist es, Lori, komm rein. Was hast du denn gemacht, du bist ja ganz rot … Er streifte mir den Pulli ab und erstarrte. Wer war das denn? Mario, der Magier, antwortete ich, erinnerst du dich, der aus der Bar am Tennisplatz, er hat mir Rabatt gegeben. Gefällt er dir? Er sieht total lebendig aus, wie ein echter Drache. Wie er faucht! Wem willst du damit Angst machen? Jedem, der mich von hinten überfallen will, was meinst du? Gute Idee! Das feiern wir! Was hältst du von Sex? Na gut, aber erst brauche ich einen Kaffee, du auch? Ich hatte schon drei, egal, ich trinke auch einen vierten. Mir gefällt es, Tulù dabei zu beobachten, wie er in der Küche herumwerkelt, die eigentlich gar keine richtige Küche ist, sondern ein Abstellraum, in dem es nicht einmal einen Tisch gibt, wo man etwas hinstellen kann. Deshalb hat er immer die Tür zum Balkon offen, auf dem eine auf den Kopf gestellte Schublade steht, die als Ablage dient. Der Kaffee ist …, na ja, sage ich und er lacht. Tulù ist nett, ein bisschen verklemmt, und im Bett ist er ungeschickt, dafür hat er einen echten Knackarsch ohne Haare. Oma Gesuina beurteilt den Charakter eines Menschen nach seinem Hintern, sie muss es wissen, denn sie setzt Spritzen, um Geld zu verdienen, und sieht dabei eine ganze Menge Hinterteile. Sobald sich ihre Patienten ausziehen, weiß sie Bescheid. Spitz- und Rundärsche, behaart oder rosig wie ein Schweinchen, mit Gänsehaut, glatt oder faltig wie ein Truthahnhals. Gesuina sagt, die Hinterteile sprechen zu ihr und sie versteht, was sie sagen. Tulùs Hintern ist ein Traum, knackig und prall wie ein Apfel, am liebsten würde man hineinbeißen. Aber er zeigt sich nicht gerne nackt und zieht die Unterhose immer erst im allerletzten Moment aus, davor knöpft er langsam und vorsichtig das Hemd auf, streift es ab und hängt es über den Stuhlrücken, dann zieht er die Hose aus, faltet sie zusammen und legt sie sorgfältig auf den Stuhl, keine Hektik, die Schuhe glänzen und stehen exakt nebeneinander, sie sehen aus wie neu, der Schlafanzug ist gebügelt und bis oben zugeknöpft, wie eben, als ich kam. Es ist elf und du liegst noch im Bett? Gestern war es spät, Lori, ich hatte keine Lust auf Schule. Ich auch nicht. Und was hast du deiner Mutter gesagt? Nichts, sie hört mir ohnehin nicht zu. Sie hat ja gesehen, wie ich meine Jacke und den Rucksack genommen habe, das reicht ihr schon, sie käme gar nicht auf die Idee, dass ich die Schule schwänzen oder einen Termin mit Mario, dem Magier, haben könnte, um mir einen Drachen auf den Rücken tätowieren zu lassen. Meine Mutter ist gutgläubig, wer weiß, was sie denkt. Wenn ich einen Job hätte und nicht von ihr abhängig wäre, würde ich keinen Moment länger mit ihr und meiner Großmutter unter einem Dach wohnen bleiben, sie gehen mir auf die Nerven. War deine Großmutter nicht Schauspielerin? Ja, aber jetzt nicht mehr, jetzt setzt sie Spritzen. Schluss mit dem Theater? Wer will denn eine alte Frau von sechzig auf der Bühne? Na ja, sechzig ist ja noch nicht alt, meine Mutter ist auch sechzig, aber sie zieht sich jugendlich an und die Männer finden sie noch immer attraktiv. Deine Mutter ist deine Mutter und meine Großmutter ist meine Großmutter. Auch wenn sie immer noch vorzeigbar ist, in Wahrheit hat man sie rausgeworfen, weil sie Proben geschwänzt und ihren Kollegen oder den Technikern den Kopf verdreht hat und auch noch hinter den Kulissen mit ihnen rumgeschmust hat. Wenn sie sich zurechtgemacht hat, sieht sie zwanzig Jahre jünger aus, und wenn sie nicht so verdammt neugierig wie ein Affe und so hinterhältig wie ein Fuchs wäre, könnte es echt nett mit ihr sein, sie kann tolle Geschichten erzählen und ist richtig clever.
17 Uhr
Wir haben Kaffee getrunken und miteinander geschlafen, aber nur halbherzig, irgendwie hatte Tulù keine rechte Lust, in der Schule sagen sie, er würde auf Jungs stehen, wer weiß. Aber ich glaube, er hat einfach Angst, die Kontrolle zu verlieren, und deshalb ist er so verklemmt, schwul kommt er mir nicht vor. Ein komischer Typ. Beim Sex macht er die Augen zu, schweigt und bewegt sich wie ein Automat. Manchmal wirkt er wie ein Neugeborener, der noch gestillt wird, ich mag seinen Geruch, der an Ricotta und Kamille erinnert, deshalb schließe ich die Augen und wiege ihn in meinen Armen: Hash-a-bye my baby / on the tree top / when the wind blows / the cradle will rock … ein Schlaflied, das mir meine Großmutter früher immer vorgesungen hat, sie spricht gut Englisch, manchmal unterhalten wir uns sogar auf Englisch und sie bringt mir neue Wörter bei, sie spricht auch Französisch, sie kann einfach alles, ein wahres Energiebündel, keine Ahnung, wie sie eine so geistesabwesende Person wie meine Mutter zur Welt bringen konnte.
20 Uhr
Wir sitzen gut gelaunt auf dem Balkon und essen Kekse, die nach Moder schmecken. Von hier aus blickt man auf andere Balkone, die von Pflanzen überwuchert sind, zum Glück taucht dort nie jemand auf. Aber sag mal, bei dir muss doch sonst immer alles perfekt sein, könntest du nicht mal neue Kekse kaufen, die sind doch uralt! Tulù lacht, wenn er nicht so starke, strahlend weiße Zähne hätte, würde mir sein Lachen auf die Nerven gehen. Ein richtiges Haifischgebiss. Der arme Tulù, so viel Verwandtschaft, aber so wenig Fantasie, nicht, dass er dumm wäre, nur verschlossen, verschlossen wie ein Igel, wenn du ihm zu nahe kommst, rollt er sich zusammen und fährt die Stacheln aus. Kurz bevor er gekommen ist, hat er ihn rausgezogen, damit ich nicht schwanger werde, hat ein Küchenkrepp genommen und seinen Samen von meinem Bauch abgewischt, dann hat er es zweimal zusammengefaltet und unter dem Aschenbecher auf der Kommode versteckt. Was dieser Aschenbecher da soll? Keine Ahnung, er raucht ja nicht, vielleicht findet er ihn schön, innen steht in weißer Schrift Willkommen auf Capri auf tiefblauem Grund mit einem auf den Wellen schaukelnden Fischerboot.
22 Uhr
Ich hatte mir eigentlich ein Fischerboot-Tattoo gewünscht, ich liebe das Meer und die hohen Wellen bei stürmischer See, aber als ich das Drachenmotiv auf einem Luftballon gesehen habe, der im Wind tanzte, habe ich es mir anders überlegt, lieber einen Drachen! Drachen sind Fabeltiere, die leben nur in der Fantasie, meinte Tulù, die gibt es in Wirklichkeit nicht. Nein. Woher kommen sie denn dann? Aus meinem Kopf, in deinem ist dafür kein Platz, dort gibt es nur auf die Sekunde genau gehende Uhren, ordentlich aufgeräumte Regale mit schön gebundenen Büchern, die niemand liest und Aschenbecher, die dich an Orte erinnern, an denen du nie gewesen bist.
23 Uhr
Sex am Morgen ist nicht mein Ding, man hat immer diesen abgestandenen Geschmack im Mund und die Haare riechen nach verschwitztem Kopfkissen, aber was sollen zwei Menschen, die sich seit Jahren kennen, zusammen zur Schule gehen und keine Geheimnisse voreinander haben, an einem Tag machen, der öd und langweilig zu werden verspricht? Sie schlafen miteinander, das ist eben so und fertig, besser als gar nichts zu tun, dann trinkt man einen Kaffee und geht unter die Dusche. Tulù wickelt sich ein Handtuch um die Hüften und löffelt ein Joghurt, Magerstufe natürlich, er achtet auf seine Linie und kauft alles im Bioladen, meine Großmutter nennt solche Geschäfte Apotheken, weil man dort für eine krumme Karotte drei Euro zahlt, unglaublich, aber wahr.
16 Uhr