Melissa Scrivner Love
LOLA
Thriller
Aus dem Englischen von
Sven Koch und Andrea Stumpf
Herausgegeben von
Thomas Wörtche
Suhrkamp
Für David, Leah und Clementine
1
Lola steht am Rand des verdorrten Rasenvierecks ihres und Garcias Garten. Er ist drüben am Grill, mit Grillzange in der einen, Corona mit Limette in der anderen Hand, und wird von einer Gruppe von Männern mit nackten Oberarmen und Schweiß auf der Stirn umringt. Ihr übliches Outfit – geripptes Achselhemd und löchrige Cargohose – offenbart ihre Crenshaw-Six-Tätowierungen. Wäre Lola mit Garcia allein, würde sie sich mit ihm abwechseln und sich auch um das rauchende Fleisch kümmern, aber so hält sie Abstand von der Glut, während das Nachmittagslicht in Huntington Park lange Schatten wirft. Jetzt steht sie im Zentrum einer Gruppe von Frauen, die ihre Hälse jedem hohen Gackern zuwenden, das Tratsch verspricht. Alle haben eine Hüfte seitlich ein wenig vorgeschoben, so als könnte jeden Augenblick ein Kind daraufgesetzt werden, das sie in den Schlaf wiegen müssen.
Am lautesten spricht Kim. Ihre Stimme klirrt wie Kleingeld auf dünnem Glas.
»Diese Chicas schwirren immer rum, als wären wir zu blöd zu kapieren, was sie abziehen. Ich an deiner Stelle, Lola, würd der Bitch ja stecken, dass sie meinen Kerl nicht anmachen soll.«
Lolas Blick erfasst eine Frau, jünger als sie, höchstens siebzehn, die um die Männer und speziell um Garcia rumscharwenzelt. Aber Lola kann sie verstehen. Jeder im Viertel weiß, was Garcia beruflich macht.
In Huntington Park, ein fast ausschließlich von Latinos bewohnter Vorort von Los Angeles, östlich von South Central, gibt es zwei ordentliche Jobs: schwarz gärtnern für die reichen Weißen in der Westside oder Zwölf-Stunden-Schichten in einer Fabrik in Vernon schieben. Die glücklichen unter den Fabriksklaven arbeiten in der Fleischproduktion; wer kein Glück hat, landet in einem der Tierkörperverwertungsbetriebe und bedient Maschinen aus schimmerndem Metall, in denen Fleisch und Knochen zermahlen werden.
Garcia verdient sein Geld weder so noch so, er hat sich für keine der sauberen Möglichkeiten entschieden. Er ist der Anführer der Crenshaw Six. Jeder, der um diesen Grill herumsteht, kann die von der Gang kontrollierten Straßenecken im Schlaf runterbeten – vom Altersheim an der Ecke Gage und State Street bis zum Zebrastreifen an der Mittelschule auf der Höhe der Marconi Street. Doch würde keiner wegen moralischer Skrupel auf schöne Spareribs und ein paar kühle Coronas verzichten. Drogen sind zwar keine angesehene, aber eine nachvollziehbare Art, sich in den Ghettos von Los Angeles den Lebensunterhalt zu verdienen. Die Mitglieder der Crenshaw Six haben ihre Regeln – kein Verkauf an Kinder, kein Ansprechen von Alten, es sei denn, sie haben Schmerzen. Dieser Gangkodex lässt die Leute hier in der Gegend stillhalten, und alle – sowohl die mit sauberer Arbeit als auch die, die zum Überleben Verbrechen begehen – kommen miteinander aus. Alle mögen Ribs, hatte Lola zu Garcia gesagt, als sie die Partyidee aufgebracht hatte.
Garcia hatte anfangs keine Lust dazu gehabt. Er war müde von der Arbeit, die Geschäfte laufen schließlich gut, auch wenn das aus Furcht, sein Glück auf die Probe zu stellen, keiner von ihnen je aussprechen würde. Ihre kleine Goldgrube in South Central Los Angeles – als dazu zugehörig empfanden sie sich, auch wenn sie knapp hinter der Ostgrenze von South Central waren –, in der es eine Ladenzeile voller Waschsalons, fetttriefender Taquerias und Kautionsbüros mit Glasfronten gab, ist natürlich nicht die Wall Street. Hier kriegt man keine zweite Chance, niemand kommt hier wieder auf die Beine. Für Comebacks hat keiner Zeit. Statt einer Minimalstrafe in einem Weißenknast gibt’s hier eine Kugel in den Kopf – als Opfer der Umstände oder als Kollateralschaden. Erfolgsgeschichten sind die Ausnahme, und noch seltener welche mit Happy End.
Trotzdem, hatte Lola zu Garcia gesagt, sie sollten was von ihrem Extrageld in die Hand nehmen und mit den Nachbarn ein bisschen Spaß haben – genau wie normale Leute mit einer Glücksträhne andere zum Essen einladen und ihnen ein paar Bier spendieren, im Viertel für Abwechslung sorgen und den Zusammenhalt stärken. Sie ging aus etwas, das nie zur Auseinandersetzung wurde, als Siegerin hervor, weil Garcia einfach die Schultern zuckte und sagte: »Ich besorg das Fleisch.«
Als sie jetzt dem Mädchen zusieht, das ihren Mann abcheckt, fühlt Lola einen undefinierbaren Gefühlsschwall in sich aufsteigen. Jemand will etwas, was ihr, Lola, gehört. Garcia schätzt mit einem kurzen Blick Busen und Hintern ab, beachtet das Mädchen aber nicht weiter. Die anderen Männer tun es ihm nach, taxieren sie wohlwollend, reden dann aber weiter über, wie Lola vermutet, Geschäftliches, obwohl sie hier in ihrem Kreis von Frauen kein Wort versteht: Das Geschnatter, wer ein paar Pfund zugelegt hat und welches Nagelstudio in der Gegend zu teuer ist, ist einfach zu laut.
Lola nickt zustimmend – nie wieder geht sie zu Oasis Nails –, dann gilt ihre Aufmerksamkeit wieder den Männern. Jorge, ein Gangmitglied mit Mondgesicht, der seine Baseballcap verkehrt rum aufhat, tippt was auf einem der gehackten iPhones der Crenshaw Six. Weil die Telefone über keines der großen kommerziellen Netze kommunizieren, kann Jorge sagen, was er will. Marcos, ein drahtiger, harter Mann mit tiefliegenden Augen, schnappt sich ein halbrohes Sparerib vom Grill und zerrt mit spitzen Zähnen daran. Zu seinen Füßen hofft Valentine, die Pitbull-Hündin, die Lola vor einem Jahr aus einer Hundekampfarena gestohlen hat, dass ein Stück für sie abfällt. Lolas kleiner Liebling ist das einzige weibliche Wesen, das am Grill geduldet wird. Valentine muss in Marcos den Außenseiter erkannt haben, der als Einziger aus den Reihen der Crenshaw Six schon gesessen hat – sechs Jahre in einem Hochsicherheitsbundesgefängnis –, nachdem er an seinem achtzehnten Geburtstag festgenommen worden war. Marcos war zwar schon seit drei Jahren draußen, aber trotzdem isst er immer noch, sobald es was zu essen gibt, schläft, wenn irgendwo ein Stuhl steht, vögelt, wenn sich ein Mädchen anbietet, wie dieses Mädchen jetzt. Marcos isst als Erster, weil er wie die anderen Männer weiß, dass das Mädchen da sein wird, sobald er sich ihr zuwendet. Die Ribs werden jedoch sofort in den hungrigen Mäulern der ganzen Nachbarschaft verschwinden, sobald Garcia sie vom Grill auf die Teller legt.
Am liebsten würde Lola die Scharwenzlerin beiseitenehmen und ihr sagen, dass es schon okay ist, sich an einen Kerl ranzumachen, aber hier wie eine Möchtegern-Model auf dem Laufsteg rumzustolzieren gehe gar nicht.
»Die Kleine weiß schon, dass sie sich den Boss angeln muss«, meint Kim, als sie Lolas Blick bemerkt.
»Die ist keine Gefahr«, sagt Lola.
»Na, er hat sich aber schon mal rumkriegen lassen«, sagt Kim, weil Garcia vor Lola mit Kim zusammen war. »Wenn Carlos hier wär, dann wär sie hinter dem her, kannst du wetten drauf. Solche wie die wollen immer den Obermacker.«
Die umstehenden Frauen erstarren, weil sie wissen, dass das ein Seitenhieb auf Lola ist, die kurz nacheinander mit zwei Gangleadern zusammen war. Aber Lola empfindet nur einen kurzen Stich beim Gedanken an Kims älteren Bruder Carlos, den Anführer der Crenshaw Six, bis er vor drei Jahren ermordet worden war. Damals war Carlos der Freund von Lola und Garcia der von Kim. Und die Crenshaw Six waren die Crenshaw Four, weil nur Carlos, Garcia, Jorge und Marcos dazugehörten. Unter Carlos kontrollierte die Gang auch keine Straßenecken, sondern überfiel andere Gangs, wenn die an abgefuckten Küchentischen saßen und Koks und Heroin verschnitten. Daher war’s auch keine so große Überraschung, dass Carlos erschossen wurde und wie unzählige andere Leichen, nach denen wahrscheinlich kein Hahn krähte, im Angeles National Forest landete.
Doch Kim vermisst Carlos immer noch, einmal im Monat ruft sie die Cops an und fragt nach dem neuesten Stand in seinem noch immer ungelösten Fall. Lola hat Mitleid mit Kim. Carlos war charismatisch und fröhlich, jeder im Viertel mochte ihn, Lola eingeschlossen. Doch nur Kim scheint nicht zu kapieren, dass die Cops sich kaum den Arsch aufreißen, um rauszukriegen, wer so einen kleinen Latinoghetto-Robin-Hood umgebracht hat.
»Mit Carlos am Grill würde das Fleisch verbrennen, weil er dauernd mit allen quatschen würde«, bemerkt Lola jetzt, und die Spannung in der Ladies-Runde löst sich in Kichern auf.
»Oder weil er dauernd meinen Schokokuchen mampft«, wirft Kim ein, die keine Gelegenheit auslässt, um über das eine Rezept zu sprechen, für das sie innerhalb ihrer zwanzig Blocks von Los Angeles berühmt ist.
»Hast du heut einen gebacken, Kim?«, fragt eine Nachbarin.
»Aber klar doch«, sagt Kim, und ein Chor mit »Das muss doch sein« und »Wär ja noch schöner« setzt ein. Kim widmet sich der Schilderung des Nachtischs, den sie zum Barbecue mitgebracht hat, mit derselben Intensität wie vorher dem Mädchen, das um Garcia rumschleicht. »Aber er ist nicht ganz so gut wie der von Lola«, fügt Kim hinzu, als wäre es für Lola in ihrem kleinen Garten das Höchste, die beste Schokotartebäckerin im Barrio zu sein.
Lola hört das erstaunte Gemurmel der anderen Frauen, das sich zwischen Widerspruch und Zustimmung bewegt. Sie wollen weder Kim noch Lola vor den Kopf stoßen, aber alle wissen, dass Kim den besseren Kuchen macht.
»Ich nehm doch auch immer dein Rezept«, sagt Lola, um die Situation zu entschärfen.
»Oh.« Kim wird rot, oder vielleicht hat sie auch nur zu viel Make-up aufgelegt. »Na, du hast ja auch anderes zu tun, oder? Mit dem College und so.«
Vor Carlos’ Tod hat Lola zwei Abendkurse im East Los Angeles Community College besucht. Das hat ihr für alle Zeiten den Ruf eines Collegemädchens eingetragen, auch wenn sie nach dem Mord an ihrem Freund abgebrochen hat und es ein fragwürdiges Kompliment ist. In Huntington Park bedeutet »Collegemädchen«, dass Lola gewagt hat, mehr zu wollen. Sie weiß, dass keine der Frauen hier die geringste Ahnung hat, was sie den Tag über tut. Das ist Lola egal. Sie bleibt lieber an der Peripherie, wo sie sich unbemerkt bewegen kann.
»Deswegen bist du wahrscheinlich auch nicht dazu gekommen, das Unkraut im Blumenbeet zu zupfen«, redet Kim weiter und zeigt mit einem aufgeklebten blutroten Nagel auf den schäbigen Erdflecken, um den sich Lola noch nie gekümmert hat.
»Das war Carlos’ Ding«, entgegnet Lola, weil, als er noch lebte, überall im Garten dieses gemieteten Hauses Sonnenblumen geblüht hatten. Garcia weiß nicht, wie man Blumen pflanzt, und Lola weiß nicht, wie man sie pflegt, weswegen sie fast nur kurzgeschorenen Rasen haben und eigentlich meist auf der Betonfläche bleiben, die hinten ans Haus anschließt.
»Stimmt«, pflichtet Kim bei. »Garcia hat eher ’nen schwarzen Daumen, der bringt alles um, was grün ist, wenn er’s bloß anfasst«, erklärt sie den anderen Frauen und erinnert sie so daran, dass auch sie schon mit Lolas Mann zusammengelebt hat.
Jetzt blickt Lola wieder zu Garcia und stellt fest, dass er auch sie ansieht. Sie lächeln sich an – ein kleines, scheues Lächeln, obwohl sie schon seit drei Jahren zusammen sind. Sie fragt sich, ob eine Tragödie ihre Gefühle für ihn ändern würde. Sie fragt sich, ob sie, wenn es mal schwieriger wird zwischen ihnen, sich anschauen und fragen: Wer zum Teufel ist dieser Mensch, von dem ich gedacht habe, dass ich ihn kenne?
»Hey, was geht?« Lola hört die Stimme ihres kleinen Bruders Hector, fröhlich wie immer, der mit einer Dose Salz und einer Tüte Limetten aus ihrer Küche kommt. Beides könnte für das Fleisch wie für das Bier gedacht sein, die Frage richtet sich allerdings eindeutig an die Scharwenzlerin.
»Alles gut. Hab nur Hunger«, schnurrt das Mädchen.
Die anderen Männer schlagen Hector klatschend auf die Schulter und grunzen anerkennend. Er ist einer von ihnen, womit sich Lola schon vor Jahren hat abfinden müssen. Sie war acht, als Maria Vasquez an ihrer Übelkeit bemerkte, dass sie von einem der namenlosen Männer, die damals alle paar Wochen bei ihnen zu Hause durchgewechselt wurden, mit Hector schwanger war. Wer Hectors Vater ist, weiß keiner, was für Lola aber okay ist. Er ist ihr Bruder, auch wenn sie von zwei verschiedenen Vätern stammen. Lola kennt den Vornamen ihres Vaters, Enrique, aber weil er zwei Monate nach ihrer Geburt verschwunden ist, hat sie keine Lust, sich den Nachnamen zu merken, sagt sie.
Jetzt keimt in Lola die Hoffnung auf, dass der achtzehnjährige Hector sich vielleicht ein Mädchen aus der Nachbarschaft nimmt, eine, die ungefähr sein Alter hat und ihn in ihrer, Lolas, Nähe bleiben lässt. Dann bemerkt sie den Blick, den ihr Bruder ihr zuwirft, weil er sichergehen will, dass seine Schwester ihn beobachtet, und Lola begreift, dass sein Flirten nur Show ist. Hector ist mit einem Mädchen aus dem falschen Stadtteil zusammen und weiß, dass Lola nichts davon hält. Also versucht er durch sein Geflirte mit einer rolligen Chica aus dem Viertel gut Wetter zu machen. Als ihr das klar wird, ist Lola zugleich gerührt und verärgert.
»Dein Bruder zieht ja ’ne ziemliche Show ab«, bemerkt Kim.
Lola hat kein Problem, wenn Kim wegen Carlos’ Blumenbeet nölt und alle in der Gegend daran erinnert, dass sie mal die Nummer eins von Lolas Mann war. Doch über ihren kleinen Bruder braucht sie nicht zu lästern, denkt Lola wütend. Sie muss weg von hier.
Sie sieht die Amaros, ihn und sie, die sich mit gebeugten Köpfen durch den Maschendrahtzaun zwängen. Sie werden langsam alt, was man hier schon mit Anfang vierzig ist, und haben eine runzlige Haut und viel zu tief in den Höhlen liegende Augen. Vorzeitig gealtert, würde man außerhalb von South Central sagen, aber hier sind sie einfach so.
»Ich sag mal hi zu den Amaros«, entschuldigt sich Lola bei Kim und den anderen Frauen.
»Tacos«, sagt Juan zur Begrüßung, und seine Frau Juanita hält eine große Aluschale in die Höhe. Nur die Amaros haben Einweggeschirr mitgebracht. Sie haben eine Bodega und einen Taco-Stand, und den gesamten Bedarf dafür erhalten sie günstig von einem dubiosen entfernten Verwandten. Während sich die Amaros so auch schnell wieder verdrücken können, müssen die anderen warten, bis Lola ihre Auflaufformen in lauwarmem Spülwasser eingeweicht hat und sie mit ein paar Käseresten von den Aufläufen und überbackenen Enchiladas zurückgibt.
Mit einem Begrüßungslächeln greift Lola nach den Tacos.
»Huhn, Rind und Schwein. Fisch gab’s heut keinen guten«, sagt Juanita Amaro mit einem entschuldigenden Unterton in der sanften Stimme.
»Macht nichts, wir haben von allem genug«, sagt Lola.
»Ich hab ihr auch gesagt, dass sie sich keinen Kopf machen soll«, murmelt Juan, und Juanita senkt den Kopf noch etwas tiefer und blickt auf ihre Füße. Der Pazifik ist nur ein paar Kilometer entfernt, aber es ist, als lägen Welten dazwischen – die gute Ware geht nach Westside, wo die Promiköche von Venice, Santa Monica und Malibu sich das Beste aus dem Tagesfang aussuchen.
»Ich bring sie mal in die Küche«, sagt Lola. Dann sieht sie einen Schatten am Saum von Juanita Amaros Rock. Große braune Augen schauen hinter dem Baumwollstoff hervor: die Enkelin der Amaros. Lola hat das Mädchen, dessen Name ihr nicht einfällt, bisher nur ein oder zwei Mal gesehen, als sie unter einem Hocker in der Bodega ihrer Großeltern saß und auf die Tasten einer kaputten alten Rechenmaschine tippte.
»Lucy, sag hallo zu unserer Gastgeberin.« Juanita stupst ihre Enkelin nach vorne, aber Lucy hält sich am Rock ihrer Großmutter fest.
Lucy. So heißt das Mädchen. Lucy ist das Kind der Amaro-Tochter Rosie, ein Junkie, die im letzten Monat mit Lucy im Schlepp in Huntington Park aufgetaucht ist, nachdem sie ein paar Jahre in Bakersfield alles Mögliche gemacht hat, um an ihren Stoff zu kommen.
Eine klebrige Schliere, vielleicht Schweiß oder alte Milch oder ein Rest vom Mittagessen, glitzert auf Lucys Wangen und Stirn. Offenbar hat jemand sogar über das Gesicht des Mädchens gewischt, es aber so schlampig gemacht, dass er das klebrige Zeug gleichmäßig über Lucys Wangen und ihre kleine Stupsnase verteilt hat.
»Hola, Lucy«, versucht Lola das Eis zu brechen, ohne zu wissen, ob Lucy lieber Englisch oder Spanisch spricht.
Lucy starrt zu Lola hoch.
»Lucy, was sagt man da?« Juanita stupst ihre Enkelin wieder an und legt eine abgearbeitete Hand mit knochigen Fingern fest auf Lucys Schulter.
Lola gefällt nicht, dass sich Juanita Amaros Klaue in die Schulter ihrer Enkelin krallt und Lucy zwingen will, jemandem Beachtung oder Zuneigung zu schenken, weswegen sie in Richtung Haus nickt. »Magst du mir in der Küche helfen?«
Unschlüssig, was sie antworten soll, blickt Lucy ihre Großmutter an.
»Ja, das will sie«, sagt Juanita und schiebt Lucy mit ihrer Klaue vorwärts zu Lola.
»Ja«, wiederholt Lucy etwas zu laut, aber der Partylärm wird nicht leiser, als Lucy hinter Lola über das plattgetrampelte Gras und das aus dem dürren Boden sprießende Unkraut trottet. Das ist eben der Garten einer Familie ohne Gärtner, auch wenn im Viertel viele wohnen.
In der Küche sind noch mehr Frauen am Plaudern – älter als die draußen, die Wodka Cranberries in Händen mit angeklebten blutroten Nägeln halten. Die Frauen drinnen sind dicker, vom Hintern hinauf bis zum Hals. Und sie sprechen nur Spanisch, als ob das eine Geheimsprache wäre, die Lola und die anderen jungen Leute nicht verstehen.
»Nein, es war die Cousine von der Mutter seiner Ex –«, schnappt Lola auf.
»Lotties Kleine?«
»Nein, Lottie war da schon tot. Erinnerst du dich noch an ihren Mann? Der mit den Hammerzehen?«
»Aaah …« In der Küche, die so eng ist, dass die Mütterkörper Hüfte an Hüfte stehen, hebt ein Chor kollektiven Erinnerns an. Das Timbre der Stimmen ist tiefer als bei den jungen Frauen draußen. Drinnen ist es ein Durcheinander aus jahrzehntelangem Zigarettenrauchen, Sex und Familienleben, das vom Klappern von Lolas rostiger Ofentür ergänzt wird, als eine der dicken Frauen sie öffnet. In einer Glasterrine, die Lola erst auf den zweiten Blick als die ihre erkennt, kommt etwas Heißes, Dampfendes, nach geschmolzenem Queso Duftendes zum Vorschein. Die Frauen achten nicht auf Lola, obwohl es ihre Küche ist. Sie haben sie ohne Erklärung in Beschlag genommen und nicht gefragt, ob sie die Geräte oder das Geschirr benutzen dürfen. Lola weiß, dass sie es tun, weil sie überzeugt sind, besser damit umgehen zu können als Lola. Womit sie auch recht haben.
»Lola«, flötet nun eine. Veronica, die älteste Freundin ihrer Mutter, kommt mit einem Stück feuchter Küchenrolle zu ihr.
»Wofür ist das?«, fragt Lola.
»Lippenstift«, erklärt Veronica.
Veronica küsst Lola mit warmen lila Lippen und tupft dann den Fleck, den sie hinterlassen, von Lolas Wange. Die Frauen lachen, schrilles Gelächter erfüllt den Raum und macht ihn noch wärmer, als selbst der geöffnete Ofen es könnte.
»Veronica«, sagt Lola leise, aber die anderen Frauen hören den Tadel heraus, und alle drehen sich zu ihr. Mit Veronica als der älteren sollte Lola nicht so sprechen.
Sie wechselt das Thema. »Wo ist Kims Schokotarte? Die Leute fragen schon danach.«
»Kim hat die Tarte gemacht?«, fragt Veronica. »Ich dachte, du wolltest eine backen.«
In der Küche wird es so still, dass Lola den tropfenden Wasserhahn hört, den Garcia längst reparieren wollte. Gespannt sehen die breithüftigen Frauen sie an.
»Hatte andres zu tun.« Lola zuckt die Schultern. »Aber die Jungs wollten Kuchen.«
Die Küche setzt sich wieder in Bewegung, beringte und nackte Finger bewegen sich emsig, alle mit einem Ziel – Kims Kuchen, wo ist bloß Kims Kuchen, die Männer wollen doch Kims Kuchen. Lola versteht kein Wort, hört nur die Stimmen, leises Murmeln und Hüsteln und Fragen. Sie schlängelt sich durch die warmen Leiber zu Lucy und sieht, wie die in der brütenden Ofenhitze gähnt.
»Bist du müde?«, fragt sie das kleine Mädchen.
Kopfschüttelnd versucht Lucy ein zweites Gähnen zu unterdrücken. Lola ertappt das Mädchen bei einem schnellen Blick hinaus auf den Kreis der Männer um den rauchenden Grill.
Lola muss an ihre eigene drogensüchtige Mutter denken, muss an die Männer denken, denen sie Lola vorgestellt hat, und an die Dinge, die sie nachts für diese Männer hatte tun müssen, damit Maria Vasquez an den nächsten Schuss kam. Lola denkt an den vielen versäumten Schlaf in der Zeit, in der sie ihre Unschuld verloren hatte.
Jetzt beugt sich Lola hinunter, bis sie mit Lucy auf Augenhöhe ist, und spricht so leise, dass nur sie beide es hören. »Hast du Angst vor den Männern da draußen?«
Lucy zögert, und Lola hält Abstand, bleibt aber, ohne sie zu berühren, dort unten bei ihr. Nach einer Weile nickt Lucy.
»Verstehe«, sagt Lola. »Möchtest du irgendwo schlafen, wo es sicher ist?«
Lucy blickt Lola an und fährt sich mit der Zunge über die Lippen. Am liebsten würde sie ja sagen.
»Ich kann dir zeigen, wie man die Tür verriegelt«, sagt Lola. »Du kannst mit mir kommen, wenn du magst, oder hier bleiben. Ganz wie du willst, ich bin dir nicht böse.«
Lola richtet sich langsam auf, damit Lucy nicht erschrickt. Sie geht aus der Küche und durch den schmalen Flur, von dem drei Türen abgehen.
Der Raum, den Lola betritt, ist ganz weiß – weiße Wände, weiße Decke, eine summende weiße Klimaanlage, die im Fenster eingelassen ist, davor weiße Gitterstreben. Lola weiß nicht, wozu der Raum dienen soll – etwa für Gäste? Es kommt doch niemand, um bei ihr und Garcia zu übernachten. Der Raum passt besser in eine Anstalt für Patienten, die eine Gehirnwäsche brauchen. Aber vielleicht ist er ideal für Lucy, die so wirkt, als habe sie letzte Nacht gar nicht geschlafen. Lola hofft, das hat nur daran gelegen, dass sie mitbekommen hat, wie sich ihre Mutter im Nebenzimmer eine Spritze gesetzt hat, aber Lucys Blick nach draußen zu den Männern lässt Schlimmeres ahnen.
Lola verdrängt diesen Gedanken. Das bringt nichts. Sie ist nicht Lucys Mutter. Sie kann nichts machen, um das Kind zu retten.
Sie hört die Bodendielen knarren und dreht sich um. Da ist Lucy, die das Schloss in der weißen Tür ansieht.
»Komm«, sagt Lola. »Ich zeig’s dir.«
Lola übt das Auf- und Zusperren der Tür mit Lucy. »Rechts gedreht ist zugesperrt. Links den Knauf, die Tür geht auf«, wiederholt Lola, als Lucy zum Zusperren nach rechts dreht, zum Aufsperren nach links. Sie weiß nicht mehr, wann sie den Spruch gelernt hat, aber sie freut sich, dass sie ihn jetzt bei Lucy benutzen kann. Retten kann sie das Kind womöglich nicht, aber immerhin kann sie Lucy im weißen Raum eine Stunde Ruhe verschaffen, und das tut sie jetzt. Sie lässt die staubigen Jalousien runter, auch wenn die untergehende Sonne draußen noch zu hell scheint, der Himmel noch zu blau durch die Lamellen leuchtet. Lucy braucht Ruhe, da sind Grau und Weiß genug. Lola wünscht, sie hätte einen Teddybären, mit dem das kleine Mädchen kuscheln kann. Aber wenn Lucy mit dem zu kämpfen hat, was Lola vermutet, dann dürfte ihr eine verschlossene Schlafzimmertür mehr Trost sein als jeder Teddybär.
Lola zieht die Tür hinter sich zu und wartet im Flur, bis sie das Patschen kleiner Füße und das Klicken des Schlosses hört. Die Wände sind so dünn, dass sie Lucy sogar seufzen hört, als sie sich in das frisch bezogene Bett legt.
Lola will so lang vor der Tür warten, bis das kleine Mädchen eingeschlafen sein könnte. Die Stimmen der Frauen in der Küche sind zu einem Summen gedämpft. Die sinkende Sonne draußen lässt die Schatten im Haus wandern. Niemand wird hier nach ihr suchen.
Ein scharfes Klopfen an der Eingangstür unterbricht Lolas Gedanken. Das Geplauder der Frauen in der Küche verstummt so schnell, wie ein quäkender Fernseher ausgeschaltet wird.
Die Einzigen, die in diesem Viertel an die Haustür klopfen, sind die Bullen. Und dann kommen sie statt mit Rammböcken mit schlechten Nachrichten.
Vom Flur aus kann Lola durch das kleine quadratische Fenster im Elternschlafzimmer in den Garten blicken. Garcia wendet noch immer mit demselben Lächeln wie vor einer halben Stunde Grillfleisch. Draußen hat niemand das Klopfen gehört. Sie machen nach wie vor Party.
Als Lola die Tür öffnet, stockt ihr kurz der Atem. Der Mann vor ihr ist kein Cop. Er ist Mexikaner, kein Amerikaner mexikanischer Herkunft wie die anderen hier. Er trägt einen maßgeschneiderten Anzug und Schuhe mit Stahlkappen. Lola sucht sein Gesicht nach Schweißperlen ab, findet aber keine. Sie hat ihn noch nie gesehen, aber sie weiß, wie er heißt. Das weiß jeder hier im Viertel. Man nennt ihn El Coleccionista, den Eintreiber.
»Hola«, sagt sie. Dabei überkreuzt sie geziert die Beine und senkt das Kinn, um die Ahnungslose zu mimen. Zum Glück hat Lola in ihren ersten dreiundzwanzig Jahren – bis sie Garcia begegnet ist – gelernt, wie sie es anstellen muss, damit sich Männer von ihr nicht bedroht fühlen. Diese Fähigkeit hatte ihr schon mehr genutzt als jedes Schokokuchenrezept.
»Garcia«, sagt El Coleccionista.
»Hinten im Garten«, antwortet Lola und will vorausgehen, um ihn durch das ganze Haus zu führen und erst zum Schluss am Elternschlafzimmer vorbei, von wo sie ihrem Mann ein Zeichen geben kann.
Aber El Coleccionista lässt sich nicht lang bitten. Er tritt einfach ein, Lola macht einen Schritt zur Seite. Noch ehe es begonnen hat, hat sie das kleine Spielchen mit ihrem Gast schon verloren.
Lola folgt ihm in die Küche. Die jetzt schweigsamen alten Frauen sind nicht so gut darin, die Ahnungslosen zu spielen. Sie wissen ebenfalls, wer dieser Mann ist, aber sie sind zu überrascht, ihm hier in Lolas Küche mit dem von den Wänden blätternden gelben Anstrich und der ausgebrannten Neonröhre zu begegnen, um dieses Wissen zu verbergen. Lola hört nur noch den Ventilator über dem Herd, der weiter ungerührt die Luft herumwirbelt, und das Klicken der Schuhe von Garcias Boss auf ihrem Linoleum, das zwar blitzblank ist, sich an den Rändern aber schon wellt.
Der Mann, der ihr so dicht auf den Fersen ist, dass sie das Pfefferminzbonbon in seinem Atem riechen kann, hat früher eine Kampftruppe des Kartells angeführt. Damit ist er in eine kleine mexikanische Stadt eingefallen und hat dutzende Zivilisten – Ärzte, Anwälte, Polizisten, Hausfrauen, Kinder, Kriminelle – umgebracht, nur weil ein Einwohner einen Zeugen gegen das Los-Liones-Kartell bei sich beherbergt hatte. Den Zeugen selbst verschonte El Coleccionista, nur um ihn am nächsten Tag mit vier Honda Civics zu vierteilen. Sogar so kleine Autos können einem Menschen schneller die Gliedmaßen abreißen, als das Kartell brauchte, um dutzende Nachbarn des Möchtegern-Zeugen niederzumähen. Aber El Coleccionista sorgte dafür, dass es eine halbe Stunde dauerte, bis der Mann starb, und er nahm seine Schreie auf Band auf.
Als Garcia anfing, mit El Coleccionista zu arbeiten, gab der ihm eine Kopie dieses Sterbens – als Warnung. Die Crenshaw Six erhielten die Erlaubnis, an ihren sechs Ecken in Huntington Park Kartelldrogen anzubieten, und das Kartell legte freundlicherweise noch ein paar Ecken drauf, aber dafür sollten die Crenshaw Six sie auch an den Einnahmen beteiligen. Und lieber keinen Scheiß bauen.
Lola muss Garcia warnen. Die Schuhe von El Coleccionista klappern in einem ruhigen Eins-Zwei über den Küchenboden. Lola eilt voraus, taucht zwischen den weichen, nach Parfüm und Bratfett riechenden Frauenkörpern durch und nimmt den langen Weg nach draußen durch die Waschküche, wo Garcias Boxershorts in der Waschtrommel flatschen und patschen. Atemlos läuft sie ums Haus, und Garcia sieht ihre Miene. Er ist da. Ihr Mund formt diese Worte, und Garcia ist der Einzige, der sie versteht.
Alle anderen haben sich umgedreht und sehen, wie El Coleccionista die Betonstufen vor der Küchentür hinuntersteigt, die Füße immer im selben Rhythmus. Eins, zwei, eins, zwei.
Der ganze Garten verstummt, das Viertel hält inne. In einiger Entfernung zwitschert ein Vogel, dann lässt der Nachbar zwei Häuser weiter mit einer gewaltigen Fehlzündung seine Schrottkarre an. Keiner zuckt. Jeder hat El Coleccionista bisher nur auf Fotos gesehen, aber alle erkennen ihn an seiner Kleidung. Niemand hier zieht sich so an.
»Garcia«, sagt El Coleccionista. Lola ist nicht sicher, ob er einen Akzent hat, weil es das einzige Wort ist, das er bisher gesagt hat. Garcia reicht sein Bier an Lola weiter, die sich direkt hinter seiner rechten Schulter postiert hat. Das ist ihr Platz. Automatisch eine Sicherheitszone. Auf der Bierflasche sind Wasserperlen – Garcia hat kaum davon getrunken. Er trinkt nicht viel, Bier schon gar nicht. Er wollte nur den guten Gastgeber spielen. Genau wie sie.
Lola hofft, Garcias Boss ist nicht gekommen, um sie alle zu töten. Aber Furcht verspürt sie keine. Dieser mexikanische Gangster will dem Frauchen nur Angst einjagen, und sie lässt ihm den Glauben, er täte es. Als sie Garcias Bier nimmt, achtet sie darauf, seinen Boss nicht direkt anzusehen. Aber sie kennt sein Geheimnis – El Coleccionista ist mittleres Management.
Sie hätte sich gewünscht, Los Liones hätten einen Höherrangigen geschickt. El Coleccionista verteilt Nachrichten und Strafen. Zu sagen hat er nichts.
»Drinnen«, sagt El Coleccionista. Leichter Akzent. Lola hat keinen Akzent, weder im Englischen noch im Spanischen. Der Gedanke tröstet sie, als Garcia dem Mann ins Haus folgt. Sie hört, wie die dicken alten Frauen aufgeregt über ihr Linoleum huschen und hinaus in den Garten laufen – fast wie Hühner, in deren Stall der Fuchs gekommen ist.
Nach dem Mord an Carlos vor drei Jahren haben sich die Crenshaw Six von einer Bande Kleinkrimineller ohne eigenes Revier in eine echte Gang mit sechs Straßenecken verwandelt, auch wenn die niemand anderes haben wollte, weil sie so nah an Schulen, Polizeidienststellen und Altenheimen lagen. Das Kartell hat wahrscheinlich immer schon den Stoff geliefert, mit dem die Crenshaw Six jetzt handeln, aber bis vor kurzem war die Gang so weit unten in der Hackordnung, dass sie keinen anderen zu Gesicht bekamen als ihren unwichtigen Mittelsmann Benny, einen Süchtigen mit zuckendem Auge, der immer mit einer ungeladenen Pistole rumlief.
Doch vor zwei Monaten kam El Coleccionista zu Garcia, dem kleinen Hühnerschiss-Dealer in South Central, weil das LAPD eins von Darrel Kings Warenlagern hochgenommen hatte. Das Kartell wollte seine treuen Kunden weiter versorgen, aber das ging nicht, wenn Darrel als ihr größter Dealer ausfiel. Ob Garcia vielleicht einspringen würde und ein paar Ecken mehr übernehmen, damit in der Gegend immer ausreichend guter Stoff zur Verfügung stand?
Für die Crenshaw Six war es der erhoffte Durchbruch. Womöglich ist El Coleccionista heute Abend gekommen, um Garcia offen Anerkennung zu zollen. Aber Lola weiß, dass das nicht der Grund ist. Garcia hat sich an die Bedingungen des Kartells gehalten und die Soldaten der Crenshaw Six den Kartellstoff nur an den erlaubten zusätzlichen Ecken verkaufen lassen. Selbst mit dem größeren Revier kontrollieren die Crenshaw Six nur ein winziges Stück vom gut hundertdreißig Quadratkilometer großen Kuchen des Los-Liones-Mittelsmanns Darrel. Dabei hat sich Garcia immer an die Prinzipien der Crenshaw Six gehalten und vor allem nichts an Kinder verkauft, sowie die einzige Bedingung des Kartells beachtet, nämlich vom Profit etwas abzutreten. Er hat nicht versucht, mehr Macht zu erhalten. Er hat hart gearbeitet und ist bescheiden geblieben, und dieser Gedanke erzeugt in Lola etwas, das sie für Stolz hält.
Während die Gäste bleich geworden sind, mit der Zunge schnalzen oder stumm einen tiefen Schluck nehmen, glaubt Lola zu wissen, warum El Coleccionista gekommen ist.
2
Lola hört die tiefen Männerstimmen auf der anderen Seite der lächerlich dünnen Holztür. Ihre Worte überlagern sich, aber ein paar Bruchstücke versteht sie. El Coleccionista betont immer das letzte Wort eines Satzes.
»Lagerhalle … leer geräumt … Polizei …«
Lola merkt, dass ihre Hand schon den goldfarbenen Türknauf dreht, ehe ihr einfällt, dass sie das lieber bleiben lassen sollte. Ausnahmsweise ist sie, die Frau, in der Waschküche unerwünscht.
Sie sieht die Männer an ihren Haushaltsgeräten lehnen. Näher bei ihr steht El Coleccionista, der die Arme vor der Brust verschränkt hat und die Hüfte gegen ihre uralte senfgelbe Waschmaschine stemmt. Garcia steht aufrecht an den farblich nicht dazu passenden, strahlend weißen Wäschetrockner gelehnt. Lola meint zu erkennen, dass ihr Mann darum bemüht ist, dem anderen Respekt zu zollen. Aber vielleicht sieht sie auch nur Garcias Überraschung, dass sie hier auftaucht. Auch sie selbst ist von ihrem Mut überrascht, und in diesem Moment schießt ihr durch den Kopf, dass zu viel Neugier gefährlich sein kann. Allerdings will sie nicht nur aus Neugier wissen, worüber die Männer reden.
»Kann ich irgendwas bringen? Kaffee? Kuchen?«, fragt Lola.
»Kaffee«, sagt El Coleccionista, ohne sie anzusehen.
Gut. Jetzt hat sie einen Vorwand, in den Raum zurückzukommen, und kann sich als Staffage vor die geblümte Tapete stellen und vielleicht den Grund für El Coleccionistas Besuch in ihrem Haus erfahren.
Bei Lolas Rückkehr mit einem dampfenden Kaffeebecher und ein paar Mandelkeksen, die eine der älteren Plaudertanten auf einem Tablett in Lolas Küche hat liegen lassen, ist El Coleccionista noch immer am Reden.
»Darrel King hat sein Lager vor der Razzia leer geräumt. Aber leider kann er unsere Ware jetzt nicht mehr in Umlauf bringen. Dafür ist zu viel Polizei unterwegs. Deswegen sind wir zu euch gekommen.«
»Und die Crenshaw Six sind wirklich dankbar für diese Chance«, sagt Garcia.
El Coleccionista nickt ungeduldig und schlürft den Kaffee, den Lola gebracht hat, durch seine Zähne. Das folgende Schlucken und Schmatzen dreht Lola den Magen um. Verstohlen nimmt sie sich einen Mandelkeks vom Teller, aber die Bewegung lässt Garcias Boss aufmerken.
»Könnte ich auch einen haben?«
Er kennt die Antwort. Lola hält ihm den Teller hin, ohne näher zu treten. Er mag ihre Zögerlichkeit, und nachdem er den Keks mit einem einzigen Bissen verschlungen hat, nimmt er zwei weitere. Die Zuckerzufuhr muss ihn ihre Anwesenheit vergessen lassen, denn mit seinem nächsten Satz spricht er ein Kartellgeheimnis aus.
»Das Problem ist, dass sich Darrel einen anderen Lieferanten besorgt hat.«
»Shit«, sagt Garcia, und Lola ist genervt, dass auch sie das Wort , das Garcia laut ausspricht, nur denken darf. »Wen?«
»Wissen wir nicht. Aber wer es auch ist, er ist unseren Leuten bislang nicht aufgefallen.«
»Ihr habt Darrel überwacht?«
»Tun wir bei allen unseren Leuten.«
Die Schlussfolgerung, dass Los Liones auch die Crenshaw Six überwacht haben, macht Lola kribbelig. Sie sind wichtig genug, dass man ihnen misstraut.
»Deswegen wissen wir auch, dass Darrel mit dem neuen Lieferanten Ort und Zeit für die erste Übergabe verabredet hat. Soll morgen um Mitternacht passieren. Es geht um Ware im Wert von zwei Millionen und die entsprechende Summe in cash.«
»Wo?«
»Venice.« El Coleccionista streckt eine Hand aus, und Lola begreift, dass das ein Befehl an sie ist, einen Stift zu holen.
Schon kramt sie in einer Schublade mit einem Sammelsurium an Dingen, lässt sich dann aber absichtlich mehr Zeit. Mittleres Management, sagt sie sich wieder. Eile wäre nur angebracht, wenn El Coleccionistas Boss, ein angeblich ausschließlich Leinenanzüge tragender Fettsack, hier an ihrer Waschmaschine lehnen würde.
Lola fischt einen Kugelschreiber und einen Fetzen Papier von einem örtlichen Elektrohändler – RINCON BROTHERS: IMMER etwas BILLIGER – aus der Schublade rechts neben der Maschine und reicht beides El Coleccionista. Er kritzelt eine Adresse auf den Zettel und gibt ihn Garcia.
»Ist die Kreuzung von drei Straßen, in einem gemischten Wohn- und Gewerbegebiet.«
»Sie nennen mir da ganz schön viele Einzelheiten zu dieser Übergabe«, meint Garcia mit fragendem Unterton.
Lola findet ihre Position vor der herausgezogenen Schublade, zwischen El Coleccionista und der Tür, plötzlich unangenehm. Sie fragt sich, warum Garcias Boss nicht sagt, sie solle sich verziehen. Er hat Stift und Papier, ein paar Kekse und Kaffee bekommen. Was sonst kann sie noch für ihn tun? Die Antwort tut weh – für den Mann ist Lola zu unwichtig, um sie wegzuschicken.
»Wir wollen, dass eure … Organisation sicherstellt, dass Darrel King die Ware nicht bekommt … und sein neuer Lieferant kein Geld.«
Komisch, denkt Lola, dass das Kartell glaubt, Darrels neuer Lieferant sei ein Mann.
»Das ist alles?«, fragt Garcia. Lola ist sicher, dass El Coleccionista sieht, dass ihr Mann cool wirken möchte.
»Wir wollen, dass ihr alle zur Verfügung stehenden Mittel nutzt, um rauszukriegen, wer Mr. Kings neuer Lieferant ist.«
»Zum Beispiel?«
»Die Kuriere.« Wieder streckt El Coleccionista die Hand aus, und Lola weiß nicht, was er will, bis ein behaarter Finger auf den Keksteller deutet. Als Lola ihm den Teller hinhält, nimmt er drei weitere Kekse, stopft sich alle zugleich in den Mund und nimmt noch beim Kauen einen weiteren.
»Sie wollen, dass wir … uns von den Kurieren Informationen verschaffen?«
»Mit jedem Mittel, das nötig ist.«
Foltern. Verstümmeln. Töten. Lola denkt an aufgeschlitzte blutende Menschenkörper, an von den Knochen gerissenes Fleisch, an Schreie und den Geruch von verwesenden Körpern. Selbst unter Carlos mussten die Crenshaw Six oder Four, je nachdem welche Zeit man betrachtete, kaum einmal töten. Sie verprügelten hin und wieder jemand, schlugen Zähne aus und sorgten so bei kleinen Gaunern ohne Krankenversicherung für höhere Zahnarztrechnungen. Trotzdem weiß sie, dass das ihren Durchbruch bedeutet, und sie weiß, was Garcia antworten wird.
»Klar«, sagt er viel zu beiläufig. Am liebsten würde sie ihm sagen, dass es El Coleccionista lieber sähe, wenn der Auftrag schwer auf Garcias Schultern lastet.
»Irgendwelche Fragen?«
Frag ihn, warum, denkt sie, frag ihn, warum das Kartell das nicht selber macht. Sie haben doch die Leute und Mittel dafür. Sie denkt wieder an das Städtchen, an dessen Vernichtung El Coleccionista beteiligt war. Aber das war Mexiko.
»Warum die Crenshaw Six?«
Okay, denkt Lola, nicht ganz dasselbe, aber okay.
»Wir können in diese Übergabe nicht selbst eingreifen. Das ist zu auffällig. Das LAPD setzt Darrel King jetzt schon unter Druck, um an mich … um an meinen Boss ranzukommen«, verbessert sich El Coleccionista, und Lola merkt, wie die Blicke des Mannes aus dem mittleren Management in der Waschküche hin und her schießen, als ob der unbekannte Anführer des Kartells hier wäre.
»Wir helfen gern«, sagt Garcia. Dass der Mann Garcias Frage ausweicht, versetzt Lola in Spannung. Warum kommt das Kartell damit zu den Crenshaw Six? Sie haben in allen Vierteln und in jeder eingemeindeten Stadt, einschließlich der Westside und in Venice, ihre Gangs.
Natürlich weiß Lola, warum. Für das Kartell sind die Crenshaw Six entbehrlich. Sie kontrollieren nur eine winzige Anzahl von Straßenecken. Der Auftrag, eine Übergabe zwischen einem mittleren, aber schwer bewaffneten und bewachten Drogenhändler wie Darrel King und einem Lieferanten mit Zugang zu Heroin – wie Lola vermutet – im Wert von zwei Millionen zu sprengen, könnte ein Himmelfahrtskommando sein. Aber wenn die Crenshaw Six das durchziehen, dann haben sie ihren Wert für das Kartell bewiesen.
»Du wirst fragen, was euch das bringt.« El Coleccionista seufzt, als stünde er über allen materiellen Dingen. »Wenn es klappt, kriegt ihr zehn Prozent von der Ware und zehn Prozent vom Geld, das wir bekommen, und dazu die Kontrolle über das Gebiet von Darrel King.«
Lolas Puls beschleunigt sich so wie damals, als sie zum ersten Mal Carlos sah, der in der Huntington Park High School gegen einen Spind gelehnt stand. Da war sie vierzehn. Heilige Scheiße.
»Natürlich kann es passieren, dass ihr’s nicht hinkriegt«, sagt El Coleccionista. »Und wenn das passiert …« Endlich wirft der Mann Lola einen kurzen Blick zu, ehe er wieder am Kaffee nippt. Nach einem Schlürfen fährt er fort. »Dann holen wir uns sie, schneiden ihr den Bauch auf und spielen so lang mit den Eingeweiden, bis sie stirbt.«
, denkt Lola. .
Lola fühlt, wie sie Liebe zu diesen Leuten durchströmt, ihre Nachbarn. Aber sie gehört nicht zu ihnen. Sie und Garcia haben gut zweihunderttausend in bar, die sie nicht waschen können, und selbst wenn sie’s könnten, würden sie mit ihrem Glück nicht hausieren gehen. Lola würde ihren rissigen Linoleumboden und die alten Haushaltsgeräte behalten. Im Drogengeschäft ist man nur so lange sicher, wie niemand weiß, dass man jemand ist.
Dennoch hat das Kartell Garcia die Chance zum Durchbruch geboten, und er muss sie ergreifen. Für die anderen im Viertel wird es so aussehen, als ob sich Lola nach oben geschlafen hat.
Aber denkt man das bei Frauen nicht immer?