Gewidmet ist dieses Buch meiner Familie, meinen Freunden und Hans.
„Hinter den Spiegeln
Wartet eine Welt,
So wunderbar.
Hinter den Spiegeln
Ist das Licht so klar.
Hinter den Spiegeln
Würde ich so gerne sein.
Hinter den Spiegeln
Bist du mein.“
Was für ein komisches Gedicht, dachte Melina Loredana ärgerlich. Hinter den Spiegeln? Was soll schon anderes dahinter sein, als die Wand? Blöder Gedanke.
Ärgerlich schüttelte sie den Kopf und klappte heftig das Buch der Lyrik zu, in dem sie gerade gelesen hatte. Nein, heute war nicht der Tag, um sich mit Büchern zu befassen, überlegte sie. Schon gar nicht mit Gedichten.
Seit ihrer Lehre arbeitete sie in dem großen Unternehmen, das Kunststoffteile für die Raumfahrt herstellte. Wie jeden Mittag saß die junge, dunkelhaarige Frau in der Kantine, heute alleine, und las, neben ihrer Mahlzeit, ein Buch.
Sie schob sich die letzte Gabel Salat in den Mund, packte ihr Buch weg und verließ die belebte Kantine des Unternehmens `Sypoor`, nachdem sie das Tablett wieder in einen Wagen befördert hatte.
Draußen auf dem Flur traf sie ihren Arbeitskollegen Jonas Grau, der auch gerade aus der Mittagspause kam.
„Hey, ich habe dich gar nicht gesehen, da drin“, sagte er freudestrahlend.
„Ich saß hinten in der Ecke, wie immer und habe gelesen“, antwortete Melina, leicht genervt. Sie mochte Jonas, doch nicht als Liebhaber, wie er sich sah. Immer wieder mache er ihr Avancen, die sie aber abblockte.
„Auch wie immer!“, rief Jonas und kam dann zu seinem eigentlichen Anliegen. „Warum willst du nicht mit mir ausgehen, Melina? Sag schon, was stört dich an mir?“
„Nichts. Aber ich gehe nicht mit Kollegen aus. Ein Grundsatz von mir“, antwortete Melina fest.
„Eigentlich sind wir doch keine richtigen Kollegen. Ich sitze in einer anderen Abteilung wie du. Das musst du mir zugutehalten. Also könntest du auch mit mir die Party von Stephan Beil besuchen. Du kennst Stephan? Der Typ, der immer die Post verteilt? Er feiert am Samstag eine riesen Party in der „Disco Japanese“. Komm doch auch. Ich würde mich freuen.“ Erwartungsvoll sah er sie an.
„Ich überlege es mir“, meinte Melina. Für sie schien die Unterhaltung damit beendet.
„Versprochen?“, bohrte Jonas nach.
„Ja, du Nervensäge. Ich denke darüber nach.“ Sie funkelte ihn giftig an.
„Ok, ich rufe dich an.“ Und weg war er, verschwunden in dem Gewühl, welches immer vor dem vollbesetzten Aufzug herrschte. Seine Abteilung lag eine Etage höher, die er jeden Mittag zu Fuß erreichte.
Melina ging zurück in ihr Büro, wo sie Jonas und die Party völlig vergaß. Es gab genug zu tun, in dem spärlich eingerichteten Büro mit dem winzigen Fenster und der großen Topfpflanze in der Ecke, einem Gummibaum. Relikt ihres Vorgängers. Die junge Frau goss ihn zwar jeden Morgen, mochte ihn eigentlich aber nicht.
Draußen wurde es bereits dunkel, als sie ihren Computer herunterfuhr und Feierabend machte für heute.
Mit dem Bus, der vor dem Firmengelände hielt, fuhrt sie, wie jeden Tag, heim.
In ihrer kleinen Wohnung, in einem ruhigeren Teil der Stadt, erinnerte sie sich wieder an ihr Versprechen. Eigentlich hatte sie keine Lust auf die Feier, andererseits hasste sie es, alleine zu Hause zu sein. Alles war viel zu ruhig hier, niemand der mit ihr redete, und auf sie wartete. Wann kam endlich ihr Mister Right? Viel zu lange war sie nun schon alleine, seit ihr letzter Freund sie verließ. Dabei sehnte sie sich nach Nähe, Wärme und einer Familie. Nur, wo blieb der Loverboy?
In der Nacht hatte sie wieder diesen Traum, und der Kerl sah so unverschämt gut aus, dass sie am ganzen Körper ein Kribbeln verspürte. Und er wollte nur sie. Das macht er ihr auch mit einem Kuss klar. Melina wünschte sich, dass er nie wieder aufhören würde sie zu küssen. Aber dann klingelte irgendwo ein Wecker und der Typ sagte doch glatt: „ Telefon für dich, Baby. Musst du da ran gehen?“
Verschlafen angelte die junge Frau nach dem Wecker, der prompt vom Nachttisch fiel. Melina hechtete hinter dem rappelnden Ding her und landete unsanft auf dem Boden.
Es war kurz nach sechs und wieder Zeit aufzustehen. Morgen, dachte sie sehnsüchtig, morgen kann ich ausschlafen. Denn dann ist endlich Samstag.
Müde zog sie sich an, kochte sich einen Kaffee und fuhr dann wieder mit dem Bus zur Arbeit.
Der Freitag verging so, wie der Donnerstag auch, ruhig und langweilig. In der Mittagspause setzte sich Jonas zu ihr an der Tisch, was Melina mit einem genervten Blick quittierte. Was er aber nicht mitbekam, stattdessen redete Jonas die ganze Zeit über die Party.
„Ich bin so froh, dass du auch mitkommst, Melina. Das wird mega geil. Stephan erzählte mir, dass er einen DJ engagiert hat, der gut auflegen soll. Und Sprit in allen Variationen gibt es auch. Soll ich dich von zu Hause abholen, dann brauchst du nicht zu fahren?“ Anscheinend hatte er noch nicht mitbekommen, dass Melina ihm keine Zusage erteilt hatte.
„Nein, nicht nötig. Ich nehme die U-Bahn.“ Am liebsten hätte die junge Frau ihm gesagt, dass sie nicht mit kommen wollte, unterließ es dann aber. Ein langes und ödes Wochenende wartete auf sie, fern von ihrer Familie, die im Süden Deutschlands lebte. Ihre beste Freundin wollte ihrem Nachbarn Anton helfen, der in eine Alten-WG zog und seine Wohnung leer räumen musste. So würde sie sie dieses Wochenende nicht sehen.
„Das kann gefährlich sein, Melina. Und die U-Bahn fährt auch nicht immer. Es macht mir wirklich nichts aus, dich mitzunehmen.“ Stephan lächelte sie freundlich an. „Sabine und Roland fahren auch mit.“
„Ich sage dir später Bescheid. Im Büro wartet noch eine Menge Arbeit auf mich, Jonas.“ Melina packte ihr Buch weg, das sie diesmal nicht gelesen hatte, und stand auf.
„Warte, ich helfe dir“, sagte Jonas und wollte nach ihrem Tablett greifen.
„Lass nur. Bis Später.“ Die junge Frau regierte genervt und stöckelte energisch mit ihrem Tablett zum Geschirrwagen. Dann zum Aufzug und zu ihrem Büro.
Erst in ihrem Büroraum konnte sie Luft holen. Hierher folgte er ihr nie.
Dieser Jonas ist echt eine Nervensäge, dachte sie. Wenn er mit mir alleine sein möchte, kann er es ja sagen. Aber, er ist nicht mein Typ. Wie bringe ich es ihm schonend bei?
Erneut setzte sie sich an ihren PC und begann, Rechnungen zu schreiben und Briefe. Eine Tätigkeit, die sie ablenkte von Jonas und der Party. Denn dafür brauchte sie ihre ganze Konzentration, nicht leicht nach dem Mittagessen.
Kurz vor Feierabend bekam sie eine SMS von ihrer Freundin Hannah, die sie bat, sie beim Ausräumen der Wohnung zu vertreten.
„Ich habe mir den Fuß verstaucht und kann nicht laufen. Könntest du Anton helfen? Er hat sonst niemanden und außerdem ist er nicht so gut zu Fuß. Melde dich, wenn es geht. Es wäre super, Melina.“
Ärgerlich wollte Melina schon absagen, aber da sie sonst nichts vor hatte, schrieb sie Hannah, dass sie Anton helfen wollte.
Am anderen Morgen war sie froh, aus ihrer Wohnung zu kommen, denn es war kühl und regnete die ganze Zeit. Anton wohnte im Nebenhaus und freute sich, dass ihm jemand half.
„Schön, dass Sie Zeit haben. Ich habe Frau Kaminski gesagt, ich schaffe es alleine, wenn sie krank ist. Aber davon wollte sie nichts wissen. Das meiste von dem Zeug hier geht weg. In der WG habe ich nur ein kleines Zimmer, da passt nicht viel rein“, erklärte der grauhaarige Mann und deutete auf die Kartons im Flur.
„Ich freue mich, Ihnen helfen zu dürfen. Vermutlich würde ich bei dem Wetter den ganzen Tag auf der Couch liegen. So komme ich wenigstens raus und habe Bewegung.“ Melina folgte dem alten Mann in den hinteren Teil der Wohnung. Einige Kisten waren schon gepackt, aber das meiste lag noch verteilt im Zimmer.
Den ganzen Vormittag sortierte und verpackte sie, zusammen mit Anton, der sich von vielen Dingen nicht trennen mochte. Das eine oder andere Teil staubte Melina ab, zumeist Geschirr oder Nippes. Kurz vor Mittag bat sie der alte Mann noch mal auf den Dachboden zu gehen, wo weitere Dinge lagerten.
„Schauen Sie, ob dort noch etwas ist, was ich mitnehmen könnte. Ich denke, das meiste dort kann weg, aber so genau weiß ich das nicht. Seitdem ich so schlecht laufen kann, war ich nicht mehr oben.“
Melina stöberte in dem Plunder und fand dabei einen Spiegel, der ziemlich abgegriffen war, aber einen hübschen Rahmen hatte. Sie nahm ihn mit in die Wohnung, Anton aber meinte, er könne auf den Sperrmüll. So fragte sie ihn, ob er ihr den Spiegel überlassen würde.
„Mir gefällt er. Ich könnte ihn aufarbeiten.“
„Nehmen Sie ihn mit, ich brauche ihn eh nicht mehr. Meine Frau hat ihn mit in die Ehe gebracht, aber die ist schon zehn Jahre tot.“
Zurück in ihrer Wohnung packte Melina die Sachen in die hinterste Ecke, gönnte sich ein leichtes Mittagessen und rief dann Hannah an.
„Auftrag erledigt, Hannah. Wir haben viel geschafft, in den paar Stunden.“
„Danke, du hast ihm wirklich geholfen. Leider kann ich nicht laufen, sonst hätte ich dich nicht angerufen.“
Eine Weile telefonierte Melina noch mit ihrer besten Freundin, bis jemand versuchte sie zu erreichen. Als ich nach der Nummer sah, erkannte sie Jonas Telefonnummer und fragte sich, wo der ihre Privatnummer her hatte. Wütend rief sie nicht zurück.
Der Abend kam und mit ihr die Party, zu der sie mit der U-Bahn fuhr. Neben Jonas und Stephan, den sie heute erst kennen lernte, traf sie viele nette Männer, aber trotzdem fuhr sie alleine nach Hause, denn der richtige war nicht dabei. Sie mochte dunkelhaarige Kerle mit Charme, Humor und viel Herz.
Viele wollten mit ihr flirten, und sogar die Nacht verbringen, aber Melina hatte ihre eigene Vorstellung von Mr. Right. Ihre Ansprüche waren hoch, sie wollte mit dem Typen auch reden können, und nicht nur Bettgymnastik machen.
Schade, dachte sie, als mit der Bahn um vier Uhr früh heimfuhr, wieder eine Nacht alleine. Ich sollte, meine Ansprüche, über Bord werfen, dann klappt es auch mit dem richtigen Mann. Oder auch nicht! Ist das nicht verschwendete Zeit? Egal, Hauptsache, es hat Spaß gemacht. Fast die ganze Nacht fand sie jemanden zum Tanzen und auch zum Reden. Der Alkohol floss reichlich, aber Melina wusste noch, wann sie genug hatte und gehen musste.
Erschöpft von der Party, und nicht mehr ganz nüchtern, fiel sie in ihrer Wohnung direkt ins Bett. Wo sie bis in den frühen Nachmittag schlief.
Verkatert und schlecht gelaunt, wachte sie am anderen Tag auf.
Sonntag, überlegte sie. Soll ich Hannah anrufen? Nein, es ist noch zu früh. Ich melde mich am Abend bei ihr. Zuerst brauche ich eine Tablette und etwas in den Magen. Verdammter Alkohol!!
Warum konnte ich mich nicht zurückhalten? Sie schüttele den Kopf und verzog vor Schmerzen das Gesicht. Heute musste sie es langsamer angehen lassen.
Immer noch müde schlurfte sie zuerst ins Bad, und dann in die Küche. Ihr Magen rebellierte, als sie die Kühlschranktür öffnete.
Puh, das stinkt, dachte sie angewidert und hielt sich den Bauch. Dann doch nur Zwieback? Nur mit Mühe hielt sie die Wellen von Übelkeit aus, die durch ihren Körper rollten.
Es dauerte eine Weile, bis die Tablette, das Wasser und die Zwiebacke, die sie zu sich genommen hatte, wirkten. Aber dann erinnerte sie sich wieder an die Geschenke von Anton und kramte sie hervor. Der Spiegel sah besonders hübsch aus, mit seinen Schnitzereien am Rahmen, und sie musste ihn auch nicht so sehr aufarbeiten, wie gedacht. Schon am anderen Tag wollte sie ihn im Flur aufhängen.
Heute nicht, überlegte sie. Es ist Sonntag und es geht mir nicht so gut. Nein, morgen nach Feierabend nehme ich die Bohrmaschine und hänge ihn auf. Einen Platz habe ich ja schon. Der Flur braucht dringend einen Spiegel!
Liebevoll strich sie auf die Ornamente, die den Rahmen zierten. Es waren Fratzen, aber auch Blumen, die sich über die gesamte Umrahmung zogen.
Er wird sich gut machen in meiner Wohnung und Hannah wird neidisch sein, wenn ich ihr von ihm erzählte.
Den Rest des Abends verbrachte sie am Telefon, um Hannah von ihrer Eroberung zu berichten. Denn sie liebte alte Möbel genauso wie sie und seufzte neidisch, als Melina ihr von dem Spiegel erzählte.
„Du hast Glück“, sagte sie nur.
Am anderen Tag konnte es Melina kaum erwarten, bis sie endlich Feierabend hatte. Denn sie wollte sehen, ob der Spiegel gut in den Flur passte.
Daher war sie auch nicht nett zu Jonas, der mit ihr über die Party plaudern wollte.
„Nicht jetzt“, sagte sie unwirsch, als er sie fragte, ob sie gut heimgekommen sei.
„Was ist los mit dir“, fragte er sie gekränkt. „Ich dachte, es hätte dir bei Stephan gefallen?“
„Es war nett, ja. Aber, ich will jetzt nicht über die Party reden. Der gestrige Tag hat mir gereicht. Hat Stephan die Cocktails gestreckt?“ Sie strich sich über die Stirn.
„Nein, natürlich nicht. Warum?“
„Ich war gestern richtig krank. Und heute geht es mir auch nicht gut. Deshalb!“
„Alkohol. Du hast ja wahllos getrunken. Kein Wunder, das es dir dann nicht gut geht.“Jonas schüttelte den Kopf.
„Aber, so? Nein, reden wir von etwas anderem. Was macht deine Mutter?“ Sie versuchte, ihn abzulenken.
Melina kannte Jonas Muter nicht, obwohl er oft von ihr berichtete. Daher sprang er auch sofort auf ihr Ablenkungsmanöver an und erzählte von den diversen Krankheiten seiner Mutter.
Melina war froh, als ihre Pause endlich zu Ende ging und sie zurück in ihr Büro kehren konnte.
Diesmal arbeitete sie eine halbe Stunde länger, da noch Rechnungen zu schreiben waren, die heute noch verschickt werden mussten.
Trotzdem suchte sie, kaum dass sie in ihrer Wohnung war, die Bormaschine heraus und brachte den schweren Spiegel per Dübel und Hacken an die Wand, neben der Schlafzimmertüre.
Er macht sich gut an der gelben Wand, dachte Melina und packte Bohrmaschine und Hammer wieder weg.
Als sie aus der Abstellkammer kam, erschrak sie doch sehr. Der Spiegel, der vorher nur so groß war, dass Melina ihr Gesicht sehen konnte, füllte jetzt die gesamte Wand aus. Unschlüssig betrachtete sie ihn von der Seite, zog und zerrte an ihm. Aber der Spiegel schien, mit der Wand verwachsen, er rührte sich keinen Millimeter.
Plötzlich fing der braune Holzrahmen an zu glühen. Melina zuckte zusammen und ging gleich einen Schritt rückwärts, so sehr erschreckte sie das Ereignis. Immer greller wurde das Licht, bis sich auch das Spiegelglas veränderte, es wurde milchig. Wirbel entstanden im Innern, die einen Tunnel formten, an dessen Ende ein helles Licht schien.
Fassungslos beobachtete Melina das Geschehen, bis Wirbel und Licht urplötzlich wieder verschwanden. Vorsichtig tippte sie den Rahmen an, er war glühend heiß.
Ich muss Hannah anrufen, dachte sie. Vielleicht hat sie eine Erklärung dafür. Schließlich hat ihr Vater Physik studiert. An ihren alten Nachbarn dachte sie in diesem Augenblick nicht.
Ihre beste Freundin erklärte sich sofort bereit, vorbeizukommen. Während sie wartete, dachte Melina kurz daran, den Spiegel zu verhängen, er war ihr suspekt. Machte es aber dann doch nicht.
Unscheinbar, so wie sie ihn erhalten hatte, hing er an der Wand und wirkte so normal, das Melina schon dachte, sie hätte geträumt. Nur ein schwaches Glimmen erinnerte sie daran, dass es kein Traum gewesen war.
Schon eine viertel Stunde später humpelte Hannah durch die Tür.
„Was ist los, Melina? Aus deinem Gestammel, vorhin am Telefon, bin ich nicht schlau geworden.“
„Der Spiegel! Aber sieh selber, “ Melina deutete auf das Glas, welches sich wieder verändert hatte. Erneut wirbelte es im Innern des Rahmens, der Tunnel erschien und als er sich verbreiterte, gab er den Blick in eine ärmliche Hütte frei. Auf einem einfachen Lager lag ein Mann, der heftig hustete. Ein Arm und auch sein Fuß waren bandagiert, Schweiß stand auf seiner Stirn. Als er den Blick hob, entdeckte er die beiden Frauen in dem Portal, welches sich mitten in seiner Hütte stand. Seine Augen wurden immer größer und Verwunderung machte sich in seinem Gesicht breit.
„Es scheint ihm nicht gut zu gehen, er glüht. Sieh dir seine Augen an, er hat garantiert Fieber, “ meinte Hannah mit Bedauern in der Stimme. Auch wenn ihr das Ganze suspekt war, überwiegt ihre Sorge um andere Menschen und ihr Mitgefühl.
„Vermutlich hatte er deinen Unfall. Die Verbände sehen miserabel aus. Wenn die nicht gewechselt werden, kriegt er eine Infektion.“ Melina betrachtete den Rest der Hütte, den sie im Spiegelausschnitt sehen konnte. Auch sie wunderte sich über das, was sie sah, wollte aber trotzdem helfen.
„Wir sollten ihn versorgen“, sagte Hannah energisch und sah sich nach Verbandsmaterial um.
„Warte“, rief Melina plötzlich aufgeregt und deutete auf den Spiegel. Das Bild im Innern flackerte und der Tunnel verschwand so urplötzlich, wie er gekommen war.
„Mist“, fluchte Hannah. „Was jetzt? Kannst du den Spiegel kontrollieren?“
„Nein“, antwortete Melina. „Zuerst war er so klein, dass ich nur mein Gesicht sehen konnte. Kaum hing er an der Wand, wurde er so groß, wie du ihn jetzt siehst. Danach bildeten sich die Lichter und der Tunnel. Ich weiß nicht, wie es geht.“ Ratlos sah sie ihre Freundin an.
„Komisch? Kann das ein Zeitportal sein, in eine andere Dimension“, überlegte Hannah. Sie liebte Geschichten über Zeitreisen und kannte so einige Bücher darüber.
„Ein Portal? Was weißt du denn davon?“ Melia sah Hannah fragend an.
„Mein Vater ist doch Physiker an der Hochschule für angewandte Physik. Der redet dauernd von Wurmlöchern. Selbst Einstein hielt sie für möglich“, erwiderte Hannah.
„Ok. Und jetzt?“
„Wenn du dem Kerl helfen willst, müssen wir den Spiegel erneut aktivieren.“ Hannah deutete auf die Wand vor ihnen.
„Und wenn ich nicht will? Ok, er sah übel aus. Aber, ist das meine Sache?“ Melina zögerte, denn sie verspürte Angst in ihrem Herzen, auf was ließ sie sich da ein?
„Vielleicht sollst du ihm ja helfen, Schätzchen. Los, sehen wir uns deine Zeitmaschine mal
Genauer an.“ Behutsam tastete Hannah den Rahmen ab, der noch immer warm war. „Knöpfe oder Hebel gibt es nicht“, erklärte sie dann.
„Von der Wand nehmen, kann ich ihn auch nicht. Ich habe es versucht, aber er scheint festgewachsen zu sein.“ Melina zerrte an dem Rahmen, er rührte sich nicht.
„Dafür ist er auch zu schwer“, überlegte Hannah und untersuchte weiter den Spiegel.
„Vielleicht erwacht er erneut, wenn wir ihn in Ruhe lassen? Ich decke ihn aber ab. Falls sich das Portal spontan wieder öffnet, würde ich es nicht gut finden, evtl. unbekleidet durch den Flur zu laufen“, meinte Melina.
„Prüde“, fragte Hannah lächelnd.
„Nein. Aber dies ist, meine Wohnung, da hat kein Fremder einen Blick hinein zu werfen. Schon gar nicht dieser Wilde dort im Spiegel“, sagte Melina energisch. Seit sich das Portal geöffnet hatte, fühle sie sich in ihrem Flur nicht mehr wohl.
„Er sah gar nicht so wild aus“, feixte Hannah. „Was hat denn Anton zu dem Spiegel gesagt?“
„Er meinte nur, der habe seiner Frau gehört. Vermutlich lag er vierzig Jahre auf dem Speicher.“
„Du solltest ihn mal vorsichtig fragen, was er sonst noch so weiß. Das wäre sicher hilfreich.“ Hannah berührte das kühle Spiegelglas. Welches Geheimnis verbarg sich noch hinter ihm?
„Ich überlege es mir. Aber nicht mehr heute Abend“, erwiderte Melina und sah sich nach einem Tuch um.
„Du hast Recht. Ich gehe dann mal wieder. Falls er sich nochmal öffnet, ruf mich an. Ich möchte gerne dabei sein.“Hannah wandte sich zur Wohnungstüre.
„Mache ich.“
„So eine Gelegenheit gibt es nicht so oft. Mein Vater sprach oft von anderen Dimensionen und Reisen ans Ende der Galaxie. Der wird Augen machen, wenn ich ihm erzähle, dass du so ein Portal besitzt.“
„Das lass mal lieber“, fiel Melina ihr ins Wort. „Vielleicht war es ja auch nur eine Art Fernsehen oder so. Kabel habe ich zwar keine gesehen. Klar, wer achtet beim Spiegel schon darauf? Aber, möglich wäre es doch. Irgendeine Technik, die solche Bilder erzeugt. Ich möchte mich vor deinem Vater nicht lächerlich machen.“
Hannah sah Melina einen Augenblick irritiert an. „Wenn du meinst.“
„Es war nur so ein Gedanke.“
„Schon gut. Ich verrate nichts. Aber, du rufst mich doch an, wenn sich da wieder was tut?“, sagte Hannah und öffnete die Tür.
„Klar doch“, antwortete Melina. „Du bist doch meine beste Freundin.“
„Dann ist es ja gut. Gute Nacht, Melina. Wir sehen uns morgen?“
„Bestimmt. Schlaf gut, Hannah.“
„Du auch“, sagte diese und umarmte Melina feste.
Dann humpelte sie wieder aus der Wohnung und die junge Frau holte eine alte Decke, um den Spiegel zu verdecken.
Danach fühlte sie sich erleichtert. Jetzt hatte sie nicht mehr das Gefühl, beobachtet zu werden.
Erschöpft ging sie zuerst duschen und dann ins Bett.
Am anderen Morgen wirkte die Erinnerung an den gestrigen Abend surreal und Melina musste schmunzeln, als sie daran dachte.
Spiegel, die eine Art Zeitmaschine sind, gibt es doch gar nicht, dachte sie und warf einen kurzen Blick auf die Decke an der Wand. Ein schwaches Leuchten blitzte darunter hervor, aber Melina hatte keine Zeit, sich näher damit zu beschäftigen. Sie war sowieso schon spät dran und musste sich beeilen, zur Arbeit zu kommen. Im Laufschritt hetzte sie zur Bushaltestelle.
Im Erdgeschoss des Unternehmens traf sie Jonas, der sie fragte, ob sie heute wieder zusammen essen würden.
„Klar, warum nicht“, meinte Melina. „Zum Lesen habe ich keine Lust.“
„Super. Dann bis um halb eins“, rief Jonas. „Heute gibt es Hühnerfrikassee.“
„Ok.“ Melina folgte ihm in den Fahrstuhl und stieg schon bald wieder aus, auf ihrer Etage.. „Bis dann.“
Bis zum Abend hatte sie so viel zu tun, dass sie nicht mehr an den Spiegel und den gestrigen Abend dachte. Selbst in der Mittagspause war sie durch Jonas abgelenkt, der ihr von seiner Familie erzählte und den Reisen, die sie dieses Jahr machen wollten.
„Mutter möchte wieder nach Holland“, erzählte er. „Ich würde lieber nach Italien oder Spanien fahren. Aber, da ist es meinen Eltern zu heiß. Wo fährst du hin?“