Kieran Setiya
Midlife-Crisis
Eine philosophische Gebrauchsanweisung
Aus dem Englischen von Volker Oldenburg
Insel Verlag
Wenn ich nicht für mich bin, wer ist dann für mich?
Wenn ich aber nur für mich bin, was bin ich?
Und wenn nicht jetzt, wann dann?
Rabbi Hillel
Einleitung
1
Eine kurze Geschichte der Midlife-Crisis
Aufstieg und Fall
Mit vierzig fängt das Leben an
Traurig und philosophisch
2
Soll das alles sein?
Nur für mich
Sich unsterblich machen
Die Schatten des Gefängnisses
3
So viel verpasst
Das Leben eines Polypen
Männer im Untergrund
Trostpflaster
4
Rückschau
Ein vorübergehender Zustand
An Stelle eines Kindes
Ist Unwissenheit ein Segen?
5
Etwas, worauf man sich freuen kann
Geht uns der Tod nichts an?
Der Mann im Spiegel
Zu viel des Guten?
Das bittere Ende
6
Leben im Hier und Jetzt
Womit Schopenhauer richtiglag
Worin sich Schopenhauer irrt
Was ich ganz sicher weiß
Schluss
Dank
Anmerkungen
Eine Geschichte aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. handelt von zwei großen Rabbinern. Schammai ist streng, dogmatisch, unnahbar. Sein Gegenspieler Hillel ist genau das Gegenteil: sanft, offen, den Menschen zugewandt. In der Geschichte kommt ein Nichtjude zu Schammai und sagt: »Ich möchte Jude werden, aber unter einer Bedingung: Lehre mich die ganze Tora, während ich auf einem Bein stehe.« Nachdem Schammai ihn erbost aus der Synagoge gejagt hat, geht der Mann zu Hillel. Dieser willigt mit den Worten ein: »Was dir zuwider ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Tora; alles andere ist Auslegung. Nun gehe hin und lerne.«1
Dieses Buch ist in Hillels Geist geschrieben, und das Motto stammt von ihm. Wie der Talmud ist die Philosophie oft rätselhaft und abweisend. Das ist nicht neu: Versuchen Sie mal, Kant oder Aristoteles zu lesen. Und daran ist auch nichts Schlechtes. Hillel ist kein Gegner gründlichen Studierens: Seine Rede endet mit der Aufforderung zu lernen. Aber er glaubt fest daran, dass die Botschaft des Judentums einfach zu vermitteln ist, und diese Botschaft ist ihm so wichtig, dass er es in Kauf nimmt, als naiv dazustehen.
Genauso sehe ich die Philosophie. Sie könnte nicht fortbestehen ohne Philosophen, die sich mit Leidenschaft den Kopf über die verzwicktesten Probleme zerbrechen. Die akademische Philosophie ist geprägt von Debatten, kritischer Reflexion und komplizierten Fragestellungen. Dennoch hat sie fast allen, die sich in der Lebensmitte fragen, wie sie leben sollen und was ein gutes Leben ausmacht, eine Menge zu bieten.
Mein Interesse an diesem Thema ist persönlich, und das nicht nur, weil ich mit der Philosophie meinen Lebensunterhalt verdiene. Vor ungefähr sechs Jahren, im zarten Alter von fünfunddreißig, dachte ich zum ersten Mal über die Mitte des Lebens nach. Nach außen hin lief alles bestens. Ich hatte Frau und Kind und eine feste Stellung. Ich war Professor an einer guten Fakultät in einer schönen Stadt im Mittleren Westen der USA. Mir war bewusst, dass ich mich glücklich schätzen konnte, das zu tun, was mir Freude bereitete. Trotzdem hinterließ die Aussicht, dass es immer so weitergehen würde, dass mein Leben einem vorgezeichneten Weg folgte, an dessen Ende Ruhestand, Verfall und Tod warteten, ein schales Gefühl in mir. Als ich mich hinsetzte und gründlich über das Leben nachdachte, das ich mir mit viel Fleiß und Mühe aufgebaut hatte, empfand ich eine beunruhigende Mischung aus Wehmut, Bedauern, Enge, Leere und Furcht. War ich etwa in der Midlife-Crisis?
Sie denken jetzt sicher, dass ich für eine Midlife-Crisis damals noch zu jung war (und vielleicht immer noch bin). Ich verstehe Ihren Einwand, doch machen Sie sich schon mal auf Kapitel zwei gefasst. Und schlussendlich bin ich anderer Meinung. Was mir zu schaffen machte, waren die existenziellen Fragen, die in der Lebensmitte auftauchen, und für die ist man auch mit fünfunddreißig nicht zu jung. Man kann sich diese Fragen mit zwanzig oder auch mit siebzig stellen, aber ich glaube, dass sie vor allem Menschen meiner Altersgruppe betreffen. Dabei geht es um Verlust und Bedauern, Erfolge und Niederlagen, um das Leben, das man sich gewünscht hat, und das Leben, das man führt. Es geht um Tod und Endlichkeit und um das Gefühl von Sinnlosigkeit, das sich beim Umsetzen von Vorhaben gleich welcher Art einstellt. Dieses Buch richtet sich nicht nur an Leser und Leserinnen mittleren Alters, sondern an alle, die mit der Irreversibilität der Zeit zu kämpfen haben.
Dieses Buch ist ein Versuch in angewandter Philosophie: Es erkundet mittels philosophischer Reflexion die Herausforderungen in der Mitte des Lebens. Und es kommt in Gestalt eines Selbsthilfe-Ratgebers daher. Die spezifischen Probleme der mittleren Lebensphase wurden von der Philosophie bislang vernachlässigt, dabei sind sie aus philosophischer Sicht hochinteressant und lassen sich mit den Mitteln, die uns Philosophen zur Verfügung stehen, durchaus wirksam behandeln. Bis ins 18. Jahrhundert hinein gab es keine klare Grenze zwischen Moralphilosophie und Selbsthilfe.2 Philosophen waren sich einig, dass die Reflexion über das gute Leben den Zweck erfüllen sollte, unsere eigenen Leben besser zu machen. Die Trennung dieser beiden Ebenen ist eine Entwicklung neuerer Zeit. Heute schreiben nur noch wenige Philosophen Lebensratgeber. Und wenn doch, berufen sich die meisten auf die römischen Stoiker Cicero, Seneca und Epiktet oder andere antike Philosophen, so als hätte die Philosophie ihre Lebensrelevanz vor zweitausend Jahren verloren. Ich gehe nicht historisch vor. Auch ich lasse antike und moderne Philosophen zu Wort kommen, aber sie dienen mir nicht als Quellen unfehlbarer Weisheit, sondern als Gesprächspartner bei der Bewältigung meiner – und hoffentlich auch Ihrer – Probleme.
Dieses Buch unterscheidet sich von einem üblichen Ratgeber, weil es darin weniger um konkrete Veränderungen als um die grundlegende Frage geht, wie wir mit dem Leben umgehen, das wir haben. Für die meisten von uns ist es in der Mitte des Lebens noch nicht zu spät, etwas Neues anzufangen, auch wenn es sich oft anders anfühlt. Lassen Sie sich nicht davon täuschen, dass die Zeit in der Lebensmitte drängt. Es bleibt Ihnen mehr, als Sie glauben. Davon abgesehen gibt es jede Menge Ratgeber mit praktischen Tipps zur beruflichen Neuorientierung mit fünfzig oder zur Partnersuche mit fünfundvierzig. Mit solchen Ratschlägen kann ich nicht dienen. Dafür werde ich Ihnen verschiedene philosophisch begründete Methoden näherbringen, die Ihnen dabei helfen, sich an die mittlere Lebensphase anzupassen. Ist die Methode bekannt, erkunde ich die Philosophie, die dahintersteht. Ist sie neu, erläutere ich ihren Nutzen.
Sie benötigen für die Lektüre keinerlei Vorkenntnisse. Ich habe mich bemüht, ein Buch zu schreiben, das Sie lesen können, während Sie auf einem Bein stehen: Ich habe Kürze den Vorzug gegenüber Vollständigkeit gegeben und unnötige Details weggelassen. In den folgenden Kapiteln beschäftige ich mich nur mit einigen wenigen Formen der Midlife-Crisis. Viele Menschen leiden unter den Anforderungen, die das tägliche Leben an sie stellt, und fühlen sich überfordert; darum geht es im zweiten Kapitel. Um diese Probleme zu lösen, befassen wir uns mit verschiedenen Auffassungen von Vernunft, Wert und dem guten Leben, die alle auf Aristoteles zurückgehen. Außerdem werden wir lernen, wie wichtig es ist, Dinge zu tun, die man nicht unbedingt tun muss. Manche fühlen sich von ihrem gegenwärtigen Leben, so glücklich es auch sein mag, eingeengt und trauern verpassten Möglichkeiten nach. Damit beschäftigen wir uns im dritten Kapitel. Wir werden gemeinsam herausfinden, dass das Vorhandensein von Wahlmöglichkeiten häufig überschätzt wird und dass es auch sein Gutes haben kann, etwas zu verpassen. Im vierten Kapitel erfahren wir, wie wir mit begangenen Fehlern umgehen und uns damit abfinden, dass die Zeit sich nicht zurückdrehen lässt. Des Weiteren erkunden wir, wann und warum wir uns darüber freuen sollten, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Im fünften Kapitel beschäftigen wir uns mit der vergangenen Zeit, der dahineilenden Zeit und dem Bewusstsein der eigenen Endlichkeit. Darüber hinaus werden wir uns anhand von philosophischen Überlegungen mit unserer Angst vor dem Tod auseinandersetzen. Im sechsten Kapitel geht es schließlich um das Gefühl von Wiederholung und Ermüdung, das sich einstellt, wenn wir tagein, tagaus, jahrein, jahraus ein Projekt nach dem anderen durchführen. Wir werden dahinterkommen, was es heißt, im Hier und Jetzt zu leben, wie man dadurch seine Midlife-Crisis überwinden kann und warum Meditieren dabei hilft.
Bevor wir uns jedoch auf die Suche nach Antworten machen, betrachten wir die Lebensmitte aus historischer Sicht. Im ersten Kapitel untersuchen wir das Stereotyp von der Mitte des Lebens als Zeit der Krise und zeigen auf, dass sich diese Sichtweise erst in jüngerer Vergangenheit herausgebildet hat. Wir verfolgen die gegenwärtige Entwicklung der Midlife-Crisis vom schwindelerregenden psychischen Trauma zur vorübergehenden Phase relativer Unzufriedenheit. Zeitgenössische Philosophen beschäftigen sich viel zu wenig mit dem Älterwerden und auch mit den physischen und psychischen Besonderheiten der Kindheit, der Lebensmitte und des Alters. Es wird Zeit, das zu ändern.