Anthony Horowitz
Ein perfider Plan
Hawthorne ermittelt
Roman
Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff
Insel Verlag
Ein perfider Plan
Hawthorne ermittelt
An einem hellen Frühlingsmorgen, dessen blasses Sonnenlicht weit mehr Wärme versprach, als der Tag dann zu liefern vermochte, überquerte Diana Cowper kurz nach elf Uhr die Fulham Road und betrat ein Beerdigungsinstitut.
Sie war nicht besonders groß, wirkte aber sehr zielstrebig. In ihren Augen, ihrem akkurat geschnittenen Haar und ihrem Gang lag eine heftige Entschlossenheit. Wenn man sie kommen sah, hatte man sofort den Wunsch, ihr auszuweichen und sie passieren zu lassen. Dabei hatte sie gar nichts Unfreundliches an sich. Sie war in den Sechzigern und hatte ein angenehmes, rundes Gesicht. Sie war teuer gekleidet, ihr heller Regenmantel stand offen und enthüllte einen rosa Pullover mit einem grauen Rock. Sie trug ein Perlenhalsband mit Edelsteinen, das wertvoll sein mochte oder auch nicht, und eine Reihe von Diamantringen, die auf jeden Fall teuer gewesen sein mussten. Es gab viele Frauen wie sie in den Straßen von Fulham und South Kensington. Sie hätte auch auf dem Weg zu einer Lunchverabredung oder einer Kunstgalerie sein können.
Das Beerdigungsinstitut hieß Cornwallis & Söhne. Es stand am Ende einer Häuserreihe, und der Name prangte in klassischer Schrift sowohl auf der Front als auch an der Seite des Hauses, so dass man ihn nicht übersehen konnte, egal aus welcher Richtung man kam. Eine große viktorianische Uhr verhinderte, dass die beiden Inschriften über der Eingangstür aneinanderstießen. Ihre Zeiger waren passenderweise um 11 Uhr 59 zum Stillstand gekommen: eine Minute vor Mitternacht. Unter dem Firmennamen stand, erneut in doppelter Ausführung, die Legende: Unabhängige Trauerhilfe und Bestattungen. Seit 1820 im Besitz der Familie. An der Straßenfront gab es drei Schaufenster. Zwei davon zeigten geschlossene Vorhänge, im mittleren lag ein aufgeschlagenes Buch aus Marmor, dessen Seiten die Inschrift trugen: Wenn Kummer kommt, dann kommt er einzeln nicht, er kommt in Bataillonen. Alle Holzteile, die Fensterrahmen und die Fassadenverkleidung waren in einem sehr dunklen Blau gestrichen.
Als Mrs Cowper die Tür öffnete, erklang ein Glöckchen, das an einem altmodischen Federmechanismus befestigt war. Sie betrat einen kleinen Empfangsraum mit zwei Sofas, einem niedrigen Tisch und einem Regal, in dem ein paar Dutzend Bücher standen, die schon deshalb besonders traurig erschienen, weil sie ganz ungelesen waren. Eine Treppe führte ins obere Stockwerk und ein schmaler Korridor in die hinteren Räume.
Sogleich kam eine stämmige Frau mit dicken Beinen und klobigen schwarzen Lederschuhen die Treppe hinunter. Sie lächelte höflich. Ihr Lächeln gab zu verstehen, dass dies eine schmerzliche, heikle Angelegenheit war, die man aber mit größter Ruhe und Effizienz erledigen würde. Ihr Name war Irene Laws. Sie war die persönliche Assistentin von Robert Cornwallis, dem Bestattungsunternehmer, und zugleich die Empfangsdame.
»Guten Morgen. Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.
»Ja. Ich möchte ein Begräbnis organisieren.«
»Sind Sie wegen jemandem da, der kürzlich gestorben ist?« Das Wort »gestorben« war durchaus bezeichnend. Nicht »verschieden«. Und nicht »dahingegangen«. Irene Laws hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, stets Klartext zu reden, da sie zu der Erkenntnis gekommen war, dass das am Ende weniger schmerzhaft für alle Beteiligten war.
»Nein«, erwiderte Mrs Cowper. »Es ist für mich selbst.«
»Ich verstehe.« Irene Laws zuckte nicht mit der Wimper – warum sollte sie auch? Es war durchaus nichts Ungewöhnliches, dass Leute ihre eigene Beerdigung regelten. »Haben Sie einen Termin?«, fragte sie.
»Nein. Ich wusste nicht, dass das nötig ist.«
»Nehmen Sie doch bitte Platz! Ich werde mal nachsehen, ob Mr Cornwallis Zeit hat. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Tee oder Kaffee?«
»Nein, danke.«
Diana Cowper setzte sich, und Irene Laws verschwand den Korridor hinunter. Kurz darauf erschien sie wieder: Sie ging hinter einem Mann her, der so eindeutig wie ein Beerdigungsunternehmer aussah, dass er ein Schauspieler hätte sein können. Er trug den unvermeidlichen schwarzen Anzug und eine dunkelgraue Krawatte. Sein bloßes Auftreten signalisierte, dass er sich am liebsten dafür entschuldigt hätte, dass seine Anwesenheit überhaupt nötig war. Seine Hände waren zu einer Geste des Bedauerns gefaltet. Sein Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen, und das dünne, am Rande der Kahlköpfigkeit dahinsiechende Haupthaar verbesserte diesen Eindruck genauso wenig wie der schüttere Bart, der aussah wie ein gescheitertes Experiment. Er trug getönte Brillengläser, deren Fassung auf seine Nase drückte und die Augen nicht nur umrahmte, sondern nahezu völlig verdeckte. Er war ungefähr vierzig und versuchte, trotz allem zu lächeln.
»Guten Morgen«, sagte er. »Mein Name ist Robert Cornwallis. Sie wollen eine Bestattung veranlassen?«
»Ja.«
»Hat man Ihnen schon etwas angeboten? Wenn Sie mir bitte folgen wollen …«
Die neue Kundin wurde den Korridor hinunter zu einem Zimmer am hinteren Ende geführt. Es war genauso dezent wie der Empfangsbereich ausgestattet, allerdings mit einem wichtigen Unterschied: Statt der Bücher gab es hier Broschüren und Kataloge mit Bildern von Särgen und Leichenwagen (mit Pferden oder motorisiert) und Preislisten. Falls sich das Gespräch in Richtung einer Feuerbestattung bewegen sollte, waren auf zwei Regalen auch Urnen zur Prüfung bereitgestellt worden. Zwei Lehnsessel standen sich gegenüber. Cornwallis setzte sich auf den mit dem kleinen Schreibtisch daneben. Er zog einen Füllfederhalter heraus, einen silbernen Montblanc, und legte ihn auf seinen Notizblock.
»Es geht um Ihre eigene Beerdigung«, begann er.
»Ja.« Plötzlich wollte Mrs Cowper etwas rascher vorankommen. »Ich habe mir schon ein paar Einzelheiten überlegt, ich hoffe, das stört Sie nicht?«
»Ganz im Gegenteil. Individuelle Bedürfnisse sind uns sehr wichtig. Heutzutage sind maßgeschneiderte Konzepte für vorgeplante Beerdigungen der Hauptbestandteil unseres Geschäfts. Es ist uns eine besondere Ehre, genau das zu bieten, was unsere Kunden verlangen. Vorausgesetzt, dass unsere Angebote und Bedingungen Ihnen zusagen, werden wir Ihnen nach unserem Gespräch einen Vertragsentwurf und eine detaillierte Rechnung mit allen Einzelheiten zukommen lassen, auf die wir uns verständigt haben. Ihre Verwandten und Freunde werden nichts weiter tun müssen, als an der Veranstaltung teilzunehmen. Und aus Erfahrung kann ich Ihnen versichern, dass es ihnen ein großer Trost sein wird, wenn sie wissen, dass alles genau so vonstatten geht, wie Sie es sich gewünscht haben.«
Mrs Cowper nickte. »Ausgezeichnet. Dann können wir ja loslegen, oder?« Sie holte tief Luft und kam sofort zur Sache: »Ich will in einem Pappsarg begraben werden.«
Cornwallis war schon dabei, die erste Notiz zu machen, als die Feder kurz vor der Papieroberfläche noch einmal innehielt. »Wenn Sie an ein Öko-Begräbnis denken, würde ich vielleicht eher recyceltes Holz oder auch ein Weidengeflecht vorschlagen. Es gibt Fälle, bei denen Pappe nicht so … wirkungsvoll ist.« Er wählte seine Worte mit Sorgfalt, damit alle möglichen Untertöne darin mitschwingen konnten. »Weidensärge sind kaum teurer und sehr viel attraktiver.«
»Na schön. Ich will auf dem Brompton Cemetery begraben werden, neben meinem Mann.«
»Haben Sie ihn vor kurzem verloren?«
»Vor zwölf Jahren. Die Grabstelle haben wir schon, das ist also kein Problem. Und die Trauerfeier stelle ich mir so vor …« Sie klappte ihre Handtasche auf und nahm ein Blatt Papier heraus, das sie auf den Tisch legte.
Der Beerdigungsunternehmer warf einen Blick darauf. »Ich sehe, Sie haben über die Angelegenheit schon viel nachgedacht«, sagte er. »Und die Feier ist wohldurchdacht, wenn ich das sagen darf. Teils religiös, teils humanistisch.«
»Na ja, da ist dieser Psalm – und da sind die Beatles. Ein Gedicht, ein bisschen klassische Musik und ein paar kurze Reden. Ich will nicht, dass es zu lange dauert.«
»Wir können den Zeitplan ganz genau festlegen.«
Diana Cowper hatte ihre Beerdigung genau geplant, und das war auch gut so. Denn sie wurde noch am selben Tag, nur sechs Stunden später, ermordet.
Zum Zeitpunkt ihres Todes hatte ich noch nie von ihr gehört, und ich wusste so gut wie nichts darüber, wie sie gestorben war. Vielleicht hatte ich eine Überschrift in der Zeitung gelesen: MUTTER VON HOLLYWOODSCHAUSPIELER ERMORDET, aber die Fotos und Berichte konzentrierten sich alle mehr auf den weitaus berühmteren Sohn, der gerade als Hauptfigur einer neuen amerikanischen Fernsehserie besetzt worden war. Das oben dargestellte Gespräch ist daher nur eine grobe Annäherung, denn ich bin natürlich nicht dabei gewesen. Ich habe das Beerdigungsinstitut aber später besucht und lange mit Robert Cornwallis und seiner Assistentin Irene Laws gesprochen (die übrigens auch seine Cousine war). Wenn Sie die Fulham Road hinuntergehen, hätten Sie kein Problem, das Bestattungsunternehmen zu finden. Die Räumlichkeiten sind genauso, wie ich sie beschrieben habe. Viele andere Einzelheiten stammen aus Zeugenaussagen und Polizeiberichten.
Wann genau Mrs Cowper das Bestattungsunternehmen betrat, wissen wir deshalb, weil ihre Bewegungen sowohl auf der Straße als auch in dem Bus, den sie von zu Hause aus genommen hatte, von Überwachungskameras aufgezeichnet worden waren. Es gehörte zu ihren absonderlichen Verhaltensweisen, dass sie stets öffentliche Verkehrsmittel benutzte. Sie hätte sich ohne weiteres einen Chauffeur leisten können.
Sie verließ das Bestattungsunternehmen um Viertel vor zwölf, ging zur U-Bahnstation South Kensington und nahm die Piccadilly Line zum Green Park. Dort traf sie sich zu einem frühen Lunch mit einem Bekannten im Café Murano in der St James's Street, in der Nähe von Fortnum & Mason. Von da aus nahm sie ein Taxi zum Globe Theatre auf der South Bank. Sie sah sich aber kein Stück an, sondern nahm an einer Vorstandssitzung im ersten Stock des Gebäudes teil, die von zwei Uhr bis kurz vor fünf dauerte. Fünf Minuten nach sechs war sie wieder zu Hause. Es hatte gerade angefangen zu regnen, aber sie hatte einen Schirm dabei, den sie in einem pseudoviktorianischen Ständer neben der Tür ihres Hauses zurückließ.
Dreißig Minuten später hat sie jemand erwürgt.
Diana Cowper wohnte in einem schicken Reihenhaus in der Britannia Road etwas außerhalb der Gegend von Chelsea, die – in ihrem Falle ganz angemessen – als »World's End« bekannt ist. Es gab keine Überwachungskameras in dieser Straße, so dass man nicht feststellen konnte, wer in der fraglichen Zeit sonst noch da war. Die Nachbarhäuser standen leer. Das eine gehörte einem Konsortium in Dubai und war nicht vermietet, das andere gehörte einem Rechtsanwalt und seiner Gemahlin, aber die hielten sich in Südfrankreich auf. Es hatte also niemand etwas gehört.
Die Leiche wurde erst nach zwei Tagen gefunden. Andrea Kluvánek, die slowakische Putzfrau, kam nur zweimal die Woche und entdeckte sie am Mittwochmorgen. Mrs Cowper lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden im Wohnzimmer. Eine rote Kordel, die normalerweise zum Zurückbinden der Vorhänge benutzt wurde, war um ihren Hals geschlungen. Der Bericht des Gerichtsmediziners, der in der üblichen sachlichen, ja beinahe desinteressierten Weise verfasst war wie alle solche Berichte, beschrieb in allen Einzelheiten die Einwirkung stumpfer Gewalt auf den Hals, das gebrochene Zungenbein und die Blutungen der Bindehaut. Die slowakische Putzfrau sah etwas viel Schlimmeres. Sie arbeitete seit zwei Jahren in Mrs Cowpers Haushalt und mochte ihre Arbeitgeberin, die sie stets gut behandelt und immer mal einen Kaffee mit ihr getrunken hatte. Als sie am Mittwoch die Tür öffnete, war sie dagegen mit einer Leiche konfrontiert, und noch dazu mit einer, die schon eine Weile dalag. Das Gesicht, soweit sie es sehen konnte, war blauviolett angelaufen. Die Augen starrten ins Leere, die Zunge hing grotesk heraus und war zweimal so lang wie normal. Ein Arm war ausgestreckt, ein Finger mit einem Diamantring zeigte anklagend auf sie. Da die Heizung lief, hatte die Leiche bereits zu stinken begonnen.
Nach eigener Aussage hatte die Putzfrau nicht geschrien. Sie hatte sich auch nicht erbrochen. Sie war leise aus dem Haus gegangen, hatte ihr Handy aus der Tasche gezogen und die Polizei angerufen. Sie war nicht ins Haus zurückgegangen, bevor die Beamten eintrafen.
Anfangs nahmen die Ermittler an, dass Diana Cowper das Opfer eines Einbruchs geworden war. Es waren verschiedene Gegenstände, darunter Schmuck und ein Laptop, entwendet worden. Mehrere Räume waren durchsucht und Dinge verstreut worden. Es gab aber keine Einbruchsspuren. Mrs Cowper hatte dem Angreifer offenbar selbst die Tür geöffnet, auch wenn nicht ganz klar war, ob sie ihn gekannt hatte oder nicht. Sie war überrascht und von hinten erwürgt worden. Sie hatte sich kaum gewehrt. Es gab keine Fingerabdrücke, keine DNA, keine Hinweise sonstiger Art, was den Eindruck erweckte, dass der Täter alles mit großer Sorgfalt geplant hatte. Er hatte sie abgelenkt, die rote Kordel vom Haken neben dem Vorhang genommen und sich von hinten angeschlichen. Er hatte ihr die Vorhangschnur um den Hals gelegt und gezogen. Es hatte wohl nur eine Minute gedauert, bis sie tot war.
Aber dann erfuhr die Polizei von ihrem Besuch bei Cornwallis & Söhne und merkte, dass sie es mit einem richtigen Rätsel zu tun hatte. Man muss sich das mal vor Augen halten: Niemand organisiert seine eigene Beerdigung und wird am selben Tag noch ermordet. So etwas ist kein Zufall. Die beiden Ereignisse mussten irgendwie miteinander verknüpft sein. Hatte sie gewusst, dass sie sterben würde? Hatte sie jemand in das Bestattungsunternehmen hineingehen sehen und sich bemüßigt gefühlt, etwas zu unternehmen? Wer wusste überhaupt, dass sie dort gewesen war?
Es war tatsächlich ein Rätsel und bedurfte eines besonderen Ansatzes. Gleichzeitig hatte es überhaupt nichts mit mir zu tun.
Aber das sollte sich ändern.