Anne Cuneo

Der Eiskönig aus dem Bleniotal

Roman

Aus dem Französischen von Erich Liebi

Insel Verlag

Carlo_Gatti

Gatti, in its way, is not

so much of London but of England,

and of all the world.

Auf seine Art gehört Gatti nicht so sehr London,
sondern England und der ganzen Welt.

GEORGE ROBERT SIMS
Living London, 1900

ERSTES BUCH
Nicolas

Carlo Gatti converted his premises into

confectioner’s shops and cafés. (…) Carlo’s

establishments were an immediate hit. (…)

Ices had previously been a luxury for

the idle rich, and this was the first

time in England that they became

available to the poor. Again he enjoyed

spectacular success. On a sunny summer

day, he insisted to a parliamentary

board of enquiry a few years later, he sold

thousands of ices to people who strolled

across Hungerford Bridge.

PETER BARBER
A Curious Colony,
Leicester Square and the Swiss

Carlo Gatti baute seine Räumlichkeiten in Confiserien und Kaffeehäuser um. (…) Carlos

Betriebe liefen von Anfang an ganz toll. (…)

Eiscreme war bisher ein Luxus für reiche

Müßiggänger gewesen, jetzt aber wurde sie

in England zum ersten Mal auch für arme

Leute erschwinglich. Und wieder hatte er

eindrucksvollen Erfolg. Ein paar Jahre später

erklärte er vor einer parlamentarischen

Untersuchungskommission, er habe

an einem sonnigen Sommertag Tausende

Portionen Eiscreme an Passanten verkauft,

die über die Hungerford-Brücke spazierten.

PETER BARBER
A Curious Colony,
Leicester Square and the Swiss

I

»O Signur! Ma à l’è un bagaï!«

Er spricht nicht wie wir. Es ist schon fast fünfzig Jahre her, aber mir ist, als wäre es erst gestern gewesen. Ich sehe diese riesige Hand, die sich mir in meinem Loch entgegenstreckt. Hinter ihm regnet es in Strömen, die Räder machen jenes typische Geräusch, das man hört, wenn sie durch Schlamm fahren. Eine richtige Ratte flitzt zwischen seinen Schuhen voller Straßendreck hindurch, direkt auf der Höhe meiner Augen. Vom Mann ist nur diese Hand zu sehen und zwei Füße, die fest auf dem Boden stehen – an eine Flucht ist nicht zu denken.

Die Hand kommt näher, der Mann beugt sich noch etwas vor, um mehr Kraft zu haben, nicht etwa, weil ich dick oder schwer wäre, sondern weil ich mich festklammere. Wo ich doch endlich einen Unterschlupf gefunden habe …

Als er mich aus dem Loch gezogen hat, sehe ich ihn besser, der Schein einer Laterne fällt auf ihn, er ist ein Riese. Ich bin augenblicklich patschnass.

»O Signur«, murmelt der Riese wieder, »das ist ja ein Kind. Ich habe dich für eine Katze gehalten. Wie alt bist du?« Ich schaue ihn an, ohne ein Wort hervorzubringen, ich verstehe seine Frage nicht. Er spricht sonderbar. Dann fragt er mich auf Italienisch: »Wie heißt du?«

»B… Boy.«

»Du heißt Boy?«

Ich nicke.

Einen Augenblick lang sieht er mich an, als ob er zögerte – er wird mich laufen lassen. Aber nein, er hebt mich auf, schlägt seinen weiten Umhang auf und hüllt mich ein.

Er drückt mich an sich und zum ersten Mal seit Langem bin ich an der Wärme. Dieser Mann kommt mir vor wie ein heißer Ofen.

Jetzt aus der Nähe sehe ich auch seinen schwarzen Bart und die dunklen Augen.

»Hast du Eltern, Boy?«

Geduldig wartet er auf meine Antwort.

»Meine Mutter … überfahren …«

»Wann?«

Ich mache eine hilflose Handbewegung. Ich habe sie über die Gasse laufen sehen und aus den Augen verloren, dann habe ich einen Schrei gehört und etwas Lebloses am Boden liegen sehen. Ich wollte zu ihr laufen, aber eine Kolonne schwer beladener Wagen stand mir im Weg. Als ich endlich hindurchschlüpfen konnte, war niemand mehr da. War das heute? Gestern? Ich weiß es nicht.

Er lässt es gut sein und macht sich auf den Weg.

Ich bin sicher, dieser Mann muss Kaminfeger sein, einer von denen, die kleine Jungen suchen, die für sie in enge Kamine kriechen.

Der Riese geht zügigen Schrittes, dann und wann murmelt er ein paar unverständliche Worte. Er hält mich immer noch im Arm, nach und nach wird mir wärmer.

Wir treten irgendwo ein, zuerst sehe ich nichts, dann schlägt er seinen Umhang auf und stellt mich auf den Boden. Ich befinde mich in einer Küche, so erschöpft, dass mich meine Beine im Stich lassen und ich zu Boden falle.

Wieder mache ich die Augen auf und sehe jetzt zwei über mich gebeugte Gesichter: einen jungen breitschulterigen Mann mit Bart und eine Frau neben ihm. Sie wirkt sehr klein und ist voller Runzeln wie ein Apfel, sie trägt ein Kopftuch und schaut mich mit stechendem Blick aus dunklen Augen an.

Sie sagen Wörter, die ich nicht verstehe.

Als sie sehen, dass meine Augen wieder offen sind, wedelt die Frau mit einem Finger unter meiner Nase herum und schreit etwas.

Der Mann stellt mich wieder auf die Beine und ich sehe, dass es der gleiche ist wie vorher.

»Geht’s besser, Boy?«

Er redet Italienisch.

Ich schlucke leer, schüttle schwach den Kopf, bringe nichts heraus, alles dreht sich.

»Der Kleine ist am Verhungern«, ruft der Mann plötzlich. Er setzt mich an den Tisch, an seiner Stimme erkenne ich, dass er Befehle erteilt. Die Alte stellt eine Schale vor mich hin. Der Duft lähmt mich. Ich habe schon so lange nichts mehr gegessen, dass sich mir der Magen umdreht. Der Mann schüttelt den Kopf, setzt sich mir gegenüber, greift nach einem Löffel, füllt ihn und streckt ihn mir entgegen.

»Hier, Zichinin, iss.«

Ich mache den Mund auf, und er steckt mir langsam, mit viel Geschick und Geduld den Löffel Suppe hinein, meine erste Suppe, nur ganz wenig auf einmal.

Ich weiß, dass er mich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal Zichinin (Zikinin ausgesprochen) nannte, denn später tat er es immer wieder – wenn die Leute es nicht verstanden, runzelten sie kurz ihre Stirn, aber die Tessiner, die wussten, dass Zichinin »ein kleines bisschen« oder »Prise« heißt, amüsierten sich köstlich über diesen Spitznamen – inzwischen bin ich gut sechs Fuß groß.

»Ja, aber als ich ihm diesen Übernamen gab, war er wirklich nur ein Dreikäsehoch und so leicht, dass ich ihn mit einer Hand hochheben konnte«, erklärte er jeweils.

Als ich die Suppe gegessen hatte, nahm mich die alte Frau, Nonna Gina, wie ich später erfuhr, bei der Hand, zog mich splitternackt aus und steckte mich in einen Holzbottich, mit dem sie zuvor sehr beschäftigt war, während ich keine Ahnung hatte, dass es meinetwegen war.

Ich schlug um mich, aber nur halbherzig, denn an diesem Abend war ich buchstäblich am Sterben, und sie war stärker als ich. Sie redete pausenlos mit einer für eine so kleine Frau erstaunlich tiefen Stimme, und natürlich verstand ich kein Wort. Vermutlich sagte sie, ein verlaustes Ding wie ich müsse tüchtig gestriegelt werden. Nachdem sie mich wieder aus dem Bottich gezogen hatte, scherte sie mir auch noch den Kopf, dann zog sie mir saubere Sachen an.

Der Mann, der während meiner erzwungenen Waschung nicht da gewesen war, kam zurück und brachte einen schwarzhaarigen Jungen mit, der älter war als ich.

»Agostino«, sagte er auf Italienisch, »hier ist … wie soll ich dich denn nennen, mein Junge? Erinnerst du dich wirklich an keinen anderen Namen als Boy?« Ich dachte nach. Ganz weit hinten in meinem Gedächtnis gab es vielleicht einen Namen, vielleicht Nicolás, aber war das wirklich ich? Ich hatte bis jetzt immer nur Boy hier, Boy da gehört. Macht nichts.

»Nicolás. Nick,« stammelte ich.

»Aha, sehr gut. Also denn, Agostino, das ist Nicola.« Den Namen hat er immer so ausgesprochen, italienisch, mit Betonung auf dem o. »Er bleibt bei uns, wir werden sehen, wofür wir ihn brauchen können, später, wenn es wieder ein bisschen Fleisch gibt an diesem Knochengestell.«

Agostino sah mich an, mit skeptischem Blick, wie es mir schien, und ich fragte mich, ob ich wohl sein Prügelknabe sein würde, wie bislang auf der Straße, wo meine Mutter und ich gelebt hatten und wo es üblich gewesen zu sein schien, dass die Älteren ihren Spaß daran hatten, die Kleineren zu quälen. In Wirklichkeit war er dann zwar distanziert mir gegenüber, aber immer sehr nett.

Eine Frau mit einem Baby an der Hüfte kam hereingewirbelt, in meinen Kinderaugen schön wie die Madonna persönlich.

Sie fing zu schreien an und fuchtelte mit einer Hand herum, einmal in die Richtung des Mannes, dann in meine. Hier brauchte es keine Sprachkenntnisse, um zu verstehen. Diese Person war wütend, weil der Mann, ihr Ehemann, wie ich vermutete, einen streunenden Hund aufgelesen hatte.

»Mach dir keine Sorgen«, murmelte Agostino plötzlich. »Er hört nicht auf sie und wird dich nicht wieder auf die Straße setzen.«

»Wer … wer ist das?«

»Tante Maria, die Frau von Onkel Carlo. Er erträgt es nicht, verwahrloste Kinder auf der Straße zu sehen, und hat schon einige nach Hause gebracht. Aber nicht aus Wohltätigkeit, du wirst hart dafür arbeiten müssen, mach dich darauf gefasst.«

Erst Jahre später habe ich erfahren, dass der »Mann«, wie ich ihn immer noch nannte, an den Ort zurückgekehrt war, wo er mich gefunden hatte, eine heruntergekommene Straße in der Gegend von Seven Dials, um etwas über den Unfall meiner Mutter in Erfahrung zu bringen. Aber er hat natürlich nichts herausgefunden. In Seven Dials werden keine Fragen beantwortet, die von Ausländern schon gar nicht. Von diesem Tag an war ich für ihn einer der Seinen.

»Unser Zichinin«, pflegte er zu sagen.

Am anderen Morgen, geschlafen hatte ich in einem Zimmer mit Agostino und ein paar anderen Kindern, fragte dieser mich etwas in seiner eigenen Sprache, doch weil ich ihn nicht verstand, wechselte er ins Italienische.

»Was machst du hier, wenn du nicht sprechen kannst wie wir?«

Was sollte ich antworten? Ich sah ihn nur an und zitterte innerlich – würde er mich rauswerfen können?

»Du musst es Onkel Carlo angetan haben.« Er blieb stehen und musterte mich einen Augenblick lang kritisch. »Aber sprechen kannst du schon?« Ich nickte. »Umso besser, dann sag etwas.«

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen.

»Wer … wer ist Z… Zio Carlo?«

Zufrieden sah er mich an, als ob es sein persönlicher Erfolg gewesen wäre, mich zum Sprechen gebracht zu haben.

»Zio Carlo? Das ist mein Onkel, der Bruder meines Vaters. Carlo Gatti. Der Chef.«

»Der Chef von was?«, brachte ich mühsam hervor. Er musste Kaminfeger sein, da war ich mir ganz sicher, auch wenn sein Haus nicht unter einer Schicht Kohlenstaub lag. Aber gut, irgendetwas musste ich ja sagen.

»Er stellt Schokolade her. Und er ist der Chef des Café Gatti am Markt von Hungerford und einigen kleineren Cafés anderswo. Wusstest du nicht, dass du bei einem Kuchenbäcker und Gastwirt gelandet bist?«

Nein, an jenem Tag wusste ich nicht, was ein Gastwirt war und das Wort Schokolade verstand ich nicht, weshalb ich mich mit einem stummen Nein begnügte. Aber immerhin war mir klargeworden, dass ich nicht bei einem Kaminfeger war und mit etwas Glück nicht in Kamine klettern musste.

Ich war sehr klein und schwächlich, fiel oft hin, das Gehen war mühsam, und so verfügte der, den ich jetzt Zio Carlo nannte, ohne dass er dagegen protestierte, ich hätte zu Hause zu bleiben, solange ich noch nicht bei Kräften sei.

»Mit wem hast du jeweils Italienisch gesprochen, Zichinin?«, fragte mich Zio Carlo mehrmals und mit Nachdruck.

»Ehm … Meine Mutter.«

»Deine Mutter war Italienerin?« Ich gab keine Antwort, ich verstand die Frage nicht. »Arbeitete sie? Als was?«

»Als ich klein war, machte sie künstliche Blumen, das hat sie mir erzählt. Aber soweit ich mich erinnern kann, schleppte sie sich auf den Straßen herum, sie … sie … Ich weiß nicht, was sie tat.«

»Ich will mich erkundigen, ob sie bei einem meiner Vettern gearbeitet hat. Wie war ihr Name?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Mamma …«

Mit einem Seufzer verdrehte er die Augen.

Da half alles nichts. Meine Erinnerungen an mein früheres Leben waren ebenso schwach wie an meine ersten Tage bei den Gattis. Fest steht, dass ich noch einmal davongekommen war. Mir ist nur geblieben, dass dieses Haus ganz anders war als die Bruchbuden, in denen wir gehaust hatten, nicht etwa, weil es geräumiger, sondern weil es sauber war. Die alte Dame, Nonna Gina, wie sie alle nannten, putzte von früh bis spät, schimpfte, wenn man Schmutz hereintrug, und rückte den Flecken an unseren Kleidern zu Leibe. Das Haus war baufällig, die Kleider geflickt, aber unter ihrem Regime war alles peinlich sauber.

Abend für Abend stellten sich die Männer, die für Zio Carlo arbeiteten, in der Küche ein, wo Zia Maria und Nonna Gina die Mahlzeit bereitet hatten. Während des Essens wurde diskutiert und heftig gestikuliert. Ich saß dann irgendwo vergessen zwischen zwei Kolossen von Männern und hörte zu. Nach ein paar Tagen begann ich zu verstehen, was sie sagten.

Agostino ging zur Schule. Nonna Gina fand, das sei Zeitverschwendung. Aber Zio Carlo und, wie es hieß, auch sein Bruder Giovanni, der sich in Paris aufhielt, blieben unnachgiebig.

»Wir leben in einer anderen Welt. Wenn wir es schaffen wollen, brauchen wir Wissen. Die Kinder gehen zur Schule, Buben und Mädchen.«

Damals gab es nur zwei Mädchen in der Familie: Rosa, etwa vier oder fünf Jahre alt, lebendig und schwatzhaft, und Carla, erst wenige Monate alt. Auch mehrere Buben gab’s, alle älter als ich, Cousins, Neffen, auf jeden Fall Landsleute. Aber auch ein paar kleine Londoner gehörten dazu, die Zio Carlo irgendwo aufgelesen hatte. Zu sehen bekam ich sie nur selten.

Wenn Agostino von der Schule zurückkam, breitete er seine Hefte an einer Ecke des Küchentisches aus und widmete sich in mehreren Sprachen schimpfend seinen Hausaufgaben. Die Küche war praktisch der einzige Raum, in dem wir uns aufhielten, sie war einigermaßen warm, in den anderen Räumen war es eiskalt.

Mit der Zeit nahm niemand mehr Anstoß daran, wenn ich in dürftigem Italienisch oder Straßenenglisch Fragen stellte, man ließ mich überall gewähren, und wenn Zio Carlo da war, was selten vorkam, erklärte er regelmäßig:

»Aha, unser Zichinin kommt wieder zu Kräften! Grüne Augen hast du und rotes Haar, du musst Ire sein. Du wirst ein hübscher Bursche, wenn du weiter schön der Suppe zusprichst. Aus dir wird mal was.«

Besonders gerne kletterte ich neben Agostino auf die Bank, um ihm bei seinen Hausaufgaben zuzusehen. Ab und zu stellte ich Fragen. »Was ist das für ein Wort?« Dann erklärte er es mir. Oder: »Ist das ein Wort?«

Und Agostino erklärte mir, nein, das sei eine Zahl.

»Hier, das ist eine Zwei, das eine Fünf, das eine Vier«, und er streckte die entsprechende Anzahl Finger hoch. »Aber jetzt lass mich in Ruhe, ich muss lernen.«

Dann wartete ich ein Weilchen, bis ich eine weitere Frage zu stellen wagte. Er nahm sich einen Augenblick Zeit für eine Antwort und hieß mich gleich wieder schweigen.

Am Abend stellte ich mich manchmal neben Zio Carlo, der Zahlen addierte, mit deutlich mehr Mühe als Agostino bei seinen Hausaufgaben, schien mir.

Tagsüber half ich Nonna Gina, wenn man meine bescheidenen Versuche überhaupt als »Helfen« bezeichnen wollte. Nach ein paar Tagen fing ich an, das Haus zu erkunden. Ich begann mit dem Estrich, wo die Betten für Zio Carlos Arbeiter in Reih und Glied standen. Und ganz vorsichtig wagte ich dann die Treppe hinunterzugehen ins Erdgeschoss. Eine Flügeltür führte … wohin wohl? Ein bisschen ängstlich stieß ich sie auf, ging hinein und war überwältigt vom Geruch. Im Grunde genommen war dieser Geruch im ganzen Haus wahrzunehmen. Oben war er verhalten, aber hier unten erschlug er mich.

Nach ein paar Augenblicken wurde die Dame hinter dem Ladentisch auf mich aufmerksam, wie ich da auf der Türschwelle stand.

»Wo kommst du denn her, Kleiner? Wer bist du?«

»Ich … ich bin Nick. Ich wohne oben.«

Sie winkte mich herein und ich trat näher.

Es war ein Schokoladeladen, sehr hübsch dekoriert mit Blumen, die … die … – als ich sie berührte, spürte ich, dass sie nicht echt waren, sondern aus Papier und Wachs. In meinen Erinnerungen, weit entfernt, blitzte etwas auf: Meine Mutter sitzt an einem kleinen Fenster, stellt solche Blumen her und singt dazu auf Italienisch. Warum hatte sie aufgehört, künstliche Blumen herzustellen? Mir war zum Weinen, aber schließlich gewann die Neugier Oberhand.

An jenem Tag wäre ich nicht in der Lage gewesen, alle die hier ausgebreiteten Dinge zu benennen, aber eines war sicher: Man konnte sie essen und es schmeckte gut, und ich war ganz verblüfft über diese Opulenz.

Besonderes Interesse sowohl bei Kunden im Laden wie bei Passanten draußen auf der Straße weckte die Maschine im Schaufenster, die von einem der Männer, die ich abends bei Tisch traf, bedient wurde. Er hieß Battista Bolla. Ich verstand irgendwann, dass der Chef der Gasthäuser eindeutig Carlo Gatti war, die Schokolade aber in der Verantwortung Herrn Bollas stand. Auf mein scheues buongiorno antwortete er jeweils mit einem sonoren good morrrning, aber ansonsten sprach er kein einziges Wort Englisch. Draußen drückte man sich an der Schaufensterscheibe die Nase platt, drinnen streckte man seinen Kopf so weit als irgend möglich vor.

»Was machst du?«, fragte ich in einem etwas ruhigeren Moment den Arbeiter, der Herrn Bolla zur Hand ging.

»Schokolade für die Dragees und das Pulver, das wir den Leuten verkaufen.«

Die junge Frau, Mary, streckte mir ein braunes Dragee hin.

»Koste!«

Und so kam es, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben Schokolade aß.

Seit diesem Tag spielte sich mein Leben in der Küche und im Laden ab. Ich war fasziniert von der Maschine mit dem großen Rad, vom Mahlen der Kakaobohnen und von der Schokolade, die zu fließen anfing. Das Übrige ging in einem Raum dahinter vonstatten, aber alles geschah vor aller Augen. Oft blieben die Leute stehen, traten in den Laden, probierten, kauften.

Auch Mary fragte ich nach der Bedeutung geschriebener Wörter und sie antwortete geduldig. In diesem Haus voller Tessiner war sie die einzige Engländerin – aus purer Notwendigkeit, wie Zio Carlo fand, um die meist englische Kundschaft besser bedienen zu können.

Wie lange es so lief, könnte ich nicht sagen, und was sich in meinem Kopf abspielte, auch nicht. Aber Tatsache ist, dass ich eines Tages dank Mary und Agostino lesen konnte.

Am leichtesten waren für mich aber die Zahlen. Warum, weiß ich auch nicht; sie kamen mir wie lebendige Wesen vor, die mit mir redeten. Das Prinzip des Addierens hatte ich im Handumdrehen kapiert, zur Subtraktion war es dann nur noch ein kleiner Schritt. Wie ich auch multiplizieren und dividieren lernte, weiß ich nicht mehr; ich konnte es eines Tages einfach.

Ich wusste nie, wie alt ich war, aber älter als sechs Jahre kann ich damals nicht gewesen sein.

Natürlich erschien mir damals alles, was ich erlebte, als Selbstverständlichkeit, und ich ging davon aus, dass mein Kopf genauso funktionierte wie der Agostinos.

Inzwischen war ich für alle so etwas wie ein kleiner Hund geworden in diesem Haus, in dem sich die Mitglieder der Familie Gatti tummelten. Von Agostino erfuhr ich bald einmal, dass Rosas Mutter eine der ganz wenigen Frauen war, die ihrem Mann nach England gefolgt waren. Alle anderen waren »im Tal« geblieben, und dieses Tal war weit weg, auf der anderen Seite des Meeres.

»Sogar mein kleiner Bruder Stefano ist noch dort. Ich bin hierhergekommen, weil mein Vater und mein Onkel wollten, dass ich eine gute Schule besuchen würde, zuerst in Paris, dann hier. Wenn ich groß bin, will ich hier in London arbeiten. In unserem Tal gibt es nicht genug Arbeit für alle. Und für die wenige Arbeit wird man sehr schlecht bezahlt.«

Die zwei oder drei Frauen, die sich um den Haushalt kümmerten, gehörten alle zur Familie, Mütter oder Ehefrauen eines der Männer. Nonna Gina hatte mich in ihr Herz geschlossen; kaum dass mich meine Beine wieder trugen, half ich ihr beim Aufheben schwerer Sachen und beim Kochen. Allmählich begann ich ihre Sprache zu verstehen, nicht zuletzt deshalb, weil in ihrem Dialekt auch italienische Wörter vorkamen. Kurz und gut, in dieser Küche und in diesem Haus lebte ich wie in einem Kokon, weshalb mir das Unglück, dass ich wohl haarscharf am Hungertod vorbeigegangen war, als etwas längst Vergangenes, beinahe Unwirkliches vorkam.

Die Zeit meiner Wiederherstellung, die aus mir, denke ich, wieder ein Kind wie alle anderen gemacht hatte, endete eines Abends, als ich Zio Carlo zusah, wie er sich mit einer Addition abmühte. Mühsam zählte er die Zahlen zusammen und schrieb dann zuunterst in der Kolonne drei Zahlen hin. Hundertvierundfünfzig.

Es platzte einfach so aus mir heraus.

»Aber nein, Zio Carlo, das gibt nicht hundertvierundfünfzig, das gibt hundertsiebenundfünfzig.«

Zuerst sah mich Zio Carlo ganz streng an, weil ich ihn unterbrochen hatte. Aber dann erschien ein feines Lächeln auf seinen Lippen.

»Aha, unser Zichinin kann besser rechnen als sein Onkel Gatton.«

Gatton meint im Dialekt des Tals die Steigerung von Gatti (Katzen). Alle, die nicht Onkel Carlo zu ihm sagten, benutzten diesen Übernamen, zu Recht übrigens; auch als Erwachsener erreichte ich nie seine Größe und schon gar nicht seine Breite.

Jetzt aber sah er mich mit gerunzelter Stirn an.

»Nein, nein … Z… Zio Carlo, ich …«

»Warum weißt du überhaupt, dass es hundertsiebenundfünfzig gibt?«

Dreimal musste er fragen, bis ich endlich gestand.

»Ich weiß es nicht.«

»Wieso sagst du denn, es gebe hundertsiebenundfünfzig?«

»W…eil es hundertsiebenundfünfzig gibt.«

Jetzt lachte er schallend.

»Unverschämt ist er geworden, unser Zichinin! Komm, setz dich auf meine Knie und zeig mir, warum es hundertsiebenundfünfzig gibt.«

Natürlich hätte ich nicht gewusst, wie ich ihm das erklären sollte. Ich habe einfach für mich alle Zahlen heruntergebetet und jedes Mal zusammengezählt. Und es gab immer hundertsiebenundfünfzig.

Er nahm die Feder wieder zur Hand, rechnete nach und kam zum gleichen Ergebnis wie ich. Dann legte er mir seine Hände auf die Oberschenkel, sah mir direkt in die Augen und verfügte:

»Von morgen an kommst du mit mir nach Hungerford und machst die Kasse mit diesem Schussel von Serafino, der sich dauernd verrechnet.«

So kam es, dass ich tags darauf zum ersten Mal seit Langem das Haus verließ.

Als mich Zio Carlo auf der Straße aufgelesen hatte, musste es Anfang Herbst gewesen sein, jetzt ging es auf Weihnachten zu. In meinem früheren Leben als kleiner Junge, unterernährt (und wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, von einer meist betrunkenen Mutter sozusagen mir selbst überlassen), war ich oft auf dem Markt von Covent Garden gewesen, wohin man mich schickte, um liegengelassenes welkes Gemüse zu holen, aber auf den Markt von Hungerford war ich nie gekommen, das wäre zu weit gewesen für mich.

Seither habe ich den Weg von Holborn nach Hungerford viele hundert Mal gemacht und er ist mir bald einmal recht kurz vorgekommen, aber bei diesem ersten Mal war er für mich wie eine lange Reise.

Wir mussten Essen und Pakete nach Hungerford bringen, auch an diesem Morgen, noch bevor es richtig Tag geworden war. Zio Carlo nahm einen Fiaker, ein Hackney, wie man in London sagte. So etwas hatte ich noch nie gesehen: Die Straßen flitzten nur so vorbei, es blieb mir kaum Zeit, auf Häuser und Leute zu achten, erst recht nicht beim schwachen Licht der Gaslaternen, wenn es überhaupt welche gab.

Der Hungerford-Markt glich in etwa dem von Covent Garden, aber ohne die vielen Hallen in Reih und Glied, nur ein sehr langes, dreifach unterteiltes Gebäude verlief in Stufen vom Strand an die Themse hinunter. Der oberste Teil mit Läden im Erdgeschoss war bewohnt, der mittlere Teil, die sogenannte Grand Hall, bestand aus lauter Läden rund um ein großes Viereck, und im untersten Teil, den man über eine Treppe erreichte, war der Fischmarkt zu Hause, der direkt vom Fluss her beliefert wurde.

Da war auch der Quai, wo die Personendampfer anlegten mit Passagieren von und nach den verschiedensten Anlegestellen am Fluss.

Der Hungerford-Markt war sozusagen eingeklemmt zwischen dem Boots- und dem Pferdeverkehr, denn am anderen Ende, auf dem Strand bei Charing Cross, befand sich eine große Poststation mit Kutschen und allen möglichen anderen Fuhrwerken, ein sehr belebter Platz von früh bis spät – Marktschreier, Pferdegewieher, kommandierende Kutscher und das Gesumme einer für meine Kinderohren zahllos scheinenden Menge von Leuten.

In der Grand Hall verfügte Zio Carlo über zwei Räume. Im kleineren verkaufte er Schokolade und Gebäck, im größeren hatte er ein Café eingerichtet, wo seine Süßwaren, heiße Schokolade, Kaffee und weitere alkoholfreie Getränke angeboten wurden. Die Leute saßen an kleinen runden Marmortischen, die man aus Paris hatte kommen lassen, wie man mir erzählte, mit Stühlen, großen Spiegeln, einem Kristallleuchter mit Gaslicht und Sitzbänken in rotem Samt entlang der Wände, auf der rückwärtigen Seite befanden sich Ausschank und Kasse.

Ich saß hoch oben auf einem hohen Stuhl, neben Serafino. Im Hackney hatte Zio Carlo noch einmal meine Fähigkeiten in Addition und Subtraktion geprüft. Dann war er seiner Sache sicher: Der Zichinin konnte rechnen und irrte sich nicht.

»Du nennst die Preise, sagst sie an Nicola weiter, dieser zählt zusammen und du gibst das Resultat weiter«, hatte Zio Carlo Stefano bei unserer Ankunft befohlen. Natürlich war Serafino von dieser Maßnahme nicht erfreut. Der Bursche war etwa fünfzehn, schon recht groß und breitschulterig, hatte schwarzes Kraushaar und dunkle Augen, für mich war so jemand ein Erwachsener, was er selber vermutlich auch so sah. Und so jemandem setzte man ein schmächtiges Büblein vor die Nase, das ihm nicht einmal bis zur Taille reichte, um ihn zu kontrollieren.

»Serafino«, sagte Zio Carlo mit donnernder Stimme, »Nicola muss lernen, die Kasse zu machen, er versteht sich nun mal aufs Zusammenzählen, und du kannst das nur mittelmäßig. Außerdem bedienst du lieber, statt die ganze Zeit hinter der Kasse zu sitzen. Also bring ihm bei, was du weißt, lerne von ihm, besser zusammenzuzählen, und wenn du magst, werdet Freunde.«

Nach einer gewissen Zeit haben wir seine Anordnungen befolgt. Und Serafino fand dann nach meinem Dafürhalten die beste Erklärung für Zio Carlos Güte, die dieser mir gegenüber bis zu seinem Tod bewiesen hat.

»Weißt du was«, sagte er zu mir, »er hatte graue Augen und kastanienbraunes Haar, aber abgesehen davon gibt es eine gewisse Ähnlichkeit zwischen seinem Sohn Stefano und dir. Das ist der Grund, warum Gatton dich mag und sich um dich kümmert.«

»Stefano?«

»Ja, Stefano war sein Name, im letzten Frühling ist er gestorben, auch eine seiner kleinen Schwestern, Apollonia hieß sie. Es muss ein Fieber gewesen sein, sagte man mir.«

Ich war zwar noch klein damals, aber vergessen habe ich diesen Augenblick nie.

Ich verspürte eine große Erleichterung. Bis jetzt war ich mir hilflos vorgekommen, man gab mir, ich nahm, was hätte ich sonst tun können? Jetzt auf einmal spürte ich, dass auch ich etwas zu geben hatte. Ich würde zwar niemals den richtigen Sohn ersetzen können, aber Zuneigung zeigen, das konnte ich. Ich war zwar scheu und Gatton ein rauer Mann – doch entmutigt hat mich das nie.

II

Meine Arbeit als Hilfskassierer gefiel mir sofort. Ich hatte großes Glück, fand ich. Mir war bewusst, dass viele Kinder, die noch wesentlich kleiner waren als ich, hart arbeiten mussten. Gesehen hatte ich nur jene, die die Kaminfeger in die Kamine hinaufschickten, weil nur sie schmal genug waren, um dort durchzukommen. Zurück kamen sie dann meist mit blutenden Armen und Beinen, und von einer Frau hatte ich gehört, diese Kinder stürben wie die Fliegen. Das hatte mir gereicht. Lange war ich überzeugt gewesen, dies würde auch mein Schicksal sein, sodass ich noch jetzt manchmal bös davon träume.

Ich gab mir an der Kasse des Café Gatti große Mühe und schon bald hatte ich mich daran gewöhnt, dass man mich fragte, wenn ich das Rechnungsergebnis präsentierte:

»Bist du sicher?«

»Ja, meine Dame, wenn Sie möchten, zähle ich es mit Ihnen noch einmal durch.«

Geschrieben wurden die Rechnungen selbstverständlich von Serafino, ich konnte zwar mühelos lesen, aber schreiben nicht.

Die Arbeit begann sehr früh am Morgen und dauerte bis spät in die Nacht. Am Morgen noch vor Tagesanbruch gingen wir mit einem Krug Kaffee oder Tee zu den Fischern und Händlern am Wasser, ein Erwachsener trug den Krug und ich hängte mir an jeden Finger eine Tasse. Im bleichen Licht des Tagesanbruchs wimmelte es auf dem Fluss von Booten, die in der Strömung von Ebbe oder Flut schaukelten, man hörte das Ächzen der Takelage, das Quietschen der Ketten und das dumpfe Geräusch der Schrauben der Dampfer zwischen den Seglern. Direkt am Ufer unterhalb des Hungerford-Marktes lagen bereits die Boote der Fischer, sie waren lange vor uns gekommen und schon damit beschäftigt, ihre Ware zu versteigern. Schreie, Pfiffe, Lachen drangen aus dem allgemeinen Lärm heraus. Im Licht der Lampen am Quai funkelte kurz eine Ladung Fische in schimmerndem Silber. Das Ganze war mehr zu erraten als wirklich zu sehen, vor allem, wenn der frühe Morgennebel sehr dicht war. Die Kälte war mörderisch, und die Fischer waren noch so gerne bereit, einen halben Penny für ein heißes Getränk zu zahlen. Geräuschvoll tranken sie ihren Tee und schrien gleichzeitig herum:

»Hier frischer Fisch, heute Nacht gefangen. Kommt, schaut euch die Ware an.«

Die Versteigerung war in vollem Gang, zwischen Bietern und Fischern wurden Zahlen hin und her gerufen, es wurde geschimpft und gelacht.

Sobald der Markt öffnete, wurden die Fische in die Auslagen gebracht und dann kamen die Hausdamen, die Köchinnen, dann und wann auch mal die Köche oder deren Abgesandte, um zu kaufen, was für die Mahlzeiten ihrer Herrschaften bestimmt war.

Anschließend strömten die Leute in die Haupthalle, um sich auch mit Gemüse, Fleisch und Geflügel einzudecken.

Einige schauten auch bei Gatti vorbei und erstanden eine Süßigkeit, Schokoladepulver oder Kuvertüre zur Verzierung der Kuchen, die sie backen wollten. Wie mir Serafino erzählte, waren die Leute am Anfang frühmorgens gekommen und gleich wieder gegangen, aber Zio Carlo wurde nicht müde, seine Kunden Morgen für Morgen zum Bleiben anzuhalten, sich zu setzen und einen Kaffee zu trinken. Als ich dazukam, war es nicht mehr nötig, die Leute zum Verweilen zu überreden. Inzwischen ließ sich die Dienerschaft der Hautevolee gerne bei Gatti für einen Kaffee oder eine Tasse Schokolade nieder – nur ganz kurz, wie sie betonten, bevor sie wieder gingen, um diese Getränke ihrerseits für ihren Herrn oder ihre Herrin zuzubereiten. Es gab aber auch welche, die jeden Morgen kamen und blieben, eine Waffel verzehrten und eine Schokolade tranken, um den neuesten Klatsch aus ihren Haushalten auszutauschen, während sich in meinem Kopf gewöhnliche Häuser, die ich noch nie von innen gesehen hatte, in zauberhafte Schlösser verwandelten, wo sich kapriziöse Prinzessinnen und hitzköpfige Prinzen tummelten.

Gouvernanten, Köchinnen und ihre Mägde verkehrten ebenso bei Gatti wie ihre männlichen Kollegen. Zio Carlo erklärte es jedem, der es hören wollte, ein Kaffeehaus habe so schicklich zu sein, dass es von den Frauen jeglichen Standes absolut bedenkenlos besucht werden könne. Zu diesem Zweck war bei Gatti ein besonders stämmiger Kellner damit beauftragt, jedermann vor die Türe zu stellen, der es wagen sollte, es an »Korrektheit mangeln zu lassen«.

Nach den ersten paar Tagen fing ich an, auch als Kellner einzuspringen, wo Not am Manne war. Niemand schien etwas dagegen zu haben. Damals wimmelte es ja in den Fabriken nur so von Kindern in meinem Alter.

Im Laufe des Vormittags kamen auch die Stammgäste des frühen Morgens, die Fisch- und Gemüsehändler, die Fleischhauer kurz wieder vorbei, um im Stehen rasch einen Kaffee zu trinken und ein Stück Gebäck zu sich zu nehmen.

Einer von ihnen, der gesehen hatte, wie ich die Preise des Konsumierten zusammenzählte und das Resultat an Serafino weitergab, sagte mir einmal:

»Sollte ein Kind in deinem Alter um diese Zeit nicht in der Schule sein?« Ich sagte nichts, doch der Mann musste in meinem Blick eine Mischung aus Verlangen und Hilflosigkeit gesehen haben. »Mein Sohn ist etwa in deinem Alter. Ihm habe ich gesagt: ›Wenn du Fischer werden willst, wirst du Fischer, ich habe ein solides Boot, das auch du wirst brauchen können, aber bevor es so weit ist, will ich, dass du zur Schule gehst. Denn Bildung ist eine schöne Sache, sie öffnet dir Türen und ermöglicht dir vieles.‹ Sechs Pence zahle ich die Woche für die Schule, die er besucht. Und er lernt, weil er begriffen hat, dass Lernen jetzt gerade die Arbeit ist, die man von ihm verlangt. Es gefällt ihm sogar. Jemand, der so schnell zusammenzählen kann wie du, sollte zur Schule gehen.«

Als der Mann gegangen war, sagte Serafino:

»Im Tessin haben wir einen Abgeordneten, Franscini heißt er. Er erzählt überall: ›Wo es keine Schulbildung gibt, gibt es keine Freiheit‹, unser Lehrer wiederholt das andauernd.«

»Du bist zur Schule gegangen, Serafino?«

»Na klar, bei uns gehen alle die sechs ersten Jahre zur Schule. Die Reichen machen dann weiter und wir, die anderen, suchen uns eine Arbeit.

»Aber … das kostet doch etwas?«

»Nein, die ersten sechs Jahre sind gratis. Danach muss man zahlen. Gehst du denn nicht zur Schule?«

»Ich? Die Schule kostet Geld, ich hab keines.«

»Möchtest du denn gerne?«

Ich seufzte.

»Ja, das möchte ich schon gerne.« Ich hatte die Kaminfegerbuben und mich als Bettler vor Augen, der welkes Gemüse zusammenklaute. »Aber ich bin ganz zufrieden so, wie es ist«, fügte ich rasch hinzu.

Danach vergingen bestimmt einige Wochen, bis ein Kunde mir das Geständnis entlockte, dass ich nicht schreiben konnte.

»Wie, du kannst nicht schreiben? Aber du kannst lesen und du verstehst, was du liest.«

»Ja, das stimmt, aber schreiben kann ich nicht.«

»Du solltest in die Sonntagsschule gehen, dort bringen sie es dir bei.«

Nachdem der Herr, dem Aussehen nach ein Gentleman, gegangen war, fragte ich Serafino.

»Ja, von den Sonntagsschulen hab’ ich gehört«, gab er mir zur Antwort. »Agostino sagt, es gebe eine ganz in der Nähe der Confiserie.«

»Ist das die, wo Agostino hingeht?«

»Nein, er geht in eine Schule, die Geld verlangt. Sein Vater, der in Paris ist, hat ihn nach England geschickt, damit er hier zur Schule geht und gut Englisch lernt, danach kann er dann für Zio Carlo arbeiten.«

Unsere Gespräche fanden alle im Tessiner Dialekt statt. Ich hatte beim Sprechen zwar noch einige Mühe damit, aber das Verstehen ging von Mal zu Mal besser. Serafino und Zio Carlo sprachen nur notdürftig Englisch und ein Italienisch, das mir fremd war, und nie, wenn sie unter sich waren.

Unter der Woche schlief ich zusammen mit anderen Buben oft in Hungerford, aber an den Samstagabenden kehrte ich immer zu Zio Carlo zurück, mit Serafino, meinem Mentor für alles mit Ausnahme des Addierens, wofür ich der seinige war.

Als wir eines Abends das leckere Essen verzehrten, das Zia Maria und Nonna Gina zubereitet hatten, sprach Serafino Zio Carlo auf das Thema an.

»Chef, meinen Sie nicht, Nick sollte zur Schule gehen, um schreiben zu lernen?«

Zio Carlo machte eine große Handbewegung:

»Eines Tages habe ich genug Geld, um sämtliche Kinder zur Schule zu schicken. Aber gerade jetzt habe ich mit den Backwaren, der Schokolade und einer Idee für heiße Tage so viele Eisen im Feuer, dass ich es mir nicht erlauben kann, auch nur einen Penny für Zichinins Schulbildung auszugeben. Dabei weiß ich, dass er sich dort wohl fühlen würde wie ein Fisch im Wasser, nicht wahr, Zichinin?«

»Könnte ich vielleicht zur Sonntagsschule gehen?«, wagte ich leise zu fragen, »es heißt, die koste nichts.«

»Nichts? Bist du sicher?«

»Ja«, bestätigte Serafino, »es gibt eine etwas weiter unten an der Ecke von Holborn, man kann einfach hingehen. Es wird zwar viel in der Bibel gelesen, aber sie bringen dir bei …«

»Sprich nicht in diesem Ton darüber, die Bibel ist das Wort Gottes«, sagte Zio Carlo mit Zorn in der Stimme.

»Ich wollte damit nur sagen, dass sie Protestanten sind«, erklärte Serafino.

Zio Carlo wischte das Argument mit einer Handbewegung weg.

»Sie sind Christen. Und die Bibel ist für Katholiken und Protestanten die gleiche. Wenn man dich fragt, antwortest du, du seist protestantisch. Wissen wir übrigens, ob du katholisch oder protestantisch bist? Bist du zur Kirche gegangen, bevor dich Nonna Gina mitgenommen hat?«

»Ich erinnere mich nicht.«

»Gut, geh in die Sonntagsschule, wenn du dort schreiben lernst, umso besser. Und du, Serafino, hilfst ihm dabei. Er hilft dir ja auch beim Zusammenzählen. Seit er hier ist, gibt es keine Fehler mehr in unseren Rechnungen.«

So kam es, dass ich am anderen Morgen in die Sonntagsschule unserer Pfarrgemeinde ging. Weil er in seiner Schule schon ganz gut Englisch gelernt hatte, begleitete mich Agostino. Das Englisch aus den Rookeries, wie man die verrufenen Quartiere nannte, aus denen ich stammte, war nur schwer zu verstehen. Nur mit Mühe gelang es uns, Rosa, Carlos älteste Tochter, zurückzuhalten, die sich damals in den Kopf gesetzt hatte, immer das Gleiche zu tun wie die Buben.

»Du kannst schon bald lesen und schreiben, Rosa, mein Schatz!«

»Agostino geht jeden Tag zur Schule. Warum ich nicht?«

»Warte noch ein Weilchen, wenn du dann noch willst, kannst du auch zur Schule gehen.«

Zio Carlo, für den etwas nie schnell genug gehen konnte und der ungeduldig wurde, wenn man ihn nicht gleich verstand, brachte für Rosa eine Engelsgeduld auf, die das Mädchen schamlos ausnutzte. Aber in diesem Fall blieb Zio Carlo unbeugsam.

»Agostino geht mit Nicola, weil er noch etwas zu klein ist. Wenn er sich dann gut genug auskennt, kann er alleine hingehen. Er wird an deinem ersten Schultag auch dich begleiten.«

Obwohl noch ein Kind, gab Rosa sich nicht ohne Weiteres geschlagen.

»Warum gehst denn nicht du mit Nick, Papa?«

»Weil ich meinem Freund Bolla helfen muss, die Bottiche für die Schokolade vorzubereiten. Genug jetzt, fort mit euch.«

Wir machten, dass wir fortkamen.

Aus Angst, zu spät zu kommen, waren wir zu früh da. Die Sonntagsschule begann um zehn, und es war noch nicht einmal neun Uhr. Doch der Raum, in den man uns schickte, war schon geöffnet und eine Dame und ein Herr waren dabei, Schiefertafeln und Kreide bereitzulegen. Den Wänden entlang gab es Bänke.

Der Herr trat zu uns.

»Kommt ihr für den Unterricht, Kinder?«

Ich war zu eingeschüchtert und brachte kein Wort heraus.

Agostino antwortete für uns beide.

»Ehm … Es ist … Das ist mein Freund Nick, er kann lesen und möchte gern auch schreiben lernen.«

»Und du?«

»Ich kann schon lesen und schreiben, ich gehe unter der Woche zur Schule. Ich bin nur heute gekommen, um den Kleinen hier zu begleiten«, sagte der Bursche, der allerhöchstens vier oder fünf Jahre älter war als ich. Aber es stimmt natürlich, ich war noch klein und er einen Kopf größer als ich.

»Sehr gut! Du kannst uns helfen, wir sind immer knapp an Leuten, um auf alles aufzupassen hier.« Er sah mich nachdenklich an. »Du erinnerst mich an jemanden, mein Kleiner. An einen Knaben, der vor ein paar Jahren hier vorbeigekommen ist, er war sehr begabt, hatte aber nur die Mädchen im Kopf, wir haben ihn wieder aus den Augen verloren. Er war Ire. Und ihr, seid ihr auch aus Irland?«

»Nein, ich bin aus der italienischen Schweiz«, antwortete Agostino sofort. »Ich bin Agostino Gatti, und das hier ist Nick.«

»Ich bin Reverend Toogood, und das hier ist Frau Toogood. Also denn, Agostino und Nick, hierher.«

Zio Carlo hatte uns empfohlen, nicht allzu sehr zu betonen, dass man über meine Herkunft nicht so genau Bescheid wusste. Deshalb ließen wir den Pfarrer in seinem Glauben.

»Kannst du lesen, Nick?«

»Ja … ja, Mister.«

»Ja, Reverend.«

»Ja, Reverend.«

Er schrieb Buchstaben auf eine Tafel.

»Lies!«

Wollte er sich über mich lustig machen? Ich sah ihn erstaunt an, was ihn zum Lachen brachte.

»A, E, I, O, U«, sagte ich.

»Sehr gut, jetzt schreibst du diese Vokale so auf die Tafel, wie ich sie notiert habe. Wenn du so weit bist und alles korrekt ist, gebe ich dir auch Konsonanten und dann ganze Wörter. Schreiben lernt man nur durch Üben, merk dir das.«

Der Raum füllte sich allmählich und ich staunte, weil nicht nur Kinder gekommen waren. Auch Männer und Frauen waren da, ältere und jüngere. Alle waren wie wir sauber angezogen, trugen ihre Sonntagskleider, und alle wollten lesen, schreiben und rechnen lernen.

»Bei der Bahn kann man nicht arbeiten, wenn man nicht lesen kann, erklärte mir ein Mann, ohne dass ich ihn gefragt hätte, und setzte sich neben mich. Dem Alter nach hätte er mein Vater sein können. »Ich will aber bei der Bahn arbeiten. Lokomotivführer, das ist mein Traum.«

»Sind … Sie nicht zur Schule gegangen?«

Er lächelte wohlwollend.

»Als ich so alt war wie du, wusste man da, wo ich herkomme, nicht einmal, was eine Schule war. Niemand ging zur Schule. Und als ich nach zehn Jahren auf See wieder an Land kam, wusste ich zwar, dass es Schulen gab, konnte sie mir aber nicht leisten. Doch jetzt bin ich hier, mit fünfunddreißig, und lerne zusammen mit dir. Also? Ein schönes A, nicht wahr …«

Gemeinsam schrieben wir den ganzen Vormittag Buchstaben und Silben ab. Unsere Schreibübungen wurden nur gelegentlich unterbrochen durch ein Gebet oder von Frau Toogood, die aus der Bibel vorlas.

»Es wäre hilfreich, wenn ihr euch das Handbuch der Rechtschreibung besorgen könntet, sagte der Reverend, bevor er uns zur Mittagspause entließ. Er wedelte mit einem Heft herum. »Es kostet einen halben Penny. Ich möchte, dass ihr dafür bezahlt, damit ihr euch daran erinnert, dass es sich um ein Buch handelt und wertvoll ist. Es öffnet euch die Türe zum Schreiben.«

Zum Mittagessen kehrten wir nach Hause zurück und wurden bei Tisch mit Fragen bombardiert. Nachdem wir einen weiteren Versuch Rosas, mit uns zu kommen, vereitelt hatten, saßen wir um zwei Uhr wieder in der Sonntagsschule, jeder von uns mit einem halben Penny in der Tasche, die Zio Carlo unter zahlreichen Seufzern herausgerückt hatte.

Am Nachmittag schrieben wir etwas mehr und beteten etwas weniger. Und diejenigen unter uns, die lesen lernten, buchstabierten die Sätze, die der Reverend auf eine große Tafel an der Wand kritzelte: »Nicht umsonst wirst du den Namen des Herrn anrufen« oder »Die Hand Gottes beschützt jene, die ihn anrufen«. Auch das war Beten, einfach auf andere Art. Nachdem ich mich mit einem Seitenblick vergewissert hatte, dass ich auch die folgenden Sätze würde lesen können, setzte ich meine Schreibübungen fort. Frau Toogood hatte für mich Silben vorgegeben wie ba, be, bi, bo, bu. Während ich mit einem Ohr den anderen zuhörte, die lasen, schrieb ich Zeile für Zeile immer wieder diese Silben, und um fünf Uhr machte ich mich sehr zufrieden mit dem Handbuch der Rechtschreibung auf den Heimweg.

Und Sonntag für Sonntag bin ich gerne immer wieder hingegangen. Es ließ sich nicht vermeiden, dass Rosa mich bald einmal begleitete. Sie schaffte es sogar, schneller schreiben zu lernen als ich. Während ich in Hungerford am Arbeiten war, konnte sie die Zeit nutzen, um auf einer Tafel, die sie sich bei Frau Toogood ausgeliehen hatte, ihr Schreibtalent zu pflegen. Auch das Handbuch der Rechtschreibung hatte ich ihr überlassen. Ich hatte es in einem Zug von A bis Z gelesen und erinnerte mich an jede einzelne Seite, ich brauchte nur die Augen zuzumachen, um die nächste Übung vor mir zu sehen. Ich hatte nicht das Gefühl, es handle sich dabei um eine besondere Begabung, sondern glaubte, es würde allen so ergehen. Ich habe ein Erinnerungsvermögen, das man heutzutage ein fotografisches nennt. Eine einmal gesehene Seite bleibt mir im Gedächtnis, ich brauche nur an sie zu denken und schon ist sie da. Bei dem Leben, das wir hier alle führten, die Großen und die Kleinen, hatte niemand Zeit, etwas davon zu bemerken. Zio Carlo, der die Fähigkeiten der Buben, die er beschäftigte, sehr wohl wahrzunehmen (und auszunutzen) verstand, hätte es vielleicht eines Tages bemerkt, wenn er nicht so fieberhaft beschäftigt gewesen wäre – nebst seiner täglichen Arbeit in Holborn und auf dem Markt auch mit seinen zwei Projekten: der Eiscreme und der Weltausstellung.

Um verständlich zu machen, was sich dann ereignete, muss ich auf den Maroni-Verkauf zu sprechen kommen.

Ich bin nie dabei gewesen, anfangs, weil ich zu schwach und zu kränklich war, um in die Kälte hinauszugehen, und später, weil ich auf dem Hungerford-Markt gelandet war.

Die Kastanien seien das Einzige, was im Tessin im Überfluss produziert werde, das habe ich tausendmal zu hören bekommen, und viele Tessiner waren ausgewandert, um Maroni zu verkaufen. Das hatten auch die Gattis getan, in Paris genauso wie in London. Sie benutzten dazu zweiräderige Karren, in welchen sich ein Herd befand, in dem die Kastanien geröstet wurden. Und große Töpfe, in denen der Kaffee heiß blieb, solange es Glut gab im Herd.

Als ich endlich richtig zu verstehen begann, worüber um mich herum gesprochen wurde, war Zio Carlo voll von einer Idee durchdrungen und sprach nur noch davon: den Ofen in den Karren durch einen Kühlbehälter ersetzen und auf der Straße Eiscreme verkaufen wie im Café.

Eiscreme kannte man natürlich auch in London, aber sie war bis dahin ausschließlich eine Sache für die Reichen und sehr Reichen.

Sie wurde mit dem Namen eines Confiseurs der Luxusklasse verbunden, Herrn Gunter, weshalb der Mittelstand und die Armen nicht davon träumen konnten, auch nur davon zu kosten. Bald waren mir zwei Dinge klar: Erstens strömten die Leute nur der Eiscreme wegen in die Confiserie in Holborn, in die Markthalle von Hungerford und an die Verkaufsstellen zwischen Holborn und dem Strand. Und zweitens war Zio Carlo von morgens früh bis abends spät damit beschäftigt, natürliches Eis aufzutreiben, das für die Herstellung von Eiscreme unverzichtbar war.

Eiscreme und Fruchteis waren die Sensation. Zio Carlo hatte den Verkauf in kleinen Portionen eingeführt, er vertrieb sie in Bechern, die man auslöffeln, oder in niederen Gläsern, die man ausschlecken konnte, weshalb diese rasch den Namen Lick erhielten – Schleck. Es gab Half Penny Licks (für einen halben Penny), Penny Licks und Twopence Licks (für einen und zwei Pence), zum Preis von vier Pence bekam man Eis im Becher.

Weil es noch Winter war, stürzte man sich noch nicht auf die Eiscreme, aber regelmäßig sah man feine Damen in Begleitung ihrer Kinder kommen, denen sie versprochen hatten, die Neuigkeit kosten zu dürfen, wenn sie schön brav wären.

»Ist euch das klar?«, sagte Zio Carlo. »In drei Monaten wird die Weltausstellung eröffnet. Wenn wir diesen Sommer beim Kristallpalast präsent sind, sobald es heiß wird und Hunderttausende Ausländer für die Ausstellung nach London kommen, können wir unsere Eiscreme in pures Gold verwandeln.«

Der Kristallpalast war im Hyde Park für die große Ausstellung gebaut worden, die vom Frühling bis in den Herbst dauern sollte. Der Hyde Park lag zu weit weg von meinem Arbeitsplatz unter der Woche und von der Schule am Sonntag, als dass ich hätte hingehen können, aber ich hörte, was darüber gesagt wurde. Der Palast war noch eine Baustelle und niemand wusste, ob die Gerüchte zutrafen, der Palast sei ganz aus Glas, wie sein Name vermuten ließ, und doch wurde alles Mögliche vermutet: Ein schreckliches Monster sei er, ein Elefant in einem englischen Garten, ein Wunder des Fortschritts, das Schaufenster des modernen Englands, ein Konzert der Nationen … Alle hatten ihre Meinung, vom letzten Fischer bis zu einem der Stammkunden, einem Abgeordneten des Unterhauses, der gelegentlich »für eine Eiscreme« auf dem Weg von Whitehall bei uns vorbeikam, und die Ansicht dieses Abgeordneten kam der Realität vermutlich am nächsten:

»Bei den vielen Gerüsten ist noch nicht zu sehen, ob es ein Monster wird oder ein Meisterwerk. Ich wette auf das Meisterwerk.«