3Dirk Jörke
Die Größe der Demokratie
Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation
Suhrkamp
Es gibt Assoziationen, die von ihrem Umfang her zu eng und beschränkt sind, um eine Öffentlichkeit hervorzubringen, genau wie es Assoziationen gibt, die zu sehr voneinander isoliert sind, um zu derselben Öffentlichkeit zu gehören. Ein Teil des Problems der Entdeckung einer Öffentlichkeit, die zu staatlicher Organisation fähig ist, besteht darin, eine Linie zwischen dem zu Nahen und Intimen und dem zu Entfernten und Unverbundenen zu ziehen. (John Dewey 1996 [1927], S. 47f.)
Kennen Sie die EU-Verordnung 1370/2007? Vermutlich nicht, es sei denn, Sie wohnen in Langenselbold, Hammersbach oder Ronneburg im Main-Kinzig-Kreis und sind auf einen funktionierenden Busverkehr angewiesen, der Sie zum Arzt oder Ihre Kinder zur Schule nach Hanau bringt. Dieser Verordnung zufolge müssen Aufträge im öffentlichen Personennahverkehr europaweit ausgeschrieben werden. Lediglich wenn Verkehrsunternehmen sich im kommunalen Eigenbesitz befinden oder ein bestimmtes Volumen nicht überschritten wird, kann davon abgesehen werden. Private Anbieter, die sich durch die Vergabe diskriminiert sehen, können jedoch einen Antrag auf Ausschreibung stellen. Im Jahr 2017 wurden mehrere Buslinien von der Kreisverkehrsgesellschaft Main-Kinzig (KVG) neu ausgeschrieben, dabei sollte die Wirtschaftlichkeit zu 70, die Qualität zu 30 Prozent den Ausschlag geben. Den Zuschlag bekam Anfang 2018 das Speyerer Unternehmen BRH Viabus, welches sich im Besitz des britischen Finanzinvestors Marwyn befindet. Zwei lokale Busunternehmen beantragten daraufhin eine Nachprüfung beim Regierungspräsidium Darmstadt mit dem Argument, sie seien durch Dumpingpreise aus dem Markt gedrängt 8worden. Diese Nachprüfung zog sich das ganze Jahr über hin. Währenddessen wurde der Busbetrieb über eine Interimsausschreibung vergeben, die Viabus ebenfalls gewann. Es kam zu zahlreichen Beschwerden der Fahrgäste über chronisch verspätete, dreckige und nicht funktionierende Busse sowie über Fahrer, die die Strecken nicht kennen würden und kaum Deutsch sprächen. Ende 2018 hat das Unternehmen aus Speyer seine Bewerbung überraschend zurückgezogen. Der offizielle Grund lautete, das Prüfungsverfahren dauere zu lange. Allerdings hatte die KVG auf öffentlichen Druck hin ihre Zahlungen an Viabus bereits wegen Qualitätsmängeln reduziert, was ein weiterer Grund für den Rückzug sein dürfte. In Langenselbold, Hammersbach und Ronneburg ist die Erleichterung nun groß. Bislang handelt es sich bei der Vergabepraxis im Main-Kinzig-Kreis um eine Ausnahme, die letztlich im Sinne der Bürgerinnen und Bürger ausgegangen ist. Am 13. Dezember 2019 endet jedoch eine Übergangsfrist, ab dann müssen bei Neuvergaben die Ausschreibungen grundsätzlich europaweit erfolgen, wenn nicht die oben genannten Ausnahmen zutreffen.
Auch im Jahr 2019 werden die Immobilienpreise und Mieten in Deutschlands Großstädten weiter steigen. Neben München, Frankfurt am Main und Hamburg ist nun auch Berlin davon besonders betroffen. In Berlin sind insbesondere seit dem Ausbruch der »Eurokrise« im Jahr 2010 die Immobilienpreise nach oben geschossen. Wesentliche Gründe hierfür sind neben der gestiegenen Attraktivität der Großstädte die seitdem verfolgte Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank, die Flucht von Kapitalanlegern in »Betongold« und nicht zuletzt die Kapitalflucht aus den südeuropäischen Krisenländern. Als Michael Müller (SPD), der Regierende Bürgermeister von Berlin, in einem Akt der Verzweiflung forderte, man müsse die Möglichkeit von Ausländern (insbe9sondere von ausländischen Investoren) beschränken, hierzulande Wohneigentum zu erwerben, reagierte die Frankfurter Rundschau vom 28. August 2018 mit einem kritischen Kommentar: Berlin würde damit nicht nur gegen europäisches Recht verstoßen, sondern auch seinen Ruf als weltoffene Stadt verlieren. Und in der Tat würde ein derartiges Verbot sehr schnell vom Europäischen Gerichtshof einkassiert werden, verstieße es doch gegen das geltende Wettbewerbsrecht und insbesondere gegen Artikel 63 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, in dem die Kapitalverkehrsfreiheit garantiert ist. Bezeichnend für die gegenwärtige politische Konstellation ist nicht zuletzt, dass der Vorstoß von Müller nicht von seiner Partei aufgegriffen wurde – er würde freilich auch der dezidiert europafreundlichen Agenda der SPD widersprechen. Das Nachsehen haben jene Bürgerinnen und Bürger, die eine bezahlbare Mietwohnung suchen oder ihren Traum von der Eigentumswohnung verwirklichen wollen. Der ungleiche Zugang zum Wohneigentum ist zudem eine der Hauptursachen für die zunehmende Spreizung bei den Vermögen, die sich in nahezu allen Mitgliedsländern der Europäischen Union beobachten lässt.
In einem der zahlreichen Aufrufe von Intellektuellen und Politikern, die seit einiger Zeit in den Zeitungen und im Internet zu finden sind, wird unter anderem auf die Segnungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit verwiesen, um für das europäische Projekt zu werben: »Alle Arbeitnehmer können überall in Europa arbeiten, jeder Unternehmer kann überall Unternehmen gründen, alle Waren können überall zollfrei gehandelt, Dienstleistungen überall angeboten werden.«1 Die Ver10fasser des Aufrufs blenden jedoch aus, dass nicht alle von dieser Freiheit profitieren, es vielmehr Gewinner und Verlierer gibt. Ein weniger euphorisches Bild von den Segnungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit dürften zumindest jene besitzen, die etwa in Südosteuropa kaum noch Ärztinnen und Pfleger finden, weil diese inzwischen im Vereinigten Königreich oder in Deutschland den dortigen »Fachkräftemangel« kompensieren. Und auch die ehemaligen Schlachter in der Bretagne dürften wenig erfreut darüber sein, dass sie ihren Arbeitsplatz an die Wanderarbeiter aus Südosteuropa verloren haben, die zu Billiglöhnen und unter sehr anrüchigen Arbeitsbedingungen in Niedersachsen die Schweinehälften zerlegen.2 Ähnliche Verhältnisse bestehen im Gastronomie- und Hotelgewerbe, in der Baubranche oder auch im Fernverkehr auf den zunehmend verstopften Transitstrecken. Auf der anderen Seite dürften auch die Angehörigen der europäischen Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter bei allen finanziellen Kompensationen unter der teilweise monatelangen Abwesenheit der Väter und Mütter, der Töchter und Söhne leiden.
Das sind nur einige Beispiele für die Schattenseiten der neuen Realität in Europa, die den Anstoß für diesen politisch-wissenschaftlichen Essay gegeben haben. Zentrale These der Ausführungen ist, dass mit der Ausweitung politisch-ökonomischer Räume ein Verlust an Demokratie einhergeht, und das in einem doppelten Sinne: Es kommt sowohl zu einer Aushöhlung der Möglichkeiten demokratischer Herrschaftsausübung als auch zu einem Verlust an sozialer Demokratie. Zugleich lassen sich supranationale Gebilde nur 11in einem sehr schwachen Sinne demokratisieren. Denn erstens kann in großen Räumen effektive politische Gleichheit nur unzureichend verwirklicht werden. Zweitens besteht eine größere räumliche, soziale und kulturelle Kluft zwischen den politischen Eliten und einem Großteil der Bürgerschaft. Drittens ist es in großen Herrschaftsräumen infolge der dort vorhandenen Interessengegensätze und unterschiedlichen kulturellen Prägungen erheblich schwieriger, gemeinsame Ziele überhaupt zu formulieren, geschweige denn zu realisieren. Das lässt sich gegenwärtig in der Europäischen Union beobachten.
In vielen Bereichen ist die Europäische Union zu einer koordinierten Politikgestaltung, die über die Durchsetzung liberaler Rechte hinausgeht, nicht in der Lage. Ein besonders anschauliches Beispiel hierfür stellt die Finanztransaktionssteuer dar, über die seit nunmehr zehn Jahren diskutiert wird. Ihre Realisierung scheiterte bislang jedoch stets an Vorbehalten einzelner Länder, aktuell etwa der französischen Regierung unter Emmanuel Macron, der nach dem »Brexit« Paris als neue europäische Finanzmetropole etablieren möchte.3 Eine ganz ähnliche Dynamik zeigt sich mit Blick auf die europaweite Digitalsteuer, einheitliche Unternehmenssteuersätze oder auch die jüngst wieder verstärkt geforderte europäische Arbeitslosenversicherung. Sie alle werden von namhaften Politikern und Politikerinnen sowie von vielen Intellektuellen als erstrebenswert dargestellt, oftmals verbunden mit dem Argument, »nationale Alleingänge« seien nicht möglich. Der Realisierung solcher Ideen stehen jedoch ganz erhebliche 12Hindernisse im Wege, die sich im Rahmen der Europäischen Union aus strukturellen Gründen nicht beheben lassen.
Gewiss, die Einrichtung und der Machtzuwachs einer Vielzahl von Regimen und Institutionen jenseits des Nationalstaates stellt eine notwendige Antwort auf jene rasante Entwicklung der letzten dreißig Jahre dar, die unter dem Schlagwort »Globalisierung« gefasst wird. Dazu zählt insbesondere die engere Zusammenarbeit auf dem europäischen Kontinent. Es drängt sich jedoch die Frage auf, ob nicht mittlerweile ein Grad der Supranationalisierung erreicht ist, der die nationalstaatlichen Demokratien aushöhlt, ohne dass dies auf der europäischen Ebene kompensiert werden könnte. Und es sollte auch gefragt werden, ob nicht die von vielen Intellektuellen geforderte Vertiefung der europäischen Integration, also eine noch stärkere Verlagerung von Hoheitsrechten nach Brüssel, einem idealistischen Fehlschluss gleichkommt.4 Dieser besteht darin, dass ein normativ attraktives Ziel formuliert wird, dessen Verwirklichung in der realen politischen Welt mehr als unwahrscheinlich ist, hier die Hoffnung, die Europäische Union lasse sich »demokratisieren« und sozialer gestalten. Doch nicht nur dies. Die Hoffnung auf große europäische Lösungen steht darüber hinaus jenen kleinen Schritten im Weg, die sich auf der nationalstaatlichen Ebene verwirklichen lassen, etwa die Einführung einer Finanztransaktionssteuer, die Realisierung menschenwürdiger Arbeitsverhältnisse, nicht zuletzt mit Blick auf die europäischen 13Arbeitsnomadinnen und -nomaden, oder auch eine Regulierung der internationalen Kapitalströme. Wir haben es hier mit einer negativen Größendialektik, mit John Dewey gesprochen, mit »dem zu Entfernten und Unverbundenen« zu tun.
Dem bei Philosophen, Politikwissenschaftlern und anderen liberalen Intellektuellen weitverbreiteten Begründungszusammenhang, allein eine weitere Supranationalisierung biete die Aussicht auf eine demokratische Einhegung des Kapitalismus, möchte ich auf den folgenden Seiten also widersprechen. Ich werde erstens argumentieren, dass demokratische Verhältnisse auf gesellschaftlichen Voraussetzungen beruhen, zu denen neben der Abwesenheit allzu großer ökonomischer Unterschiede ein gemeinsam geteilter Bedeutungsraum und vor allem eine überschaubare Größe des Gemeinwesens gehören. Und ich werde zweitens zeigen, dass ein enger Zusammenhang zwischen diesen drei Voraussetzungen der Demokratie existiert. Kurzum, ich werde die These vertreten, dass es die Größe der Europäischen Union und erst recht der globalen Ebene ist, die deren Demokratisierung entgegensteht, zumindest solange man sich nicht mit einem rein formalen Demokratiebegriff zufriedengeben möchte. Warum das so ist und welche Konsequenzen aus diesem Befund zu ziehen sind, möchte ich in acht Schritten erläutern.
Am Anfang steht die Erläuterung eines doppelten Demokratiekonzeptes, das die normative Basis meiner Ausführungen zum Verhältnis von Größe und Demokratie darstellt. Dabei versuche ich nicht, eine Art umwandelbaren Kern der Demokratie zu bestimmen oder eine philosophische Demokratiebegründung zu liefern. Ich frage stattdessen nach der Attraktivität, die der Demokratiebegriff seit nunmehr gut 200 Jahren besitzt, also danach, welche Hoffnungen und wel14che Versprechen mit ihm verbunden werden. Meine Antwort wird sein, dass sich insbesondere zwei große oder zentrale Versprechen aufzeigen lassen: erstens das Versprechen, mittels demokratischer Verfahren die politischen Geschicke eines Herrschaftsverbandes kollektiv lenken zu können; und zweitens das Versprechen, durch demokratische Prozesse mehr soziale Gleichheit zu erreichen, also die Lebensbedingungen vor allem der unteren Schichten zu verbessern. Wenn man den Sinn von Demokratie mit diesen beiden Versprechen verbindet, wird plausibel, weshalb die gegenwärtigen Versuche, supranationale oder gar globale Formen der Herrschaftsausübung zu »demokratisieren«, wenig aussichtsreich sind.
Gegenstand des zweiten Kapitels sind ideengeschichtliche Positionen und Debatten zum Verhältnis von Demokratie und Größe. Zunächst werde ich im Anschluss an Aristoteles und Cicero zwei Modelle von Bürgerschaft einander gegenüberstellen: das athenische, welches einen hohen Grad an direkter Beteiligung beinhaltet und Kleinräumigkeit voraussetzt, und das römische, welches den Bürgerstatus vor allem mit dem Schutz individueller Rechte verbindet und mit Großräumigkeit vereinbar ist. Anschließend werde ich mit Montesquieu und Rousseau zwei politische Denker zu Wort kommen lassen, die der Überzeugung waren, demokratische Strukturen könnten nur in möglichst homogenen sowie kleinräumigen Gemeinwesen existieren. Für Montesquieu war dies Anlass, die Demokratie als eine historisch überholte Staatsform zu betrachten, weil sich beide Bestandsvoraussetzungen in der Moderne mit ihrer Differenzierungsdynamik nicht länger realisieren lassen. Rousseau versucht demgegenüber auf zweierlei sich teilweise ergänzenden Wegen, demokratische Formen der Herrschaftsausübung zu retten: zum einen indem er den Lauf der Modernisierung durch eine Kombina15tion aus Frugalität, Sittlichkeit und Beschränkung des Handels aufzuhalten versucht; zum anderen indem er ein Repräsentationssystem skizziert, das die Repräsentanten einer möglichst strikten Kontrolle durch ihre Wähler unterwirft. Dieses Repräsentationsmodell wurde auch von den Anti-Federalists vertreten, die sich am Ende des 18. Jahrhunderts gegen die Errichtung der Vereinigten Staaten von Amerika wandten. Aus heutiger Sicht wird die damals geschaffene neue Herrschaftsordnung als wegweisender Durchbruch zur »repräsentativen Demokratie« gepriesen, und namentlich die Autoren der Federalist Papers werden als deren große Theoretiker gefeiert. Kontrastiert man das politische Denken der Federalists, insbesondere von Alexander Hamilton und James Madison, jedoch mit dem der heute größtenteils vergessenen Anti-Federalists, dann wird deutlich, dass das 1787 etablierte System der repräsentativen Regierung mit seinen Kerninstitutionen der Wahl von politischen Eliten, der Gewaltenteilung und der Rechtsstaatlichkeit nicht nur für viele damalige Betrachter eher einen aristokratischen als einen demokratischen Charakter besaß; außerdem war es, anders als heute oftmals behauptet wird, auch nicht alternativlos. Vielmehr finden sich in den Schriften der Gegner der US-amerikanischen Verfassung Elemente eines alternativen, nämlich republikanisch-radikaldemokratischen Modells der Repräsentation. Dabei handelte es sich um ein vielgestaltiges Set von Institutionen, welches dafür sorgen sollte, dass sich die Repräsentanten gerade nicht zu einer vom Willen des demos abgehobenen »natürlichen Aristokratie« entwickeln würden. Allerdings unterscheidet sich dieses Modell insofern vom liberal-repräsentativen Demokratieverständnis, als es nicht nur eine vergleichsweise höhere Homogenität des demos voraussetzt, sondern sich eben auch nur auf kleinere Flächenstaaten, nicht jedoch auf so große Gemeinwesen wie die damali16gen Vereinigten Staaten oder die heutige Europäische Union ausdehnen lässt.
Dass der negative Zusammenhang von Größe und Demokratie bis heute gültig ist, werde ich im dritten Kapitel anhand sozialwissenschaftlicher Untersuchungen darlegen. Im Einzelnen geht es zunächst darum, darauf aufmerksam zu machen, dass die Existenz demokratischer Verhältnisse stark mit der Größe des jeweiligen Landes korreliert. Kleine und sehr kleine Staaten tendieren deutlich stärker zur Demokratie als große. Allerdings sagt die Existenz demokratischer Institutionen noch nichts über die Qualität der Demokratie aus. Deshalb werde ich im Anschluss an eine berühmte Unterscheidung von Thomas H. Marshall fragen, ob sich auch Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen der Größe eines Landes und den beiden Versprechen der Demokratie finden lassen. Und hier wird sich zeigen, dass mit Blick auf die etablierten Demokratien durchaus ein Zusammenhang besteht. Den Abschluss des Kapitels bilden Ausführungen zu der klassischen Studie Size and Democracy von Robert A. Dahl und Edward R. Tufte (1973). Den Autoren zufolge besteht ein Dilemma zwischen der Intensität der Beteiligung in kleinen Gemeinwesen und der Effektivität politischen Entscheidens. Letztere lasse sich nämlich nur in größeren Herrschaftsverbünden erreichen – unter erheblicher Abschwächung der politischen Gleichheit.
Im vierten Kapitel werde ich auf die Europäische Union eingehen und argumentieren, dass in ihr ein stark liberales Politikverständnis institutionell verankert ist, welches zwar auf der einen Seite erhebliche Freiheitsrechte garantiert, auf der anderen Seite aber nur wenig Spielraum für eine Beteiligung der breiten Bürgerschaft vorsieht, überdies einseitig die Interessen wirtschaftlich starker Akteure bedient und in der Konsequenz zu einer Zunahme sozialer Ungleichheit führt. 17Spätestens mit den zur »Eurorettung« beschlossenen Maßnahmen hat die EU zudem einen technokratischen, tendenziell sogar autokratischen Charakter angenommen, der auf der Ebene der Nationalstaaten demokratische Prozesse unterminiert. Das fällt zwar in den Schuldnerstaaten im Süden des Kontinents stärker ins Auge, gilt aber tendenziell für alle Mitgliedsländer. In Auseinandersetzung mit neoliberalen Ideen zum Wirtschaftsföderalismus werde ich am Ende des Kapitels die These aufstellen, dass die technokratisch-autoritären Merkmale der EU durchaus intendierte Größeneffekte darstellen.
Das fünfte Kapitel bietet eine kritische Diskussion gegenwärtiger Bemühungen, die Idee der Demokratie an die neue »postnationale Konstellation« (Habermas 1998) anzupassen. Im Einzelnen werde ich drei Strategien einer derartigen Neukonzeptionalisierung erörtern: (1) die Übertragung nationalstaatlicher Institutionen wie Parlamente, Parteien und Verfassungsgerichte auf supranationale Gebilde, (2) eine deliberative Umdeutung demokratischer Prozesse und schließlich (3) die Ersetzung demokratisch legitimierter Entscheidungsprozesse durch die Konstitutionalisierung des supranationalen und globalen Regierens. Allen drei Strategien ist gemeinsam, dass es in ihnen zu einer erheblichen Abschwächung des normativen Gehalts des Demokratiebegriffs kommt. Freilich handelt es sich dabei insofern um eine analytische Unterscheidung der drei Strategien, als die meisten Debattenbeiträge eine Mischstrategie verfolgen. Ich werde jedoch argumentieren, dass auch eine Kombination nicht in der Lage ist, demokratische Verhältnisse auf supranationaler oder globaler Ebene zu etablieren; zumindest dann nicht, wenn die Versprechen der Demokratie nicht zu bloßen Lippenbekenntnissen verkommen sollen.
In einem Zwischenschritt werde ich durch einen Vergleich 18der Debatten über die US-Verfassung mit den heutigen Bemühungen zur Stärkung der demokratischen Legitimität des supranationalen bzw. globalen Regierens die bisherigen Ergebnisse zusammentragen und argumentieren, dass wir gegenwärtig erneut einen Wandel des Demokratiebegriffs erleben, in dessen Folge liberale auf Kosten republikanischer Elemente gestärkt werden. Das Ergebnis ist ein Demokratieverständnis, welches sich zwar mit einem hohen Grad von Heterogenität und räumlicher Ausdehnung vereinbaren lässt und insofern durchaus die Aussicht auf eine »Demokratisierung« der Europäischen Union und des globalen Regierens bietet, das jedoch zugleich die weitgehende Aufgabe des doppelten Versprechens der Demokratie beinhaltet, nämlich der Kontrolle des Regierens durch die Bürgerinnen und Bürger einerseits und der Beförderung sozialer Gleichheit andererseits.
Die abschließenden drei Kapitel plädieren vor diesem Hintergrund für eine Stärkung des demokratischen Nationalstaats, die nicht in einen engstirnigen Nationalismus zurückfällt oder einem vergangenen Zeitalter hinterhertrauert. Im sechsten Kapitel werde ich zunächst in Auseinandersetzung mit Johann Gottlieb Fichtes Schrift Der geschloßne Handelsstaat für einen weichen Protektionismus eintreten, der sich der weitverbreiteten Freihandelsdoktrin entgegenstellt. Fichte geht es, so skurril sein Buch aus heutiger Perspektive in vielen Passagen wirken mag, vornehmlich um die Sicherung der Autonomie des Nationalstaates und damit um die Möglichkeit der Selbstgesetzgebung. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist die stärkere Regulierung ökonomischer Prozesse, wozu nicht zuletzt die Kontrolle über die Währung zählt. Zudem lässt sich mit Fichte für eine stärkere staatliche Lenkung der Wirtschaft bis hin zur Verstaatlichung von Banken und Schlüsselindustrien argumentieren. Schließlich wer19de ich mich im Anschluss an Michael Walzer und David Miller für das Recht auf Kontrolle der Einwanderung aussprechen, nicht nur aus demokratietheoretischen, sondern auch aus entwicklungspolitischen Gründen.
Im siebten Kapitel sollen in Auseinandersetzung mit den Befürwortern des Supranationalismus, zu denen nicht zuletzt Jürgen Habermas zählt, noch einmal die wesentlichen Thesen dieses Buches zugespitzt werden. Dabei werde ich zeigen, dass eine kosmopolitische Position unter einem mangelnden Verständnis für soziale Spaltungen leidet, während sie ihrerseits keine überzeugende Antwort auf die Frage der Demokratisierung des Supranationalismus liefern kann. Vor diesem Hintergrund trete ich für eine Renaissance demokratischer Nationalstaatlichkeit ein, allerdings in einer Variante, die von einem ebenso engstirnigen wie gefährlichen Nationalismus zu unterscheiden ist. Einem wirklichkeitsfremden Kosmopolitismus soll daher im Anschluss an Marcel Mauss die Idee des Internationalismus entgegengestellt werden, der nicht auf eine Auflösung der Nationen, sondern auf eine Stärkung ihres Miteinanders setzt.
Im abschließenden achten Kapitel werde ich ein Modell für eine Konföderation europäischer Staaten skizzieren. Befürworter einer weiteren Vertiefung, etwa durch die Etablierung einer Wirtschaftsregierung oder durch eine stärkere Parlamentarisierung, führen oftmals die Verfassung der Vereinigten Staaten als Modell an. Dieses Modell sieht bekanntlich eine erhebliche Übertragung von Kompetenzen und Souveränitätsrechten auf die Ebene der Union und nicht zuletzt einen gemeinsamen Währungsraum vor. Demgegenüber möchte ich ein alternatives Modell der Kooperation weitgehend souveräner Staaten vorschlagen, das den 1777 beschlossenen Konföderations-Artikeln folgt.