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Am 24. Mai 2015 wurde die Kommunalka in Sankt Petersburg, in welcher der russische Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky in seiner Jugend wohnte, anlässlich seines 75. Geburtstages für einen Tag geöffnet. Da man dort 32 unterschiedliche Schimmelarten fand, schloss man die Wohnung gleich danach wieder. Die Restaurierungsarbeiten werden vermutlich noch einige Jahre andauern.

Jedes Gedicht dieser Brodsky-Anthologie öffnet auf seine Weise vorzeitig das Joseph-Brodsky-Museum. Sie entstand zunächst auf Facebook und versammelt Texte, die aus Texten Brodskys wie Schimmel herauswachsen.

Mit Fotografien aus der Gemeinschaftswohnung Joseph Brodskys.

Alexandru Bulucz (Hg.)

Die 32 Schimmelarten des Joseph Brodsky

23 Gedichte und 16 Fotografien

ein mikrotext

Erstellt mit Booktype

Cover: Inga Israel

Covertypo: PTL Attention, Viktor Nübel

Lektorat / Korrektorat des Nachworts: Léonce W. Lupette, Maike Suhr

www.mikrotext.de  – info@mikrotext.de

ISBN 978-3-944543-76-5

© mikrotext 2019, Berlin

© Die Rechte an den einzelnen Texten und den Bildern liegen bei den jeweiligen Autor*inn*en.

© „Gespräch“. Aus: Tzveta Sofronieva: Landschaften, Ufer. Gedichte. München: Edition Lyrik Kabinett bei Hanser, 2013. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Carl Hanser Verlag GmbH & Ko. KG, München.

Trugen die Gedichte den Titel dieser Anthologie, wurde er nicht übernommen. Dafür erscheinen jetzt die ersten zwei Wörter des Gedichts gefettet. Dieselbe Methode wurde auch bei titellosen Gedichten angewandt. 

Wir empfehlen, auf einem kleinen Bildschirm die langzeiligen Gedichte im Querformat zu lesen.

Alexandru Bulucz (Hg.)

Die 32 Schimmelarten des Joseph Brodsky

23 Gedichte, 16 Fotografien


Mit Gedichten von Patrick Wilden, Ulf Stolterfoht, Michael Spyra, Tzveta Sofronieva, Simone Scharbert, Tobias Reußwig, Bastian Reinert, Martin Piekar, José F. A. Oliver, Birthe Mühlhoff, Léonce W. Lupette, Bernd Lüttgerding, Norbert Lange, Christian Kreis, Thorsten Krämer, Claudia Kiefer, Matthias Friedrich, Manfred H. Freude, Viktor Fritzenkötter, Ingo Ebener, Alexandru Bulucz, Timo Brandt, Michael Augustin

Patrick Wilden

Variationen auf Schimmelpilz

Es gibt eine Stadt die fortfliegt fast

im Delta einer nördlichen Flüssin

die fließt ins offene feindliche Meer

weißer Rost liegt auf ihren Nächten

Von Knochengerüst durchschimmern die Träume

zehntausende starben hier in den Sümpfen

irgendwann kehrt die Natur zurück

und fordert vom Menschen ihr Eigentum

Im Garten die Sprünge durchsichtiger Pferdchen

die Häupter der Bäume bestäubt mit Mehl

ich entschlafe als Greis und erwache als Kind

das zerstoßene Dunkel rieselt

Der Rotpustelpilz an der Kleinen Newa

ich trete vors Tor in den blauen Regen

umzäunt von Wand aus Mitternacht

wo sind die nackten Winter geblieben

Ich höre im Radio Wetterbericht

riesige Leinwand aus Raum und Wasser

Vegetieren als Ursprung der Realität

im blassen zerstreuten nördlichen Licht

Der Uferweg im narbigen Granit

daneben das immer strömende Wasser

hier ist Einsamkeit leicht zu ertragen

weil die Stadt selber einsam ist

In die Finsternis hallt ein Kanonenschuß

das Signal daß das Wasser steigt

am Morgen wird es die Straßen fluten

die Ratten kommen aus ihren Schlüpfen

Haariger Kopfschimmel Algenpilze

niedrige Kähne krumm vor Nässe

ein haltender Zug Richtung Ewigkeit

Oh Flüssin stäub’ dein zerfetztes Graues!


Nachweis: Die Texte, aus denen dieses Gedicht im Wesentlichen besteht, wurden anverwandelt und entnommen aus: Joseph Brodsky, „Führung durch eine umbenannte Stadt“. Aus dem Russischen von Ingrid Tinzmann, in: Ders., Flucht aus Byzanz. Essays. München / Wien 1988, S. 52–75; Fjodor M. Dostojewski: Rodion Raskolnikoff / Schuld und Sühne. Roman. Aus dem Russischen von E. K. Rahsin. München / Zürich 2004; Oleg Jurjew: In zwei Spiegeln. Gedichte und Chöre (1984 – 2011), mit Übersetzungen aus dem Russischen von Elke Erb, Daniel Jurjew, Gregor Laschen u. Olga Martynova. Salzburg / Wien 2012.

Ulf Stolterfoht

auf der suche nach dem letzten schimmel

ann arbor, 309 wesley street. spezies: brauner besiedler. gefunden in einem

kleinen schuhschränkchen, gleich links neben der badezimmertür. vermutlich

haftete der originalpilz an der sohle von brodskys wanderstiefel meindl "ulan

bator", den er bereits 1972 in ottakring erworben hatte. der besiedler ist ein

klassischer mostviertel-schimmel und stammt wohl noch aus audens garten.


greenwich village, 44 morton street. spezies: krustenkugelartiger. brodskys erster

ausflug ins village galt dr. stranges sanctum sanctorum in der bleecker street

177A. dort muss er sich irgendwie den krustenkugelartigen gefangen haben. in

einem erstklassigen bespoke-tweed-anzug von anderson & sheppard fand er bis

zum heutigen tage ein geradezu ideales fauna-flora-habitat. ein spitzenschimmel!


brooklyn heights, 22 pierrepont street. spezies: milwaukee-schadhefe. das großbürgerliche

brooklyn heights bietet dem passionierten zecher gleichwohl auch schwemmen

der etwas anderen art, genannt sei das "swabian roadhouse" (0,5l dinkelacker

$ 3,80). hier kam es zum erstkontakt mit der schadhefe. und auch wenn brodsky

dieses gasthaus in der folge mied, lebte die hefe noch lange im dichtermagen fort.


manhattan, 256w 52nd street. spezies: falscher hausschwamm. 1986 oder '87 hatte

sich joseph brodsky bei roman kaplan in den "russian samowar" eingekauft. einziges

problem: der ganze laden war seinerzeit total verschwammt. ed pucci, frank