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Barbara Zeman, geboren 1981 im Burgenland, lebt seit achtzehn Jahren in Wien, wo sie Geschichte studierte und als Journalistin für den Falter, The Gap und Die Presse schrieb. Für ihre Kurzgeschichten wurde sie mehrfach mit Aufenthalts- und Arbeitsstipendien ausgezeichnet, 2012 gewann sie den Wartholzpreis. Immerjahn ist ihr erster Roman.
Für meine Eltern, meine Brüder Andreas und Martin.
Für Geri.
Der Vorhang wallte, wieder angestoßen von schwüler Luft, ins Zimmer hinein und wich knapp vor dem Fauteuil zurück, ohne Immerjahn zu berühren, der dort mit offenen Augen saß. Er starrte auf den durchsichtigen Stoff und versuchte sich zu sammeln. Trübe taumelten die sinkenden Brocken eines Traumes vor seinen Augen, um die Beine strichen ihm weiße Tiere, die verblassten, dann gänzlich verschwanden. Während er die Wärme ihrer Körper noch schwach an den Waden spürte, versuchte er sich bereits vergebens an ihre Form, ihre Größe zu erinnern, größer als kleine Katzen und kleiner als große Hunde waren sie gewesen, aber Gesichter, die ihre Zuordnung erlaubt hätten, hatten sie keine gehabt.
Immerjahn rieb sich die Augen, er durfte sie nicht mehr schließen, er musste sich jetzt sofort um jemanden kümmern, der ihm half. Er hatte Polly am Vormittag entlassen. Schenkte seiner ehemaligen Assistentin, obwohl sie nicht weinte, das Taschentuch, in das seine Großmutter ein schnörkeliges I gestickt hatte, und setzte sich im Salon seines Anwesens zornig an den Computer. Er tat so, als sehe er nicht, wie sie das Taschentuch auf das Bukett aus Rosen, Tulpen und gelber Iris warf, was ihn aber nicht störte, weil sein Stoff von der gleichen Farbe wie die Blütenblätter der blassen Schwertlilie war, auf der es hängen blieb, die den ganzen Strauß dominierte.
Ja, er war erleichtert, aber er fühlte sich auch ein wenig verwirrt. Er hatte nicht vorgehabt, sie zu entlassen, und es war ungewohnt, schon graute ihm, an die Eröffnung zu denken, ohne Polly in die Planung einzubeziehen. Nach dem Mittagessen hatte er das Speisezimmer verlassen, um etwas aus dem ersten Stock zu holen, hatte aber, sobald er dort gewesen war, nicht mehr gewusst, was er tun wollte, und er konnte sie nicht anrufen. Er war durch das Onyx-Badezimmer und das gläserne über den Flur gestreift, war wieder die Treppen hinuntergestiegen und in den Salon zurückgekehrt und hatte sich auf den Fauteuil gesetzt, in dem er dann eingeschlafen war.
Eine Sekunde kam es ihm vor, als fehlte nicht mehr viel, bis aus seinem Anwesen ein Museum geworden sein würde, dann aber geriet er ins Schwanken. Sie hatten heute Nachmittag die Öffnung des Hagebuttenbergs bekanntgeben wollen, im gleichen Atemzug den Termin der Eröffnung. Auf den neunundzwanzigsten August hatten sie ihn festgelegt, in knapp zwei Wochen war das. Bevor er aber irgendeinen Schritt unternahm, musste er sich einen Überblick verschaffen. Das Problem war nur, dass heute schon jemand von den Heften für Kunst und Denkmalpflege hier gewesen war, der alles fotografiert hatte, und alles, was sie sagten, aufgeschrieben, in dreizehn Tagen würde der Fotograf für die abschließenden Aufnahmen wiederkommen, und der Bericht über die Rückführung seiner Mies-van-der-Rohe-Villa in den Originalzustand würde exakt einen Tag später, anlässlich der Eröffnung des Museums, erscheinen. Es ließ sich also nichts mehr verschieben.
Seine Gemäldesammlung war so groß und der Hagebuttenberg war mindestens zwanzig Jahre vollkommen abgeschottet gewesen, und er fühlte sich unwohl bei dem Gedanken an Hunderte, die um den Brunnen des Vorplatzes versammelt standen und in sein Haus wollten. Im Dorf raunte man, auf dem Hagebuttenberg seien die Zimmer der Nachfahren des Zementfabrikanten Benedickt Immerjahn sen., die Wände, die Böden mitsamt der aus ihnen emporwachsenden Möbel aus Zement gegossen. Im Reflexionsbecken hielten sie sich Regenbogenforellen und Regenbogenforellen fressende Hechte, nach jedem Regen würden Hunderte Schnecken über die Steinwiesen kriechen, die der einzige Sohn, der Schwimmer, in Körben sammelte und in Butterschmalz gebacken verspeiste. Seine mondäne Großmutter sei eine Nymphomanin gewesen, die eine Liebschaft mit dem Lehrer hatte, was man daran erkannte, dass sie an den Tagen, an denen sie zu ihm ging, tafelgrüne Kleider trug. Des Weiteren gab es Spekulationen über einen Keller, den die Immerjahns nun schon in dritter Generation mit Spitzhacken unter ihr Haus in die Steinwiesen trieben, weil Mies van der Rohe ihm keinen gegeben hatte.
Es war ihm klar, dass sein Haus eher einer Wunderkammer denn einem Museum glich, sein Haus, dachte Immerjahn, hätte Rudolf II. gefallen. Er überlegte. Er könnte Holm rufen, nur würde der ihn nicht hören, weil er bestimmt schon wieder auf seiner Matratze im Großen Ausstellungssaal lag und so fest schlief, dass er erst aufwachen würde, wenn Immerjahn seinen Namen schrie, aber auf Schreien hatte er keine Lust mehr heute. Sein Vater, Benedickt jun., hatte Holm aufgenommen, ein Jahr bevor Immerjahn ausgezogen war, er selbst war achtzehn gewesen, Holm Anfang zwanzig. Holms Vater, ein spielsüchtiger Ingenieur, der in finanzielle Schwierigkeiten geraten war, konnte seinem Sohn nicht mehr das Zimmer in der Stadt und das Architekturstudium finanzieren und bat Immerjahns Vater um Hilfe, der ihn, ohne lange zu überlegen, im Großen Ausstellungssaal unterbrachte, in dem sich damals noch die Sammlung seines Großvaters, Benedickt sen., befand. Immerjahn bewunderte Holm wegen der Musik, die er hörte, seiner Pilotensonnenbrille, der Mädchen, die sich mit ihm treffen wollten, und seiner Intelligenz. Anfangs schlief Holm schlecht inmitten der vielen Gesichter, die unbewegt vor goldglänzendem Grund auf ihn herabstarrten, nach wenigen Wochen aber begann er, sich für die Ikonen zu interessieren. Immerjahn sah ihn oft in der Bibliothek sitzen, wo er die Aufzeichnungen seines Großvaters zu ihrer Herkunft studierte, die Haare wie ein Vorhang vor dem Gesicht. Er kommunizierte damals alles, was zu sagen war, mit Hilfe seiner langen Haare. Immerjahns Mutter zog ihn auf, weil er parallel dazu Adorno las, aber sein Vater war erleichtert, dass sich endlich wieder jemand für die Holzbilder interessierte. Mittlerweile waren die meisten verkauft – Holm, siebenundfünfzig Jahre alt, wohnte umgeben von Kunst der Moderne –, jene Ikonen ausgenommen, die er vor Immerjahn versteckt hatte. Immerjahn fand sie circa zweimal im Jahr an ungewöhnlichen Plätzen. Dieses Jahr eine Maria von Andrej Rubljow im Ärmel des kasachischen Schafhirtenmantels seines Urgroßvaters und eine in einen wasserdichten Beutel verpackte Darstellung eines unbekannten byzantinischen Meisters der zwölf Apostel unter der Küchenspüle.
Immerjahn streifte mit dem Blick die vielen Flügel der vor über einem Jahrhundert von Étienne-Jules Marey angefertigten Bewegungsstudie einer Möwe, die im Salon auf einem schmalen Sockel stand, dort, wo sich in allen anderen ihm bekannten Salons der Fernseher befand. Er senkte den Kopf, sah unter den Flügeln der Möwe hindurch auf die geschwungene Arbeitsfläche seines Sezessionsschreibtischs, die wegen der vielen grellgrünen und grellgelben Klebezettelchen, die so eng aneinander und übereinander klebten, wirkte wie die ausgebreiteten Schwingen eines Raubvogels, der, geschmacklos gefiedert und schwer, seiner flatternden Möwe nachstellte.
Sollte er Polly anrufen und so tun, als habe er vor ein paar Stunden kurz den Verstand verloren, ihr sagen, sie solle in spätestens zwanzig Minuten wieder hier, zurück am Hagebuttenberg sein? Aber nein, dachte Immerjahn, während er dem Lauf der makellosen Bügelfalte seiner kurzen Hose folgte, das wollte er nicht. Gegen zehn Uhr hatte er im Salon gewartet, sich gefragt, wo Polly und der Redakteur der Hefte für Kunst und Denkmalpflege denn blieben, und war sie nach einer guten halben Stunde suchen gegangen. Er war es gewohnt, dass Polly zu ungewöhnlichen Zeiten an leicht zugänglichen Orten mit irgendwelchen Personen, meist jungen Künstlern, die sie besuchen kamen, schlief, ihr Körper nackt war ihm beinahe schon so vertraut wie ihr Körper angezogen, und er hatte sich gedacht, vielleicht half es, den Redakteur positiv auf die Besichtigung einzustimmen. Dass Holm dabei gewesen war, war ungewöhnlich, aber schockierend gewesen war es nicht. Er ärgerte sich, dass es ihm kaum gelang, den Anblick der drei abzuschütteln, wie sie vor seinem Bett gestanden waren, als versuchten sie, die Laokoongruppe darzustellen. Holm hatte ihn zuerst entdeckt und noch versucht, sich unbemerkt davonzustehlen, was ein Akt von aufsehenerregendem Optimismus gewesen war.
Immerjahn hätte unter normalen Umständen einfach wieder sein Schlafzimmer verlassen, an dessen schneeweißer Wand, gegenüber dem Bett, seine zwei liebsten Bilder hingen. Er hatte sich schon halb umgewandt, als Polly sich splitterfasernackt auf ihn zuzubewegen begann, worauf Immerjahn realisierte, dass man gerade zu viel von ihm verlangte. Er hatte wegen dieser vielen nackten Personen vielleicht etwas überreagiert. Sonst sprach er eher leise, sodass es sofort still war um ihn, weil man ihn sonst überhörte. Contenance, das hatten ihm sowohl der Vater als auch die Mutter beigebracht, sei alles, und wirklich war er auch bekannt dafür, Haltung zu bewahren. Wenn er aber die Fassung verlor, dann vollständig, und das, obwohl er nicht gerne schrie.
Er klopfte sich ein Haar von der Hose und versuchte, entspannter zu sitzen. Er konnte Fritzwalter anrufen, der früher sein bester Freund gewesen war und ein Künstler, steinreich seit ein paar Jahren, und sich mit der Instandsetzung desolater Unterkünfte auskannte, aber sicherlich sofort mit Schwingschleifer und Säbelsäge alle Pläne Immerjahns über den Haufen werfen würde. Nein, dachte Immerjahn, auch Fritzwalter anrufen wollte er nicht, außerdem würde er wieder nur von seiner neuen Serie sprechen, die er ihm anlässlich der Öffnung seines Hauses schenken wolle, für das Speisezimmer, das Fritzwalter sich als Fritzwalterzimmer vorstellte, das sich seit Jahren mit Lebensmitteln, Gummistiefeln, Werkzeug und Gerümpel aller Art gefüllt hatte und nur noch als exklusive Abstellkammer in Verwendung war, in der Frau Manzur an Samstagen und Sonntagen die Wäsche auf dem Esstisch bügelte, an dem Immerjahn gerne Amaro trank, weil hier niemand kam, um ihn vom Herumsitzen abzulenken. Das Speisezimmer würde für die Besucher des Museums zwar als regulärer Teil der Ausstellung zugänglich sein, aber er würde es, abgesehen von den Bildern, die dort an den Wänden hingen und die er in den nächsten Tagen irgendwo im Speisezimmer unter das Gerümpel schieben würde, nicht verändern. Er fand es reizvoll sich vorzustellen, wie Besucher an den verstaubten Packungen von Polenta und Linsen vorbei bis in die Küche gingen. Nein, dachte Immerjahn, er würde Fritzwalter nicht anrufen, er musste sich einmal erst alles selber überlegen.
Das Geräusch seiner Schritte klang hart auf dem Marmor, verschwand im Teppich, kehrte auf dem Marmor unverändert laut zurück, als er durch den Salon zu seinem Schreibtisch ging. Er schaltete den Computer ein, und um sich zu beruhigen, rief er sich ins Bewusstsein, wie viel schon erledigt war. Das Holz der Vitrinen im Porzellangang war frisch mit Schellack eingelassen und die Scheibe ersetzt, die zerbrochen war, als seine Großmutter versucht hatte, eine Teetasse aus dem Nachlass von Clark Gable aufzufangen, die sie nie zu den übrigen Tassen in den Küchenschrank stellte, sondern in den Vitrinen zwischen einem blau-grün-goldenen Fabergé-Ei und einer getrockneten Orchidee verwahrte, die sich zwei Stunden lang hinter dem rechten Ohr von Maria Callas befunden hatte, bevor sie auf den Boden gefallen und der Tenor Giuseppe Di Stefano auf sie getreten war, was ihr doppelten Wert verlieh. Seine Großmutter vertrat die Ansicht, der Zauber von Orchidee und Ei würde über Nacht auf die kleine weiße, nicht besonders schöne Tasse übergehen, der sich wiederum auf sie selbst transferieren ließe, wenn sie ihre morgendliche Schokolade aus ihr trank. Das Fabergé-Ei, das unter dem Namen Ei mit Liebestrophäen bekannt war und ein Geschenk von Zar Nikolaus II. an seine Gemahlin Alexandra, hatte eine Verwandte seinen Großeltern zur Hochzeit geschenkt. Immerjahn wusste nicht mehr genau, wer auf die Idee gekommen war, den Inhalt des unermesslich kostspieligen Prunkeis durch eine dottergelb gefärbte Zementkugel zu ersetzen, es war ein bisschen peinlich, selbst auf Wikipedia war zu lesen, die ursprüngliche Überraschung, ein emaillierter Miniaturgoldrahmen in Herzform mit einem den Namen Niki bildenden Querbalken, ist verlorengegangen. Immerjahn meinte sich zu erinnern, dass er das Herz vor ein paar Jahren irgendwo ganz hinten im Porzellanschrank gesehen hatte, aber Frau Manzur hatte es beim Abstauben nicht gefunden.
Und auch an der Außenseite der Villa war schon einiges fertig. Die Fassade zum Brunnenplatz war in neoklassizistisches Mandelweiß getüncht. Das hochgeschossene Gras im Westgarten gemäht, die Stümpfe wilder Akazien mitsamt ihrer Wurzeln aus dem Boden gegraben. Frau Manzurs Paradeispflanzen, vor allem Ochsenherz und Eierpflaume, die die Auffahrt wie eine halbwüchsige Allee gesäumt hatten, waren in den Italienischen Garten verpflanzt. Sein Sohn Raffael, der vor ein paar Tagen noch zu den Olympischen Spielen geflogen war, hatte die größten Felder trockenen Mooses vom Dach gelöst und sie auf den Vorplatz geworfen. In die Nähe einer umgestürzten Platane aus der Zeit der Französischen Revolution fielen sie, die monatelang den Brunnenplatz versperrt hatte, Raffaels Trainer stand daneben und hörte nicht auf, Immerjahn fürchterliche Blicke zuzuwerfen, weil er die Hoffnung des Landes im Kraulen schon vom Dach stürzen sah. Inzwischen war die Platane von mehreren Traktoren abtransportiert, und er ließ den Förster kommen, der sich die anderen Bäume ansah, diejenigen, die in der ersten Reihe des Waldes wuchsen, aber sie alle waren vollkommen gesund. Im Loch, das den Standort der gefallenen Platane bezeichnete, fand er eine metallene Vorrichtung, die offenbar ihre Wurzeln gekappt und den Baum umgeworfen hatte, und da erinnerte Immerjahn sich. Frau Manzur hatte davor einen als vollkommen funktionslos befundenen Hebel, der aus der Wand des Porzellangangs stand, abgesägt, weil sie so oft an ihm mit ihrem Kittel hängenblieb. Auch erinnerte er sich daran, dass sein Vater einmal in Fieberträumen von mehreren Apparaturen phantasierte, mit denen Immerjahns Großvater den Hagebuttenberg zum Schutz vor revolutionären Invasoren aufgerüstet hatte.
Sie trugen den elektrischen Zaun ab, den Marek, Frau Manzurs Mann, auf eigene Faust nach dem Tod von Immerjahns Eltern um den Hagebuttenberg gebaut hatte. Hinter den Paradeispflanzen der Auffahrt verliefen die Drähte über den Vorplatz zwischen Haus und Wald, umzogen sowohl die Außenmauer des Italienischen Gartens als auch das Reflexionsbecken, fielen gestützt von windschiefen Pfosten über die Steinwiesen zur vierspurigen Straße ab, deren Lauf sie ein Stück folgten, um die Auffahrt entlang wieder zum Haus zu führen, wo sie über ein langes stacheldrahtbesetztes Gatter auf die andere Seite des Zaunes trafen. Marek hatte vor zwei Tagen erst den alten schmutzigen Kies an der Vorderseite des Hauses in den Wald gekehrt, wie unter einen Teppich, und brachte neuen aus, dessen weißes Leuchten weh in den Augen tat.
Es fehlten noch ein paar entscheidende Dinge, aber soweit er wusste, hatte Polly sie alle organisiert. Er holte den Notizblock aus seiner Strickweste, in deren leichtes, karamellfarbenes Garn ein dezenter Faden verwoben war, der aussah wie Gold. Immer wieder von seiner Weste abgelenkt, die bei manchen Bewegungen aufblitzte, begann er eine Liste zu schreiben, in der er alles, was noch zu tun war, anführte, vom höchsten Grad der Dringlichkeit abfallend.
Erstens müsse Holm aus dem Großen Ausstellungssaal ziehen, mitsamt seiner Matratze, seinen Büchern, dem Wasserkocher, Kühlschrank und dem ausgestopften namibischen Streifengnu, das ihm sein Vater hinterlassen hatte. Die afrikanischen Masken seiner Großmutter müssten vorübergehend irgendwo anders, vielleicht hier im Salon, übereinandergestapelt werden, jedenfalls nicht in der Küche, weil sie sonst Frau Manzur, der die Masken nicht gefielen, noch verheizte. Zweitens müsste jemand alle Gemälde, die sich im Großen Ausstellungsaal befanden, in den ersten Stock tragen, damit drittens seine Fenster zugemauert werden konnten. Übrigens waren die Arbeiter heute zur Erstbesichtigung bestellt, wahrscheinlich waren sie gekommen, während er geschlafen hatte, und Frau Manzur hatte sie auf Zehenspitzen zu den Fenstertüren geführt. Viertens: Nachdem die Mauern geschlossen waren, würden sie getüncht. Fünftens: Bilder zurück, afrikanische Masken zurück, vielleicht auch Streifengnu zurück, das musste er noch mit Holm besprechen. Danach blieb das Einleuchten der Bilder, im Notfall würden es auch ein paar Lampen an der Decke tun. Und irgendetwas musste mit der Josef-Frank- Tapete im Speisezimmer geschehen, die so verblichen war, man sah das Seegras auf ihr kaum. Nicht zu vergessen war die Instandsetzung der Lehmbruck-Ecke im Salon, die momentan so wirkte, als würde sie ein makellos poliertes, raumhohes Gefäß für Luft präsentieren, da die von Lehmbruck angefertigte Statuette vor einiger Zeit schon hinter ihren Sockel gefallen war, sodass man sie nicht sah. Das Schwierigste würde sein, sich Zugang zum Glaskasten zu verschaffen, da er kein Türchen hatte. In diesem Zusammenhang müsste er mit den anderen diskutieren, ob auch die Jacke, die der Bildhauer in der Garderobe seiner Großeltern vergessen hatte, auszustellen wäre. Bliebe dann noch Zeit, wäre zu überlegen, wie man mit dem leicht abgesenkten Gartenparterre im Peristylhof verfahren solle, das vor Immerjahns Geburt schon zugeschüttet worden war. Gegen eine Freilegung sprach eine Bemerkung seiner Großmutter, derzufolge die Schotterschichten über der Vertiefung von seinem Großvater zur Verwahrung einiger Memorabilien insbesondere aus dem Ersten Weltkrieg benutzt worden waren. Sie erinnere sich an Patronengürtel, mehrere nicht krepierte k.u.k. Keramik-Stielhandgranten, Teile eines zusammengeschraubt noch voll funktionstüchtigen Flammenwerfers sowie, das wusste sie nicht so genau, da Benedickt bei der Angleichung der Flächen des Peristyls allein sein wollte, die Gebeine seines besten, an der Somme ums Leben gekommenen Freundes Conrad.
Zufrieden nickte Immerjahn und strich sich über die Weste, das Besondere an ihr waren ihre Knöpfe, die, erkennbar nur auf den zweiten Blick, winzige Portraits von Leonardo da Vinci zeigten. Am obersten Knopf die Dame mit dem Hermelin, darunter Anna selbdritt, Mona Lisa gefolgt von Johannes dem Täufer und Bacchus, danach das Bildnis der Ginevra de’ Benci, das die Reihe abschloss. Er war sich bewusst, die Weste stellte eine Art Kompensation dar, Leonardo da Vinci war einer der wenigen Künstler, den er mochte und von dem er nichts besaß.
Er begann, die Notizzettelchen seiner Assistentin einen nach dem anderen vom Schreibtisch zu pflücken, mitsamt ihrer Schrift, die eng war und hoch und eigentlich überhaupt nicht zu ihr passte. Er selbst hatte eine unleserliche Handschrift, aber ihre war noch schlimmer. Ein paar Namen, ein paar Zahlen standen da, aber da er sie größtenteils sowieso nicht zuordnen konnte, warf er sie weg, und um sich vom Nachdenken zu erholen, sah er aus den Fenstern und studierte die Kolonnaden, ein schmales Band von Säulen, das zwischen den beiden zu den Steinwiesen gerichteten Flügeln des Anwesens verlief. Zwischen der Küche im Westen und dem Großen Ausstellungssaal im Osten entstand so vor den Fenstern des Salons der Peristylhof.
Vier der Säulen konnte Immerjahn von seinem Platz am Schreibtisch aus betrachten. Er stellte sich vor, sie bewegten sich wie Walzen, die die Rosmarinbüsche zerdrückten, die zwischen ihnen in großen Töpfen wuchsen, es würde dann genug Rosmarin für viele Bleche Bratkartoffeln geben. Er hatte erst vor zwei Stunden zu Mittag gegessen, ein großes Stück Wildlasagne mit ein paar Löffeln Moosbeeren aus dem Wald, aber schon wieder war er hungrig. Eine Diät war schwierig, er hatte so etwas noch nie gemacht, aber er wollte zur Eröffnung unbedingt in seinen nachtblauen Anzug mit leichtem Schlag passen, den er sich vor zwei Jahren, zu seinem fünfzigsten Geburtstag, von seinem Schneider hatte machen lassen. Er strich sich sein Hemd über dem Bauch zurecht. Mit etwa fünf Jahren hatte er gedacht, der Kies des Peristylhofes und die Steinwiesen seien Feinde. Oft hockte er mit einem Kieselsteinchen in der Hand zwischen den Säulen der Kolonnaden und betrachtete abwechselnd den Kies, dann wieder die Steinwiesen. Manchmal hatte er nicht widerstehen können und den Steinwiesen ein Steinchen zum Fraß vorgeworfen und war im gleichen Augenblick ohne sich umzudrehen ins Haus gerannt. Den ganzen Tag plagte ihn ein schlechtes Gewissen, das er wegschob, bis die Nacht hereinbrach, und er fürchtete, die Steinchen würden sich vereinen und gemeinsam an ihm rächen, ein aus Tausenden Steinchen und Honig zusammengesetzter Kieskoloss käme in sein Zimmer gestiegen, wenn er dem Steinchen nicht helfen würde. Er brach in finsterster Nacht mit seiner Stirntaschenlampe zur Bergung auf, suchte den Kiesel in der Nähe der Kolonnaden, und wenn er ihn fand, hielt er ihn so fest wie möglich in seiner Faust und legte ihn eine Nacht lang neben sich ins Bett. Am nächsten Morgen dann versah er ihn mit einer Nummer und fügte ihn seiner Insektensammlung hinzu.
Er betrachtete versonnen die Säulen, bis ihm, zwischen zwei Atemzügen, auffiel, wie still es war. Im Salon, der improvisierten Zentrale seines sich gerade in ein Museum verwandelnden Anwesens, war Stille nichts Erstrebenswertes, war Stille eine Gefahr, die ihn automatisch zählen ließ, wie viele Tage noch bis zur Eröffnung blieben. Elf, zwölf, dreizehn. Er hörte das Taubengurren draußen und ganz entfernt Marek, der irgendetwas scheppernd hinter sich her über die Steinwiesen zog.
Er stand auf, sah, Marek zog eine Leiter, und ging rasch in den Porzellangang. Das Parkett knisterte, als würde es an jeder Stelle, auf die er trat, brennen. Niemand hier außer ihm. Die Wände ganz speckig, mussten vielleicht noch gestrichen werden, ein paar Spinnweben, Staubfäden hingen in den Ecken hoch über ihm, aber die Vitrinen glänzten wirklich schön, und jedes Messer, jeder Löffel, jede Gabel mit einem sich selbst umschlingenden I darauf, selbst der Kavalleriedegen, von dessen Klinge drei oder vier Widersacher der Immerjahns vor ihrer Zeit zu Tode gekommen waren, war poliert. Immerjahn hatte sich noch immer nicht ganz an den Anblick der sauberen Vitrinen gewöhnt. Wegen des Staubs, der die Teller und Tassen, Bergkristallkelche, Puppenporzellan und Kieselsteinchen, eine täuschend echte Nachbildung von Grace Kellys Verlobungsring, diverse Schreibfedern unterschiedlichster Erhaltungsgrade, besonders große tote Käfer, Brillen, Monokel, Fernrohre, vorsintflutliche Kaleidoskope, ein riesengroßes Mikroskop, Manschettenknöpfe, Krawattennadeln und die gesammelten Eheringe all seiner Vorfahren bedeckt hatte, war es Immerjahn immer vorgekommen, als wären die Vitrinen überdimensionierte Schneekugeln, die man aufheben konnte und schütteln, worauf es ein winterliches Schauspiel gäbe. Frau Manzur hatte beim Aufräumen in den Vitrinen Zeitungsberichte über Stalingrad gefunden, und man sah erst jetzt, dass das Porzellan nach Farben geordnet war. Er verwarf den Gedanken, die Decke zu streichen, die Vitrinen waren so hoch und reichten, nahtlos aneinanderschließend, vom einen zum anderen Ende des Gangs, und das frisch gewaschene Geschirr würde von allem Übrigen ablenken, auch noch wenn alle Winkelspinnen und Weberknechte des Hauses versammelt von der Decke hingen.
Dicht an den Vitrinen entlang ging er auf die Ausstellungsräume zu. Still die Halle. Auch der erste der kleinen Säle, die Bilder unbeleuchtet, wie gewohnt. Er ging in die Halle zurück. Betrat den zweiten Saal, sich immer wieder umsehend, den dritten Saal wie den vierten, den fünften, auch dort Bild dicht an Bild und, soweit er sehen konnte, alle da. Wenn man die Räume des Ostflügels hintereinander betrat, war es, als zeichnete man mit den Schritten drei der vier Zacken eines mittelgroßen Sternes nach, weil man nach jedem Saal in die Halle zurückkehren musste, um in den nächsten zu gelangen. Dann eine letzte Türe, den anderen glich sie bis aufs Haar, kaukasischer Nussbaum, der einen Kern von Fichte überzog, dahinter öffnete sich der Große Saal, in dem die Luft kühler, die Stimmen lauter, das Licht heller und die Wände voller als in allen anderen Räumen des Hauses waren. Am Ende des Ostflügels liegend, brach er aus dem Körper des Gebäudes aus, wie sich die Bäder der Villa des Plinius zum Meer gerichtet hatten, als wollten sie sich ins Wasser stürzen. Mit dem Unterschied, dass Mies van der Rohe auf Fenster verzichtet hatte. Wäre nicht Immerjahns an Architektur interessierte Großmutter gewesen, die ihren Geschmack dem von Mies ebenbürtig fand, er würde in diesem Moment auf makellose Wände schauen, so aber fiel sein Blick durch Etel Schenja Immerjahns Fenstertüren auf die weite Kiesfläche des Peristylhofs, die sein privates graues Meer bei schlechtem Wetter war. Etel verfolgte den beruflichen Fortgang ihres Architekten ihr ganzes Leben lang mit Neugierde und brachte das Haus des Öfteren auf Mies’ neuesten Entwicklungsstand. Verpasste ihm das Onyx-Badezimmer und jenes bestehend aus Flächen flaschengrünen, klaren und milchig-weißen Glases, sowie dem Reflexionsbecken, als unmittelbare Reaktion auf seinen Barcelona-Pavillon, eine aufsehenerregende Seerosenpopulation. Weiß waren ihre Köpfchen gewesen, lange schon entfernt. Ebenfalls eine Errungenschaft seiner Großmutter war die Lehmbruck-Ecke, die sie wie einen gläsernen Schrein nach einem Besuch in Mies’ Brünner Villa Tugendhat zwischen Salon und Porzellangang einsetzte, der, nur scheinbar verwaist, den Lehmbruck auf dem Boden in sich barg. In Brünn war die Skulptur nicht von Glas umgeben, aber Etel hatte etwas gegen Staub.
Auch wenn es nicht mehr als einen ausführlichen Brief des Plinius über sein Laurentinum gab, von dem niemals je ein Steinchen unter dem Sand des Lido di Ostia gefunden werden konnte, es existierten unzählige Rekonstruktionen. Auch Schinkel hatte sich mit einem farbigen Stich daran versucht. Sein Laurentinum lag, gebaut aus verschieden hohen Türmen, die mit flachen Blöcken wechselten, eingefasst von auf- und absteigendem Land, einem gläsernen Meer und dem leeren Himmel, der groß war und hell.
Mies van der Rohe hatte sich, als er für das Sammlerehepaar Kröller-Müller in Wassenaar, nahe Den Haag, eine Villa entwarf, auf diesen Entwurf Schinkels bezogen. Das Haus soll eine lange Fassade haben, wünschte Helene Kröller-Müller, also länger als tief sein, und so bekam sie eine lange Fassade. Zur besseren Visualisierung ließen sich die beiden den Entwurf bereits eins zu eins mit Segeltuch und Holz auf ihr Grundstück bauen. Und sie lehnten Mies van der Rohes Entwurf ab. Vielleicht wegen der schmucklosen Strenge des Baus, vielleicht wegen der großen Entfernung zwischen Eingang und Ausstellungssaal. Immerjahns Großvater war dort an jenem Tag anwesend, durch einen Zufall nur, weil er mit Mies van der Rohes vormaligem Arbeitgeber, dem Architekten Peter Behrens, eng befreundet war. Behrens, der eine Handvoll Zementfabriken für ihn gebaut hatte, war immens schlechter Laune, weil ihm ein ehemals von ihm beschäftigter Halbwüchsiger einen Auftrag weggeschnappt hatte. Benedickt Immerjahn sen. war neugierig, heimlich nach Südholland gefahren und von dem provisorischen Palast inmitten der Dünen, der bei stärkeren Böen raschelte, wie hypnotisiert, umrundete ihn ein ums andere Mal und engagierte Mies, nachdem er zweimal darüber geschlafen hatte, wie bei jeder anderen Entscheidung auch, für sein Haus auf dem Hagebuttenberg. Die Fabrik, die Behrens seinem Großvater baute, nachdem er das erfahren hatte, war als die hässlichste Fabrik Kronens, vielleicht des ganzen Landes bekannt. Mit dem Ehepaar Kröller-Müller wechselte Benedickt sen. kein Wort, für Banausen hielt er sie. Zu dem jungen Mies hatte er ein distanziertes Verhältnis, manchmal diskutierte er mit seiner Frau, ob Mies wirklich ein Vorname sei, warum seine Eltern ihn so genannt hätten und wie man den jungen Mann, der leicht schielte, immerzu rauchte und kaum einmal die linke Hand aus der Hosentasche nahm, denn nun anreden solle, weil er Herr Mies als nicht ausreichend respektvoll empfand. Verstärkt wurde ihre Distanz zu Mies, der frühestens um die Mittagszeit am Hagebuttenberg erschien, durch seine Angewohnheit, ihr neues, schönes, flaches Haus Flade zu nennen, und als ihn Benedickt sen. darauf hinwies, ihm zuliebe bemüht rücksichtsvoll kleine Flade und Flädchen sagte. Seine Großmutter erzählte ihm, Benedickt sen. und Mies unterhielten sich, wenn sie denn miteinander sprachen, über ihre Anzüge, die sie beide bei Knize in Wien schneidern ließen. Erstaunlich war, wie gut Etel Mies in Erinnerung behielt, obwohl er, nachdem die Bauarbeiten endlich abgeschlossen waren, nie mehr wieder auf den Hagebuttenberg kam. Miesisch avancierte zu ihrem Lieblingsadjektiv für alles Elegante, insbesondere Kleider und Hüte.
Nun lag ihr Haus auf dem Hagebuttenberg nicht zwischen Wald und Meer wie Laurentinum, nicht zwischen Wald und Dünen, wie es der Entwurf der Kröller-Müller-Villa vorgesehen hatte, aber die Steinwiesen waren auch nicht schlecht.
Oft hatte Immerjahn das Gefühl, er wohne in vielen Jahrhunderten gleichzeitig. Den Worten des Plinius hatte Schinkel eine Form gegeben, und Mies van der Rohe hatte sie verwirklicht. Oder, wie Holm sagte, Mies habe auf den Hagebuttenberg im Schinkelstil seine persönliche Pliniusvilla erbaut.
Das legendäre Laurentinum war etwa fünfundzwanzig Kilometer südwestlich von Rom gelegen. Einen Katzensprung nur entfernt von Ostia, in dem sich Pasolinis Strizzis aus Ragazzi di Vita vergnügten. Jenem Ostia, das Holm verfluchte, weil Pasolini dort, in der viel zu dunklen Nacht zwischen Allerheiligen und Allerseelen, ermordet worden war, ohne Petrolio vollenden zu können, worunter Holm unvermindert seit über dreißig Jahren litt.
Immerjahn ging an einem Stapel namibischer Masken, französischer Federhüte, hellblauer Rokokohäubchen, einem weißen SS-Sommerrock mit Einschussloch über dem Herzen und dem Gnu vorüber, der Saal war so groß, es war erstaunlich, dass es trotzdem gelungen war, ihn dermaßen zu füllen. Auf einer Matratze im Winkel schlief Holm, und er hatte sich nicht getäuscht, Arbeiter waren wirklich keine hier. Vielleicht aber waren sie draußen, der Große Ausstellungsraum lag beinahe schon auf den Steinwiesen, und er war sich sicher, sie nahmen gerade ein Sonnenbad.
Dunstiger Himmel, knirschender Kies, flatternde Tauben durch die Kolonnaden bis zum Reflexionsbecken hinaus. Alles lag still vor ihm in der Hitze, die Steinwiesen, abschüssig und staubig, und am Fuße des Hagebuttenbergs die Schornsteine der Fabriken und die Spitze des Kirchturms, der schon zum Dorf Oberberg gehörte. Das Wasser im Reflexionsbecken spiegelte eine Wolke von außergewöhnlicher Durchsichtigkeit, ein Wolkengeist war das, der über Immerjahn am Himmel hing und lange nicht vorübertrieb. Auch hier draußen war niemand, selbst Marek war mitsamt der Leiter verschwunden, und Immerjahn, dem das alles auf die Nerven ging, rief Arbeiter und wieder Arbeiter, während er sich auf den Steinwiesen drehte. Die Steinwiesen waren Schieferfelder, über die sich an mehreren Stellen Inseln verdorrten Grases breiteten. Wenn man fest auftrat oder mit der Spitze des Schuhs an einem der sich überlappenden Schieferschichten hängen blieb, lösten sich kleine Platten, die sich in Mulden ablagerten und vom Regen, wenn er nur stark genug ausfiel, auf die Straße an ihrem Fuße gespült wurden. Es hatte schon so lange nicht geregnet, dass es vor Schieferplättchen knirschte, bei jedem Schritt, den er tat, und er kam sich vor wie ein Männchen, gefangen in einer Kohleskizze.
Über die Geschichte des Hagebuttenbergs war nur wenig bekannt. Von Generation zu Generation wurde weniger Kindern vor dem Schlafengehen erzählt, wie üppig der Hügel in der Zeit, in der Christoph Kolumbus erstmals seinen Fuß auf den Sand der Bahamas setzte, von flach über den Boden kriechenden Ästchen einer seltenen Pflanze bewachsen war, die man in den fünf Dörfern der Senke Kriechling nannte. Sie bot in den Tagen des heißesten Sommers kleine blaue Beeren der Sonne dar, und von zwanzig blauen war eine rot, und sie alle, die roten wie die blauen, hielt man für giftig wie den Tod.
Die begütertste Bäuerin im nahen Ostendorf, die genauso alt wie eitel war, hielt sich am Markttag vor der Kirche auf, wo sie das Gespräch mit dem Priester suchte, damit auf den Treppen die Pracht ihres sammetgrünen Mantels mit bestickter Schärpe weithin sichtbar würde, als vor ihr ein Wagen, gezogen von einem Maultier, hielt, auf dem ein Mädchen saß, das der Bäuerin Haarbürsten, Lippentalg und Spiegel in der Gestalt von Sicheln zum Kauf darbot. Weil die Reden des Mädchens verständig waren, wunderte sich die Bäuerin und fragte es nach seinem Alter, woher es komme und wohin es gehe, und das Mädchen erklärte, es sei achtzig Jahre alt, komme von weither und gehe in die entgegengesetzte Richtung. Es verriet ihr gegen ein kleines Entgelt ein Rezept, das, so schwor es, wie durch Zauberei in der alten Bäuerin die junge zum Vorschein brächte. Nur achtgeben solle sie, dass unter die roten Beeren des Kriechlings keine blauen gerieten, denn diese seien gegenteiliger Wirkung. Die Bäuerin, die darunter litt, dass ihr Gesicht von anmutigen Falten überzogen und ihr einst kastanienbraunes Haar grau und spröde wie verwitterte Holzlocken geworden war, eilte mit fliegenden Mantelschößen nach Hause und wies noch im Garten ihre Mägde an, rasch fortzugehen, auf den Hagebuttenberg, die roten Beeren einzusammeln. Nach zwei Tagen schickte sie den Mägden vier Knechte nach, die sehen sollten, wo sie blieben. Zehn Tage später kehrten sie zurück, mit einem Säckchen roter Beeren, die sie den Ranken des Kriechlings abgetrotzt hatten, die noch dichter als mit blauen Beeren mit fingerlangen Dornen besetzt waren.
Sie bereiteten aus den Beeren ein durchsichtiges Gelee, das die Bäuerin andächtig zum Nachtmahl aß, am nächsten Morgen war sie tot.
Ihren Sarg stemmten vier Knechte mit dornenzerkratzten Händen, vorbei an einer Galerie blank polierter Töpfe, an Spiegeln und Messern mit breiter, glänzender Klinge, die erst in der Nacht davor für die Bäuerin an die Wand des hellsten Zimmers genagelt worden waren, damit sie sich, wenn sie erwacht, in allen nur erdenklichen Winkeln in ihrer Schönheit sehe. Der Bauer, der die tote Bäuerin trotz ihrer Kapriolen über alles liebte, machte sich nach einer tränenreich durchwachten Nacht mit Fuhrwerk und Knechten auf zum Hagebuttenberg und hieß sie, ihn abzutragen. Niemals wieder sollte auch nur eine einzige rote Kriechlingsbeere wachsen. Sie rodeten die Ranken und gruben das Erdreich unter ihnen ab, gingen so zügig vor, als gelte es, den Tod, der vielleicht noch nicht allzu tief in sein Reich hinabgestiegen war, am Schlafittchen zu packen und ihm die Bäuerin zu entreißen, und bereinigten den Hagebuttenberg so von tausend winzigen Skeletten, den Überbleibseln eines sagenumwobenen, nie bewiesenen Starsterbens, warfen daneben einen undefinierbaren Gegenstand, der, hätte man ihn identifiziert, als Kieferknochen des im Eozän auf dem Hagebuttenberg lebenden Pakicetus, Missing Link zwischen Paarhufern und Zahnwal, in die Geschichte eingegangen wäre. Gemeinsam mit einem verwitterten Messer, das von den Nickler-Buben im Jahr der großen Flut zur Ermordung eines durch die Lande reisenden Adeligen verwendet worden war, wurde der Knochen in den Sumpf geworfen. Ebenfalls im Sumpf fand sich ein Päckchen wieder, gebunden aus Leinen und Bast, in dem der Schankwirt Ohr seinen Schatz im Krieg, erst in einem Astloch, dann zehn Schritt vor dem Fuße der mächtigsten Fichte im Erdreich unter einem kleinen, rotbeerigen Busch untergebracht hatte, weil der Krieg in seinem neunundzwanzigsten Jahr noch immer nicht vorüber war.
Erschöpft kehrte der Bauer mit seinen Knechten wieder nach Ostendorf zurück. Der Kriechling samt Beeren war gejätet, nur der Hagebuttenberg war nicht fortzubringen gewesen, da sie kaum tiefer als ein Spatenblatt auf ein gewaltiges Schieferfeld gestoßen waren, der Bauer wusste, die Schale des Totenreichs war hart. Vom Haus des Bauers aus sah man von nun an anstatt des Kriechlings Rankengrün eine gewölbte graue Fläche, die den Bauer ein jedes Mal, wenn er aus seinem Fenster blickte, an einen blinden Spiegel denken ließ, weswegen er den Berg verkaufte. Ein Fremder, der einen sonderbaren Namen trug, nahm ihm die steinerne Wiese zu einem unglaublichen Preise ab.
Lange nach dem Tod des Bauern, all seiner Söhne, deren Kinder und Kindeskinder, war aus den fünf Dörfern der Senke, vielleicht beseelt von des Kriechlings Geist, der in sie gefahren war, ein seltsames Gebilde geworden, als habe jemand, der sehr groß war und stark, aber nicht gut nähen konnte, versucht, die Dörfer mit Straßen statt Fäden zusammenzuflicken, sie verhakten sich aber immer wieder mit Brücken und Häusern, ein welliges, unansehnliches Gebiet, das sich nie mehr glätten ließ. Wie mit Seilen unterirdisch an den Hagebuttenberg festgezurrt lag Dorf Oberberg, das sich aus flachen und schmalen, allerdings immens langen Höfen zusammensetzte, in der Mitte ein Kirchturm und um ihn malerisch gruppiert die Schlote der Fabriken. Ganz im Osten der Senke, als wären die kleinen schmutzigen Häuser dort in ein Loch gefallen, Ostendorf, in dem in Vorzeiten die Meinung weit verbreitet war, dass das ganze Universum eine häuserbesetzte Mulde sei. Weiter im Westen, umzingelt von Fabriken, diesmal für Zement und Rüben: Kronen, das einst berühmt für eine Handvoll begabter Schmiede war, auf die Herstellung von royalem Kopfschmuck spezialisiert. In manchen Büchern war zu lesen, dass durchreisende Könige zur Verwirrung etwaiger Angreifer an stets anderer Stelle der Senke nächtigten, ihre Kronen aber immer in Kronen zur Verwahrung ließen, damit bei einem Angriff entweder die Könige oder ihre Kronen noch zu retten wären und nicht alles auf einmal verloren ginge. Dann Schlussburg, das meistens als Kern der Agglomeration bezeichnet wurde und wegen des Zitroneneises der Schlussburger Kurkonditorei und des Schlussburger Stadthotels in den meisten Reiseführern verzeichnet war. Am auffälligsten aber war das Dorf Venosta, das auf einem Felsen von aufsehenerregender Abschüssigkeit lag, den der Gebirgszug am Horizont hinter sich verloren zu haben schien. Zwischen Schlussburg und Venosta war die alte Mautstation zu besichtigen, die an einem vor drei Wintern erst asphaltierten Feldweg lag, der auch heute noch die einzige Verbindung zwischen den beiden Siedlungen war.
Das Land zwischen den Dörfern, das früher bestanden war von allerlei Dorngestrüpp, wilden Rosen und Kletten, war von einer Unzahl von Einfamilienhäusern, Asphaltplätzen und Straßen bedeckt, die zu aufgelassenen Fabriken und halb verkommenen Einkaufszentren führten, die aus den fünf Dörfern und all ihren Auswüchsen eine Zwischenstadt formten, die, abgesehen von riesigen florierenden Logistikhallen, brachlag. Wusste man sich nicht anhand der Logos der Firmen zu orientieren, die wie Brotkrumen auf die verschlungenen Wege zu vermeintlichen Zentren wiesen, die sich auflösten, sobald man näherkam, war das Fortkommen in der Senke wegen der Gleichförmigkeit ihrer Bauten schwierig, ohne Auto geradezu unmöglich. Die meisten Straßen führten zu Tankstellen oder umzäunten Geländen, die zu betreten verboten war, oder rissen einfach ab. Dort, wo gerade noch eine Straße gewesen war, war nur noch ein schmaler Weg, der zu einem der vielen Hügel führte, die aus dem Aushubmaterial der Baugruben entstanden waren, über die an manchen Stellen eine Pflanze kroch, deren Ästchen in der letzten Woche des Augusts blutrote Beeren zeigten.
Arbeiter, rief Immerjahn und ging schneller auf die Kolonnaden zu, es waren wirklich keine Arbeiter hier, es war wie früher, er war das einzige Kind auf dem Hagebuttenberg gewesen, und wenn er jemanden gefunden hatte, der mit ihm Verstecken spielte, blieb er oft genug alleine auf den Steinwiesen zurück, weil alle anderen aus Langeweile längst wieder im Haus waren. Er ging schnell, fast lief er, heiß wurde ihm, und er dachte, zwei Monate noch, dann war wieder die Zeit des Nebels gekommen, oder war es Smog, der sich jedes Jahr im Herbst wie eine Decke zwischen das Tal und die Sonne breitete, sodass man vom Reflexionsbecken kaum bis zur Mitte der Steinwiesen oder, schlimmer, von der Mitte der Steinwiesen kaum das Reflexionsbecken sah. Immerjahn mochte den Herbst und den Winter, da diese Jahreszeiten das Tragen mehrerer Kleidungsstücke übereinander erlaubten, ohne dem Kreislauf Probleme zu bereiten. Arbeiter!, rief Immerjahn zum Haus hinauf, obwohl er nicht erwartete, sie würden sich mit einem Ruck aus den Steinwiesen erheben, es gab hier wirklich nichts, hinter dem man sich verstecken konnte. Selbst die Gräber der Familie Immerjahn lagen, in der gleichen Farbe wie die Steinwiesen, ausgeführt aus lediglich robusterem Material, nach einem an Malewitsch angelehnten Design seiner Großmutter, auf exakt dem gleichen Niveau. Sie waren sehr zurückhaltend, man sah sie kaum, oft schon war es passiert, dass ein Besucher auf dem Grab stehend sich nach diesem erkundigte, weil er die dunkelgrauen Buchstaben, die Ziffern, die das Jahr der Geburt und das des Todes bezeichneten, übersah. Immerjahn war es unangenehm, über seine Großeltern, dann über seine Eltern und schließlich über sein eigenes zukünftiges Grab hinwegzugehen, aber er wollte sich abhärten. Es war noch leer, aber es war schon da. Und er dachte daran, dass er vermutlich noch zwei bis drei Jahre zu leben hätte. Weder sein Großvater noch sein Vater hatten ihr siebenundfünfzigstes Jahr erreicht, und da er Erbe war, rechnete er damit, dass mit den Häusern, Wertpapieren, Bargeld und dem Gold auch die Kurzlebigkeit seiner Vorfahren auf ihn übertragen worden war.
Benedickt sen. hatte Immerjahn das Grab zu seinem vierten Geburtstag geschenkt, was seinen Eltern nur bis zu seinem sechsten Geburtstag vor ihm geheimzuhalten gelang, an dem er vom Westgartenmäuerchen stürzte, und der Großvater besorgt zu seiner Mutter sagte, er sei bei der Größe des Grabes außerordentlich optimistisch gewesen. Sobald er sich erholt hatte, suchte Immerjahn den Ort obsessiv auf, staunte den Fleck unter sich an, der sich manchmal leicht zu verschieben schien, an manchen Tagen kam es Immerjahn vor, als rutsche das Grab näher ans Reflexionsbecken, zum Haus hinauf. Auf die permanente Konfrontation folgte eine jahrzehntelange Phase des Ignorierens, bis er letzterdings begonnen hatte, vor allem bei einem Gefühl besonders großer Unruhe auf seinem Grab Platz zu nehmen, bis er, mit angezogenen Beinen, im Angesicht der vorüberrasenden Autos, wieder ruhiger geworden war. Weil er wusste, der Umgang mit einem Grab wollte gelernt sein, hatte er nie eines für Katka machen lassen, die sich deswegen ausgeschlossen fühlte.
Er blieb im Schatten der Kolonnaden stehen, rief Polly an, aber sie hob nicht ab, wie schön es gewesen wäre, hätte er Polly nicht entlassen. Sie musste, gleich nachdem sie heute weggegangen war, alle Termine mit den Handwerkern abgesagt haben, ansonsten wären sie längst hier, und er müsste jetzt nicht auf den Steinwiesen stehen und mit der Auskunft telefonieren. Er versuchte freundlich zu bleiben und kritzelte die Telefonnummern von zehn Maurern entgegen seiner Gewohnheit irgendwo in die Mitte seines Notizbuchs hinein. Er wählte die erste Nummer, es war die des ursprünglich bestellten Maurermeisters, er hörte dreimal Simply the BestHerr Gottholdheute Aubergine gefüllt oder gefüllte Zucchini, Aubergine sieht gut aus, aber Zucchini schmeckt besser.