»Vor alten Eichen sollst du weichen.«

 

(Alte Weisheit)

 

Vorwort

 

Manchmal ist es nicht leicht, Entscheidungen zu treffen, wenn es sich um die Veröffentlichung von Geschichten handelt, die Jahrzehnte in der »Schublade« liegen. Diese Story war einst konzipiert für einen Kurzgeschichtenband namens »Dark Visions«. Dieser fand seinen Weg nie in Läden und ich widmete mich anderen Projekten. Da die Geschichten aber allesamt nicht sonderlich kurz ausfielen, fasste ich letztendlich den Entschluss, dass jede von ihnen es verdient hatte, als eigenständiges Buch zu erscheinen. Geschichten aus Oakhill (es gab nie mehr als diese eine von angedachten mehreren Oakhill-Stories) ist eine davon. Zwei weitere sind bereits erschienen. Christmas Meeting und Brut des Bösen.

Es ist mitunter auch die Erinnerung an jene Zeit, in der diese Geschichten entstanden, die mich bewogen hat, sie in die Welt zu schicken. Kein Internet, keine Handys. Dafür Schnurtelefone, mit Drehscheiben oder – als modernisiertes Highlight – mit Drucktasten. Es gab Telefonzellen. Zu schwer, um mit sich herumzuschleppen. Ständige Erreichbarkeit waren Fremdwörter, Burnouts wurden so erfolgreich vermieden. Es gab keine Emails, whatsapp oder sondersgleichen. Man schrieb Telegramme. (Was wäre in unserer Story wohl geschehen, wenn die Protagonistin dieses Romans auf ein Handy hätte zurückgreifen können?)

Meine Überlegungen, die Storys ganz einfach auf die heutige Zeit »umzuschreiben« habe ich nach wenigen Zeilen aufgegeben. Die Geschichte wollte es nicht, wenn Sie wissen, was ich meine.

Aber möglicherweise genießen Sie diese Zeitreise mit mir zusammen. Und entscheiden SIE ob und WANN (Vergangenheit oder Gegenwart) die Geschichten aus Oakhill eine Fortsetzung erfahren sollten. Nutzen Sie dazu gerne die modernen Medien unserer Zeit.

 

Willkommen in meiner Welt!

 

Mein Name ist Mark Savage!

PROLOG

 

Das kleine Dörfchen Oakhill lag auf der Anhöhe eines Hügels, inmitten der schottischen Highlands. Das Tal unterhalb der Ortschaft durchzog dichtes, kilometerbreites Waldgebiet, soweit das Auge reichte. Ein für Schottland durchaus untypisches Landschaftsbild.

Die Bewohner des nie mehr als dreihundert Seelen zählenden Ortes genossen die Idylle, in der sie lebten. Sie verdingten sich ihren Lebensunterhalt hauptsächlich durch Viehzucht und führten ein hartes und entbehrungsreiches Leben. Dennoch wäre keiner von ihnen je auf den Gedanken gekommen von hier fortzuziehen.

All die Jahrhunderte hindurch bewahrte sich die seltsame, fremdenfeindliche Mentalität der Bürger von Oakhill. Trotz all der Schrecken, mit denen die Menschen von Zeit zu Zeit konfrontiert wurden, hielt man zusammen und stellte sich den Gefahren.

Gefahren, die von einer rätselhaften dunklen Kraft ausgingen. Einer Macht, die oft jahrelang schlief, doch dann wieder zu unheilvollen Leben erwachte. Selbst die Ältesten wussten nicht zu berichten, wie lange schon diese Macht Oakhill bedrohte. Nach den Überlieferungen hielt sie sich seit Jahrhunderten im Wald oder im Moor verborgen.

Trotzdem galt es nicht als gefährlich, den Wald oder das Moor zu betreten. Man wusste, wie weit man sich wagen konnte, und kannte jene Gebiete, die zu meiden lebenswichtig waren.

Einige der Älteren behaupteten, alles begann, als der junge Yorkshire vor über dreihundert Jahren vom Wald verschlungen wurde. Doch es gab Berichte, die noch tiefer in die Vergangenheit führten.

Tatsache war, dass immer wieder Menschen verschwanden, die sich zu weit in den Wald verirrten. Es gab Tage, an denen sich die Bewohner in ihre Häuser einschlossen, da es schien als würde das Grauen stündlich durch die Gassen schleichen. Manch junger Bursche verschwand spurlos, da er den Warnungen seiner Eltern keinen Glauben schenkte.

Trotz all dieser geheimnisvollen Geschehnisse dachte niemand daran, seine Heimat zu verlassen. Jeder Einwohner Oakhills war zu sehr an diesen Ort gebunden, er empfand sich als Teil von ihm, als ein lebenswichtiges Segment des Ganzen.

Dennoch sollten in den nächsten Tagen und Wochen der Mut und die Entschlossenheit dieser Menschen auf eine harte Probe gestellt werden, denn das rätselhafte Böse schickte sich an, sein grauenhaftes Wesen zu offenbaren.

Ein mehr als dreihundert Jahre alter Fluch würde den Ausschlag für die kommenden schrecklichen Geschehnisse geben.

1.

Vergangenheit:

 

August 1694

 

Es dunkelte bereits, als Will Yorkshire von der Weide nach Hause kam. Er fühlte sich hundemüde und ausgesprochen hungrig. Hinzu kam die Nervosität, die ihn an fast nichts anderes denken ließ als an den morgigen Tag.

Das diesjährige traditionelle Erntefest bedeutete für ihn, den achtzehnjährigen Bauernburschen, der den Hof seines verstorbenen Vaters weiterführte, etwas Besonderes. Er wollte das Mädchen, das er liebte, für sich gewinnen.

Seit er ein kleiner Junge war, verehrte er dieses zauberhafte Geschöpf. Nichts wünschte er sich mehr, dass sie die Frau sein würde, die mit ihm künftig den Hof teilte.

Das Mädchen wohnte nur wenige Schritte von seinem Hof entfernt, und er überlegte sich ernsthaft, ob er nicht heute noch an die Rückseite ihres Fensters schlich, um sie zu fragen. Schließlich kannten sie sich schon von Kindheit an. Sie würde es ihm gewiss nicht übelnehmen.

Morris, sein alter Mischlingshund, begrüßte ihn eifrig, als er den Hof betrat. Will war jedoch zu sehr in Gedanken, um sich so intensiv mit ihm zu beschäftigen, wie er es für gewöhnlich tat. Nachdem ihm seine Mutter ein großes Stück Fleisch briet und einen üppigen Eintopf servierte, wusch sich der Junge ausgiebig.

Eine Stunde später schlich er heimlich, um seiner Mutter keine Rechnung tragen zu müssen, aus dem Haus und lief in westlicher Richtung zum Grundstück der Bradeys.

Vorsichtig pirschte er sich an die Rückseite des Hauses, hielt aber erschrocken inne, als er eine Gestalt an Anns Fenster wahrnahm. Seine Vermutung, dass es sich um einen Einbrecher handeln könnte, bewahrheitete sich zu seinem Leidwesen nicht. Er erkannte Howard McGee, den Sohn von Rob McGee, dem der Hof an der Südseite gehörte.

Zu seinem Entsetzen erkannte er, dass Ann an Howies Hals hing wie eine Klette und ihn mit Küssen bedeckte.

In Will stieg wilde Wut hoch. Dieser dunkelhäutige, wie ein Affe behaarte, grobschlächtige Typ gefiel SEINER Ann. Er glaubte es einfach nicht.

Es kostete ihm einiges an Beherrschung, nicht über den Burschen herzufallen, in der Gewissheit, dass er gegen diesen Hünen keine Chance hatte.

Will bot mit seinem eher schmächtigen Körper einen regelrecht verhungerten Eindruck gegenüber McGee. Dennoch konnte man ihn nicht als hässlich beschimpfen. Seine blonden Haare und sein jungenhaftes Gesicht ließen ihn um einige Jahre jünger scheinen als er tatsächlich war. Zudem besaß er ausdrucksvolle Augen, die schon so manches Mädchen bezauberten. Doch was nutzten ihm andere, wenn sein Herz Ann Bradey gehörte. Diese jedoch vergnügte sich mit diesem entsetzlichen Kerl, den Will noch nie leiden. Er sah, wie er sie aus dem Fenster hob und sie gemeinsam in die Nacht schlichen, den Abhang hinunter, Richtung Wald.

Will, der beileibe nicht abergläubisch war, fand es dennoch leichtsinnig von Howard, mit dem Mädchen um diese Zeit einen solchen Ort aufzusuchen. Manche der alten Geschichten mögen einen Kern Wahrheit enthalten. Man wusste nie, wer oder was sich um diese Zeit dort herumtrieb.

Vorsichtig und leise schlich er Ann und Howie nach. Die Zielstrebigkeit, mit der sich die beiden fortbewegten, ließ vermuten, dass sie sich öfters heimlich trafen. Die Stelle, an der sie schließlich anhielten, kannte Will. Es war eine kleine Lichtung inmitten des Waldes, auf der eine riesige, alte knorrige Eiche stand.

Und genau unter diesem alten Baum ließen sich die beiden Liebenden nieder.

Will vermochte in der Dunkelheit lediglich die Umrisse der beiden Körper zu erkennen. Doch das Stöhnen, das zu ihm drang, bereitete ihm seelische Qualen.

»Howard, bitte, noch nicht. Nicht hier und jetzt, bitte«, vernahm er Anns Stimme.

»Du verlangst viel«, erwiderte McGee. »Niemand sieht uns hier, nur der Wald, und der schweigt, da bin ich mir ganz sicher.«

»Das ist es nicht, Liebling«, antwortete Ann. »Es ist nur … so unheimlich. Dieser Ort … so schön er am Tag ist, so gespenstisch ist er in der Nacht.«

»Kein Gespenst wird dir etwas zuleide tun, wenn ich bei dir bin.«

»Das weiß ich, Howard. Trotzdem möchte ich noch nicht. Wenn du mich liebst dann verstehe mich bitte.«

»Ich liebe dich und akzeptiere es. Es wird Zeit, dass du meine Frau wirst, damit diese Heimlichtuerei endlich ein Ende hat.«

Wills Hoffnung, es würde sich nur um eine kurze Liebelei handeln, brach zusammen. Dieser Schuft gedachte Ann doch tatsächlich zu heiraten. Voller Hass sah er hinüber zu der Eiche, unter der sich die beiden Liebenden tummelten.

Will fuhr zusammen, als sein Blick auf den mächtigen Baumstamm fiel. Es schien, als würde der Baum leben. Will glaubte in dem Dunkel zu erkennen, dass der Baum ihn höhnisch angrinste. Dann verschwand der Eindruck plötzlich und er vernahm erneut Anns Stimme.

»An diesen Ort kommen so gut wie nie Leute. Er wird aus irgendeinem Grunde gemieden. Möglicherweise macht mir auch dieser Aberglaube ein wenig Furcht.«

»Ach, ich gebe nichts auf diese Gerüchte, dass hier irgendwo der Teufel hausen soll.«

»Weißt du, was man sich erzählt? Meine Eltern geben nie Antwort, wenn ich sie frage, warum man diesen Ort meiden soll.«

»Nun ja, ich will dir keine Angst einjagen. Eigentlich ist es rechts seltsam was man so erzählt.«

»Erzähl«, forderte ihn Ann auf. »Schließlich bist du ja bei mir und kannst mich in den Arm nehmen, wenn ich Angst bekommen sollte.«

»Da hast du wohl recht«, erwiderte Howard belustigt. »Eigentlich weiß ich auch nicht viel, aber soweit mir bekannt ist, ist es der Baum, der den Leuten hier Furcht einflößt.«

»Der Baum? Unser Baum?«, fragte Ann, und schielte misstrauisch zu der Eiche hinauf.

»Ja. Man erzählt sich, dass dieser Baum einmal oben stand, auf dem Hügel, mitten im Dorf. Viele mussten versucht haben ihn zu fällen, aber keinem gelang es. Die Geschichte erklärt nicht, aus welchem Grund man diesen Baum nicht fällen konnte, aber es musste etwas vorgefallen sein, das die Leute davon abhielt, es weiterhin zu versuchen.

Dann aber kam jener Tag, an dem sich der Himmel pechschwarz färbte und das Böse sich hier niederließ. Am nächsten Morgen stellte man fest, dass der Baum spurlos verschwunden war. Man fand ihn später durch Zufall hier an dieser Stelle wieder. Niemand konnte auch nur erahnen, wie er an diesen Ort gelangen konnte.«

»Komische Geschichte«, meinte Ann schauernd. »Wie kann ein Baum seinen Standort wechseln. Unheimlich, findest du nicht auch?«

»Eher unsinnig«, erwiderte Howard. »Aber einen Vorteil hat dieses Märchen. Wir können uns hier jederzeit treffen, und niemand stört uns. Ist das nicht wunderbar?«

»Stimmt«, lachte Ann. »Eigentlich sollten wir dem Baum dankbar sein. Er hat uns schließlich letztendlich zusammengeführt.«

»Und er wird es sein, unter dem wir uns wieder treffen, morgen, während des Festes.«

»Wir sollen einfach so verschwinden? Was werden die Leute denken?«

»Gar nichts, weil sie nichts bemerken. Außerdem habe ich morgen eine ganz besondere Überraschung für dich, Liebste.«

Will kochte vor Zorn und er bemühte sich nicht, leise zu sein als er mit Tränen in den Augen davonrannte.

In dieser Nacht fand William Yorkshire keinen Schlaf. Der Hass in seinem Herzen brannte zu stark. Hass auf Ann Bradey, Howard McGee und Hass auf diesen verfluchten Baum, der ihn zu verhöhnen schien.

* * *

Die uralte riesenhafte Eiche stand stolz und stark im Dunkel der Nacht. Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt, Jahrhundert für Jahrhundert. Mindestens zehn Mann würden benötigt werden, wollte man den großen Stamm umspannen. Doch niemand kam auf den Gedanken Derartiges zu tun. Selten nur wagte sich ein Mensch in ihre Nähe.

Die alte Eiche lebte.

Doch sie fühlte sich seit einiger Zeit schwach und krank. Es wurde Zeit für eine Symbiose. Einer Symbiose, die sie befähigte, weiterhin zu existieren. Mächtig und ehern, wie all die Generationen zuvor.

Die dunklen Mächte, die hier im stillen hausten, bemächtigten sich vor Hunderten von Jahren des Baumes und belebten ihn auf seltsame Art und Weise. Die Eiche war diesen Mächten dankbar. Sie war nicht dazu verurteilt, ihr ganzes Leben reglos dahinzudämmern wie ihre Artgenossen.

Das Liebespaar, welches sich regelmäßig unter ihren kräftigen Ästen tummelte, schien dem Baum wie geschaffen für sein Vorhaben. Leider gelang es ihm nicht, Kontrolle über ihre Seelen zu erlangen. Ihre Geister standen unter einem starken Bann. Dem Bann der Liebe. Diese Voraussetzungen zwangen den Baum, seine Pläne zurückstellen, um auf eine günstigere Gelegenheit zu warten.

In dieser Nacht jedoch gelang es dem Baum, ein geeignetes Opfer zu finden. Es war ihm ein leichtes gewesen, die Saat in ihm einzupflanzen.

Nun galt es nur noch abzuwarten.

Die Zweige und Äste vibrierten vor Erwartung.

Die Stunde der Symbiose stand bevor.

* * *

»Mein Gott, ist der schön«, rief Ann und sah freudestrahlend auf den Ring, den ihr Howard im Schatten der Eiche überreichte.

»Es ist dein Hochzeitsring. Du musst aber noch warten, bis du ihn tragen darfst.«

»Ich will aber nicht mehr warten«, jauchzte sie, und fiel ihrem Geliebten um den Hals.

Die beiden hatten sich nach Beginn der Dämmerung heimlich vom Treiben des Festes entfernt. Die Stimmung der Dorfbewohner war ausgelassen und fröhlich, was man nicht zuletzt dem selbstgebrauten Gerstensaft des alten Berenger verdankte. Niemand bemerkte ihr Verschwinden, bis auf William Yorkshire, der die beiden heimlich und argwöhnisch den ganzen Tag über beobachtete.

Er erhielt einmal sogar die Möglichkeit mit Ann zu tanzen. Es war ein Fehler, gestand er sich ein, denn dadurch wurde die Wunde noch tiefer. Der Gedanke, dass dieses zauberhafte, bildschöne Mädchen mit den langen schwarzen Haaren und hellblauen Augen nicht ihm gehören sollte, machte den jungen Burschen fast wahnsinnig und rasend vor Eifersucht.

Als er dann mit ansehen musste, wie sie in ihrem weißen Kleid vor Howard stand, ihn anhimmelte und vor Freude aufschrie, als er ihr den Antrag machte, war es aus mit seiner Beherrschung. Er wollte sich auf Howard werfen, um ihn den Schädel einzuschlagen, wollte schreien, toben ...

Doch er tat es nicht.

Er tat es nicht, weil in jenem Moment der Baum wieder zu ihm herüber zu starrte. Zumindest erschien es Will so. Hohn schien aus diesem Blick zu sprechen.

Ich bin es!, flüsterte es in seinem Hirn. Ich bin es, dem die beiden ihre Liebe verdanken. Du kleiner Narr, hast du allen Ernstes geglaubt, sie würde einem Niemand wie Dir ihre Liebe schenken?

Voller Entsetzen griff sich Will an die Stirn.

»Will Yorkshire, du wirst wahnsinnig«, sprach er zu sich selbst. »Jetzt hörst du schon Stimmen, wo keine sind. Dieser verfluchte Baum, er macht mich noch verrückt. Warum?«

Er sprach mit sich selbst, um die Angst zu vertreiben, sowie das Grauen, das sich in seinen Eingeweiden breitzumachen drohte. Er achtete nicht mehr auf die beiden Verliebten, sondern verließ schnellen Fußes diesen Ort.