3Kate Manne
Down Girl
Die Logik der Misogynie
Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff
Suhrkamp
5»Moses beschreibt eine Frau derart: ›Am Anfang wurde eine Frau als Helfer des Mannes geschaffen.‹ Und das ist sie in der Tat, denn sie hilft, das auszugeben und zu konsumieren, was der Mann mühsam erarbeitet. Er sagte zudem, sie sei aus der Rippe eines Mannes gemacht und ihre eigenwillige [heikle] Natur zeigt sich deutlich: Denn eine Rippe ist ein krummes Ding, das zu nichts anderem taugt, und Frauen sind von Natur aus krumm, denn schon ein kleiner Anlass lässt sie wütend werden.«
Joseph Swetnam, The Arraignment of Lewd, Idle, Froward, and Unconstant Women, 1615
»Schuldig, schuldig, schuldig. Schuldig der Verunglimpfung und Diffamierung von Frauen.«
Anonym, Swetnam, the Woman-Hater, 1618
»Mr Manningham: Bewundernswert, meine liebe Bella! Bewundernswert. Wir werden noch eine große Logikerin aus dir machen – einen Sokrates – einen John Stuart Mill! Du wirst als brillanter Geist deiner Zeit in die Geschichte eingehen. Das heißt, wenn deine gegenwärtige Geschichte dich nicht völlig überschwemmt – dich von deinen Mitmenschen fortreißt. Und die Gefahr besteht, wie du weißt, in mehr als einer Hinsicht. [Stellt die Milch auf den Kaminsims.] Nun ja – was, sagte ich, würde ich tun, wenn du die Rechnung nicht findest?
Mrs Manningham: [erstickt] Du sagtest, du würdest mich einsperren.«
Patrick Hamilton, Angel Street (oder Gaslight), 1938
Aber ach, wie klein und unscheinbar sah dieser mein Gedanke aus, als er dort im Gras lag, die Sorte Fisch, die ein guter Angler ins Wasser zurückwirft, damit er fetter und es sich eines Tages lohnen wird, ihn zuzubereiten und zu essen. […] Aber so klein er auch war, besaß er dennoch die geheimnisvolle Eigenschaft seiner Art: In den Kopf zurückgesteckt wurde er umgehend sehr aufregend und wichtig, und wie er so dahinschoss und abtauchte und hier und dort wieder aufblitzte, verursachte er einen solchen Schwall und Aufruhr an Ideen, dass es unmöglich war stillzusitzen. So merkte ich auf einmal, wie ich in hohem Tempo über ein Rasenstück lief. Im Nu erschien die Gestalt eines Mannes, um mich abzufangen. Doch begriff ich zuerst nicht, dass das Gestikulieren des seltsam aussehenden Individuums in Gehrock und Frackhemd mir galt. Seine Miene drückte Entsetzen und Empörung aus. Da kam mir eher der Instinkt als der Verstand zu Hilfe: Er war ein Pedell, ich war eine Frau. Hier war der Rasen, dort war der Weg. Hier sind nur Fellows und Gelehrte zugelassen, mein Platz ist auf dem Kiesweg. Diese Gedanken waren das Werk eines Augenblicks.
Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich allein, Stuttgart 2012, S. 8f.
»Wann werden Frauen Menschen sein? Wann?«, fragte die Rechtstheoretikerin Catharine A. MacKinnon 1999 in einem Essay.1 Ähnliche Fragen stellten unter anderem die Philosophinnen Martha Nussbaum (1995 und 2001) und 12Rae Langton (2009) zur sexuellen Objektifizierung von Frauen und die populären Autoren Arthur Chu (2014) und Lindy West (2015) zu frauenfeindlichen Drohungen und Gewalt. Sie finden ihren Widerhall auch in Bezug auf sexuelle Übergriffe, Stalking, Gewalt in Intimbeziehungen und bestimmte Tötungsdelikte. Alles das sind Verbrechen, deren Opfer in der Regel (wenn auch keineswegs immer) eher Frauen als Männer sind und die generell und teilweise fast ausschließlich eher von Männern als von Frauen begangen werden.2
Warum halten sich diese Muster selbst in angeblich post-patriarchalischen Teilen der Welt wie den heutigen Vereinigten Staaten, Großbritannien und Australien?3 Die gleiche Frage lässt sich in Bezug auf die zahlreichen anderen Formen von Misogynie stellen, mit denen sich dieses Buch befasst – von den subtilen bis hin zu den dreisten, von den chronischen und kumulativen bis hin zu den akuten und explosiven; von Formen, die auf kollektives Handeln (eines »Mobs«) und auf reine Strukturmechanismen zurückgehen bis hin zu den Taten Einzelner. Warum ist Misogynie immer noch ein Ding – um einen Ausdruck von John Oliver aufzugreifen.
13Es steht außer Zweifel, dass es in diesen Milieus in Hinblick auf die Geschlechtergleichstellung große Fortschritte gegeben hat, bewirkt durch die Frauenbewegung, kulturellen Wandel, Rechtsreformen (z. B. Gesetze gegen sexuelle Diskriminierung) und Veränderungen in der institutionellen Politik (wie Antidiskriminierungs- und Fördermaßnahmen, von denen in den Vereinigten Staaten tendenziell vor allem weiße Frauen profitiert haben). Besonders beeindruckend ist der Zugewinn an Bildung bei Frauen und Mädchen. Und dennoch gibt es bei uns immer noch Misogynie, wie dieses Buch zeigen wird.
Die nach wie vor bestehenden Probleme, die teils sogar zunehmen, werfen heikle, verwirrende und drängende Fragen auf. Meiner Ansicht nach hat Moralphilosophie hier eine wertvolle Rolle zu spielen – auch wenn es letztlich einer ganzen Theoretikergemeinde bedürfen wird, das Phänomen umfassend zu begreifen. Das vorliegende Buch leistet hoffentlich einen Beitrag dazu, das Wesen der Misogynie sowohl in seiner allgemeinen Logik als auch in einer (allerdings nur einer einzigen) seiner praktischen Schlüsseldynamiken zu verstehen. Dazu gehört, dass Männer Frauen in asymmetrischen Rollen moralischer Unterstützung in Anspruch nehmen. (Dabei beschränke ich mich auf die oben genannten kulturellen Kontexte, ziehe aber gern darüber hinaus auch andere heran, um zu generalisieren, zu korrigieren und anzupassen.)
Worin bestehen diese moralischen Unterstützungsrollen? Es ist hilfreich, zunächst über die Männer nachzudenken, die am privilegiertesten sind – weil sie beispielsweise weiß, heterosexuell, cis-, nicht transgender sind, der Mittelschicht angehören und nicht behindert sind. Daher unterliegen sie tendenziell in ihrem Handeln geringeren sozialen, moralischen und rechtlichen Einschränkungen als 14die weniger Privilegierten. Anschließend können wir uns mit einer mehr oder weniger vielfältigen Auswahl an Frauen befassen, auf deren Unterstützung ein solcher Mann stillschweigend Anspruch erheben kann, sei es auf dem Gebiet der Fürsorge, des Trostes, der Pflege oder der sexuellen, emotionalen und reproduktiven Arbeit. Alternativ kann sie zu dem »Typ« Frau gehören, die solchen Zwecken dient oder dafür rekrutiert wird.
Allein die Tatsache, dass jemand die stillschweigende gesellschaftliche Erlaubnis hat, sich in diesen und anderen Hinsichten auf Frauen zu stützen, heißt selbstverständlich noch nicht, dass er dies tatsächlich möchte oder, falls doch, dass es ihm gelingt (und er Vorteile aus dieser Möglichkeit zieht). Und auch wenn er weniger strengen externen Beschränkungen seines Verhaltens unterliegt als weniger privilegierte Männer, kann er sich dennoch an diese und ähnliche Normen halten, da er sich durch moralische Prinzipien oder Gewissen dazu verpflichtet fühlt. In anderen Fällen hat der Mangel an solchen Einschränkungen und das Bestehen solcher Ansprüche jedoch Auswirkungen auf die Art und Weise, wie er bestimmte Frauen in seinem sozialen Umfeld sieht und behandelt: Insbesondere glaubt er, sie schulde ihm und seinen Geschlechtsgenossen ihre besonderen menschlichen Dienste und Fähigkeiten mehr als umgekehrt.
Diese asymmetrische moralische Unterstützungsbeziehung kann sich auf viele unterschiedliche Arten realisieren, unter anderem in intimen und relativ stabilen sozialen Rollen – als seine Mutter, Freundin, Ehefrau, Tochter usw. Alternativ können diese Beziehungen am Arbeitsplatz stattfinden, ihn in die Position des Konsumenten bringen oder spontane Begegnungen mit den Mädchen und Frauen umfassen, deren Aufmerksamkeit er auf vielerlei Weise erre15gen kann – vom Hinterherpfeifen über Trolling in sozialen Medien bis hin zum Mansplaining, also einer herablassenden männlichen Besserwisserei.
Meiner Ansicht nach dient ein beträchtlicher Teil der Misogynie (wenn auch bei weitem nicht die gesamte) in meinem Milieu dazu, diese gesellschaftlichen Rollen durchzusetzen und zu überwachen und moralische Güter und Ressourcen von solchen Frauen zu bekommen – und gegen deren Ausbleiben oder vermeintliche Vernachlässigung oder Verrat zu protestieren. Und manche (wenngleich bei weitem nicht alle) übrigen Formen von Misogynie – beispielsweise solche, die sich gegen Frauen im öffentlichen Leben richten – sind geschickt davon abgeleitet. Sie spiegeln eine gewisse Deprivationshaltung gegenüber Frauen wider, die als gebende, fürsorgliche, liebende und aufmerksame, statt als machthungrige, gefühllose und dominierende Wesen gedacht werden. Und sie beinhalten, dass gewisse Positionen, die mit einer mutmaßlich kollektiven moralischen Anerkennung oder Bewunderung für die Männer, die historisch davon profitiert haben, verknüpft sind, eifersüchtig gehortet werden. Frauen, die um diese Rollen konkurrieren, gelten tendenziell in mindestens drei wichtigen Aspekten als moralisch suspekt: Sie sind nicht fürsorglich und aufmerksam genug gegenüber den Menschen ihres Umfeldes, die als verletzlich gelten; sie streben verbotenerweise nach Macht, auf die sie keinen Anspruch haben; und sie gelten aufgrund der beiden anderen Verletzungen der Rollenerwartungen als moralisch nicht vertrauenswürdig.
Solche Sichtweisen sind zwar falsch und gefährlich, aber in vielerlei Hinsicht durchaus verständlich, da sie im Lichte der schlechten genderbezogenen Übereinkünfte der Geschichte zutreffen. Gemessen an den falschen 16Moralvorstellungen – nämlich des Mannes – ist die Frau tatsächlich moralisch im Unrecht: Moralvorstellungen, die historisch privilegierte und mächtige Männer vor dem moralischen Niedergang bewahren sollen. Zudem schützen sie ihn vor der Schmach der Scham und den zersetzenden Auswirkungen von Schuld sowie vor den sozialen und rechtlichen Kosten moralischer Verurteilung. Sie ermöglichen es ihm, Ansichten und Ansprüche auf die Standardannahme zu gründen, er sei gut, im Recht und korrekt. Und die ihm moralisch verpflichtete Frau dürfe es nicht wagen, anderer Meinung zu sein.
Folglich sind solche Frauen möglicherweise alles andere als moralisch zuverlässig, wenn es um viele der (häufig weniger privilegierten) Menschen geht, denen sie mehr schulden oder deren Äußerungen sie mehr glauben sollten als seinen. Nicht zuletzt betrifft das andere, weniger privilegierte Mädchen und Frauen.
Dies ist meines Wissens die erste ein ganzes Buch füllende Abhandlung zur Misogynie (zumindest unter diesem Begriff) von einer Frau, die in der Tradition der analytischen feministischen Philosophie arbeitet. Allerdings möchte ich betonen, dass andere feministische und sonstige Philosophen viele zentrale Manifestationen der Misogynie beleuchtet haben – wie auch verwandte Begriffe und Phänomene wie sexuelle Objektifizierung, sexuelle Übergriffe, genderbezogene Beleidigungen, Sexismus und Unterdrückung.4 Das Bild, das ich entwerfe, verbindet da17her häufig Punkte, die andere Theoretiker vorgezeichnet haben. In anderen Fällen schmücke ich Hintergrundbilder aus oder passe sie meinen eigenen (hoffentlich nicht allzu schändlichen) Zwecken an. Und manches in diesem Buch greift meine früheren Arbeiten zum Wesen moralischen Denkens und zu den gesellschaftlichen Grundlagen der Moral auf, die in den als Metaethik bezeichneten Bereich der Philosophie gehören.
Im vorliegenden Buch vertrete ich die Ansicht, dass in einem Umfeld wie meinem für vergleichsweise privilegierte Frauen wie mich unser Menschsein in der Regel durchaus anerkannt ist. Das ist, glaube ich, schon seit einiger Zeit der Fall.5 Das spiegelt sich in der Tatsache wider, dass 18Misogynie häufig »reaktive Einstellungen« umfasst, wie P. F. Strawson ([1962] 2008) es nennt, Einstellungen wie Ressentiments, Schuldzuweisungen, Verärgerung, Verurteilung und (bei den Analogien der ersten Person) Schuldgefühle, Scham, Verantwortungsgefühl und eine Bereitschaft, Strafe zu akzeptieren, wenn es heißt, man habe sie verdient. Die Reaktionen der zweiten und dritten Person beschränken sich angeblich zumindest im ersten Fall auf unseren Umgang mit anderen, die als »Mitmenschen« anerkannt sind.6 Zudem haben wir diese moralisch befrachteten und im weitesten Sinne rechtlichen und legalistischen Reaktionen tendenziell nur gegenüber anderen, mutmaßlich vernünftigen und hinlänglich reifen Personen, denen wir Vorhaltungen über ihr Verhalten machen wollen und können. Nach Strawsons Ansicht nehmen wir 19dagegen zu kleinen Kindern und zu Personen, die unter starkem Drogeneinfluss stehen, einen psychotischen Schub haben oder mehr oder weniger vorübergehend »nicht sie selbst« sind, die objektive Haltung ein. Personen, denen wir mit einer objektiven Haltung begegnen, versuchen wir vielleicht zu lenken, zu behandeln, zu erziehen oder schlicht aus dem Weg zu gehen. Die objektive Haltung kann auch eine »Zuflucht« vor den »Belastungen der Auseinandersetzung« mit Menschen sein, mit denen wir in persönliche Beziehung treten könnten, aber nicht wollen ([1962] 2008, S. 10, 13, 18). Vielleicht sind wir zu erschöpft – oder zu faul oder zu überwältigt, neben anderen Möglichkeiten –, um uns bei dieser Gelegenheit mit ihnen einzulassen.
Strawsons Abhandlung zu reaktiven Einstellungen war brillant, neu und in der nachfolgenden Moralphilosophie überaus fruchtbar. Es ist jedoch typisch für Strawsons eng gefasste Interessen – die keineswegs zufällig charakteristisch sind für einen Oxford-Professor um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, der er schließlich war –, dass er sich nur mit den positiven Aspekten unserer Äußerungen von Ressentiments, Schuldzuweisungen, Missbilligung und Bestürzung und (den positiv besetzten Pendants) Vergebung, Lob, Zustimmung oder Dankbarkeit befasst.
Zudem betrachtet Strawson die Geschichte nur aus der Sicht einer Person – die daher automatisch der Protagonist eines Miniaturdramas ist. Sie ist diejenige, die Abneigung ausdrücken will und eine Erklärung oder Entschuldigung erwartet oder erhofft. Strawsons Eröffnungsbeispiel, dass jemand ihm auf die Hand tritt, sodass er dieser Person böse ist, bis sie ihm versichert, dass sie es nicht absichtlich getan hat, und er von ihrem guten Willen ihm gegenüber überzeugt ist – dass es versehentlich geschah –, ist hier 20das Paradigma. Zudem ist es ungewollt enthüllend in diesem Kontext.
Was, wenn man die handelnde Person auf der anderen Seite der Kluft ist? Was, wenn man einem anderen auf die Hand oder die Zehen getreten ist? Oder man nehme als Beispiel die Einleitungsszene aus Virginia Woolfs Essay Ein Zimmer für sich allein: Was, wenn man dir vorwirft, du seist auf verbotenes Terrain oder auf sein Gebiet vorgedrungen? Was, wenn er irrtümlich glaubt, du dürftest nicht auf den weichen Rasen und müsstest auf dem wenig einladenden, holperigen Kiesweg gehen? Was, wenn sein Gefühl, was ihm gehört oder was er als Eigentum anderer bewacht, übertrieben, ungerecht und ein Überbleibsel der Geschichte ist?
Und was ist, wenn seine Reaktionen auf dein (befugtes oder) unbefugtes Eindringen alles andere als vernünftig sind? Was ist, wenn er Schilder mit der Warnung aufstellt, dass unbefugtes Betreten strafrechtlich verfolgt oder mit Schusswaffengebrauch beantwortet wird – wie man es bis heute zuweilen erlebt?
Die Person auf der anderen Seite von Strawsons Kluft, die über deinen Fehltritt verärgert ist, könnte als Reaktion auf deine Regelverletzung oder Weigerung, den dir zugewiesenen Part zu spielen, ehrlich schockiert und bestürzt sein. Sie mag seit langem gewohnt sein, von jemandem in deiner Stellung Wohlverhalten oder Leistung zu erwarten. Du selbst hast seine hohen Erwartungen in der Vergangenheit vielleicht pflichtgemäß erfüllt. Wenn du damit aufhörst, kann er durchaus wütend werden. Er reagiert, als ob du im Unrecht seist, weil du es aus seiner Sicht tatsächlich bist. Du begehst einen Fehltritt, eine Übertretung, eine Abweichung oder tust ihm Unrecht.
Die meisten von uns, wenn nicht gar alle, die ungerecht21fertigte, unverdiente Privilegien irgendeiner Art genießen, sind für solche Irrtümer anfällig. Privilegien vermitteln tendenziell epistemisch wie auch moralisch ein unzutreffendes Empfinden, man habe Besitzansprüche auf ein bestimmtes Terrain. Das stillschweigende Gefühl weißer Frauen, gegenüber schwarzen Frauen eine narrative Dominanz oder einen Anspruch auf das moralische Schlaglicht zu besitzen, ist nach wie vor ein ernsthaftes Problem, beispielsweise im (weißen) Feminismus.
Als Virginia Woolf in Oxford den Rasen betrat, scheuchte der Pedell sie mit wütenden Gesten fort. Sie fand den Weg in die Bibliothek, durfte dort aber nicht bleiben. Vielmehr brauchte sie ein Einführungsschreiben oder die Begleitung eines College Fellow. Mittlerweile sind solche Regeln überholt, und die Bibliothek steht Menschen jeglichen Geschlechts offen. Manche Menschen reagieren aber immer noch verärgert oder indigniert, wenn Frauen sich auf das zuvor Männern vorbehaltene Terrain vorwagen – oder deren inzwischen abgeschaffte oder ungleich durchgesetzte Regeln brechen. Diese Reaktionen verraten möglicherweise – oder typischerweise – nicht ihre ursächlichen Auslöser, also die Tatsache, dass sie eine Frau ist, die auf historisch verbotene Art und Weise abweicht oder Ehrgeiz entwickelt. Daher werden sie gern nachträglich rationalisiert. Es hat einfach den Anschein, als sei sie auf etwas aus. Sie wirkt vage bedrohlich. Sie erscheint kalt, distanziert und arrogant – oder alternativ so ehrgeizig, dass sie jeden, der ihr im Weg steht, skrupellos niedermacht.
Vielleicht hat der Pedell also gar nicht aufgehört, Frauen schief anzusehen, die vom Weg abkommen, und ärgert sich nach wie vor, wenn er eine solche sieht. Er sucht Vorwände, greift nach nahezu universellem Fehlverhalten, um seinen Ärger auf sie zu rechtfertigen. Vielleicht hat er we22nig Einsicht in die ursächlichen Auslöser seiner Feindseligkeit. Und die Frau des Pedells mag sein moralisches Urteil durchaus teilen. Wie wir noch sehen werden, hat sie kaum eine oder gar keine gute Alternative.
Und so versuchst du, mit Herrn und Frau Pedell zu diskutieren und sie zu überzeugen, dass ihre Reaktion moralisch falsch ist und alte, zutiefst verinnerlichte Sitten widerspiegelt, die sie selbst abzulehnen vorgeben. Doch während du deine Argumente darlegst, werden ihre Mienen abweisend (bei ihm) und missbilligend, indigniert und sogar angewidert (bei ihr). Plötzlich wird dir die entsetzliche Falle klar: Zu dem, was Frauen wie du (z. B. ich) Männern in solchen Positionen (in diesem Fall recht unbedeutender) moralischer Autorität angeblich schulden, gehört unter anderem Wohlwollen jener Art, die von Mitmenschen zu bekommen nach Strawsons Ansicht so wichtig ist. Doch wenn er von »Mitmenschen« und »man« spricht, kaschiert dies, in welchem Maße sowohl das ersehnte Wohlwollen als auch das Verlangen danach neben anderen Herrschafts- und Benachteiligungssystemen vom Geschlecht abhängt.
Zum einen: Von Frauen, die zu Männern in asymmetrischen Beziehungen moralischer Unterstützung stehen, wurde historisch erwartet, dass sie ihnen mit moralischem Respekt, Anerkennung, Bewunderung, Hochachtung und Dankbarkeit sowie mit moralischer Aufmerksamkeit, Sympathie und Fürsorge begegnen. Wenn sie aus der Rolle fällt und versucht, moralische Kritik zu üben oder ihm Vorwürfe zu machen, enthält sie ihm das Wohlwollen vor, das er von ihr vielleicht gewöhnt ist. In gewisser Weise mag er sogar auf ihr Wohlwollen angewiesen sein, um sein schwach ausgeprägtes Selbstbewusstsein oder Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten. Dann empfindet er ihren Ärger 23oder ihre Vorwürfe möglicherweise als Verrat, als Umkehrung der angemessenen moralischen Beziehungen zwischen ihnen, und das kann ihn dazu treiben, es ihr heimzuzahlen und Rache und Vergeltung zu üben. Und den Menschen, die auf seiner Seite stehen – zum einen Frau Pedell, aber auch weitaus mehr –, erscheint moralische Kritik an Herrn Pedell als Vergehen oder glatte Lüge. Moralisch gesehen ist seinen Kritikern nicht zu trauen.
Daraus folgt, dass Misogynie ein sich kaschierendes Phänomen ist: Der Versuch, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, bringt wahrscheinlich mehr davon hervor. Das ist eine Zwickmühle. Doch soweit ich es beurteilen kann, führt kein Weg daran vorbei.
Zudem stellt sich heraus, dass der Misogynie nicht zwangsläufig – und häufig tatsächlich nicht – die Einstellung zugrunde liegt, Frauen nicht als menschliche Wesen anzuerkennen. Denn Misogynie trifft Frauen auf vielerlei Arten, die voraussetzen, sie als Mitmensch zu sehen. Der entscheidende Gegensatz verlagert sich stattdessen auf den zweiten Teil dieses idiomatischen Ausdrucks: Frauen sind nicht einfach Menschen, sondern werden für die dominanten Männer, die unterschiedliche Arten von moralischer Unterstützung, Bewunderung, Aufmerksamkeit usw. bei ihnen suchen, zu gebenden Menschen. Sie dürfen nicht einfach sein, wie es für ihn gilt. Vielmehr bekommen sie Schwierigkeiten, wenn sie nicht genug geben, und zwar den richtigen Leuten auf die richtige Weise und im richtigen Geiste. Wenn sie in dieser Hinsicht versagen oder eine solche Unterstützung und Aufmerksamkeit für sich einfordern, drohen ihnen misogyne Ressentiments, Bestrafung und Verärgerung.
Das anerkannte Menschsein einer Frau lässt also in Bezug auf moralische Freiheit viel zu wünschen übrig. Wahr24scheinlich ist ihr Pflichtgefühl einerseits übertrieben, andererseits in mancherlei Hinsicht mangelhaft.
Wie mir mittlerweile klar geworden ist, habe ich dieses Buch in dem langwierigen Bestreben geschrieben, mich von gefühlten falschen Verpflichtungen zu befreien, um andere, echte Pflichten besser erkennen und erfüllen zu können. Zudem wollte ich einige der falschen Schuld- und Schamgefühle überwinden, die mich leicht befallen, wenn ich anderer Meinung bin als vermeintliche (und zuweilen erfundene) moralische Autoritätsfiguren. Doch mehr als alles andere neigte ich zu gewissen Formen moralischer Verlegenheit, die vage an die der Teilnehmer der Milgram-Experimente (1974) erinnerten, sobald ich mich gegen scheinbar autoritative Behauptungen zur Wehr setzen musste, die bei eingehendem Nachdenken ungerechtfertigt – und möglicherweise gefährlich – erschienen.
Es war mir moralisch peinlich, die Isla-Vista-Morde, die ich zu Anfang schildere, aus Sicht der ins Visier genommenen und getöteten Frauen zu betrachten. Und ebenso peinlich fand ich es, überhaupt darüber nachzudenken – ganz so, als sollte ich in Bezug auf die weiblichen Opfer distanziert und kühl bleiben, statt moralischen Abscheu zu empfinden, wie ich es tat, und um sie wie auch um all die anderen Frauen zu trauern, die tagtäglich in den Vereinigten Staaten aus einem ähnlichen Geist heraus getötet werden. Zudem empfand ich einen gewissen Druck, mich lieber rein strukturellen Fällen von Misogynie oder ihren subtilen, chronischen und kumulativen Formen zuzuwenden.
Doch obwohl das alles Phänomene sind, deren Erforschung wichtig ist – und mit denen ich mich im Folgenden weiterhin befasse –, kamen mir Zweifel an meinem reflexartigen ersten Impuls, mich abzuwenden, statt meine 25Sichtweise zu ändern und meinen Fokus zu erweitern. In mir wuchs die Sorge, dass solche Instinkte sich nachteilig auf mein Denken auswirken oder eine Art intellektueller Feigheit widerspiegeln könnten. Feministische Philosophie sollte sich selbstverständlich nicht nur auf männliche Dominanz, Patriarchat, toxische Männlichkeit und Misogynie konzentrieren. Doch dem Einwand, dass manche Koryphäen dieses Fachgebiets die Beschäftigung mit solchen Themen als eindeutig passé darstellten, stand die Tatsache entgegen, dass es im Mai 2014, als ich mit diesem Projekt begann, kein einziges Buch oder auch nur einen ganzen Artikel gab, der sich eingehend mit Misogynie befasst hätte. Meiner Ansicht nach hat eine solche recht altmodische, wenig angesagte Arbeit jedoch ihren Wert und offen gestanden bräuchte es eindeutig mehr davon. Diese Vorstellung erhielt während des US-Präsidentschaftswahlkampfs einige Unterstützung und wurde durch deren Ausgang noch bekräftigt, als Donald Trump zum Präsidenten gewählt wurde. Toxische Männlichkeit und Misogynie sind derzeit alles andere als hinreichend (wenn überhaupt) erforscht. Und je mehr Klarheit wir auf diesem Gebiet bekommen können, umso besser, finde ich. Wir sprechen von Wellen des Feminismus auf eine Art, die sich nach meinem Dafürhalten stark von anderen Bereichen des politischen Diskurses unterscheidet. Warum? Wird doch hiermit unterstellt, dass feministisches Denken veraltet, statt es als Modell zu sehen, das verbessert und ergänzt wird und neue Zentren neuer Diskussionen hervorbringt.
Ich reite auf diesem Punkt herum, weil ich überzeugt bin, dass wir in großen Teilen unseres Denkens und Handelns gesellschaftliche Kräfte kanalisieren und umsetzen, die weit unterhalb unserer Bewusstseinsschwelle liegen oder sogar über unsere Fähigkeit hinausreichen, sie ins Be26wusstsein zurückzuholen, und die zuweilen unseren expliziten moralischen und politischen Überzeugungen deutlich zuwiderlaufen. Daher besteht die Gefahr, dass wir uns durch nachträgliche Begründungen dazu verleiten lassen, die in unserer Kultur wirkenden restlichen patriarchalischen Kräfte nicht allzu genau unter die Lupe zu nehmen, während ebendiese patriarchalischen Kräfte sich im Hintergrund sammeln, uns auslachen und in unserer Abwesenheit stärker werden. Wenn ich eher düsterer Stimmung bin, stelle ich sie mir mit Partyhütchen und Pappnasen vor.
Zudem besteht die Gefahr, einzelne Akteure von Schuld oder Verantwortung für misogynes Verhalten freizusprechen. Meiner Ansicht nach hat Schuld hier ihre Grenzen, wie in der Einleitung deutlich wird. Wenn aber die Einstellung besteht, wir sollten die Handlungen eines Einzelnen absolut nicht in einem unschmeichelhaften Licht betrachten, wird das Ergebnis für diese Akteure absehbar diplomatisch und sogar freundlich ausfallen. In mancherlei Hinsicht würde dies die Dinge einfacher machen und weniger Unruhe auslösen. Und ebendas stört mich. Daher befasse ich mich hier recht ausführlich mit dem Phänomen, dass Akteure misogyne gesellschaftliche Kräfte kanalisieren und verbreiten, und dies vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Institutionen, die ihnen dies ermöglichen.
Alles in allem habe ich mich bei der Arbeit an diesem Buch bemüht, lange, genau, umständlich, manchmal aus unbequemen Blickwinkeln und recht häufig schmerzlich hinzuschauen, und hatte dabei oft das Gefühl, immer an den falschen Stellen, auf die falsche Art, zur falschen Zeit und in der falschen Reihenfolge zu suchen. Dahinter stand der Gedanke, mir könnte etwas Bedenkenswertes entgehen, was deutlich sichtbar, aber dennoch versteckt oder durch unsere üblichen moralischen und emotionalen Stütz27pfeiler verdeckt wäre. Manchmal kam ich zu dem Schluss, dass es nicht so war – oder falls doch, bemerkte ich es nicht –, und diese Teile des Buches schafften es nicht in die endgültige Fassung. Aber manchmal stellte ich fest, dass aus einem Fallbeispiel mehr Erkenntnisse zu ziehen waren, als ich anfangs gedacht hatte. Motive, Themen und Muster kamen zum Vorschein und überraschten mich durch ihre Einheitlichkeit. Neue, fruchtbare Untersuchungsrichtungen taten sich auf. Letzten Endes war ich froh, dass ich meinem Entschluss vertraut hatte, nicht auf meinen Instinkt zu vertrauen. Stattdessen versuchte ich, wenn es um Misogynie ging, davon abzuweichen.
28The Boston Review
Meinen Studenten danke ich für ihre wertvolle Hilfe, besonders allen, die dieses Material während meines Seminars im Frühjahr 2017 durchgearbeitet und ihre großartigen Erkenntnisse mit mir geteilt haben: Bianka Takaoka, En Ting Lee, Adnan Muttalib, Amy Ramirez, Benjamin Sales, Erin Gerber, Elizabeth Southgate, Quitterie Gounot, Alexander Boeglin und Emma Logevall. Mein Dank gilt auch dem Publikum bei den Vorträgen, die ich zu diesem Material gehalten habe: an der Harvard University, der Princeton University, der University of California, Berkeley, der University of Wisconsin-Madison, der Pittsburgh University, der Cornell University, der University of North Carolina, Chapel Hill, der Duke University, der Queens University, dem King's College London, der University of Connecticut (bei einer Tagung zu »Dominating Speech«, veranstaltet von der Injustice League des Philosophy Department) und bei einer Veranstaltung der Boston Review, ausgerichtet von Kim Malone Scott im Silicon Valley. Die scharfsinnigen Fragen und interessanten Fallbeispiele vieler Teilnehmer bei diesen lohnenden Gastvorträgen haben mein Denken verändert. Das Gleiche gilt für die zahlreichen E-Mail-Korrespondenten (trotz meiner furchtbaren Angewohnheit, nach der die gute Antwort 29ein Feind der prompten Erwiderung ist) sowie für die Redakteure, mit denen ich verwandtes Material durchgearbeitet habe, seit ich im Oktober 2014 begonnen habe, für ein breiteres Publikum zu schreiben.7 Ich habe angefangen, eine Liste zu schreiben, aber schon bald wurde sie ungemein lang, drohte aber wegen Erinnerungslücken immer noch unvollständig zu bleiben. Dann sind da noch meine Facebook-Freunde, die ich sehr schätze. Ich bin froh, eine Community netter und brillanter Leute aus aller Welt auf meinem Laptop präsent zu haben, von denen mir viele sehr geholfen haben, gerade erst entstehende Ideen weiterzuentwickeln. Alles in allem danke ich vielen für ihre Unterstützung und Hilfe bei der Entstehung dieses Buches, so unzulänglich ich ihre Erkenntnisse auch einbezogen haben mag. Zutiefst beeindruckt hat mich die sorgfältige und scharfsinnige Korrekturarbeit von Ginny Faber und Julia Turner, die den Herstellungsprozess dieses Projekts wunderbar geleitet hat: Ihnen gilt mein aufrichtiger Dank.
Abschließend möchte ich zwei Menschen besonders danken, ohne die dieses Buch so, wie es ist und trotz all seiner Fehler und Mängel, nie zustande gekommen wäre. Beide haben zahlreiche Entwürfe aufmerksam – teils mehr als einmal – gelesen, ganz zu schweigen von dem Ausschuss, der es nicht in die Druckversion geschafft hat. Der Erste ist mein Lektor Peter Ohlin, der mich in jeder Phase des 30Prozesses ermutigt hat: Ich kann mir keinen Lektor vorstellen, der hilfreicher, geduldiger oder besser darin wäre, redaktionelle Vorschläge ohne auch nur den leisesten Anflug von Mainsplaning zu machen. Durch seinen besonnenen Überblick und sein gutes Urteilsvermögen hat dieses Buch unermesslich gewonnen.
Vor allem aber danke ich meinem Mann, Daniel Manne, meinem Partner seit einem Jahrzehnt und Mitelternteil unserer drei pelzigen Kids: unseres Corgi Panko und unserer Katzenzwillinge Amelia und Freddy (RIP). Ohne das Licht, das Lachen und die Liebe meines häuslichen Lebens und Daniels fortwährende moralische Unterstützung in praktischen, emotionalen und intellektuellen Dingen hätte ich es nicht durchgestanden, dieses finstere, entmutigende Material durchzuarbeiten. So viele meiner hier dargelegten Gedanken (so, wie sie sind, ungeachtet ihrer Beschränkungen, für die ich allein verantwortlich bin) hätten zu nichts geführt, wenn wir sie nicht gemeinsam durchgeackert hätten. Daniel war es auch, der mich auf mehrere der folgenden Fallstudien aufmerksam gemacht und mich durch sein Beispiel inspiriert hat – er hat Opfer häuslicher Gewalt anwaltlich vertreten und an der Harvard Law School mit Professor Diane L. Rosenfeld Gewalt unter Intimpartnern erforscht. In einem typischen brillanten Geistesblitz kam er auf den Begriff »Himpathy«.
Dieses Buch ist in tiefster Liebe und Dankbarkeit Daniel gewidmet – nicht zuletzt, weil er mir geholfen hat, die Worte zu finden, und wollte, dass ich sie benutze.